Zu wissen, es ist für immer - Catherine Fox - E-Book

Zu wissen, es ist für immer E-Book

Catherine Fox

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Beschreibung

Das Liebesleben von Staranwältin Evelyn verläuft genauso nach Plan wie ihre Karriere. Doch eines Tages stürzt sie bei einem Ausritt vom Pferd und wird von einer jungen Frau gerettet. Andie ist das Gegenteil von Evelyn, respektlos, planlos, bar jeder Manieren. Trotzdem nimmt Evelyn Andie bei sich auf, denn sie hat sich in sie verliebt. Doch die Unfälle häufen sich - und immer ist Andie in der Nähe. War die Rettung gar kein Zufall? Hatte Andie den Unfall geplant? Evelyn will das nicht glauben, doch Zweifel beginnen an ihr zu nagen ... Sie muss das Geheimnis um Andie auf jeden Fall lüften.

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Catherine Fox

ZU WISSEN, ES IST FÜR IMMER

Roman

Originalausgabe: © 2011 ePUB-Edition: © 2013édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-065-3

Coverfoto:

1.

Sie lief zu schnell, um den Strand zu genießen, und zu langsam, um vor etwas davonzulaufen. Ihr Blick war geradeaus gerichtet und schaute doch ins Nichts. Erst als sie kurz vor Evelyn war und sie bemerkte, lösten sich ihre Augen aus der Leere und verfingen sich für Bruchteile von Sekunden in Evelyns.

Stahlblaue Augen tauchten in hellblaue. Unweigerlich wurde Evelyn von diesen Augen in ihren Bann gezogen. Eine undurchsichtige kalte Mauer sprang ihr entgegen. Verschlossen und doch provozierend. Dann, für einen winzigen Moment, ein Flackern. Ein Aufleuchten.

Der grelle Blitz traf Evelyn völlig unerwartet, ging ihr durch und durch und ließ ihre Sinne bersten. Evelyn erschauerte. Eine Gänsehaut jagte ihr den Rücken hinunter, und im Gegenzug dazu wirbelte in ihrem Innern ein Hitzetornado ihren Magen durcheinander. Evelyn wurde schwindlig, doch diese stahlblauen Augen hielten Evelyns Blick fest. Sie war gefangen darin und zwang sich dazu, bei Sinnen zu bleiben.

Die Augen gaben sie frei, und Evelyn schien, als würde sie aus dieser Trance heraus auf kalten, harten Boden aufschlagen. Ihr Gehirn begann wieder zu arbeiten. Was war das soeben gewesen? Es war ihr noch nie zuvor passiert, daß der Blick eines anderen Menschen sie so getroffen hatte. Der ihr bis ins Mark ging und ihr jegliches Denkvermögen für Sekunden raubte. Sie wagte erneut einen Blick in diese Augen.

Doch das Leuchten darin war verschwunden. Das Stahlblau wirkte wieder verschlossen. Verschlossen und kalt wie ein Eisberg. Die junge Frau ging an Evelyn vorüber, den wieder leeren Blick vor sich hin ins Nichts gerichtet.

Evelyn zügelte ihr Pferd, drehte sich verwundert nach der Fremden um, die – unbeirrt in ihrem Tempo und die Hände in den Taschen ihrer dunkelblauen Kapuzenjacke vergraben – weiter den Strand entlanglief und nichts um sich herum wahrzunehmen schien. Eine Fremde, deren Augenpaar sich wie ein glühendes Eisen in Evelyns Inneres gebrannt hatte.

Das Schnauben ihres Pferdes riß sie wieder aus ihren Gedanken. Evelyn ritt weiter. Der laue Wind, der ihr durchs Haar fuhr, spielte ebenso sanft mit dem Meer. Ungestüm kräuselten sich die Wellen und brachen sich an den Steinen, die aus dem Wasser ragten. Das monotone Rauschen wirkte beruhigend. Die Sonne lachte vom fast wolkenlosen Himmel, sah dem bunten Treiben der Natur zu. Ein paar Möwen drehten auf der Suche nach Frischfutter im Gleitflug ihre Runden über der Wasseroberfläche, gelegentlich einen Schrei ausstoßend und sich zwischendurch auf den Steinen niederlassend.

Evelyn genoß die Ruhe an diesem Stück Strand, der von Touristen kaum besucht wurde. Selten verirrte sich jemand hierher, und gerade deswegen ritt sie hier besonders gern entlang. Hier konnte sie die Stille genießen und vom Arbeitsalltag abschalten.

Evelyn nahm den schmalen Pfad das Steilufer hinauf. Fast oben angekommen, knackte es dicht neben ihr in den Büschen, eine Schar Vögel flatterte hoch. Evelyns Pferd erschrak, stieg panikartig in die Höhe und stürzte zusammen mit seiner Reiterin den Hang hinunter.

Der Schrei verhallte im Rauschen des Meeres. Dunkelheit legte sich um Evelyn.

Wie lange die Dunkelheit währte, wußte Evelyn nicht. Nur langsam kam sie zu sich. In ihren Ohren rauschte es, um sie herum war Nebel. Dichter, undurchdringlicher Nebel. Wie lange war sie bewußtlos gewesen? War sie überhaupt schon wieder bei Bewußtsein?

Evelyn versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Doch alles war so verwirrt und verschwand in diesem Nebel. Sie versuchte, die Augen zu öffnen. Ihre Augenlider waren zu schwer. Als würde eine Masse aus Blei darauf lasten. Außerdem war ihr schwindlig. Alles in ihrem Kopf drehte sich.

Von irgendwoher drang eine Stimme zu ihr, doch sie wußte sie nicht zuzuordnen. Eine fremde Stimme, aber angenehm zu hören. Etwas Beruhigendes lag darin. Etwas, das ihr das Gefühl vermittelte, geborgen zu sein. Wem gehörte diese Stimme?

Die Stimme rückte wieder in die Ferne. Evelyn wollte ihr folgen, sie festhalten in der Einsamkeit des Nebels, doch die Stimme war verschwunden. Alles schien so unwirklich. War es real gewesen oder nur ein Traum? Evelyn fühlte sich ziellos zwischen den Welten umherirren, nicht wissend, wo sie hingehörte. Sie tappte im Dunkeln. Müdigkeit überwältigte sie.

Plötzlich fühlte sie diesen Blitz. Er ging durch und durch, zeigte ihr den Weg aus der Dunkelheit ins Licht. Dieses Gefühl kam ihr bekannt vor. Woher kannte sie es nur?

Auf einmal erschienen ihr diese Augen. Dieses Paar stahlblaue Augen, die wie ein Blitz in den ihren eingeschlagen hatten. Wieder rieselte ein Schauer durch Evelyns Körper. Ein wohliger Schauer, der ihre Lebensgeister so langsam zurückholte. Sie spürte den warmen Hauch, der sich über ihre Lippen legte. Eine zarte Berührung weicher Haut.

Evelyn ließ sich in die Sanftheit dieses Kusses hineinfallen. Woher sie das Vertrauen nahm, diesen Kuß zu erwidern, wußte sie nicht. Auch wenn ihre Sinne noch völlig durcheinander waren, so war sie sich dieses Gefühls sicher. Dieser Kuß gab ihr Stärke und Vertrauen. Wem diese Lippen auch gehörten, Evelyn wußte in diesem Moment instinktiv, daß sie aufgefangen werden würde.

Erneut wurde es dunkel um sie herum. Doch in der Ferne fühlte sie das Feuer des Kusses, der noch auf ihren Lippen brannte und dessen Wärme sich in ihrem gesamten Körper ausbreitete, sich wie zwei schützende Arme um sie legte, sie festhielt und durch die Dunkelheit sicher wie auf einer Welle dahintrug.

2.

Evelyn erwachte und fand sich in ihrem Bett wieder.

»Ich dachte schon, du wolltest den Rest deines Lebens verschlafen«, stellte ihre Freundin Rita fest, die neben dem Bett saß.

»Wieso? Wie lange habe ich denn geschlafen?« wollte Evelyn wissen, deren Gedächtnis jetzt auch erwacht war und zu arbeiten begann.

»Zwei volle Tage.«

»So lange? Was ist eigentlich passiert?« Evelyn griff sich an die Schläfen, ihr Kopf schmerzte leicht. Sie konnte sich an nichts erinnern.

»Du bist vom Pferd gestürzt. Eine Frau hat dich gefunden und hierhergebracht. Der Arzt hat dir für die nächsten Tage noch Bettruhe verordnet. Du hast eine Gehirnerschütterung. Sonst ist dir zum Glück nichts weiter passiert.«

Evelyn schüttelte den Kopf. Sie wußte von alldem nichts mehr.

»Möchtest du etwas essen oder trinken?« bot Rita ihr an.

»Wasser wäre nicht schlecht, und vielleicht eine kleine Hühnerbrühe. Großen Hunger habe ich nicht, nur Durst.«

Rita reichte ihr ein Glas Wasser. »Die Brühe kommt sofort.«

Sie verschwand in der Küche. Evelyn setzte sich auf, stopfte sich das Kissen in den Rücken und lehnte sich bequem zurück. Ihr Gehirn schien Karussell zu fahren, zumindest fühlte es sich so an.

Kurz darauf kam Rita mit der Suppe herein. Während Evelyn ruhig die Brühe löffelte, fragte sie Rita nach der Frau, von der sie gefunden worden war.

»Keine Ahnung, wer das war. Sie kam mit dir zusammen auf dem Pferd hier angeritten. Du warst bewußtlos, und wenn du mal kurz zu dir gekommen bist, hast du nur wirres Zeug gefaselt. Wir haben dich schnellstens ins Haus gebracht und einen Arzt gerufen. Als ich danach wieder nach unten kam, stand das Pferd abgesattelt im Paddock, und die Frau war weg. Ich hatte keine Gelegenheit, sie nach ihrem Namen zu fragen.«

»Kam sie dir bekannt vor?«

»Nein. Ich glaube auch nicht, daß es eine Touristin war. Dafür war sie zu schlampig angezogen. Zerrissene Jeans und eine abgetragene Kapuzenjacke. Sie war sicher eine aus dem Ghetto.«

Ghetto wurde das Wohnviertel der Arbeitslosen und einiger asozialer Alkoholiker in der Stadt genannt. Evelyn und Rita verkehrten nicht in diesen Kreisen, dafür waren sie selbst sozial um vieles besser gestellt. Rita war eine weithin anerkannte Architektin und Evelyn eine Rechtsanwältin, die mit solchen Menschen im Höchstfalle als Angeklagte zu tun hatte. Sie hielt von dieser sozialen Schicht nicht viel. Evelyn war nicht eben begeistert von Ritas Schilderungen und daß sie von solch einer Frau gerettet worden sein sollte. Ihr Murren war nur allzu deutlich.

»Selbst wenn sie eine von denen wäre, so hat sie dir doch das Leben gerettet«, erwiderte Rita.

Evelyn winkte ab. »Sie wird schon gemerkt haben, daß das hier nicht ihre Ebene ist, deswegen hat sie sich wahrscheinlich auch so schnell verzogen. Wen interessiert das schon?«

»Du solltest nicht so voreilig über sie urteilen. Es war ja auch nur eine Vermutung meinerseits. Vielleicht stammt sie auch von ganz woanders. Wichtig ist doch, daß du okay bist.« Sie strich Evelyn liebevoll über den Arm.

Evelyn teilte im Stillen nicht die Meinung ihrer Freundin. Zu oft schon hatten sie darüber miteinander diskutiert. Für Evelyn war das Leben eine Prestigefrage, alles mußte perfekt sein. Rita hingegen sah vieles lockerer.

Diese Gedanken gingen ihr wieder durch den Kopf, als sie zwei Wochen später am Fenster ihres Büros im achtundzwanzigsten Stock eines Wolkenkratzers stand und auf die Stadt zu ihren Füßen blickte. Eben hatte sie wieder einen Fall erfolgreich abgeschlossen. Wie immer. Sie lächelte zufrieden vor sich hin.

Evelyn lebte für ihren Beruf, ging voll darin auf. Entsprechend ehrgeizig arbeitete sie an ihren Fällen – und wenn sie auch noch so aussichtslos erschienen, Evelyn schaffte es immer wieder, sie mit einem positiven Ergebnis abzuschließen. Sie konnte sich schon gar nicht mehr daran erinnern, wann sie in ihrer zwanzigjährigen Laufbahn als Rechtsanwältin zuletzt einen Fall verloren hatte. Doch nur durch hartnäckige Genauigkeit und der Sicht für die Realität hatte sie sich in dieser Branche den Ruf erkämpft, eine der besten Anwältinnen weit und breit zu sein. Sie stand ihren männlichen Kollegen in nichts nach.

Auch wenn sie in ihren Fällen großen Wert auf Detailtreue legte, so war doch das große Geheimnis ihres Erfolges jegliches Verbot von Gefühlsduseleien. Daran hielt sie sich strikt, auch in ihrem privaten Leben, um keine verletzlichen Schwachstellen ihrerseits aufkommen zu lassen und ihren Gegnern damit keine Angriffsfläche zu bieten. Alles hatte seine Ordnung und wurde sorgfältig durchdacht.

All das ging ihr durch den Kopf, als sie auf die Stadt hinunterblickte, die im Glanz des Sonnenlichts erstrahlte und deren emsiges Gewusel auf den Straßen von Leben zeugte. Ein Meer aus Betonklötzern verschiedenster Bauformen, dazwischen die mehrspurigen Straßen der Großstadt, auf denen sich die Autos wie Ameisen drängten und zäh dahinwälzten. Ganz am Rand die Menschenmassen, die aus den Geschäften oder Büros strömten und sich in das bunte Bild des Trubels reihten. Klar und deutlich zeichnete sich das emsige Treiben ab, lud zum Mitmachen ein.

Evelyn blickte auf ihre Uhr. Für heute war sie fertig mit ihrer Arbeit. Lediglich ihren Termin für die Nachuntersuchung im Krankenhaus hatte sie noch wahrzunehmen. Ihre Genesung war gut verlaufen, obwohl sie sich nach wie vor noch nicht an das Geschehene erinnern konnte.

Eine Stunde später verließ sie mit einem zufriedenstellenden Ergebnis das Sprechzimmer ihrer Ärztin. Die Gehirnerschütterung hatte keine weiteren Auswirkungen gehabt, dennoch hatte die Ärztin Evelyn geraten, sich in der nächsten Zeit noch etwas zu schonen.

Rita erwartete Evelyn im Wartezimmer. »Na? Wie ist es gelaufen?«

»Es ist alles in Ordnung. Ich habe wirklich Glück gehabt.«

Zufrieden fuhren sie mit dem Fahrstuhl nach unten. Ein Stockwerk tiefer hielt er, um neue Personen aufzunehmen. Die Tür öffnete sich, und Evelyn blickte in ein Paar stahlblaue Augen.

Der Blitz aus ihnen raste ihr durch den ganzen Körper bis hinunter in die Zehenspitzen. In Evelyns Kopf zeichneten sich plötzlich die Bilder einer Frau am Strand. Ihre blaue Kapuzenjacke und die zerrissenen Jeans ließen keinen Zweifel daran, wen sie hier vor sich hatte. Und diese Augen, aus denen wieder trostlose Leere blickte. Ein Schatten legte sich darüber. Evelyn bemerkte das kurze Zögern der Frau, dann betrat diese doch den Fahrstuhl. Die Tür schloß sich.

»Welch ein Zufall, daß wir Sie hier treffen. Sie waren neulich so schnell verschwunden, und keiner wußte, wer Sie sind oder wo man Sie finden kann. Evelyn, das ist die junge Frau, die dich gefunden hat.« Rita hatte sie ebenfalls erkannt und war ganz aufgelöst. »Ich hoffe, Sie erinnern sich an uns«, sagte sie zu der Frau gewandt.

»Ja«, kam die karge Antwort der Fremden, die Evelyn mit verschlossenem Blick musterte. Sie hatte die Hände in den Taschen ihrer Jacke vergraben.

Evelyn fühlte sich unter diesem Blick verunsichert. »Sie haben mir das Leben gerettet, am Strand. Ich möchte mich gern bei Ihnen dafür bedanken, obwohl mein Dank das wohl lange nicht wettmachen kann, was Sie für mich getan haben. Mein Name ist Evelyn Reuther. Das hier ist Rita Morgner, meine Freundin.« Evelyn hielt der Frau ihre Hand zur Begrüßung hin.

»Andie«, stellte sich die Frau vor, erwiderte jedoch nicht Evelyns Händedruck, sondern ließ ihre Hände in den Jackentaschen.

Evelyn merkte, daß die, wie sie schätzte, etwa zehn Jahre jüngere Frau nicht mehr von sich preisgeben wollte als nur ihren Rufnamen. Sofern dieser überhaupt richtig war. Evelyn ließ ihren Blick an Andie hinuntergleiten. Die Kleidung war zwar abgetragen, aber dennoch sauber. Ihre Augen schweiften wieder nach oben, und Evelyn schien, als fühle sich diese Andie unwohl, obwohl sie es zu verbergen versuchte. Aber Evelyn war sich dessen nicht sicher.

»Welch ein Zufall, daß wir Sie ausgerechnet im Krankenhaus treffen«, stellte Rita fest. »Evelyn mußte noch eine Nachuntersuchung über sich ergehen lassen, aber der Sturz hat zum Glück keine weiteren Schäden verursacht. Wieso sind Sie hier?« Rita schnatterte ohne zu überlegen drauflos.

Andie zuckte bei dieser Frage leicht zusammen. »Ich . . . bin zu Besuch gewesen«, stockte sie. Evelyn entging das Zögern nicht. Rita schon, denn sie plapperte unentwegt weiter.

Sie waren mit dem Fahrstuhl im Erdgeschoß angelangt und verließen das Krankenhausgebäude. Andie sog tief die Luft in sich ein und atmete, wie es Evelyn schien, erleichtert aus. Nun, das Krankenhausklima war nicht jedermanns Sache.

»Evelyn, was meinst du? Wir sollten Andie auf einen Kaffee zu uns nach Hause einladen«, riß Rita Evelyn aus ihren Gedanken und Beobachtungen.

Evelyn sah Rita überrascht an. »Nun ja, du hast recht. Warum bin ich nur selbst nicht darauf gekommen?« Evelyn versuchte zu lächeln. »Vielleicht fällt mir bis dahin etwas ein, wie ich mich am besten bei Ihnen revanchieren kann«, sagte sie zu Andie. Irgendwie war ihr diese Frau etwas unheimlich. Andererseits wurde sie von ihr unweigerlich in den Bann gezogen. Evelyn konnte es sich nicht erklären, was es war, was ihre Augen immer wieder zu Andie zog.

»Wenn das dein größtes Problem ist, so kann ich dir versichern, daß das die kleinste Sorge ist, die du hast.« Zum ersten Mal lächelte Andie.

Evelyn war von diesem plötzlich sichtlichen Sinneswandel überrascht und wußte nicht recht, wie sie diese Worte zu deuten hatte. Außerdem überraschte sie das Du, mit der Andie sie respektlos ansprach. Sie sah irritiert zu Rita. Die schien das Ganze zu amüsieren. Evelyn sah wieder zu Andie und wurde auf einmal von diesem warmen Lächeln eingenommen, das Andie ihr entgegenbrachte. Überhaupt schien sich mit ihr eine Wandlung vollzogen zu haben, seit sie das Krankenhaus verlassen hatten. Andies Ausdruck wirkte offener und freundlicher, ihre Haltung war gestrafft, wogegen sie vorhin im Fahrstuhl doch eher einen geknickten Eindruck gemacht hatte.

Sie stiegen in Evelyns Cabrio und fuhren die Bundesstraße stadtauswärts. Rita hatte hinten Platz genommen und Andie den Beifahrersitz überlassen. Andie spielte am Radio herum, ohne Evelyn um Erlaubnis gefragt zu haben. Auf einem der Sender ertönte Bryan Adams’ Summer of 69. Andie drehte die Lautstärke voll auf und jauchzte vergnügt.

Evelyn war von ihrer Unverfrorenheit überrascht und blickte sie erstaunt von der Seite an. War das diese in sich gekehrte Frau, der sie am Strand begegnet war? Genauso diese Unsicherheit vorhin im Fahrstuhl . . . Und jetzt plötzlich solch eine Wandlung? Das konnte nicht wahr sein. Hier präsentierte sich ihr eine völlig andere, viel lebenslustigere Frau und dazu noch ein bißchen unverschämt.

»Ich wollte schon immer einmal im Cabrio übers Land rauschen«, gestand ihr Andie, die Evelyns fragenden Blick bemerkt hatte, im selben Moment mit warmem Lächeln.

Evelyns Antwort war ebenfalls ein Lächeln. Warum auch nicht? Es war schönes Wetter, die Musik paßte, und Andies Lachen verleitete zu mehr. Evelyn war kurz davor, das Gaspedal stärker durchzutreten. Doch im letzten Moment rief sie sich zur Ordnung. Nein, so etwas konnte sie sich nicht erlauben. Das war ihrer nicht würdig, außerdem würde das ihrem Ruf schaden. Wie konnte Andie sie nur so in ihren Bann ziehen, daß sie Evelyn fast dazu verleitet hätte, etwas zu tun, was gegen ihre Prinzipien war? Verlegen schaute Evelyn in den Rückspiegel, ob Rita davon etwas mitbekommen hatte. Scheinbar nicht. Evelyn atmete erleichtert auf.

Zivilisiert fuhr das Cabrio mit konstanter Geschwindigkeit die Hauptstraße entlang und wurde dann auf der leicht unebenen Landstraße, die zu Evelyns Anwesen führte, langsamer.

»Ich dachte vorhin wirklich, du würdest mit dem Cabrio abheben«, bemerkte Rita von hinten zu Evelyn. »Ich habe schon nach einem Brechbeutel Ausschau gehalten.«

Evelyn fühlte sich durchschaut. »Dann wäre dies das erste Mal gewesen, daß ich die Geschwindigkeit überschritten hätte.«

»Irgendwann ist immer das erste Mal.« Andie lachte wieder, und genau dieses Lachen war es, was Evelyns innere Selbstsicherheit wieder ins Wanken brachte. Ihr war selbst nicht klar, wie Andie das schaffte, doch ihr Lächeln war einfach so hinreißend, daß sie Evelyn damit fast aus dem Konzept brachte. Sie mahnte sich erneut zur Selbstdisziplin.

Das Cabrio bog in die Einfahrt zum Hof ein. Ein Dreiseitengebäude, welches aus Wohnhaus, Scheune und Stallungen mit obenauf gesetzten Wohnräumen bestand. Alles strahlte in weißem, ordentlich gepflegtem Zustand. Einige bunte Blumenkästen auf dem langen Balkon brachten Farbe und Leben in das Gehöft.

Andie interessierte das nur wenig, sie hatte sich bereits ein Bild davon machen können, als sie Evelyn hier schwerverletzt abgeliefert hatte. Vielmehr ging sie gezielten Schrittes in Richtung Paddock, kletterte über den Zaun und begrüßte eine der weißen Stuten, die friedlich in der Sonne dösten. Ohne ein Wort zu sagen, hielt Andie der Stute ihren Handrücken hin, den diese beschnupperte und dann, wie zum Zeichen des Erkennens, freundschaftlich ihren Kopf an Andies Schulter rieb. Andie streichelte ihr über die Stirn und verließ das Paddock wieder.

»Sie mögen Pferde?« fragte Evelyn, die das Ganze immer noch am Cabrio stehend beobachtet hatte.

»Ich mag schöne Pferde, schöne Autos, schöne Frauen . . .« Dabei warf Andie Evelyn einen verführerischen Blick zu, der diese erröten ließ. Rita bemerkte es und feixte.

»Gehen wir ins Haus«, lenkte Evelyn ab und drehte sich rasch um. Andie lächelte schmunzelnd vor sich hin und folgte ihr. Im Haus wurden sie bereits erwartet.

»Da bist du ja endlich«, wurde Evelyn von einem jungen schlanken Mann begrüßt. »Ich habe mir schon Sorgen gemacht.« Er drückte Evelyn einen Begrüßungskuß auf die Wange und umarmte Rita herzlich.

»Du wußtest doch, daß ich den Termin im Krankenhaus hatte. Rita hat mich von dort abgeholt.«

»Es hätte ja auch sein können, daß sie dort noch etwas festgestellt haben.«

»Die Untersuchung hat nun mal ihre Zeit gedauert. Aber es ist alles in Ordnung. Dafür habe ich zufällig im Aufzug meine Lebensretterin getroffen. Das ist Andie. Andie, das ist mein Sohn Oliver«, stellte Evelyn die beiden vor.

Andie nickte ihm flüchtig zu, musterte ihn dabei jedoch aufmerksam. Ein athletischer, sonnengebräunter Typ, etwa Ende zwanzig und sicher seine einsneunzig groß. Dem Aussehen nach mußten die Frauen auf ihn fliegen. So wie er sich aber um seine Mutter sorgte, konnte es nur ein verwöhntes Muttersöhnchen sein. Die bekamen natürlich nicht so schnell eine Frau ab.

Seine Körpersprache verriet zudem Zurückhaltung, und das kam Andie sehr gelegen. Sie machte es ihm damit leicht, ebensowenig auf eine große Begrüßung einzugehen. Ohne ihm die Hand zu reichen, ging sie zum Küchentisch und pflückte sich einige Weintrauben aus der Schale. »Das ist aber nicht dein leiblicher Sohn?« stellte sie weniger fragend an Evelyn gewandt fest.

»Wie kommen Sie denn darauf?« lautete die Gegenfrage. Evelyn sah Andie erstaunt an.

»Das sieht doch ein Blinder mit Filzbrille.« Andie hatte sich den Mund mit den Weintrauben vollgestopft und mümmelte nun zwischen dem Brei hervor: »Ihr beiden habt so viel gemeinsam wie ein Spatz Kniescheibe hat, nämlich fast nichts. Außerdem bist du blond, und er ist mehr der südländische Typ und hat dunkle Haare. Er könnte eher ihr Sohn sein.« Andie deutete mit dem Kopf zu Rita, während sie sich die nächsten Trauben in den Mund steckte.

Stille.

Evelyn starrte Andie entgeistert an, dann wanderte ihr Blick automatisch zu Rita. Ihre langmähnige Lockenpracht hatte allerdings dieselbe Farbe. Auch der dunkle Teint und die dunkelbraunen Augen hatten beide gemeinsam. Aber das war auch schon alles.

Rita fühlte sich unter diesem musternden Blick unbehaglich und schluckte schwer. »Du siehst mich doch heute nicht zum ersten Mal an.«

Evelyn blickte zu Oliver, der holte tief Luft.

»Söhne haben immer die Haarfarbe der Mutter.« Die nächste Portion Trauben verschwand in Andies Mund.

Die Spannung, die in der Luft lag, war deutlich zu spüren. Evelyn richtete sich auf und spannte ihre Schultern an. Wie eine Löwin schien sie sich innerlich zu wappnen, daß niemand ihr heiles Familienleben durcheinanderbrachte. Sie machte mit ihrer Haltung keinen Hehl daraus, daß sie Andies Auftreten trotz ihrer guten Tat nicht mochte. Andie bemerkte zwar jene kämpferische Ader, ließ sich jedoch davon nicht aus der Fassung bringen. Im Gegenteil, Evelyns Art rieselte an ihr ab und entlockte ihr nur ein winziges zynisches Lächeln.

Der erste, der wieder in den Normalzustand zurückkehrte, war Oliver. Er bezog neutral Position, trat zwischen seine Mutter und Andie und griff sich einen Apfel aus der Obstschale. Mit sprachlicher Kommunikation hielt er sich allerdings zurück.

Rita kam ebenfalls wieder zu Sinnen, ihr war die ganze Situation peinlich. »Wir sollten nicht vergessen, daß wir Andie zum Kaffee eingeladen haben.«

Sie machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen, während Evelyn Andie immer noch sprachlos anstarrte.

»Sie scheinen so einiges von Pferden zu verstehen?« Ritas Frage klang eher wie eine Feststellung. »Immerhin haben Sie es letztens geschafft, zusammen mit Evelyn auf der Stute hierherzureiten, was für einen Laien nicht einfach ist.« Der leicht foppende Unterton war nicht zu überhören.

Doch Andie scherte sich nicht darum. »Ich bin kein Profi. Ein bißchen was verstehe ich schon von Pferden. Es sind stumme Redner.« Sie nahm sich jetzt einen Apfel aus der Obstschale und biß herzhaft hinein.

»Ach so, dann hat Ihnen das Pferd also gesagt, wo meine Mutter wohnt?« bemerkte nun auch Oliver, allerdings eine Nuance freundlicher.

»Stimmt.« Der Apfelbissen wurde hinuntergeschluckt. Das nächste Apfelstück fand den Weg zwischen die Zähne.

Rita verzog über Andies offensichtliches Desinteresse amüsiert das Gesicht. Evelyn fand unterdessen endlich ihre Sprache wieder: »Dann sollte ich mir in Zukunft wohl überlegen, welche Geheimnisse ich meinem Pferd anvertraue. Es plaudert zu viel aus dem Nähkästchen.« Ihr innerer Unmut klang deutlich durch.

»Der Intelligenz eines Pferdes kann man eben mehr trauen als der eines Menschen«, erwiderte Andie gleichgültig zwischen weiteren Apfelbissen, ohne jemanden dabei anzusehen.

»Nur frage ich mich, wie ich bewußtlos aufs Pferd kommen konnte? Hat mich mein Pferd selbst auf seinen Rücken geladen? Sie sehen selbst nicht eben wie Tarzan aus.« Evelyns Sarkasmus wurde heftiger.

»Du warst nur zeitweise bewußtlos. Zwischendurch haben deine Körperfunktionen ganz gut gearbeitet.« Andie trat dichter an Evelyn heran und zeigte mit der Hand, die den Apfel hielt, auf Evelyn. Dabei deutete Andies Zeigefinger speziell auf Evelyns Brust, und Andie selbst hatte ein Grinsen aufgesetzt, das sich fast bis zu den Ohrläppchen zog. Ihre Augen verschlangen in diesem Moment nicht den Apfel, sondern Evelyns vorderseitige Hügellandschaft. Es ließ keine Zweifel daran, daß Andies Gedanken soeben weit um die Ecke schweiften.

Auch Rita, die fleißig an der Kaffeemaschine hantierte, mußte sich bei dieser Geste ein Schmunzeln verkneifen. Diese Andie war wirklich reichlich unverschämt. Sie sah zu Evelyn, die innerlich zu kochen begann. Ihre Wangenknochen mahlten verspannt aufeinander.

»Was soll das denn heißen? Da kann man ja sonstwas denken. Ich möchte mir solche Bemerkungen verbitten.« Evelyn errötete leicht, atmete tief durch. »So kann man sich natürlich auch an jemanden heranmachen. Was hätten Sie denn sonst gemacht, wenn ich nicht diesen Unfall gehabt hätte?«

»Evi!« Rita bremste Evelyn aus, die langsam die Geduld verlor. Sie merkte nicht, daß Andie nur eine Wortspielerei betrieb, und schaukelte sich daran hoch. Beschwichtigend legte Rita ihre Hand auf Evelyns Arm. Evelyn wurde bewußt, daß sie kurz davor war, sich gehenzulassen.

»Es war kein Unfall.« Wie nebenbei stellte Andie den nächsten Schock in den Raum.

Evelyn wurde blaß. »Was wollen Sie damit sagen?«

»Das heißt, daß es kein Unfall war, sondern ein beabsichtigter Sturz. Geplanter Anschlag. Attentat. Mordversuch. Irgend so was.«

Evelyn glaubte Andie nicht. »Woher wollen Sie das denn so genau wissen? Haben Sie vielleicht den ganzen Vorfall selbst inszeniert, um sich an mich heranzumachen, in der Hoffnung, eine fette Belohnung zu kassieren?« Evelyn redete sich immer mehr in Rage, ohne Rücksicht auf ihre Freundin zu nehmen, die sie nun stärker am Arm faßte und beruhigen wollte.

»Evi, laß gut sein«, versuchte Rita sie energischer zu besänftigen.

»Es war eine Schar Vögel, die mein Pferd erschreckt hat.« Evelyn riß sich von Rita los und trat wütend einen Schritt auf Andie zu. Nur einen Hauch noch stand sie von ihr entfernt. Atem stand gegen Atem.

Andie zeigte sich nach wie vor nicht beeindruckt. Sie hob ihre Hand zwischen ihrer beider Gesichter und knabberte in aller Seelenruhe um ihren Apfel herum. »Das waren keine Vögel. Es waren Brieftauben.« Mit dieser Feststellung flog Andies Apfelgriebs in hohem Bogen aus dem Küchenfenster. Zufrieden schaute sie dem Wurfgeschoß hinterher.

»So, so, Brieftauben. Woher wollen Sie das so genau wissen?« Evelyn hatte sich ordentlich mit Luft aufgeblasen und sich mit in die Hüfte gestemmten Händen so hingestellt, als wollte sie jeden Moment Andie hinwegpusten.

»Manchmal funktionieren meine Augen ganz gut. Mir sind an diesem Strand noch keine Brieftauben aufgefallen, außer einigen vereinzelten wilden Tauben.« Andies nächster Griff in die Obstschale galt einer Banane.

»Dann waren Sie also schon öfters an diesem Strand. Da kennen Sie sich doch bestens dort aus. Damit wäre es ein leichtes für Sie gewesen, die Brieftauben im Gebüsch zu plazieren und sie im geeigneten Moment fliegen zu lassen. Nicht schlecht, was sich so manch einer einfallen läßt.« Evelyn schüttelte unmißverständlich den Kopf. »Wieviel wollen Sie haben?«

»Wieviel will ich was haben? Küsse? Orgasmen?«

»Ich spreche von Geld. Dafür, daß Sie mir das Leben gerettet haben.«

Andies Gesichtsausdruck wurde ernst. Sie sah Evelyn durchdringend in die Augen. »Du gehörst also auch zu denjenigen, die glauben, alles mit Geld bezahlen zu können. Da muß ich dich leider enttäuschen. Ich bin unbezahlbar. Aber eine kleine Gegenleistung wüßte ich schon. Ich will eine Nacht. Eine Nacht mit dir.« Das ernste Gesicht wich einem Grinsen.

»Sie sind widerlich. Das ist ein total unmoralisches Angebot.«

»Oho, die Lady schaut sich auch ab und zu mal einen Film an. Nur leider nicht den richtigen. Wetten, daß ich dich doch bekomme?«

»Sie glauben auch von sich, daß Sie alles ins Bett bekommen können, was bei drei nicht auf den Bäumen ist.«

»So weit muß ich gar nicht erst zählen.« Andie feixte, doch plötzlich erstarb dieses Grinsen in ihrem Gesicht. Sie baute sich in aller Seelenruhe vor Evelyn auf, so dicht, daß diese nicht nur ihren Atem spürte. »Was willst du eigentlich von mir? Es war doch eure Idee, mich hierher einzuladen.« Mit einer ausschweifenden Handbewegung zeigte sie auf Evelyn und Rita.

Evelyn wich erschrocken einen Schritt zurück.

»Im übrigen habe ich die Täubchen aus dem Ärmel gezaubert, so wie jetzt.« Andie ahmte einen Zaubertrick nach. »Oh schade, es funktioniert gerade nicht. Na, vielleicht klappt es später.«

Schnaubend und voller Wut verließ Evelyn die Küche. Die Tür fiel laut hinter ihr ins Schloß.

»Tut mir leid«, entschuldigte sich Rita an Evelyns Stelle. »Sie hat wohl etwas überreagiert. Keine Ahnung, wie das passieren konnte. Vielleicht war meine Idee mit der Einladung doch nicht so gut. Ich dachte nur, weil Sie letztens so schnell verschwunden waren, daß Evi sich doch Ihnen gegenüber erkenntlich zeigen wollte.«

Andie zuckte nur mit den Schultern.

Stille lag über dem Raum. Oliver hatte den Dialog stillschweigend verfolgt. Andie stülpte ihre Bananenschale als Perücke auf eine Apfelsine, danach stöberte sie im Kühlschrank herum und holte eine Wasserflasche hervor. Mit einem Zischen öffnete sie den Verschluß und trank genüßlich einen großen Schluck daraus.

»Glauben Sie wirklich, daß es kein Unfall war?« hakte Oliver sicherheitshalber noch einmal nach.

»Höchstwahrscheinlich.«

»Sind Sie dafür verantwortlich?«

»Das Leben geht manchmal seltsame Wege.« Andie hob die Hand zum Gruß und ging Richtung Tür. Rita und Oliver sahen sich nur an, dann lief Rita ihr hinterher. »Warten Sie doch, das war sicher ein Mißverständnis.«

Oliver blieb allein in der Küche zurück. Er starrte auf seinen Apfelgriebs in der Hand, dann zum Fenster hin. Schließlich brachte er sich in Wurfposition und schleuderte den Griebs zum Fenster hinaus. Mit Spannung verfolgte er den Flug bis zur Landung. »Ja! Zwei Meter weiter!« jubelte er vor sich hin und machte einen Freudensprung.

Gesittet verließ er danach die Küche.

3.

»Du hast was getan?« Evelyn war außer sich.

»Ich habe sie für die nächsten Tage gebeten, unser Gast zu sein.« Rita war sich keiner Schuld bewußt, was daran so falsch sein sollte.

»Das wird ein Alptraum.« Vollkommen schwarz sehend für die folgende Zeit, hielt sich Evelyn die Hand an die Stirn.

»Du solltest Andie nicht nach ihrem Äußeren beurteilen. Ich glaube, in ihr steckt mehr, als es den Anschein hat.«

»Selbst wenn ich ihr äußeres Erscheinungsbild weglasse, diese Frau scheint keinen Funken Anstand zu besitzen, so wie sie sich benimmt.«

Da hatte Evelyn allerdings recht. Andie benahm sich in vielerlei Hinsicht unmöglich. »Nur muß sie deswegen nicht gleich ein schlechter Mensch sein«, verteidigte Rita sie.

»Trotzdem. Manieren scheint für sie ein Fremdwort zu sein. Hast du auch daran gedacht, daß übermorgen meine Geburtstagsparty ist und jede Menge hochrangige Gäste zu Besuch sind? Was sollen wir dann mit dieser Andie machen? Sie wegsperren?«

»Das habe ich tatsächlich vergessen.« Rita überlegte. »Ich rede mit ihr. Sie wird sich sicher überzeugen lassen.«

»Das glaubst aber auch nur du. Diese Sorte Mensch ist wie Freiwild. Macht, was es will und läßt sich nicht einsperren.«

»Warum mußt du nur immer alles so negativ sehen? Du kennst sie doch gar nicht.«

»Aber du, was? Warum verteidigst du sie so? Du weißt genausowenig von ihr wie ich. Herzchen, dein Glaube an das Gute im Menschen wird dich noch irgendwann ins Grab bringen.«

»Vielleicht hast du ja recht.«

»Wo willst du sie eigentlich einquartieren?«

»Im Gästezimmer über den Pferdeställen. Ich werde gleich mit ihr hinübergehen und alles Nötige klären.«

»Tu das.«

Rita verließ Evelyns private Gemächer und ging hinunter in die Küche. Andie war jedoch nicht mehr da. Ein leises Geräusch aus dem Wohnzimmer nebenan ließ sie aufhorchen.

»Ich dachte schon, Sie wären wieder spurlos verschwunden.«

Andie blätterte in einem Buch, das sie dem großen Wandregal entnommen hatte. »Interessante Lektüre habt ihr hier.« Sie hielt den Einband so, daß Rita ihn sehen konnte. Ein lesbischer Roman. Rita errötete. Wie hatte Andie ihn finden können? Diese Literatur war doch in der äußersten Ecke versteckt.

»Manchmal ist das ein sehr schöner Zeitvertreib und bringt geistige Abwechslung.«

»Ich dachte, du hättest deinen Zeitvertreib mit Evelyn. Wozu brauchst du dann noch ein solches Buch dazu? Als Gebrauchsanleitung?«

»Evelyn ist nur meine Freundin. Keine Geliebte.«

»Aha. Gibt es so etwas bei Evelyn überhaupt in ihrem Leben?«

»Eine sehr persönliche Frage. Warum wollen Sie das wissen?« Die Höflichkeit gebot Rita, Andie weiterhin zu siezen, obwohl diese sie ungeniert duzte. Dennoch fühlte sich Rita bei diesem Thema reichlich unwohl in ihrer Haut.

»Sie ist viel beschäftigt, sehr auf ihr Image bedacht und ziemlich prüde.«

»Wie . . . wie kommen Sie auf solche Gedanken?« Rita war erstaunt, wie Andie das alles in der kurzen Zeit, seit sie hier war, erfaßt hatte, denn es entsprach schon in gewisser Hinsicht den Tatsachen.

»Ich bin ein guter Beobachter und ziehe daraus meine Schlüsse. Das ist alles.«

Rita fragte sich im Stillen, woraus Andie sich das alles zusammenreimte, fand jedoch keine Antwort. »Ich hätte noch ein kleines Anliegen an Sie. Übermorgen veranstalten wir hier eine Party, und die Gesellschaft ist . . . nun, wie soll ich sagen . . . etwas Nobleres gewöhnt.«

»Ach so. Ich soll mich ganz still auf meinem Zimmerchen verhalten, bis alle wieder weg sind.« Andie war nicht schwer von Begriff.

»So meinte ich das nicht. Ich möchte Sie sogar sehr gern auf diese Party mit einladen, nur hätte ich eine Bitte.« Rita zögerte. »Eine etwas angemessenere Kleidung wäre schön.«

»Was ist in deinen Augen angemessen?«

»Nun . . . etwas Ordentliches, Gepflegtes zum Beispiel.« Skeptisch blickte Rita auf Andies Bekleidung. »Das«, deutete sie darauf, »geht gar nicht.«

»Welchen Anlaß gibt es denn überhaupt zu feiern?«

»Evelyns Geburtstag.«

Andie stieß einen staunenden Pfiff aus. »Wie alt wird denn unsere First Lady?«

»Sie ist vor zwei Tagen fünfzig geworden. Aber die Feier ist jetzt erst am Samstag.«

»Auch noch ein runder Geburtstag. Na, dafür hat sie sich ja ganz gut gehalten. Tja, mit der Kleiderordnung, da werde ich dich leider enttäuschen müssen. Ich trage nun mal nur Kleidung, in der ich mich wohl fühle, weil – das bin ich. Wie soll ich mich in ein Abendkleid zwängen, das überall zu eng ist und außerdem ständig von unten kalte Luft zwischen meine Beine wirbelt? Da bekommt man ja Weichteilerheumatismus. Dann ist es nackt doch viel angenehmer, so wird die Kälte wenigstens gleichmäßig verteilt. Sorry, aber ich verstecke mich nicht.«

Rita schaute Andie bei diesen Ausführungen entgeistert an und schluckte schwer. Was sollte sie jetzt tun? Wenn Andie mit diesem Aufzug von zerrissenen Jeans und dieser Schmuddeljacke auf der Party erschien, gäbe das eine Riesenblamage. Evelyn würde ihr den Kopf abreißen. Abgesehen von dem Tratsch, der in ihren Kreisen die Runde machen würde. Worauf hatte sie sich hier nur eingelassen?

»Ich zwinge Sie zu nichts, ich kann Sie lediglich darum bitten. Inwiefern Sie sich daran halten, ist Ihnen überlassen. Ich würde mich jedenfalls sehr freuen, wenn Sie kommen.« Es war zu spät, einen Rückzieher zu machen. Da mußte Rita jetzt durch und konnte nur darauf vertrauen, daß Andie sich ihre Bitte zu Herzen nahm. Wenn nicht – gut, dann mußte sich Rita der Situation eben stellen und das Beste daraus machen. »Kommen Sie, ich zeige Ihnen Ihr Zimmer.«

Gemeinsam gingen sie über den Hof zu den Ställen und stiegen die Treppe ins Obergeschoß hinauf. Der Zugang zum Zimmer erfolgte über den Balkon, der sich über die gesamte Länge des Gebäudes erstreckte.

Andie schaute sich interessiert im Zimmer um, trat wieder auf den Balkon hinaus. »Es gibt da allerdings noch ein kleines Problem.«

Rita sah sie fragend an.

»Wenn ich schon angemessene Kleidung tragen soll – woher nehmen, wenn nicht stehlen? Ihr habt mich hierher entführt, und ich habe nichts dabei außer dem, was ich auf dem Leib trage.«

»Oh. Ich könnte Ihnen einige Sachen leihen. Wobei ich allerdings auf Evelyns Kleiderschrank zurückgreifen muß, da Sie eher ihre Konfektionsgröße haben. Oder ich fahre Sie nach Hause und Sie packen sich ein paar Dinge zusammen.« Rita fiel ein Stein vom Herzen.

»Bring mir ein paar legere Klamotten und eine Zahnbürste, das reicht.«

»Gut. Falls Sie noch etwas benötigen, geben Sie mir einfach Bescheid. Ich werde mich darum kümmern.« Rita verließ das Zimmer und überließ Andie sich selbst.

Während kurz darauf Rita mit Evelyns Einverständnis in deren Kleiderschränken nach einigen passenden Stücken für Andie kramte, bemerkte Evelyn Andie bei einem Blick aus dem Fenster. Sie spazierte über den Hof, inspizierte die Ställe und unterhielt sich ausgiebig mit dem Gärtner. Das herzhafte Lachen der beiden drang bis zu Evelyn hinauf.

Rita nahm nach Evelyns Zustimmung die ausgesuchten Kleidungsstücke und brachte sie in Andies Zimmer. Evelyn sah ihr nach, doch Andie und der Gärtner waren bereits verschwunden, als Rita den Hof überquerte.

Erst kurz vor dem Abendessen tauchte Andie wieder auf. Das Abendmahl selbst verlief mit Smalltalk relativ ruhig. Evelyn entschuldigte sich für ihren Ausbruch am Nachmittag. Oliver beteiligte sich nur selten am Gespräch, beobachtete Andie jedoch insgeheim.

Bevor Andie sich zu später Stunde für die Nachtruhe vorbereitete, sah sie gegenüber in einem der Zimmer spärliches Licht. Zwei Gestalten unterhielten sich, wie ihr schien, leise miteinander. Doch Andie erkannte dennoch in dem diffusen Schein Rita und Oliver. Mit scharfem Blick suchte Andie die anderen Fenster ab und verweilte an einem weiteren. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, dann zog sie sich zurück.

Am nächsten Morgen, Andie hatte zum Frühstück gefehlt, suchte sich Evelyn noch einige Unterlagen zusammen. Als sie sich gegen neun in ihr Cabrio setzen wollte, kam Andie um die Ecke geschlendert.

»Guten Morgen, holde Schönheit.«

Andies gute Laune verwirrte Evelyn. Dennoch bemühte sie sich, nicht wieder so bissig zu erscheinen. »Guten Morgen. Nun übertreiben Sie mal nicht. Haben Sie gut geschlafen?« Evelyn war von ihrer eigenen Höflichkeit überrascht.

»Wie ein Engel. Das Abendprogramm gegenüber hat mich sehr verzaubert.«

Evelyn überlegte, was Andie damit meinte, bis ihr dämmerte, daß Andie von ihrem Zimmer aus genau in Evelyns Schlafzimmer sehen konnte. Sie wußte nicht, was Andie gesehen hatte, trotzdem sah Evelyn peinlich berührt zu Boden. »Ich muß jetzt noch schnell für zwei Stunden ins Büro. Wir sehen uns heute mittag wieder. Kann ich Ihnen aus der Stadt etwas mitbringen?«

»Danke. Ich wurde gestern mit reichlich Stoff beschert. Mehr brauche ich nicht.« Mit den Händen in den Hosentaschen sah Andie dem Cabrio nach, bis es aus ihrer Sicht war.

Lag es an dem Freitag, daß Evelyn alles so hektisch erschien und die Menschen zum Wochenende hin noch alle Besorgungen erledigt haben wollten? Oder war es Evelyn selbst, deren innere Unruhe sie nervös machte? Seit sie Andie gestern begegnet war, schien in Evelyn einiges durcheinandergeraten zu sein. Sie wußte selbst nicht, was es war. Ihre Gedanken spielten Roulette.

Eigentlich wußte Evelyn rein gar nichts über Andie außer deren Vornamen. Selbst da war sie sich nicht einmal sicher, ob es ihr richtiger Name war. Eine geheimnisvolle Frau.

Evelyn nahm sich vor, entgegen ihrer Abneigung ausführlicher mit Andie zu reden. Vielleicht erzählte sie etwas von sich. So lange war sie ja nun auch noch nicht Gast. Immerhin konnte Rita damit recht haben, daß sich unter dieser schmuddeligen Schale ein ganz anderer Kern verbarg, als es nach außen hin schien. Ganz langsam wuchs in Evelyn das Interesse, mehr über diese Andie zu erfahren.

Nachdem sich der Vormittag im Büro wie Kaugummi gezogen hatte, fuhr Evelyn kurz vor Mittag wieder nach Hause. Ihr kam die gestrige Heimfahrt in den Sinn, und so drehte sie das Radio auf, suchte einen Musiksender und stellte die Lautstärke höher. Der poppige Rhythmus riß sie mit, und sie war kurz davor, das Gaspedal durchzudrücken. Doch dann besann sie sich und unterdrückte das Gefühl der Freiheit, das sich für Bruchteile von Sekunden in ihr ausgebreitet hatte. Erstaunt über sich selbst, schüttelte sie den Kopf.

Je näher sie ihrem Hof kam, um so nervöser wurde sie. Doch als sie dort ankam, empfing sie absolute Ruhe. Keiner war zu sehen. Sie blickte zu Andies Zimmer hinauf, doch auch dort rührte sich nichts. Evelyn ging ins Haus – keine Rita, kein Oliver, keine Andie. Wo waren sie nur alle?