Das Haus auf den Klippen - Catherine Fox - E-Book

Das Haus auf den Klippen E-Book

Catherine Fox

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Beschreibung

Auf einem über hundert Jahre alten Leuchtturmwärterhaus an der irischen Steilküste lastet ein Fluch: Der Geist einer ermordeten gehe darin um. Lucy lässt sich davon nicht abschrecken, kauft das Haus und renoviert es. Zunächst hält sie erste Begegnungen mit dem Geist Kyra für Hirngespinste, doch dann beginnt sie über die Geschichte des Fluches zu recherchieren und fördert eine dramatische Geschichte um den mysteriösen Tod Kyras vor hundertfünfzig Jahren ans Licht. Doch wenn die Wahrheit gefunden ist, wird Kyra ihren Seelenfrieden finden und für immer verschwinden – Lucy jedoch hat bereits ihr Herz an Kyra verloren ...

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Catherine Fox

DAS HAUS AUF DEN KLIPPEN

Roman

© 2017édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-216-9

Coverillustration:

Schauplatz und örtliche Gegebenheiten dieser Geschichte sind frei erfunden, ebenso Namen und handelnde Personen. Übereinstimmungen oder Ähnlichkeiten wären rein zufällig.

1

Es war alt, klein und hutzelig. Dennoch hatte sich Lucy sofort in das Haus auf dem Bild verliebt. Sie brannte darauf, es in natura zu sehen.

»Kann ich es heute noch besichtigen?«, fragte sie die Immobilienmaklerin.

Die blies für einen winzigen Moment die Wangen auf, was wohl hieß, dass ihr das heute eigentlich überhaupt nicht passte. Lucy entging diese Geste nicht, auch wenn die Maklerin sofort wieder ihr freundliches Geschäftsgesicht aufsetzte.

»Bitte . . .«, beharrte sie.

»Also gut«, antwortete die Maklerin, einen Blick auf ihre Armbanduhr werfend, »in zwei Stunden wäre es möglich.«

Pünktlich zur vereinbarten Zeit war Lucy wieder vor Ort. Da die Fahrt bis zur Küste eineinhalb Stunden dauerte, fuhren sie gemeinsam in einem Wagen, dem der Maklerin.

Das letzte Stück in dem kleinen Küstenort Williams Bay ging es steil bergauf. Die schmale Straße schlängelte sich in Serpentinen bis zum Ziel. Sie bogen um eine weitere Kurve, und das Objekt von Lucys Träumen lag vor ihnen.

Obwohl nur zwanzig Meter hoch, thronte der alte Leuchtturm majestätisch auf den Felsen. Das daran angebaute Leuchtturmwärterhaus wirkte wie die königliche Robe Seiner Majestät.

Lucy war hin und weg. Der Anblick war noch viel, viel schöner, als die Fotos, die sie gesehen hatte, es auch nur ansatzweise vermitteln konnten. Und erst die Aussicht, die sich von hier oben bot: Scheinbar endlos zog sich die Steilküste zu ihrer Linken, während sich vor ihr das Meer erstreckte. Ein tiefes, dunkles Blau, auf dessen Oberfläche sich kleine Wellen wiegten. Zumindest erschienen sie in der Entfernung klein, in Wirklichkeit türmten sie sich mehrere Meter hoch auf.

Beeindruckt näherte sich Lucy dem Rand des Steilufers.

Nur wenige Meter vom Leuchtturm entfernt fiel der Fels abrupt fast senkrecht hinab und endete in der Tiefe in zerklüfteten Klippen, an denen sich die Wellen brachen und schäumende Gischt hinterließen. Doch der unendliche Blick über das von hier oben so harmlos und unschuldig wirkende Meer ließ sie die Gefahr zu ihren Füßen vergessen. Es gab keinen Zaun, keine Absperrung. Ein unbedachter Schritt weiter vor, und man stürzte in die Tiefe.

»Es ist faszinierend.« Lucy wandte sich um und dem Haus zu. Von außen war die Natur fleißig dabei, es zurückzuerobern. Büsche und Efeu wucherten nur so. Das Haus schien schon sehr lange nicht mehr bewohnt, geschweige denn gepflegt und instand gehalten worden zu sein. Auf den Fotos war von dem Verfall nichts zu sehen gewesen.

»Warum ist das Haus so vernachlässigt?«, erkundigte sich Lucy. »Wohnt hier keiner mehr?«

»Schon lange nicht mehr.«

»Aber die Lage – und so, wie es auf den Fotos aussieht . . . es müsste doch eigentlich ein begehrtes Objekt sein.«

Die Maklerin trat von einem Bein aufs andere. Sie wirkte nervös. »Das war es auch einmal.«

»Dann spricht ja nichts dagegen, dass ich es bekommen kann«, freute sich Lucy. »Kann ich es von innen sehen?«

Als die Maklerin ihr den Schlüssel gab, bemerkte Lucy überrascht, dass die Hände der Frau zitterten. Gepresst sagte sie: »Ich warte hier draußen.«

»Ist Ihnen nicht gut?«, fragte Lucy verwundert. »Sie sehen so blass aus.«

»Nur ein leichtes Unwohlsein. Das geht gleich vorüber.«

Vielleicht hat sie ja Höhenangst, dachte Lucy. Als sie auf die Tür zuging, nahm sie über die Schulter wahr, wie die Frau sich eine Zigarette anzündete und mehrere Züge hintereinander hektisch inhalierte.

Doch als sie den Schlüssel ins Schloss steckte, spürte sie etwas, das sie die Maklerin vergessen ließ. Eine Art magische Anziehung. Sie stieß die Tür vorsichtig auf, und das Gefühl wurde stärker. Etwas nahm sie gefangen, das sie sich nicht erklären konnte – etwas wie eine unsichtbare Kraft, die sie ins Innere zog. Selbst wenn sie gewollt hätte, sie hätte sich dieser Kraft nicht entziehen können.

Die Tür war so niedrig, dass Lucy beim Eintreten den Kopf einziehen musste. Zwar war sie mit ihren eins achtundsiebzig auch nicht eben klein, aber früher waren die Häuser nun einmal noch enger und kleiner gebaut worden, als das heute der Fall war.

Muffiger Geruch empfing sie. Sie tastete in der Dunkelheit nach dem Lichtschalter, fand ihn und betätigte ihn. Nichts. Es blieb dunkel. Das Tageslicht, das durch die offene Tür hereinfiel, reichte jedoch aus, um ihr den Weg zum Fenster zu weisen. Sie öffnete es, klappte die Fensterläden auf, und schon flutete Helligkeit ins Innere des Hauses.

Im selben Moment vernahm sie ein Stöhnen.

Lucy schaute sich um. »Hallo? Ist hier jemand?«

Doch sie sah niemanden. Wahrscheinlich ist es das Gebälk, das atmet, dachte sie. Noch einmal sah sie sich gründlich um und nahm dann auch die anderen Räume in Augenschein. Die Möbel standen so, als hätte hier bis vor kurzem noch jemand gelebt. Auf dem Küchentisch stand ein Teller mit schmutzigem Besteck, daneben eine leere Tasse mit einem Löffel darin. Doch alles war von einer dicken Staubschicht bedeckt. Jemand musste das Haus verlassen haben, ohne zu wissen, dass er oder sie nicht zurückkehren würde.

Lucys Liebe zu dem Leuchtturmwärterhaus tat dieser desolate Zustand allerdings keinen Abbruch, im Gegenteil. Sie sah sich bereits hier wohnen. In Gedanken befreite sie die Möbel vom Staub, ordnete sie um und richtete die Zimmer neu ein. Als sie Minuten später wieder heraustrat, stand ihr Entschluss fest.

Die Maklerin rauchte immer noch, vor ihr auf dem Boden drei ausgetretene Kippen.

»Also, die Substanz lässt so einiges zu wünschen übrig«, sagte Lucy und bemühte sich, ihre Begeisterung für dieses Haus nicht allzu deutlich zu zeigen. »Es muss vieles repariert werden. Auf dem Angebot stellten die Fotos ein intaktes Haus dar. Das hier«, sie machte eine ausschweifende Handbewegung, »drückt natürlich den Kaufpreis.«

Energisch schüttelte die Maklerin den Kopf. »Am Kaufpreis gibt es nichts zu rütteln. Der steht fest. Auf etwas anderes lässt sich der Verkäufer nicht ein.«

Lucy zog die Stirn kraus. Sie wollte dieses Haus unbedingt. Dann musste sie eben in den sauren Apfel beißen. Irgendwie würde sie die Summe, die bei dieser Lage bestimmt horrend war, schon abstottern können. Oder sie würde einen Kredit aufnehmen . . . »Na gut. Was soll es kosten?«

»Was wollen Sie überhaupt mit dieser Bruchbude?«, wich die Maklerin aus. »Ich habe viel bessere Angebote für Sie.«

Irritiert sah Lucy sie an. »Ich will nichts anderes. Ich will dieses Haus.« Warum wollte die Maklerin ihr den Kauf auf einmal ausreden? Dann hätte sie ihr das Haus doch gar nicht erst anzubieten brauchen.

Ein durchdringender Blick traf Lucy, doch sie hielt ihm stand. Der Maklerin musste klar sein, dass sie von ihrem Entschluss nicht abweichen würde. Wenn Lucy etwas wollte, mit aller Macht wollte, so wie jetzt, konnte sie stur wie ein Ochse sein, mit Hörnern von mindestens einem Meter Länge. Und wenn ihr Gegenüber dann immer noch nicht nachgab, konnten die Hörner auch auf zwei Meter anwachsen.

»Also«, sagte sie in entschiedenem Ton, »was ist der Kaufpreis?«

»Einen Euro.«

Lucy glaubte sich verhört zu haben. »Sie scherzen.«

»Nein. Es ist mein Ernst.«

»An dem Kaufpreis kann man nun wirklich nicht rütteln. Es sei denn, man will es geschenkt.« Lucy schüttelte ungläubig den Kopf. Das konnte doch gar nicht sein, die Sache musste irgendeinen Haken haben. »Dann gibt es aber sicher irgendwelche Klauseln im Vertrag.«

»Nein.« Eine neue Zigarette glomm auf.

Skeptisch kniff Lucy die Augen zusammen. »Warum ist es dann so billig?«

»Wie ich schon sagte, es ist eine Bruchbude und nichts mehr wert. Verschenken geht aus formellen Gründen nicht, und wenn es teurer ist, treten Sie womöglich vom Kauf zurück. Der Besitzer möchte es loshaben.«

»Trotzdem . . . das war doch noch nicht alles. Was verschweigen Sie mir noch?« Lucy hörte all ihre Alarmglocken läuten. Das reinste Sinfoniekonzert zum Ausreißen.

Unschlüssig druckste die Maklerin herum. Es war mehr als offensichtlich, wie unangenehm ihr diese Unterhaltung war.

»Nun reden Sie schon!«, drängte Lucy. Gleich springe ich sie an und würge sie so lange, bis sie mir sagt, was es mit dem Haus auf sich hat. Ihr Körper straffte sich schon.

»Also gut«, sagte die Maklerin resigniert, als hätte sie Lucys Gedanken gelesen. »Auf dem Haus liegt seit über hundert Jahren ein Fluch. Genaueres weiß ich nicht, nur dass sämtliche Besitzer auf mysteriöse Art und Weise den Tod finden.«

»Ein Fluch?« Jetzt musste Lucy lachen. »Netter Versuch. Das gibt es doch nur im Märchen. Sie glauben nicht wirklich an diese Spinnerei, oder?«

Die Augen der Maklerin suchten nervös die Fenster des Hauses ab. »Nun . . . der letzte Besitzer starb bei einem Autounfall. Auf einer geraden, wenig befahrenen Straße und bei klarer Sicht. Sein Sohn hat das Haus geerbt. Er weiß von dem Fluch, war aber bisher noch nie hier und will es auch nicht sehen. Vielleicht ist er deswegen davon verschont geblieben. Er möchte es so schnell wie möglich loswerden, nur ist das nicht so einfach.«

Einige Sekunden sah Lucy die Maklerin schweigend an. Was auch immer es mit den rätselhaften Todesfällen auf sich hatte – es musste eine vernünftige Erklärung dafür geben. Ernst sagte sie: »Lassen Sie uns die Papiere fertig machen und alles Nötige regeln. Ich nehme es.«

Die Bewegung hinter einem der Fenster, die sie aus dem Augenwinkel wahrnahm, schob sie auf den Wind.

2

Ein paar Tage später hatte Lucy ihre alten Zelte abgebrochen und fuhr mit ihrem Kombi, vollgepackt mit den nötigsten persönlichen Utensilien, zu ihrem neuen Zuhause. Für einige wenige größere Dinge, die sie später nachholen wollte, hatte sie eine Garage gemietet und die Sachen darin eingelagert.

Ihr neues Heim – beziehungsweise das, was erst dazu werden sollte – musste gründlich repariert werden. Der Strom war tot, es lief kein Leitungswasser, auf dem Dach fehlten Schindeln, und von den Wänden bröckelte der Putz. All das konnte Lucy aber nicht aufhalten, ihren Traum vom eigenen Häuschen endlich zu leben.

Sie stieg aus dem Wagen, blieb eine Weile vor dem Haus stehen und ließ den Anblick auf sich wirken. Es war urig klein – für sie völlig ausreichend. Kein Vergleich zum Komfort ihrer modernen Mietwohnung in der Großstadt, aber vielleicht gefiel ihr dieses Häuschen gerade wegen der Schlichtheit so gut.

Nein, das war es nicht. Es war die bedrückende Enge der Stadt und die Ruhelosigkeit. Die kinderreichen Nachbarn hatten für reichlich Unterhaltung gesorgt, der Mieter über ihr lautstarke Musik dazu geliefert, und der Schoßhund der alten Dame unter ihr hatte sich pausenlos als Wachhund aufgespielt. Lucy war die Decke auf den Kopf gefallen. Sie musste raus aus diesem Irrenhaus, raus aus der Stadt.

Hier war alles ruhig. Hier konnte sie endlich wieder zu sich selbst finden. Lucy atmete tief durch und ging auf das Haus zu.

Eine niedrige Steinmauer umrahmte einen kleinen Vorgarten, darin meterhoch wucherndes Unkraut. Irgendwann, nahm sich Lucy fest vor, würden an dieser Stelle wieder viele bunte Blumen blühen. Dann betrachtete sie die Fassade genauer. Die Substanz schien nicht beschädigt zu sein, die Flecken und Löcher stammten lediglich von abbröckelndem Putz; das hatte sie schon beim Besichtigungstermin festgestellt. Frisch verputzen, neu anstreichen – und schon würde es wieder aussehen wie neu. Wichtiger war zunächst, innen alles auf Vordermann zu bringen, damit sie so schnell wie möglich einziehen konnte. Die ersten Nächte würde sie wohl noch im Auto übernachten müssen. Aber mit dem dicken Schlafsack sah sie darin keine Hürde.

Lucy seufzte zufrieden und begann den Wagen leerzuräumen. Den Rest des Tages verbrachte sie damit, etliches Gerümpel aus dem Haus auszulagern, damit die Handwerker, die für morgen bestellt waren, freie Bahn hatten.

Nach vollbrachtem Tagewerk saß sie mit ihrer Dosensuppe, die sie sich auf dem kleinen Campingkocher warm gemacht hatte, neben dem Leuchtturm und blickte hinaus auf den Ozean. Noch nie hatte sie zum Abendessen eine solch herrliche Aussicht genießen dürfen. Der Gedanke, dass sie das ab jetzt jeden Tag haben konnte, ließ ihr Herz höher schlagen und zauberte ihr ein Lächeln aufs Gesicht. Dieses tiefblaue Meer, an manchen Stellen türkisfarben, die unendliche Weite und darüber ein klarer, hellblauer Himmel – es war ein traumhaftes, harmonisches Bild.

Lucy beschloss, dass sie Grund zum Feiern hatte, und öffnete eine Flasche Wein. Das Geschirr einschließlich der Gläser war noch in einem der Kartons verpackt, und sie hatte jetzt nicht die Muße, danach zu suchen. Also setzte sie sich einfach mit der Flasche ins Gras und prostete ihrem neuen Heim zu. »Auf ein schönes Zusammenleben!«

Mit einem genüsslichen Schluck besiegelte sie ihren Erwerb.

Lange saß sie so da und schaute verträumt auf ihr Häuschen, bis die Sonne hinter den kargen, grasbewachsenen Hügeln zu sinken begann und es in ein warmes Rot tauchte. Erst als ihr bereits die Kälte der Nacht unter den Arbeitsanzug kroch, zog sie sich in ihr Auto zurück.

Die Nacht verlief sehr unruhig. Die Rückbank des Kombis war sehr viel härter, als Lucy gedacht hatte. Wieder und wieder wälzte sie sich hin und her in der Hoffnung, eine halbwegs bequeme Position zu finden. Dass sich draußen der Wind in den Felsen verfing und Geräusche erzeugte, die wie Menschenschreie klangen, trug auch nicht eben zur erholsamen Nachtruhe bei. Lucy kroch tiefer in ihren Schlafsack hinein und zog sich dessen Kapuze eng um den Kopf, aber auch dadurch ließen sich die schaurigen Klänge nicht ausblenden.

Irgendwann musste sie wohl doch eingeschlafen sein, und die Geräusche vermischten sich mit ihren Träumen. Aus den Schreien schälte sich eine einzelne Stimme heraus.

»Was willst du hier?«

Lucy wusste nicht, ob sie diesen Ruf träumte oder ob er real war. Sie versuchte die Augen zu öffnen, aber ihre Lider waren wie Blei. So konnte sie nicht sehen, wer sie da rief.

»Was willst du hier?«, fragte die Stimme erneut, diesmal energischer. Es schien eine Frauenstimme zu sein.

Lucy hörte sich wie in Trance antworten: »Hier leben. Wer bist du?«

»Du bist hier nicht willkommen. Verschwinde!«

Na, das war ja wohl die Frechheit in Person! Obwohl sie besagte Person nach wie vor nicht sehen konnte. »Ha«, gab Lucy zurück. »Da könnte ja jeder kommen!«

»Ich bin nicht jeder.«

»Dann sag mir, wer du bist.« Erneut versuchte Lucy, die Augenlider auseinanderzubekommen. Doch sie ließen sich einfach nicht öffnen, so sehr sie sich auch bemühte. Hatte die einer zugeklebt?

»Geh«, kam es statt einer Antwort von der unsichtbaren Ruferin. »Bevor es zu spät ist!«

»Ich werde nicht gehen. Ich habe dieses Haus gekauft. Es gehört mir.« Langsam stieg in Lucy Wut auf. Sowohl über diese unerfreuliche nächtliche Unterhaltung als auch darüber, dass sich ihre Augen immer noch nicht öffnen ließen.

»Es gehört keinem außer mir«, heulte es durch die Nacht. »Man hat es mir gestohlen.«

»Wer? Wer hat es dir gestohlen?«

»Der High Sheriff.« Aus der Stimme klang nun Bitterkeit.

High Sheriff? So etwas gab es doch gar nicht mehr. Was sollte dieses Spielchen? Spielte ihr da jemand einen dummen Streich? Und musste das ausgerechnet mitten in der Nacht sein?

Konnte dieser Jemand seine Späße nicht bei Tage machen? Jetzt war sie dafür einfach zu müde. Sie wollte schlafen. Morgen hatte sie wieder ein volles Arbeitspensum.

»Verschwinde«, rief es durch die Dunkelheit, ehe Lucy sich von ihrer Verwirrung erholt hatte.

Jetzt reichte es aber. Lucys Wut kochte über. »Verdammt, wer bist du?«, schrie sie, so laut sie konnte.

Da wurde sie plötzlich kräftig durchgeschüttelt. Entsetzt riss sie die Augen auf, was auf einmal wieder möglich war. Ihr Atem ging heftig. Aber sie konnte immer noch nichts sehen, jedenfalls nichts, was auf einen Urheber der Bewegung hingedeutet hätte, denn die Fensterscheiben ihres Autos waren beschlagen. Schweiß brach ihr aus, die Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf. Dann war das Schütteln unvermittelt vorüber.

Mit dem Ärmel ihrer Jacke wischte sie die Feuchtigkeit auf der Scheibe an einer Stelle weg, um hinausschauen zu können. Doch in diesem Moment drückte sich von außen ein Gesicht ans Fenster und starrte sie an. Zu Tode erschrocken prallte Lucy zurück und stieß sich dabei schmerzhaft die Schulter. Sie schrie auf.

Als sie mit hämmerndem Herzen wieder zum Guckloch sah, war das Gesicht verschwunden. Aber das beruhigte Lucy keineswegs. Sollte dieser Jemand etwa versuchen, zu ihr hereinzukommen?

Hastig prüfte sie, ob die Türen alle verriegelt waren. Glücklicherweise war ihr Kombi noch aus vergangenen Jahrzehnten und besaß an jeder Tür einen Knopf, den man einzeln per Hand hinunterdrücken musste, um das Auto von innen zu verriegeln. Dadurch konnte Lucy mit einem Blick feststellen, dass sämtliche Türen verschlossen waren. Erleichtert, aber immer noch nervös schaute sie sich um. Seltsam, die Scheiben waren wieder frei. Trotzdem konnte sie draußen absolut nichts erkennen, obwohl in einiger Entfernung wenigstens der Lichtschein von ein paar Straßenlaternen hätte sichtbar sein müssen. Lucy rieb sich die Augen. Aber es wurde nicht besser. Hatte der Wein ihren Blick doch mehr getrübt, als sie dachte?

Dann musste sie plötzlich lachen. Vor den Autofenstern waberten dicke Nebelschwaden vorbei – das war der Grund, warum sie nichts sah. Die Schwaden formten sich zu unterschiedlichen Gestalten, sahen manchmal sogar aus wie Gesichter. Was für eine Närrin sie doch war, sich von einem solchen Naturspektakel und ihren wirren Träumen so erschrecken zu lassen! Aber in dieser unruhigen Nacht war das vielleicht kein Wunder.

Sie legte sich wieder auf der Rückbank zurecht, aber der Schlaf wollte sich nicht mehr einstellen. Immer wieder sah sie auf die Uhr. Eine Weile würde es noch dunkel bleiben und sie selbst damit zur Untätigkeit verdammt, weil sie im Haus ja kein Licht machen konnte. Endlich begann sich weit draußen über dem Ozean ein schwacher rosa Schimmer zu zeigen.

Lucy wollte sich das Schauspiel des Sonnenaufgangs über dem Meer nicht entgehen lassen. Sie krabbelte aus dem Auto, stellte sich an den Rand des Steilufers und beobachtete, wie sich der goldene Ball langsam aus dem Wasser erhob. Unten in der Tiefe wälzte sich das Meer beständig vor und zurück, immer wieder neue Angriffe auf die Klippen startend. Schäumende Gischt lag in der Luft wie Dunst, und der Klang der tosenden Brandung hallte zu ihr nach oben.

Hier braucht man keine Musik, dachte Lucy glücklich. Die gab es gratis von der Natur, und sie wirkte beruhigend und gleichzeitig kräftigend. Lucy spürte eine nach der schlaflosen Nacht unerwartete Energie in sich aufkeimen, die ihren Tatendrang bestärkte und Freude darauf weckte, die Arbeiten an ihrem Haus voranzutreiben.

Eine Bewegung hinter ihr ließ sie herumfahren. Sie glaubte gespürt zu haben, wie etwas sie streifte – nein: Sie hatte es gespürt. Doch da war nichts. Es musste der Wind gewesen sein.

An diese vielfältigen Naturerscheinungen würde sie sich wohl noch gewöhnen müssen. Mit einem Seufzer ging sie zum Haus zurück und machte sich einen starken schwarzen Tee. Eine Dose gebackene Bohnen vervollständigte das Frühstück.

Eine halbe Stunde später trafen die ersten Handwerker ein, und es wurde betriebsam im Haus. Der Elektriker stellte nach kurzer Inspektion fest, dass er vollständig neue Leitungen verlegen musste, und auch der Klempner würde fast sämtliche Rohre erneuern müssen. Draußen begann der Dachdecker damit, die kaputten Schindeln auszuwechseln.

Um nicht im Weg zu stehen, entschied Lucy, sich mit dem Entrümpeln der Dachkammer zu beschäftigen. Eine schmale Holztreppe führte dort hinauf, und einige Stufen knarrten gefährlich unter ihren Füßen. Bereits am Tag der Besichtigung hatte Lucy festgestellt, dass schon Ewigkeiten niemand mehr hier oben gewesen sein musste. Spinnweben und eine Staubschicht, die noch dicker war als im Rest des Hauses, überzogen alles mit einem einheitlichen Grau. Alte Möbel, Kleider, Mäntel und Fischernetze fristeten hier ihr Dasein gemeinsam mit Holzwürmern und Motten.

Vorsichtig trat Lucy auf eine alte Truhe zu und griff nach den zerschlissenen Kleidungsstücken, die darauf lagen. Aber alles, was sie auch nur anfasste, bröselte oder zerfiel ihr zwischen den Fingern. Kaum etwas blieb ganz.

Hier half nur eines. Sie ging wieder nach unten und kramte in ihrem Gepäck nach einem Tuch, das sie sich schützend um Mund und Nase wickelte. Dann stieg sie zurück auf den Dachboden und stopfte ein Teil nach dem anderen in Müllsäcke. Holz sammelte sie extra, denn das konnte sie noch gut zum Feuern des Kamins verwenden.

Gegen Abend, die Handwerker waren schon in den Feierabend gegangen, hatte Lucy den Dachboden fast vollständig leergeräumt. Zu ihrer großen Überraschung hatte sie unter dem alten Trödel ein wunderschönes Himmelbett entdeckt. Nachdem sie es mit einem Handfeger entstaubt und mit einem feuchten Lappen abgewischt hatte, offenbarten sich an dem hölzernen Rahmen zahlreiche Schnitzereien und bunte Intarsien am Kopfteil, die ein Segelschiff auf stürmischer See darstellten. Und sie konnte ihr Glück kaum fassen, als sie feststellte, dass das Bett weitgehend von den Holzwürmern verschont geblieben und noch sehr gut erhalten war. Gründlich gesäubert und aufpoliert war es ein funktionstüchtiges Schmuckstück, das Lucy auf jeden Fall behalten und nutzen wollte. Eine neue Matratze würde sich finden, und auch für den Himmel neuen Stoff zu besorgen, sollte kein Problem sein.

Liebevoll strich sie mit der Hand über die Verzierungen, und ein warmes Gefühl durchströmte sie. Das Holz knarrte, als würde es mit ihr reden, ihr seine Geschichte erzählen wollen. Sie lächelte. In diesem Moment wusste sie, dass sie sich in diesem Bett sehr wohl fühlen würde. Woher sie diese Eingebung hatte, war ihr nicht klar. Aber vermutlich kam sie daher, dass ein Bett einfach immer gemütlicher war als die Rückbank eines alten Kombis.

Mit einem zufriedenen Seufzer sah sie sich um. Jetzt, wo nur noch das Bett auf dem Dachboden stand und die Abendsonne ihre roten Strahlen durch das kleine Giebelfenster schickte, hatte der Raum mit den beiden Dachschrägen und den Bodendielen etwas Rustikales und verströmte urige Gemütlichkeit.

Das perfekte Schlafzimmer, dachte Lucy. In ihrer Vorstellung richtete sie den Raum bereits fertig ein, malte sich die Dekorationen aus. Wenn sie hintereinander weg arbeitete, könnte sie am Wochenende vielleicht schon hier oben schlafen. Welch herrlicher Gedanke, den harten Autositzen zu entkommen!

Eine Stufe auf der Treppe knarrte. Lucy schrak zusammen.

Niemand kam herauf. Natürlich nicht, wer sollte denn auch noch hier sein außer ihr. Die Handwerker waren alle längst gegangen. Angespannt lauschte sie noch eine Weile in die Stille hinein, dann schüttelte sie sich und griff nach dem Besen, um die abschließenden Handgriffe in Angriff zu nehmen.

Das Haus atmet sichtlich auf, weil es endlich von dem ganzen Dreck befreit wird, dachte sie, während sie den Schmutz zusammenfegte. Als sie draußen den letzten Abfalleimer leerte und sich das Staubtuch vom Gesicht zog, war das die einzige Stelle an ihrem ganzen Körper, die noch sauber war. Ansonsten sah sie so grau aus wie die Bodenkammer zu Beginn ihrer Arbeit. Sie musste lachen, als sie ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe sah, hinter der das Innere des Hauses dunkel war.

Dann stutzte sie. Für einen winzigen Moment hatte es so ausgesehen, als ob ihr auf der anderen Seite des Fensters jemand mit steinernem Blick entgegensah. Aber es war sicher nur eine Lichtspiegelung.

Lucy amüsierte sich eine Weile damit, ihrem Spiegelbild Grimassen zu schneiden und mit all dem Dreck im Gesicht möglichst furchterregend auszusehen. Bis sie erneut erstarrte. Hinter dem Fenster meinte sie eine schnelle Bewegung wahrzunehmen. Im selben Moment ertönte ein dumpfes Geräusch, wie ein Schlag – als sei eine Faust von innen auf die Scheibe getroffen. Das Glas barst. Ein Sprung zog sich über die ganze Länge des Fensters.

Lucy war zu Tode erschrocken, aber nur für einen kurzen Augenblick. Ein prüfender Blick durch das Fenster zeigte ihr, dass da niemand war. Lachend meinte sie zu sich selbst: »Ich sehe so furchteinflößend aus, dass sogar die Scheiben zerspringen. Das wird mir nie einer glauben. Lucy, du solltest unbedingt was für dein Äußeres tun, sonst hast du bald nur noch kaputte Fenster.«

Und dafür wurde es tatsächlich höchste Zeit. Die Sonne schickte sich an unterzugehen, und in einer guten Stunde würde es dunkel sein. Also stopfte Lucy rasch ein paar frische Sachen und ein Handtuch in eine Tasche und stieg den einzigen schmalen Trampelpfad am Steilufer zum Strand hinab, um ein ausgiebiges Bad zu nehmen.

Das Wasser des Meeres war kalt, aber es tat gut. Sie wusch sich gründlich den Schmutz aus den Poren und tauchte unter, um sich auch die Haare zu waschen, in denen sich die Spinnweben zu einem Haarnetz arrangiert hatten. Anschließend fühlte sie sich herrlich erfrischt. Das Meer umschmeichelte sie wie ein neues Kleid. Entspannt legte sie sich auf den Rücken, schwamm ein paar gemächliche Züge und blickte nach oben zum Leuchtturm, der in der Abendsonne orangerot leuchtete.

Neben dem Turm glaubte Lucy eine Frau in einem hellblauen Kleid zu erkennen. Wassertretend verweilte sie auf der Stelle, um genauer hinsehen zu können, aber die Gestalt war bereits wieder verschwunden. Wahrscheinlich eine Touristin, sagte sich Lucy, oder vielleicht eine neugierige Bewohnerin aus dem Dorf.

Als sie wenig später wieder oben ankam, war niemand zu sehen.

Erschöpft machte sie sich ein paar belegte Brote, trank noch etwas Wein aus der offenen Flasche dazu und rollte sich dann auf der Rückbank zusammen, wo sie diesmal wenig später todmüde in einen festen Schlaf fiel. Keine Kanone hätte sie wach bekommen.

Diese Nacht verlief ohne Störungen – zumindest konnte Lucy sich an nichts erinnern, als sie morgens erwachte. Die Sicht war klar, die Sonne schien bereits von einem strahlend blauen Himmel herab und versprach einen wunderschönen Tag, und schon wenig später trafen die Handwerker ein.

Lucy verzog sich wieder auf den Dachboden, während die Männer unten und draußen ihre Arbeiten fortsetzten. Das Bett hatte es ihr angetan. Es übte eine magische Anziehungskraft auf sie aus, ähnlich dem Gefühl, das sie gehabt hatte, als sie zum ersten Mal durch die Tür ins Haus getreten war. Ein wohliger Schauer durchrieselte sie, als sie das Holz des Rahmens wie zur Begrüßung berührte. Sie verspürte ein Kribbeln in den Fingern – wie eine Einladung, sich zu setzen.

Lucy tat es. Sie ließ sich auf der alten, fleckigen Matratze nieder, hielt still und lauschte gespannt, was das Bett zu erzählen hatte.

Nichts.

Das Bett schwieg.

Aber trotzdem war da etwas, was Lucy nicht benennen konnte. Etwas wie eine zögerliche Zurückhaltung, hinter der sich eine lange verschwiegene, spannende Geschichte verbarg. Manche Menschen konnten sich ja auch nicht gleich auf Anhieb öffnen und über ihr Leben reden. Vielleicht ging es dem Bett ja genauso.

Ich spinne, dachte Lucy. Jetzt denke ich schon darüber nach, mich mit einem Bett zu unterhalten. Bekommt mir die Einsamkeit hier nicht? Nein, das kann nicht sein. Ich fühle mich so frei wie noch nie. Keine Hektik, kein Lärm, keiner trampelt auf meinen Nerven herum.

Aber ich bin in stummer Zwiesprache mit einem Bett . . . Die zweite Hälfte der Flasche Wein gestern Abend war eindeutig zu viel. Das kommt dann davon.

Und wenn schon . . . Lucy zuckte mit den Schultern und stand auf. Es gab wahrhaftig Schlimmeres, als Gespräche mit leblosen Objekten zu führen.

Sie krempelte die Ärmel hoch.

In den nächsten Stunden schliff und schmirgelte sie wie besessen die Bodendielen der Dachkammer. Zum Schluss sahen sie fast aus wie neu. Lucys Hände waren durch die Arbeit rau und rissig geworden, aber das störte sie nicht. Stolz betrachtete sie ihr Werk. Jetzt fehlte nur noch eine Holzschutzlasur.

Kurzentschlossen ließ sie die Handwerker für eine Weile allein und fuhr hinunter in den kleinen Ort, um sich in der Drogerie dort Lasur, Farbe und Politur zu besorgen. Bei der Gelegenheit fiel ihr ein, dass sie eigentlich auch gleich ihren Bestand an Lebensmitteln auffrischen konnte. In dem kleinen Fischereihafen gab es verschiedene Marktstände. Lucy erwarb fangfrische Garnelen, zwei Fische sowie frisches Obst, Gemüse und Brot. Daraus würde sie sich am Abend auf ihrem Campingkocher ein leckeres Gericht brutzeln.

Die Einheimischen begegneten ihr freundlich, aber gleichzeitig auch mit einer gewissen Zurückhaltung, als hätten sie Angst, ihr näherzukommen. Trotzdem fühlte Lucy sich wohl hier. Alles war so angenehm ruhig, nirgendwo herrschte Eile. Sie verstaute ihre Einkäufe im Kofferraum des Kombis, als ihr knurrender Magen sie daran erinnerte, dass sie schon lange kein handfestes Mittagessen mehr zu sich genommen hatte – und bis zum Abend war es noch lange hin.

Sie sah sich suchend um und entdeckte an der Ecke einer der Straßen, die zum Hafen führten, ein malerisches altes Haus aus grob behauenem Stein mit Reetdach, über dessen Tür einladend Gundis Pub stand. Erfreut ging sie darauf zu. Beim Näherkommen bemerkte sie, dass das Schild mit dem Namen eine Schiffsplanke war, vielleicht von einem gesunkenen Schiff. Hier hatte wirklich alles mit dem Meer und der Schifffahrt zu tun.

Die Tür des Pubs war niedrig, und Lucy musste den Kopf einziehen, als sie eintrat – genau wie bei ihrem Haus. Das war wohl typisch für die alten Häuser in dieser Gegend. Im Inneren empfingen sie eine ebenfalls niedrige Decke mit dicken Holzbalken, eine lange Holztheke sowie rustikale Tische und Stühle. Die Rahmen der Fenster und Türen waren aus demselben Naturstein gemauert, aus dem auch die äußere Fassade bestand, und bildeten einen schönen Kontrast zum hier drinnen weiß verputzten Mauerwerk, an dem unzählige Bilder von Schiffen hingen. Überwiegend alte Segler, stellte Lucy fest. Auch Steuerräder erblickte sie an den Wänden, Fischernetze und sogar einen Anker, der als Lampe diente.

Etwa ein Dutzend Gäste saß an den Tischen. Doch die Gespräche wurden leiser und verstummten zum Teil ganz, als Lucy zur Theke ging. Ihr wurde flau im Magen. Sie schob es auf den Hunger, denn normalerweise war sie kein Angsthase.

»Bekommt euch mein Bier nicht, oder habt ihr schon seit Jahrzehnten kein neues Gesicht mehr gesehen?«, dröhnte es auf einmal durch den Raum. Es kam von der Frau hinter der Theke, die über ihre Gäste, in erster Linie männliche, offensichtlich eine nicht zu unterschätzende Autorität innehatte. Augenblicklich kam in die bärtigen und vom Wetter gegerbten Gesichter wieder Bewegung und die Unterhaltungen erneut in Gang, die Lippen hingen an den Biergläsern.

Lucy wandte sich der Frau zu, deren Durchsetzungskraft sie nur wenig überraschte. Sie schätzte sie auf um die einhundertdreißig Kilo schwer. Diese Frau war sicher nicht nur mit Worten schlagkräftig.

»Hi«, begrüßte sie Lucy jetzt. »Ich bin Gundula, die Besitzerin von dem Laden hier.« Sie machte eine ausladende Handbewegung. »Aber mich nennen alle nur Gundi. Du bist sicher die Neue vom Leuchtturm?«

»Steht mir das so deutlich auf die Stirn getackert?«, erwiderte Lucy mit einem Lächeln. »Hi. Ich bin Lucy.«

»Keine Angst, die sind immer so.« Gundi nickte mit dem Kopf in Richtung der anderen Gäste. »Jemand Neues im Ort ist immer wie ein Außerirdischer. Du wirst ungefähr zwanzig Jahre brauchen, bis sie dich zu den Angesiedelten zählen. Einheimisch bist du nur, wenn du hier geboren wurdest. Was kann ich für dich tun?«

Lucy störte es nicht, dass Gundi so zwanglos und informell mit ihr umging. Das gab ihr das Gefühl, die erste Aufnahmeprüfung in der Gemeinschaft bestanden zu haben – auch wenn es, Gundis Informationen zufolge, ewig dauerte, wirklich dazuzugehören. »Der Fischduft am Hafen hat mich hungrig gemacht, und nach einigen Tagen Dosenfutter dachte ich, das wäre hier das Richtige dafür.«

Gundi lachte. »Setz dich hier auf den Hocker, und ich bringe dir gleich was.« Sie wischte mit dem Lappen über die Theke. »Ein Bier als Erfrischung?«

»Ich bin mit dem Auto da . . .«

Mit einer wegwerfenden Geste fegte Gundi diesen Einwand beiseite: »Bis du gegessen hast und den Pub verlässt, ist der Alkohol im Körper verdunstet. Musst nur rechtzeitig bremsen, damit du nicht über die Steilküste schießt.«

Sekunden später stand ein kühles Blondes mit weißer Blume vor Lucy. Gundi verschwand in der Küche und war drei Minuten später mit einem Gericht aus frischer Scholle, Kartoffeln und gedünstetem Gemüse wieder zurück.

»Das ging ja schnell und sieht sehr lecker aus«, strahlte Lucy und ließ sich gar nicht erst bitten, zuzugreifen. »Einfach köstlich«, schwärmte sie mit vollem Mund. »Der Fisch zergeht auf der Zunge.«

Gundi nahm das Kompliment mit einem Lächeln zur Kenntnis und ging dann einige andere Gäste bedienen, bevor sie wieder zurück hinter ihre Theke kam. Neugierig beugte sie sich zu Lucy und erkundigte sich: »Was treibt dich eigentlich in diese Gegend hier?«

»Der Hauch von Freiheit.«

»Ein Hauch von Nichts, ja.« Gundi lachte trocken. »Wir haben hier nichts, womit man jemand locken kann.«

»Doch«, widersprach Lucy überzeugt. »Hier gibt es keinen Stress und keine Hektik, dafür Ruhe und Natur, wann immer einem danach ist.«

»Verstehe«, nickte Gundi, »Großstadtflüchtling. Was ist mit deinem Job?«

»Den kann ich auch von hier erledigen. Zu Hause auf meinem Laptop. Ich bin Journalistin.«

»Aha. Du bist platt auf den Felgen.«

Lucy sah ihr Gegenüber mit großen Augen an. Gundi hatte sie durchschaut. Leise, damit es niemand im Schankraum hören konnte, sagte sie: »Fast. Ich habe gerade noch die Kurve gekriegt. War kurz vor dem Burnout. Ich musste etwas ändern.«

Warum erzähle ich eigentlich so viel von mir, dachte sie im nächsten Moment, von sich selbst überrascht. Gundi ist eine wildfremde Frau, die ich gerade einmal fünf Minuten kenne – und schon schütte ich ihr mein Herz aus. Das sieht mir doch eigentlich gar nicht ähnlich, so geschwätzig zu sein.

Mit einem warmen Lächeln legte Gundi ihr eine Hand auf den Arm und sagte: »Dann bist du hier im Prinzip richtig.«

Lucy hielt im Kauen inne. »Höre ich da eine kleine Einschränkung heraus? Was heißt im Prinzip?«

Das Lächeln auf Gundis Gesicht verschwand. »Alles wäre perfekt, wenn nicht der Fluch wäre, der auf deinem Haus lastet.«

»Du meinst, dass die Besitzer alle zu Tode kommen? Das hat mir schon die Maklerin erzählt.« Lucy verschluckte sich fast und musste sich große Mühe geben, nicht laut herauszulachen, um nicht unhöflich zu erscheinen. »Ihr glaubt doch nicht wirklich an diese Geschichten?«

Doch Gundi lachte nicht. Sie begann, mit einem Geschirrtuch Gläser abzutrocknen, sah dabei aber immer wieder zu Lucy hin. »Dann hast du noch keine merkwürdigen Vorkommnisse erlebt? Stimmen gehört oder den Atem des Hausgeistes gespürt?«

Lucy starrte sie verdattert an. Wollte Gundi sie jetzt auf den Arm nehmen, oder meinte sie es tatsächlich ernst? Das war doch mit Sicherheit nur ein Witz. Gut, die erste Nacht, ja – die Schreie, die Unterhaltung mit einer Unsichtbaren. Aber das war ein Traum gewesen. Wenn man träumte, hörte man nun mal seltsame Stimmen oder erlebte sonstige bizarre Dinge. Nur meistens konnte man sich morgens nicht mehr an den Traum erinnern. Und andere merkwürdige Vorkommnisse hatte es bisher nicht gegeben. Die kaputte Scheibe gestern Abend? Sicher ein Luftzug. Die Fenster waren alle undicht, das Holz morsch und der Kitt herausgefallen.

»Also«, sagte Lucy fest, »ich glaube nicht an solchen Hokuspokus. Das entspringt doch alles nur den Phantasien der Menschen oder irgendwelchen Legenden aus vergangener Zeit. Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert.« Energisch schüttelte sie den Kopf, um ihre Aussage zu bekräftigen.

Gundi musterte sie prüfend. »Und wenn dir doch irgendwann der Hausgeist gegenübersteht?«

»Dann lade ich ihn auf einen Kaffee ein.«

»Es ist eine Sie.«

»Noch besser. Eine Runde Kaffeeklatsch auf den Klippen. Wollte ich schon immer mal mit einem Geist machen.« Lucy strahlte Gundi an.

»Du hättest das Zeug, den Fluch zu brechen«, meinte Gundi nachdenklich, während sie ein Glas, das längst trocken war, auf Hochglanz polierte. Ihre Mimik verriet nichts, was auf einen Scherz deutete.

Sie spielte ihre Rolle überzeugend, das musste man ihr lassen. »Ach, komm schon«, machte Lucy einen Versuch, das Gespräch zurück in normale Bahnen zu lenken. »Ich werde diesen Pub wohl eher mit einem aufgebundenen Bären verlassen, als dass ich in meinem Haus einem Geist begegne.«

»Wie du meinst. Aber beschwere dich hinterher nicht, wenn du plötzlich tot bist.«

Lucy musste lachen. »Weißt du, du bist echt hartnäckig. Na gut . . . erzähl mir wenigstens, worum es bei dem Fluch geht. Nur damit ich gewappnet bin.«

Gundi stellte das Glas weg und warf sich das Geschirrtuch über die Schulter. Mit den Ellbogen stützte sie sich auf die Theke und beugte sich näher zu Lucy heran. Leise, so dass es kaum einer von den Gästen im Pub hören konnte, begann sie zu erzählen.

»Vor knapp hundertfünfzig Jahren lebte in dem Haus am Leuchtturm eine junge Frau mit ihrem Bruder. Ihre Eltern waren frühzeitig gestorben. Kyra kümmerte sich um den Haushalt, den Garten und einige Schafe, Kyle war Fischer und Leuchtturmwärter. Man munkelte, er habe mit Schmugglern unter einer Decke gesteckt, konnte es ihm aber nie beweisen. Eines Nachts kenterte bei einem Sturm ein Schiff vor der Steilküste. Fast die komplette Besatzung muss ertrunken sein. Aber am frühen Morgen des nächsten Tages sah Kyra unten am Strand etwas Weißes und eilte hinab. Eine Frau lag dort, und Kyra stellte fest, dass sie noch lebte. Sie hieß Jane. Mühsam trug Kyra sie über den schmalen Trampelpfad die Felsen hinauf und pflegte sie gesund. Dabei ergab es sich, dass die beiden Frauen sich ineinander verliebten. Doch sie mussten diese Liebe geheim halten – das galt als Unzucht.

Als Jane gesund war, arbeitete sie auf dem Hof mit, versorgte die Schafe und verdiente sich so einen kargen Lebensunterhalt. Wenn Kyle mit dem Boot draußen auf Fischfang war, konnten Kyra und Jane ihren Gefühlen freien Lauf lassen und ihre Liebe ausleben. Irgendwann kam Kyle jedoch dahinter und verriet die beiden Frauen an den High Sheriff im Ort. Er hatte das Haus schon immer für sich allein gewollt, sicher um seine Schmuggelgeschäfte besser ausführen zu können, doch er konnte Kyra nicht einfach so vor die Tür setzen. Sie hatten schließlich beide das Haus von ihren Eltern geerbt. Jedenfalls war Jane gerade draußen, die Schafe hüten, als der Ortsvorsteher mit seinen Schergen kam und Kyra verhaftete. Das Gerücht über die Liebe der beiden Frauen zueinander breitete sich im Ort aus wie ein Lauffeuer, und Jane musste untertauchen. Sie wusste, dass auf Unzucht eine lange Gefängnisstrafe stand und sie von den Leuten im Dorf fortan wie eine Aussätzige behandelt werden würde. Dennoch versuchte sie, Kyra zu befreien, aber sie schaffte es gar nicht bis ins Gefängnis. Die aufgebrachten Einwohner entdeckten und lynchten sie, und sie starb einen qualvollen Tod. Kyra musste von drinnen alles mit ansehen. Dann steckte die wütende Menge das Gefängnis in Brand, und man hörte Kyras Todesschreie. Allerdings hat man ihre Leiche nie gefunden. Man munkelte, sie sei aus dem Flammenmeer geflohen, als ein Teil des Gefängnisses einstürzte, und habe sich in ihrem Haus versteckt.

Am nächsten Tag fanden Fischer Kyle zerschmettert auf den Klippen unterhalb des Leuchtturms liegen. Als sie hochblickten, sahen sie neben dem Turm eine Frau in einem hellblauen Kleid. Diese Frau sah Kyra sehr ähnlich. Sie muss ihren Bruder aus Rache die Felsen hinuntergestoßen haben. Seitdem geistert sie stets in dem Leuchtturmwärterhaus herum und jagt jeden davon, der ihr die Erinnerung an die glückliche Zeit mit Jane nehmen könnte. Wer sich nicht vertreiben lässt, findet auf unliebsame Weise den Tod. Das Haus soll auf ewig ein Denkmal für die Liebe von Kyra und Jane sein. Deshalb der Fluch.«

Interessiert hatte Lucy Gundis Erzählung gelauscht. »Eine schöne Geschichte. Aber so tragisch . . .« Sie unterbrach sich. Gundi hatte eine Frau im hellblauen Kleid erwähnt. Die Frau, die sie selbst gestern Abend auf dem Steilufer gesehen hatte, als sie schwimmen war, hatte auch ein hellblaues Kleid getragen . . .

Sollte an dieser märchenhaften Geschichte etwa doch etwas dran sein? Lucy konnte nicht leugnen, dass sie die merkwürdigen Erlebnisse, die sie eben noch als völlig normal und einfach zu erklären abgetan hatte, jetzt in einem ganz neuen Licht betrachtete. Und dass ihr dabei ein leichter Schauer den Rücken hinunterrieselte. Er war nicht unangenehm, eher ein wohliges Gruseln.

»Aber inwiefern soll es möglich sein, diesen Fluch zu brechen?«, fragte sie neugierig.

Gundi antwortete: »Das kann nur die Liebe.«

»Ich verstehe nicht . . .«

»Wenn Kyra sich neu verlieben würde, wäre der Fluch vorüber, und sie könnte ihre Ruhe finden.«

Geister, die sich verliebten? Lucy schüttelte den Kopf. Der kurze Anflug einer Vermutung, dass Gundis Geschichte vielleicht doch mehr als nur eine Legende sein könnte, war vorüber. »Wie soll das denn gehen, wo sie seit hundertfünfzig Jahren tot ist? Ich wusste, dass du mir einen Bären aufbindest.«

»Nichts ist unmöglich«, erwiderte Gundi ernst.

»Okay. Nichts für ungut. Ich muss dann mal wieder an die Arbeit.« Entschlossen ließ sich Lucy von ihrem Barhocker gleiten. Sie grinste Gundi an: »Den Bären lasse ich da. Was bin ich dir sonst schuldig?«

Gundi winkte ab. »Geht aufs Haus. Sieh es als Begrüßungsgeschenk. Oder als Henkersmahlzeit – wie du willst.«

Mit einem herzlichen Lächeln bedankte sich Lucy und verabschiedete sich.

Als sie wieder zu Hause eintraf, stellte sie zu ihrer großen Freude fest, dass die Handwerker gut vorangekommen waren. Das Dach war vollständig erneuert, und Elektrizität und Wasser funktionierten. Mit ihren Lasurtöpfen stieg Lucy auf den Dachboden hinauf und pinselte die Dielen. Dabei ging ihr das Gespräch mit Gundi durch den Kopf und auch ihr Traum in der ersten Nacht.

Es war ein Frauengesicht gewesen, das sie an der Autoscheibe gesehen hatte. Und dann gestern Abend diese Frau im hellblauen Kleid, die oben am Leuchtturm erschienen war . . . Wieder fragte sie sich, ob das wirklich alles Zufälle gewesen waren. Oder war tatsächlich etwas Wahres an der Geschichte mit dem Fluch?

Lucy entschied sich für die Zufälle. Es gab keine Geister. Nur für diejenigen, die daran glaubten – und zu denen gehörte Lucy nicht.