Das Haus der Granatäpfel - Lydia Conradi - E-Book
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Das Haus der Granatäpfel E-Book

Lydia Conradi

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Beschreibung

Smyrna, 1912: Das Paradies – so nennen viele die Metropole am Ägäischen Meer, die inmitten von Krisen wirkt wie ein weltvergessenes Idyll. In die Stadt, in der Menschen aus aller Herren Länder seit jeher in Eintracht leben, kommt die Berlinerin Klara, um mit Peter, dem Sohn eines Kaufhausmagnaten, eine Zweckehe einzugehen. Doch er kann die lebenshungrige junge Frau nicht glücklich machen, und Klara verliert ihr Herz an den Arzt Sevan. Aber auch er ist gebunden, und als der Erste Weltkrieg ausbricht, beschließen beide, trotz ihrer Liebe füreinander ihre Partner nicht im Stich zu lassen. Für eine Weile erweist sich das Paradies wahrhaftig noch als Oase im Grauen, doch dann entbrennt ein schicksalhafter Kampf um die Stadt. Und plötzlich muss Klara eine Entscheidung fällen, die über Menschenkraft hinausgeht, um etwas von Smyrnas Geist und ihrer Liebe zu Sevan zu bewahren ...

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www.piper.de/literatur

Für Aleppo

ISBN 978-3-492-97804-0

Oktober 2017

© Piper Verlag GmbH, München 2017

Dieses Werk wurde vermittelt durch die AVA international GmbH Autoren- und Verlagsagentur, www.ava-international.de

Covergestaltung: U1 berlin/Patrizia Di Stefano

Covermotiv: Her Majesty Queen Elizabeth II, 2016/Bridgeman Images, Morser, Bruce/National

Geographic Creative/Bridgeman Images, akg-images und Renphoto/iStockphoto

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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»Was bei Tag nicht leuchtet, scheint in der Nacht.«

Türkisches Sprichwort

»Und wer bist du?

Kairos, die Zeit, die alles besiegt.

Warum stehst du auf Zehenspitzen?

Weil ich immer laufe.

Und warum hältst du eine Klinge in der Rechten?

Um die Menschen zu warnen, weil ich schärfer bin als jede Schneide.«

Aus einem Epigramm des Posidippos von Pella, 3. Jahrhundert v. Chr.

AUFTAKT

Auf der Landstraße in die Hafenstadt Smyrna und in einem Ballsaal in der Kaiserlichen Hauptstadt Berlin

»Ach, da wo einst

Der Schnee des Leibes glänzte, da fließt jetzt Purpur.«

Bion von Smyrna: »Klagelied für Adonis«

Landstraße nach Smyrna, Mai 1894

Der Tag, an dem Sevan die Welt entdeckte, war sein neunter Geburtstag, der Himmel war blau bis auf eine scharf umrissene Wolke, und die Welt hieß Smyrna.

Sie waren bei Sonnenaufgang aufgebrochen. Onkel Bedros saß vorn auf dem Karren und lenkte das Maultier, und Sevan hockte hinten und gab acht, dass keine der Holzkisten herunterfiel. Auf seine Aufgabe war Sevan stolz. Onkel Bedros hätte genauso gut einen seiner Brüder oder Cousins mitnehmen können, mutige, geschickte Burschen, die für die Familie ihren Mann standen, aber er hatte sich für Sevan entschieden, der sich vor seinem Schatten fürchtete und über seine Füße stolperte. Sevan, den die anderen den Herrn Kann-nicht nannten, weil er gar nichts konnte.

Dies hier aber würde er schaffen. Er war entschlossen, den Onkel nicht zu enttäuschen.

In den Kisten waren Flaschen und Käselaibe. Sooft der Karren auf dem hart gebackenen Feldweg hüpfte und Sevan die Flaschen aneinanderklirren hörte, schob er schnell die Hände dazwischen und wünschte sich, ein Meeresungeheuer mit acht Armen zu sein. Die Kisten rochen gut. Nach Holz und Harz und der seifigen Lauge, mit der seine Mutter sie abschrubbte, sauer nach Ziegenmilch und süß nach in der Sonne getrockneten Feigen, die Onkel Bedros zusammen mit Kümmel und Pistazien in den Käse schnitt. Den Käse verkaufte er an einen Türken, der Restaurants in Smyrna damit belieferte.

»Das solltest du mal sehen«, sagte Onkel Bedros und hörte sich an, als kaute er dabei auf seinem Priem. »Die Damen, die da in Smyrna meinen Käse essen, die tragen Hüte wie Lebensbäume auf den Köpfen und nehmen sie sogar zum Essen nicht ab.«

Smyrna, das war die große Stadt. In ihrem Hafen traf Onkel Bedros nicht nur den Türken, der den Hutfrauen seinen Feigenkäse auftischte, sondern auch noch einen Ausländer, der die Flaschen mit dem weißen Saft nach Europa verschiffte.

»Deutscher ist der und sieht aus wie ein Fass mit Brille. Ein raki-Fass. Sobald der mich zu Gesicht kriegt, ruft er immer: ›Ah, Bedros, Bedros, wer seinen raki allein trinkt, der ist ein einsamer Mann.‹«

Onkel Bedros erzählte Sevan ständig, wer wie aussah. Als wäre Sevan blind. Sein Bruder Aram nannte ihn so, wenn er wieder einmal über etwas stolperte: »Mein blinder Herr Kann-nicht«. Dabei konnte Sevan sehr wohl sehen. Er sah die rötlichen Bohnenfelder, die mit Piniennadeln abgedeckten Tabakfelder und die weißen Flocken auf den Baumwollfeldern, doch vor allem sah er die Nebel, die die Farben trüb machten und ihm Angst einjagten. Wenn die Welt einen Grund hatte, sich im Nebel zu verbergen, wie durfte man ihr dann vertrauen?

Die Flaschen, die in den Kisten hüpften, sah er hingegen recht klar. Sie enthielten den weißen Saft, der hervorquoll, wenn Onkel Bedros seinen Feigenbäumen einen Ast vom Stamm brach und ihre Rinde bluten ließ.

»In Europa ist das Medizin«, erklärte er mit einer Stimme, die nach Grinsen klang.

»Und gegen was soll das helfen?«, fragte Sevan.

»Warzen.« Das Grinsen in der Stimme wurde breiter. »Denen in Europa kannst du alles einreden, was du willst, solange etwas nur aus dem Orient kommt. Dann glauben die, es wirkt Wunder wie Aladins Lampe.«

Sevan schloss die Augen und sah Bilder von Europa. Den Eiffelturm, das höchste Bauwerk der Erde. Den Kristallpalast in der Hauptstadt des britischen Weltreichs, wo die Sonne nicht unterging. Vielleicht gab es das gar nicht. Onkel Bedros erzählte zwar, es stünde in der Zeitung, aber Onkel Bedros erzählte viel, wenn der Tag lang war, und in ihrem Dorf Bardisag, was kleiner Garten bedeutete, war jeder Tag lang. Sevan wünschte, er hätte die Zeitung selbst lesen können, doch er war zu dumm, um es zu lernen. »Der Herr Kann-nicht ist nicht blind, sondern blöd«, sagte sein Cousin Rupen zu seinem Bruder Aram, wenn Sevan sich über seine Schulaufgabe beugte und auf die Zeichen starrte, ohne eines zu erkennen. Aram und Rupen ließen ihre Schulaufgaben liegen, weil sie faul waren, bei Sevan hingegen war aller Fleiß für die Katz. Jäh spürte er, wie die Sonne brannte, und stöhnte, als ihm der Schweiß in die Striemen auf den Schenkeln rann.

Die brannten wie Feuer, die Striemen von seines Vaters Klopfpeitsche, und es geschah ihm recht. Er hatte seine Mutter zum Weinen gebracht, seine Mutter, die nach frisch gebackenem lavasch-Brot duftete und ihn in ihren Armen im Kreis schwang, die ihm das Wiegenlied von der Milch der Hirschkuh sang und ihn ihren Kleinen, ihr Hirschkalb nannte.

»Mit kleinen Blättern will ich dich zudecken.

Und die wilde Hirschkuh gibt dir ihre Milch.«

Onkel Bedros drehte sich im Fahren um. Sein Gesicht war ein Schemen, braun wie Tabaksaft. »Beißt dich was?«

Heftig schüttelte Sevan den Kopf. Dann starrte er auf seine Knie, die vor seinen Augen verschwammen.

Mit einem Ruck, der die Flaschen zum Klirren brachte, kam der Karren zum Stillstand. »Hat’s wieder Schläge gesetzt, ja?«

Sevan presste die Lippen aufeinander. Schläge waren kein Grund zum Heulen, jeder Junge im Dorf bekam seines Vaters Peitsche zu spüren, und er war der Einzige, der dabei wie ein Schwächling wimmerte. Aber die anderen verdienten sich ihre Hiebe für Frechheit, und insgeheim waren ihre Väter stolz darauf. Sevan dagegen verdiente sie, weil er feige und dumm war. Seine Mutter stand am Fenster und weinte, und sein Vater musste sich für ihn schämen.

»In meiner Familie hat es nie einen Dummkopf gegeben«, beklagte sich der Vater, wenn er Sevan schlug. »Schon gar nicht einen, der wie ein Waschweib überall Gespenster sieht.«

Als er ihn gestern geschlagen hatte, war der Lehrer am Zaun vorbeigekommen und hatte gelacht. »Sachte, sachte, Hohvan. Bei deinem Großen, dem Früchtchen, braucht’s mehr Prügel als Gebete, aber der da kann nichts dafür. Der Bursche hat Bohnenstroh im Kopf, damit kannst du ein Brautbett stopfen.«

Onkel Bedros saß noch immer ihm zugewandt. »Sanft ist er nicht mit dir, dein Herr Vater, was?«

Sevan schwieg und starrte auf seine Knie.

»Na, komm«, sagte Onkel Bedros, »lass den Kopf nicht hängen. Er ist mein Bruder, er hat mich aufgezogen, und mit mir ist er auch nie sanft umgegangen. Wenn einer sich über Büchern dumm anstellt, kennt er kein Pardon.«

Verblüfft blickte Sevan auf. Onkel Bedros war doch nicht dumm! Die anderen Männer in der Familie waren kleine Schreiber oder Krämer, und die Frauen rackerten sich auf ihrem Flecken Land die Hände wund. Auch die von Sevans Mutter waren rot und aufgesprungen, aber Onkel Bedros hatte es zu etwas gebracht. Kaufmann war er, fuhr viermal im Jahr in die Wunderstadt Smyrna, und sein Warzensaft wurde bis nach Europa verschifft. Sevans Mutter klagte, wenn sie glaubte, dass Sevan sie nicht hörte: »Würde mein Schwager Bedros mir nichts zustecken, hätte mir der Steuereintreiber längst das Haus leer geräumt.«

»Ich les dir von der Nasenspitze ab, was du denkst«, sagte Onkel Bedros. »Als ich so alt war wie du, hab ich das Gleiche gedacht: Was soll ich über Büchern schwitzen? Mein Vater ist auf der Krim für dieses Reich verreckt, meine Leute schlagen sich mehr schlecht als recht durch, die werden kaum das Geld aufbringen, um mich auf die höhere Schule zu schicken und aus mir einen Arzt zu machen. Also drücke ich mich lieber auf dem Markt herum und lerne was vom Leben. Du bist auch so einer, ja? Liest von Nasenspitzen besser als aus Büchern?«

Unglücklich nickte Sevan, doch in Wahrheit fürchtete er sich vor Menschen noch mehr als vor Büchern. Nicht weil er Menschen nicht mochte. Er mochte sie gern und wäre auch gern von ihnen gemocht worden, aber lesen konnte er sie nicht. Ihre Nasenspitzen, ihre Gesichter blieben ihm verschlossen.

»Deinem Vater darfst du’s nicht übel nehmen«, sagte Onkel Bedros. »Du bist sein Sohn, und wenn er deinem Hintern eine Portion Saures verordnet, dann weil er Angst hat, dass du ihm sonst vor die Hunde gehst. Wir sind Armenier, also meint er, wir müssten nicht nur doppelte Steuern zahlen, sondern uns auch doppelt hervortun, um den Kopf über Wasser zu halten.«

Sevan fiel darauf keine Erwiderung ein. Als wäre er nicht nur zum Lesen, sondern selbst zum Sprechen zu dumm.

Onkel Bedros spuckte Tabaksaft aus. »Na komm, so arg ist das doch nicht. Du hast deine Mutter, diesen Engel von einer Frau, die dir ihr baseil aus Aprikosen in den Mund stopft, um dir den Schmerz zu versüßen. Und die willst du nicht enttäuschen, deine Mutter, oder?«

Sevan schüttelte den Kopf.

»Du könntest bei mir in die Lehre gehen, du? Ein Junge, der Lust auf Abenteuer hat und ein bisschen patent ist, taugt mir besser als ein Bücherwurm.«

Wieder schüttelte Sevan den Kopf. Etwas tropfte auf sein Knie.

»Ach Gott«, sagte der Onkel. »Das kannst du auch nicht, meinst du?«

Sevan zwang die Lippen auseinander. »Ich kann nichts.«

Onkel Bedros schwieg eine Weile und kaute schmatzend auf seinem Priem. Dann sagte er noch einmal: »Ach Gott«, drehte sich um und fuhr wieder an.

Sevan hatte mit den Flaschen alle Hände voll zu tun und gab sich Mühe, an nichts anderes zu denken. Der staubige Weg wurde breiter, aus dem Nebel tauchten Häuser auf und warfen dunkle Schatten. Als Sevan das Rumpeln spürte, war es zu spät. Er hatte die mit Pflastersteinen befestigte Straße nicht kommen sehen. Die Flaschen konnte er gerade noch festhalten, doch eine der Käsekisten geriet ins Rutschen und prallte krachend auf die Steine. Der Onkel stieß einen Fluch aus und sprang vom Karren. Sevan kletterte langsam hinterher. Vor seinen Augen verschwamm das Grau des Pflasters mit dem Weiß der Käselaibe.

»Nichts mehr zu retten.« Mit schwerem Schritt stapfte der Onkel auf ihn zu. Sevan schloss die Augen, doch die Ohrfeige, die ihm gebührte, blieb aus. »Armer Tropf«, sagte Onkel Bedros. »Na komm, hilf mir, die Schweinerei wegzumachen. Wir sind hier in Smyrna. Da lässt man nicht alles liegen.«

Sevan ging auf Hände und Knie wie ein Hund und sammelte die Reste der Kiste ein. Dann senkte er den Kopf bis fast auf den Boden und wischte mit dem Hemdsärmel auf dem Pflaster herum.

»Das ist jetzt übertrieben, weißt du.« Der Onkel zerrte ihn auf die Füße. »Ab, auf den Karren mit dir. Wenn du schon hier bist, schau dir wenigstens Smyrna an.«

Sevan wollte sich Smyrna gern anschauen. Er hatte es sich strahlend schön vorgestellt und der Mutter davon erzählen wollen, doch jetzt fand er sich zwischen Häusern, die bedrohlich aus den Schatten ragten, und in verstopften Gassen, die keinen Fluchtweg offen ließen. Ehe er vor Angst losheulte, kniff er die Augen zu und nahm nur noch wahr, was er aushalten konnte: Gerüche und Geräusche.

Ein feiner Regen von Silben nie gehörter Sprachen ergoss sich über ihn. Marktschreier brüllten, Bettelweiber greinten, Kinder johlten, Kamantschen-Spieler schluchzten ihre Lieder. Dazu mischten sich Hufschlag und Sohlengetrappel, Geklirr von Werkzeug und Geschrei von Tieren, Räder, die sirrten, Achsen, die knirschten. Und über allem spannte sich das Netz der Düfte. Sevan erkannte die Süße von Vanille so deutlich heraus wie die Schärfe von Knoblauch und den Mief von Fischabfällen. Bitternis von Bergamotten, Würze von dreimal geschäumtem und mit Kardamom versetztem Kaffee, Heiligkeit von Weihrauch wie in der Kirche von Sankt Rhipsime.

Dieser letzte war sein Lieblingsduft, weil er ihn an ein Mädchen denken ließ, das genauso hieß: Rhipsime. Sie trug ein blaues Kleid und ließ Sevan nie nah genug heran, um Genaueres zu sehen, doch ihre Stimme war klar, jedes Wort wie poliert. Hätte er einen Arzt aus sich machen können, hätte er Rhipsime mit der klaren Stimme zur Frau nehmen und mit ihr nach Smyrna gehen wollen.

Jäh schienen alle Geräusche, alles Singen, Schwirren, Schwatzen zurückzuweichen, als der Muezzin anhob, zum Gebet zu rufen. Fünfmal an jedem Tag seines Lebens hatte Sevan die gesungene arabische Wortfolge vernommen, die ihm wie Flehen vorkam. Manchmal hatte er die muslimischen Dorfbewohner darum beneidet, weil ihm selbst danach zumute war – nach Flehen aus tiefster Seele. Hier aber war der Adhan, der Gebetsruf, wie ein Sturm aus allen vier Winden, die über die Stadt hinwegfegten. Sevan wagte nicht, die Augen zu öffnen, um nicht wieder enttäuscht zu werden, doch was er hörte, schuf ihm Bilder im Kopf: Muslimische Händler, die ihre Geschäfte stehen und liegen ließen, ihre Teppiche ausrollten und zum Gebet auf die Knie fielen, und christliche Käufer, die ihre Karren um die Betenden herumlenkten und ihre Gespräche dämpften.

Gleich darauf schwoll der Lärm von Neuem an, als hätte jemand den Daumen auf ein Loch in einem Schlauch gehalten und ließe es hinterher umso heftiger sprudeln.

»He, du Stoffel, nennst du das vielleicht Anschauen?«

Erschrocken öffnete Sevan in der blendenden Sonne die Augen. Der Karren stand, und Onkel Bedros tippte ihm mit dem Stiel der Peitsche auf die Schulter. Aus den Schatten der engen Gassen waren sie auf eine Promenade gefahren, auf der das Gewimmel von Mensch und Tier sich verteilte. Zur Rechten erhob sich eine Reihe hoher Häuser in verwischten Farben, und zur Linken erstreckte sich das Meer, eine wie mit Goldstaub überpuderte Fläche. Sevan erschrak, weil ihm schien, ein Schiff treibe auf trockenem Land an ihm vorüber, doch es war nur ein Kamel, bei dem die Ladung zwischen den Höckern schaukelte.

»Na? Was sagst du?«

»Es riecht schön«, sagte Sevan. »Nach Süßigkeiten, die du mir von hier mitgebracht hast. Helva mit Mandeln und Woll aus Quittensirup.«

»Irgendwann verstopf ich dir die Nasenlöcher«, knurrte Onkel Bedros. »Die Augen aufmachen sollst du, das kann auch der Dümmste.«

Mit der Peitsche wies er über die wogenden Köpfe hinweg. Gehorsam blickte Sevan nach vorn, wo der Küstenstrich einen Bogen beschrieb und mit Häusern in Nebelfarben dicht bebaut war.

»Und? Bekomme ich jetzt ein bisschen mehr zu hören?«

Fieberhaft überlegte Sevan, was der Onkel von ihm erwartete. »Ich find’s hübsch«, stammelte er. »Wirklich hübsch …«

»Hübsch?«, platzte der Onkel heraus. »Weißt du, wie die Amerikaner diese Stadt nennen, in die sie auf der Durchreise gekommen und wo sie für alle Zeit geblieben sind? Paradies, so nennen sie sie! Bedeutende Männer, die in London, Paris und Sankt Petersburg wohnen, wenn du die fragst, wo das Herz der Welt schlägt, was sagen sie dir? Smyrna, Smyrna! Schönes Frauenauge Anatoliens, langer Arm Europas, schillernde Perle der Levante. Und einem Schnösel wie dir fällt nicht mehr dazu ein als hübsch?«

»Ich seh ja nichts!«, rief Sevan. Er hatte es satt. Allzu gern hätte er es ihnen recht gemacht, aber wie konnte er das, wenn sie alle – bis auf seine Mutter – von ihm verlangten, was ganz und gar unmöglich war?

»Du wirst dich noch wundern«, murmelte Onkel Bedros. »Wenn erst das Kleine da ist, wenn du nicht mehr ihr jüngstes Vöglein im Nest bist, dann wird deine Mutter andere Seiten bei dir aufziehen. Das weißt du doch, dass deine Mutter was Kleines kriegt, oder? Verstehst du wenigstens das, oder glaubst du noch, die Kinder bringt der schwarze Storch?«

Sevan schwieg. Was immer er jetzt noch hätte sagen können, hätte alles nur noch finsterer gemacht. Ohnehin war seine Antwort bald nicht mehr von Interesse. »Ah, Bedros, Bedros«, drang eine Stimme durch den Springbrunnen aus Geräuschen. »Wie üblich pünktlich, der Gouverneur braucht sich keinen Uhrenturm anzuschaffen, sondern kann seine Uhr nach dir stellen. Lass mich dich einladen. Wer seinen raki allein trinken muss, der ist ein einsamer Mann.«

Das Türkisch des Mannes klang lustig. Derart übertrieben betont, als versuche er, sich türkischer zu geben als ein Türke, und auf seinem Kopf prangte ein roter fez. Mehr konnte Sevan nicht erkennen, nur dass der Mann rund war und blitzende Gläser vorm Gesicht trug. Ein Fass mit Brille, hatte Onkel Bedros gesagt. Das also war der berühmte Geschäftspartner aus Europa.

Der Onkel bezahlte einem Jungen einen Para, damit er auf den Karren achtete, und ging mit dem Fremden ins Kaffeehaus. Sevan trottete hinterdrein. Was hier als Kaffeehaus galt, war eine Halle mit himmelhohen Wänden, in die das gesamte Rathaus von Bardisag gepasst hätte. Nach der Hitze draußen herrschte im Innern Kühle, und der Rauch, der in Säulen von den Tischen aufstieg, verflüchtigte sich. Über dem Rauschen von Gesprächen und dem Klappern von Kaffeelöffeln vernahm Sevan ein Surren, das ihn faszinierte – so sehr, dass er für Augenblicke seinen Kummer vergaß.

»Offiziell wird freitags nur Kaffee serviert«, erklärte der Europäer, nachdem er sie an einen der runden, geschmiedeten Tische geführt hatte. »Aber unter der Hand – lass mich nur machen.«

Er winkte einem Kellner, tuschelte mit ihm und knisterte mit Geldscheinen. Sevan lauschte noch immer auf das Surren. »Was ist das?«, entfuhr es ihm. »Dieses Geräusch, als ob die Decke festgeschraubt wird.«

Der Mann drehte sich um. »Wen hast du denn da mitgebracht?«, fragte er Onkel Bedros, als hätte er Sevan bisher nicht bemerkt.

»Meinen Neffen.« Der Onkel seufzte. »Den Jüngsten. Hab mir gedacht, ich mach ihm eine Freude, weil’s mir leidtut, dass mein Bruder ihn für eine taube Nuss hält. Aber wie’s aussieht, ist er wirklich eine, dazu von der Mutter verzärtelt. Ich hab ihm Cordelio gezeigt, wollt ihm erzählen, warum der Gott Kairos die Stadt Smyrna gegründet hat, und er hatte nicht mal einen Blick dafür.«

»Wer ist der Gott Kairos?«, murmelte Sevan mit gesenktem Kopf.

»Das verstehst du nicht«, blaffte der Onkel. »Kairos ist die Zeit. Nicht die übliche, die ihr alle vergeudet, sondern die Gelegenheit, die nicht wiederkommt, wenn man sie sich entgehen lässt.«

So wie ich, dachte Sevan. Ich habe mir die Gelegenheit entgehen lassen, und jetzt kommt sie nicht mehr wieder.

Der Kellner stellte dem Onkel und dem Fremden die Getränke hin. »Ihr habt es ja hier mit dem Lernen«, sagte der. »Rümpf ruhig die Nase, weil dein komischer Gott mir nichts sagt, aber mein Geld nimmst du doch. Mein Geld nimmt jeder, und bis meine Tochter groß ist, kann ich ihr diese ganze Stadt samt ihrer Bildung kaufen, wenn ich will.«

»Ach Gott, Bildung.« Der Onkel stöhnte, und Sevan hörte, wie er sich Zitrone in den raki spritzte. »Ich hab selbst nicht fürs Lernen getaugt, aber wenn man die Augen offen hält, bekommt man doch genug an Nützlichem mit. Mein Neffe dagegen, der kneift sie zu. Der glaubt, Kairos würde seine Wolke anhalten, bis er sich bequemt, mal hinzusehen, aber da hat er sich geschnitten. Kairos hat das aus Liebe zu Smyrna ein einziges Mal getan, und er tut’s nie wieder.«

»Immerhin hat dieser Neffe von dir mich gefragt, was über euren Köpfen rauscht«, erwiderte der Fremde. »Ist dir das aufgefallen? Nein. Dem Kleinen aber schon.«

Onkel Bedros wandte den Blick zur Decke.

»Ventilatoren«, erklärte der Fremde stolz. »Ein brandneues System der Firma Schilde in Deutschland, das habe ich dem Café Iskander geschenkt, um die Geburt meiner Tochter zu feiern. Als junger Habenichts konnte ich hier mal meinen Kaffee nicht bezahlen, aber statt mich rauszuwerfen, hat mir Abdul unter dem Tisch einen raki eingeschenkt. ›Aus dir wird noch was‹, hat er gesagt. ›Und dann bezahlst du’s mir.‹So was vergisst ein Ferdi Reinecke im Leben nicht.«

Er wandte sich Sevan zu und klopfte ihm auf den Arm. »Gefallen sie dir? Schau sie dir gut an, denn einen Ventilator, der ohne Dampf betrieben wird, bekommst du so schnell nicht wieder zu sehen.«

Sevan schwieg. Er hätte noch einmal versuchen können, zu lügen, aber er war es leid.

Die Männer tranken ihren raki und wechselten ein paar Worte zu den Geschäften. Dann standen sie auf, um zum Kontor des Fremden zu fahren und den Karren zu entladen. Als sie hinaus auf die Promenade traten, lag die neblige Welt in goldenem Licht.

»Ach Cordelio, ach Smyrna«, sagte Onkel Bedros, »schönste Stadt der Welt. Deine Frauen sind dunkel und süffig wie dein Wein, und wer dich vergisst, vergisst sein Herz in der Brust. Was schert mich mein Neffe? Wenn einer dich nicht anschaut, mein Smyrna, soll er eben sterben, ohne zu wissen, warum er auf der Welt war.«

Und ohne zu wissen, warum der Gott Kairos für Smyrna seine Wolke anhielt, dachte Sevan. Der Fremde trat neben ihn. »Du«, fragte er, »wie heißt du eigentlich?«

»Sevan Agasian«, antwortete Sevan.

»Sedan? So hätte ich meinen Jungen genannt, wenn ich kein Mädchen bekommen hätte. Sedan Osman Reinecke – Sedan fürs Patriotische und Osman, weil wir aus dem Orient das Licht haben.«

Sevan verbesserte ihn nicht.

»Hör mal zu, kleiner Sedan aus dem Reich der Osmanen«, fuhr der Fremde fort. »Du hast also keinen Blick für Cordelio, das schönste Viertel von Smyrna?«

Sevan schüttelte den Kopf.

»Wenn du in der Schulstube sitzt und der Lehrer schreibt an die Tafel«, fuhr der Fremde fort, »siehst du da nichts als Grau? Und daheim, wenn du Schulaufgaben machst, erkennst du keine Zeichen?«

Sevan wollte noch einmal den Kopf schütteln, doch er hielt in der Bewegung inne.

»Sieh dir Cordelio an«, drängte der Mann. »Los, trau dich, sieh hin.«

Sevan schaute in die Richtung und machte mit schmerzenden Augen den Küstenstreifen aus, die trüben Farben der umnebelten Häuser.

Der Mann drückte ihm etwas aufs Gesicht. Sevan schreckte zurück, doch ehe er sich den Gegenstand herunterreißen konnte, sah er, was mit dem Bild vor seinen Augen geschah: Die Nebel lichteten sich. In klaren, schillernden Farben schälten sich die Einzelheiten heraus. Wie vorhin schwankte ein Kamel ihm entgegen, beladen mit Schnüren aneinandergeknoteter Feigen.

»Sag bloß, jetzt siehst du’s«, sagte Onkel Bedros.

»Ja!«, rief Sevan und starrte von den rosa, weiß und gelb verputzten Häusern mit ihren Gartenmauern und Badestegen ins Himmelsblau, an dem eine einzige Wolke stand. »Ja, ja, ja!«

»Muss ja was dran sein, wenn du Schweiger so schreist«, rang Onkel Bedros sich ab.

Der fremde Mann, der ein rundes Gesicht und einen dicken rotbraunen Schnurrbart hatte, beachtete ihn nicht. »Du bist keine taube Nuss«, sagte er zu Sevan. »Du brauchst eine Brille. Bei mir war es auch so. In der Schule gab’s für mich nur Prügel und Spott, bis ich ausgerückt bin, um meinen Weg allein zu machen. Das war knüppelhart. Seit Beginn des Jahres bin ich nun stolzer Vater, und wenn ich eines beschlossen habe, dann das: Meine Tochter soll es nie so schwer haben wie ich.«

Sevan konnte den Blick nicht vom Ende der Bucht wenden, von dem Viertel, das Cordelio hieß und von dessen Farben er seiner Mutter erzählen wollte. Er sah Boote mit leuchtenden Segeln, die vor der Kaimauer tanzten, verfilzte, von Muscheln überwucherte Fischernetze im Sand und blau-weiß gestreifte Kabinen, aus denen Menschen in Badekleidung ins Wasser tapsten.

»Du gestattest?« Der Fremde streckte Sevan die Hand hin. »Ferdinand Reinecke, Kosmetikartikel, Berlin. Was meinst du, kleiner Sedan, wenn du so eine Brille bekommst und dir ordentlich Mühe gibst – kannst du dann wohl Deutsch lernen?«

Sevan nickte. »Ja, ja, ja!« Jetzt, wo ihm die Welt keine Angst mehr machte, gab es nichts, das er nicht würde lernen können.

»Ein Mann, ein Wort.« Der Fremde lachte. »In deinem Dorf, wo du als Dummkopf verschrien bist, willst du doch sicher nicht bleiben, oder? Was hältst du davon, wenn du hier in Smyrna auf die Knabenanstalt des deutschen Schulvereins gehst? In erster Linie ist die natürlich für die Söhne von Ingenieuren gedacht, die wegen der Eisenbahn kommen, aber wenn ein Junge Deutsch spricht und sein Schulgeld bezahlt, verschließt ihm keiner die Tür.«

»Sagst du mir auch, wo mein Bruder, der Hungerleider, das hernehmen soll?«, blaffte Onkel Bedros. »Und ich hab’s auch nicht im Säckel, wer glaubst du denn, wer ich bin? Sultan Abdülhamid im Palast von Konstantinopel? Bei uns Agasians hat’s immer kluge Köpfe gegeben, aber als Armenier kommst du in diesem Land auf keinen grünen Zweig.«

Sevan presste die Lippen zusammen. Verdirb’s mir doch nicht, wollte er rufen, die Gelegenheit kommt nicht wieder! Aber er wusste ja selbst keine Lösung. Der Onkel unterstützte sie schon nach Kräften, steckte der Mutter, die sich das Weinen verkniff, Geld für die Steuer zu und kaufte Hemden und Schuhe, die ein Bruder nach dem andern auftrug, doch niemand in Bardisag konnte es sich leisten, seinen Sohn auf eine Schule für Reiche zu schicken.

»Ich bezahle es«, sagte Ferdinand Reinecke. »Wenn der kleine Sedan bis zum Herbst mit seinem Deutsch zurande kommt, richte ich zu Ehren meiner Tochter für ihn ein Stipendium ein.«

»Du bist ja verrückt«, sagte Onkel Bedros.

»Ohne das, was du als Verrücktheit bezeichnest, säße ich heute noch auf meines Vaters Klitsche im Brandenburgischen.«

Sevan lauschte auf den Klang der Worte, die Betonung, die bei aller Mühe nicht türkisch klang. Vermutlich klang Deutsch so, und Deutsch würde er lernen. Er würde auf die deutsche Schule gehen, Arzt werden und seiner Mutter ein Paar Handschuhe kaufen. Und einen gestickten Schal für den Festtag, an dem er das Mädchen Rhipsime heiratete.

»Und du, Schweiger vor dem Herrn?« Der Onkel boxte ihn gegen den Arm. »Was sagst denn du dazu?«

Sevan sagte nichts, sondern sah in den Himmel, auf die scharf umrissene Wolke, die der Gott Kairos nur einmal und dann nie wieder angehalten hatte. Er war neun Jahre alt, er hatte gerade die Welt entdeckt, und die Welt hieß Smyrna.

Berlin, Silvesternacht 1909

Sie tanzen entzückend, Fräulein Klara. Und genauso entzückend steht Ihnen dieses Kostüm zu Gesicht.« Der Leutnant lächelte. Er trug die kornblumenblaue Uniform der Dragoner und sah aus, als hätte er sie passend zur Farbe seiner Augen gewählt. »Ich darf Ihnen das doch sagen?«

»Jetzt, wo Sie’s mir gesagt haben, erübrigt sich ja wohl die Frage«, platzte Klara heraus.

Dem Kornblumenblauen entschlüpfte ein Hüsteln, er vertat sich im Schritt und steuerte Klara in das berüschte Hinterteil einer Rokokodame. Das war das Ärgerlichste am Walzer, den Sidonie, Klaras weltgewandtere Schulkameradin, ohnehin als Schnee von gestern abtat: Man hing auf Gedeih und Verderb von der Führung seines Tanzherrn ab, und machte der einen Fehler, trug die Dame blaue Flecken davon.

»Ich hatte nicht vor, Ihnen zu nahe zu treten«, verteidigte sich Klaras Tänzer verschnupft. »Im Gegenteil. Ich wollte Ihnen ein Kompliment machen.«

»Ich weiß«, murmelte Klara, während sie sich zurück in die Schrittfolge kämpfte. Und was er damit erreichen wollte, wusste sie erst recht. Von einem Offizierssold der unteren Ränge ließ sich kein Leben auf großem Fuß bestreiten, und die meisten der Dragoner, Ulanen und Husaren, die in ihren Märchenuniformen Berlins höhere Töchter durch den Saal schwenkten, verfügten zwar über formidable Stammbäume, doch in ihren Taschen fand sich selten mehr als ein Hosenknopf. Ihre Karten für den Maskenball, mit dem in der Berliner Philharmonie der Jahreswechsel begangen wurde, hatten gewiss die meisten von ihnen auf Pump erworben. Umso verzweifelter hofften sie nun, dass die Investition sich auszahlen und ihnen ein Goldfisch ins Netz gehen würde.

Klara wusste aus gutem Grund darüber Bescheid: Einer der Goldfische, auf die in diesem Becken Jagd gemacht wurde, war sie selbst – die Tochter eines Vaters, der zwar keinen klingenden Namen, doch dafür ausreichend Mittel vorzuweisen hatte, um einen verarmten Adelssitz dem Verderben zu entreißen. Sein Unternehmen blühte, nach seiner Parfümkreation Scheherazade liefen sich die Frauen die Hacken ab, und Klara war sein einziges Kind.

Ihr Vater war keiner, der ein Blatt vor den Mund nahm, um die zarten Gefühle seiner Mitmenschen zu schonen. »Wenn die Herren Offiziere bei dir Schlange stehen, bilde dir bloß nicht ein, sie tun’s um deines süßen Lächelns willen«, hatte er sie gewarnt.

Klara bildete sich nichts ein: Sie war ihres Vaters Tochter. »Abgebrüht wie Scholzens Bockwurst«, pflegte Hilde, ihre Köchin, zu sagen. Dem Heer ihrer Verehrer ging es nicht um ein Lächeln, sondern um die beim Bankhaus Bleichröder investierte Mitgift. Im Übrigen war Klaras Lächeln gar nicht süß, auch wenn sie ihm mit einem der neuen Lippenstifte aus Vaters Sortiment ausgeholfen hatte. »Dein Mund ist zu groß«, hatte die allwissende Sidonie konstatiert, »und deine Zähne sehen aus, als wolltest du jemanden beißen.«

Umso hübscher ist mein Kostüm, hatte Klara im Stillen getrotzt. Zu dem Gewand aus hauchdünnen Schichten von Seidenchiffon gehörten eine Maske mit kurzem Schleier und eine Haube aus Goldmünzen, die von den Zähnen ablenkten. Es stellte eine osmanische Prinzessin dar, hatte ihr Vater behauptet, und berauscht von sich selbst hatte sich Klara vor den Spiegeln in ihrem Ankleidezimmer gedreht. Ihr erster Ball. Die Worte hatten nach Champagner geklungen, nach Tanz zu schmelzenden Geigenmelodien und nach einer Zukunft, in der jedes Abenteuer möglich war.

Jetzt kam sie sich lächerlich vor. Wozu der Aufwand? Vom Champagner, den die Kellner auf Tabletts balancierten, durfte sie nichts trinken, im Arm des Kornblumenblauen war der Geigenschmelz verschwendet, und was ihre Zukunft betraf, so würde es kein Abenteuer geben, sondern einzig das, was ihr Vater schon im Voraus entschieden hatte: Wenn dieser Ball vorüber war, blieb ihr noch eine Woche in ihrem Elternhaus in Berlin, ehe sie zurück nach Lausanne verfrachtet wurde, in Madame Cariberts Mädchenpensionat, das sie von ganzem Herzen hasste.

Dabei hatte sie doch mit Klauen und Zähnen um diesen Ball gekämpft!

»Du bist erst fünfzehn«, hatte ihr der Vater vorgehalten. »Zu jung, um die Etikette zu beherrschen, die ein öffentlicher Ball erfordert.«

»Sidonie ist auch erst fünfzehn«, hatte Klara aufgetrumpft. »Und die darf auf den Subskriptionsball der Oper!«

»Sidonie Freiin von Schweda ist eine Blaublütige. Sollte der ein Fauxpas unterlaufen, zuckt die feine Gesellschaft mit den Achseln, aber für eine wie dich stellen sie überall ihre Fettnäpfchen auf. Tu ihnen den Gefallen, hineinzutreten, und sie zerfleischen dich wie ein Haufen Köter ein Kotelett.«

Klara hatte nicht aufgegeben. Sie wollte wenigstens den Geschmack von Leben auf der Zunge spüren, ehe sie in die Winterstarre des Pensionats zurückmusste, und schließlich hatte ihr Vater sich breitschlagen lassen. Da sie in der Neujahrsnacht ihren sechzehnten Geburtstag feierte, war ihr gestattet worden, ihre Eltern auf den Silvesterball zu begleiten. Eine Erregung hatte von ihr Besitz ergriffen, wie sie sie zuletzt als kleines Mädchen an Weihnachten verspürt hatte.

Beim Betreten des Saales hatte sie geglaubt zu schweben. Der Glanz der Kronleuchter und der Goldschmuck an den Brüstungen ließen vergessen, dass die Halle einst als Rollschuhbahn genutzt worden war, und die Musik ging ins Blut – ein Gefühl, als bebten die Muskeln ihrer Beine und als würde ihr Kopf federleicht. Genauso war es zu den Weihnachtsfesten ihrer Kindheit gewesen, wenn sie in der Tür des Salons gestanden und geglaubt hatte, in der verschneiten Nacht könne tatsächlich ein Wunder geschehen.

Im Licht der Kerzen hatte der Raum gestrahlt. In seiner Mitte hatte die Tanne gestanden, bis zur Decke ragend und über und über mit glitzerndem Schmuck behängt, aber das, was Klara sich am meisten wünschte, hatte nie unter dem Baum gelegen.

Irgendwann hatte sie vergessen, was es gewesen war. Und auch heute, auf dem Ball, wusste sie es nicht mehr: Was hatte sie sich von dem Wirbel aus schimmernden Roben versprochen? Einen Mann? »Vergiss das nicht«, hatte ihr Vater sie noch in der Kutsche erinnert. »Von den Speichelleckern da drinnen könnte ich dir jeden, den du wolltest, aus meiner Portokasse kaufen.«

Klara hatte geschwiegen. Ihre Mutter schwieg ohnehin, also rieb sich der Vater den Bauch und erging sich wie so oft in einem Gespräch mit sich selbst. »Zu gegebener Zeit werde ich das auch tun, aber da muss erst was Besseres kommen. Was will ich mit einem ach so herrschaftlichen Gut, das letzten Endes nicht mehr als eine verschuldete Klitsche ist? Für die Landeier war ich nicht gut genug, und jetzt sind sie nicht gut genug für meine Prinzessin. Der bezahle ich das Beste vom Besten, wozu habe ich mich sonst mein Leben lang abgerackert?«

Tränen des Zorns raubten Klara die Sicht, als die Erinnerung zurückkehrte: Sie hatte gewollt, dass er ihr aus seiner Portokasse einen Hund kaufte, keinen Mann. Und wenn sie auch das meiste, das sie wollte, vergessen hatte – wieso hielt kein Mensch es für nötig, sie auch nur danach zu fragen? Der Walzer schrammte in den Schlussakkord, und der Kornblumenblaue nahm Haltung an. Ein wenig erinnerte er an eine Schaufensterpuppe bei Wertheim in der Leipziger Straße. Statt den nächsten Tanz anzuspielen, fiel das Orchester in ein plätscherndes Intermezzo, und die Paare begannen, sich auf der Tanzfläche zu zerstreuen.

Der Kornblumenblaue, der wie die übrigen Offiziere kein Kostüm, sondern nur eine fantasielose Maske trug, verbeugte sich und bot Klara seinen Arm. »Zeit für eine Stärkung. Es hat den Anschein, als wäre das Buffet eröffnet worden.«

Auch er stellte Klara keine Frage, ganz wie ihr Vater, wollte nicht einmal wissen, ob sie überhaupt Hunger hatte. Nicht, dass sie keinen gehabt hätte – Klara liebte gutes Essen. Die Fräulein im Pensionat schimpften ihren Appetit dégoûtant, und das Buffet heute Abend hatte Borchardts Delikatessenhandlung ausgestattet, die auch den kaiserlichen Hof belieferte. Gegen die Leere in Herz und Bauch hätte sie ein Stück Kassler mit Mostrich verdrücken können, Aal grün mit Spreewälder Gurken, die beim Zubeißen knackten, Specksalat, Teltower Rübchen und Heringsstipp in seidigem Schmand. Essen war ein bewährter Trost, und nach Mitternacht sollte es Pfannkuchen mit Pflaumenmus geben.

Aber an der Seite des Kornblumenblauen hätten ihr nicht einmal die geschmeckt. Allmählich musste der Arm ihm lahm werden, und kein Mann mit einer Spur von Stolz hätte sich derart lange hinhalten lassen. Klara verabscheute Geschöpfe ohne Stolz. So sehr sie sich einen Hund gewünscht hatte, sie hätte keinen haben wollen, der nach einem Fußtritt weiter mit dem Schwanz wedelte.

Der Dragoner wedelte mit dem Arm. »Nicht hungrig? Auch kein klitzekleines bisschen? Aber Sie dürfen mir doch nicht vom Fleisch fallen, meine Liebe!«

»Eher fall ich vom Glauben«, erwiderte Klara und stampfte zwischen schwatzenden Grüppchen hindurch von der Tanzfläche.

Der Kornblumenblaue war so leicht nicht abzuschütteln. »Ich bitte Sie«, hauchte er in ihren Nacken. »Ein Gläschen Champagner, ein paar Kanapees, das dürfen Sie mir nicht verwehren. Bei der Gelegenheit könnten wir uns ein wenig besser kennenlernen, unsere Vorlieben, unsere Interessen …«

Vorlieben und Interessen hatte Klara bereits zur Genüge kennengelernt. Tänzer Nummer eins war Anhänger des Pferderennsports gewesen, Nummer zwei frönte einer Passion für Automobile, und dieser hier schwärmte vermutlich für Wachteljagd oder Philatelie. Nach ihren eigenen Interessen würde er sie so wenig fragen wie die zwei anderen. »Ich bedaure«, log sie. »Mein Vater erwartet mich in unserer Loge.«

»In Ihrer Loge?« Sein Blick schoss begehrlich in die Höhe. Hinter den Brüstungen saßen Diplomaten, Vertraute des Kaiserhofs und Gattinnen großer Bankiers, die das Treiben auf der Tanzfläche durch Kneifer und Lorgnons verfolgten. Berlins Crème de la Crème. »Die können sich das Glück in Kübeln kaufen«, hätte Hilde, ihre Köchin, gesagt. »Und frei Haus liefern lassen sie sich’s obendrein.« Wenn ein proletarisch geborener Kosmetikhändler, der trotz seiner Verdienste um die Wirtschaft nicht einmal zum Kommerzienrat ernannt worden war, sich eine Loge leisten konnte, verriet das mehr über seinen Status als alle Worte.

»Ich darf wohl nicht auf eine Einladung hoffen«, stammelte Klaras Verfolger eingeschüchtert. Er tat ihr beinahe leid. Ohne ihre Begleitung würde kein Kellner ihm etwas anschreiben, und vermutlich trug er nicht einmal die vier Mark für die billigste Flasche Schaumwein bei sich.

»Leider fehlt es an Platz. Mein Vater hat Geschäftsfreunde da.«

»Aber nach der Pause erweisen Sie mir doch noch einmal die Ehre eines Tanzes?« Der blaue Blick schweifte umher, als blicke er den Fellen nach, die ihm davonschwammen. »Ich würde mich glücklich schätzen, wenn ich Sie in die Schnee-Polonaise führen und das neue Jahr mit Ihnen begrüßen dürfte. Mir scheint nämlich, als mache sich zwischen uns eine gewisse Verbindung bemerkbar, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll …«

»Am besten gar nicht«, erwiderte Klara und ging. Einen Ulanen, der sie am Absatz der Treppe bestürmte, wimmelte sie ohne Federlesens ab. Ihr Bedarf an Ballabenteuern war gedeckt. Sie würde den Rest des Abends in der elterlichen Loge absitzen und froh sein, wenn der Kutscher sie nach Mitternacht heimfuhr. Danach bliebe ihr nur noch eine Woche, ehe sie zurück in ihr Gefängnis musste, und statt vom Glanz der Großstadt etwas mitzunehmen, fuhr sie mit der Erinnerung an geheuchelte Komplimente und käufliche Aufmerksamkeit. Und mit verletztem Stolz.

Die Loge, die ihr Vater auf Gott weiß welchen Wegen ergattert hatte, war gerammelt voll. Auf den Sesseln reihten sich die Damen, darunter Klaras Mutter, während die Herren sich im Stehen drängten. Uniformen entdeckte Klara nicht und außer dem Turban ihres Vaters kein Kostüm. Ihr Vater war fast einen Kopf kürzer als die Männer, die ihn umringten, doch den Mangel an Körpergröße machte sein Bauchumfang wett. Der Rauch seiner türkischen Zigaretten hing in Schwaden in dem engen Geviert. An der Seitenwand lehnte ein Kellner, der verschwitzt und todmüde wirkte.

Zum unauffälligen Eintreten hatte Klara kein Talent. Etwas kippte um, alle Köpfe drehten sich. Einzig der ihrer Mutter blieb teilnahmslos über eine Schale Konfekt gebeugt. »Sieh an, das Klärchen«, rief ihr Vater umso jovialer und breitete die Arme aus. Solchen Aufwand trieb er sonst nicht mit ihr. War etwa jemand anwesend, dem man mit der Rolle des glücklichen Familienvaters imponieren konnte? »Meine Herren, hier haben Sie mein Prinzesschen, meine Sultana, was so viel wie Tochter des Sultans bedeutet.«

»Tut es das? Erstaunlich.« Einer der Männer, die dem Vater gegenüberstanden, hob die Brauen. »Ich war der Ansicht, es bedeute so viel wie getrocknete Weinbeere.«

Das Gelächter blieb höflich, doch es war unüberhörbar. Am liebsten hätte Klara auf der Stelle kehrtgemacht.

Der Witzbold zupfte ihrem Vater am bestickten Kaftan, den er über Leibrock, Schärpe und Pumphose trug. »Und Ihr Aufzug, Reinecke? Ist der nicht ein wenig unpassend? Ich dachte, diesen Sultan Abdülhamid würden wir hier in Europa den großen Schlächter nennen, weil er in irgendwelchen Bergdörfern christliche Ziegenbauern metzelt.«

Hintern wetzten auf Sitzen, Münder schnappten nach Luft. Der Sprecher wandte sich Klara zu. Er trug keines der neuen praktischen Frackhemden, die das Durchzwängen des Kopfes überflüssig machten, sondern die traditionelle Variante, in seinem Auge klemmte ein Monokel, und auf der Wange prangte ein Schmiss. Auf einen Blick gab er zu erkennen, dass er besaß, was Klaras Vater sich nicht kaufen konnte: eine vornehme Abstammung. »Und wie steht es mit Ihnen, Fräulein? Die Tochter von welcher Gattin stellen Sie denn überhaupt dar? Dieser Abdülhamid soll doch derer zwölf haben, die letzte jung genug, um die Enkelin der ersten zu sein.«

»Jetzt ist es genug, Heidenreich!« Auf den Wangen ihres Vaters blühten purpurne Flecken. »Sultan Abdülhamid ist ein persönlicher Freund des Kaisers. Nicht zuletzt kündet davon der Uhrenturm im schönen Smyrna, von wo ich jüngst zurückgekehrt bin. Die Uhr ist ein Geschenk Seiner Majestät, und in seiner großen Rede hat er dem Sultan versichert, dass das Osmanische Reich auf alle Zeit einen Freund in Deutschland hat.«

Er rang nach Atem, gerührt, als hielte er selbst die kaiserliche Rede. »Ich stehe hier ganz im Einklang mit meinem Kaiser. Schon deshalb werde ich nicht dulden, dass Sie meine Gäste aus dem Osmanischen Reich beleidigen.«

»Wen beleidige ich denn? Sie doch wohl nicht, Monsieur Delacloche, oder liegt Ihnen etwas an diesem Abdülhamid?«

Erst jetzt bemerkte Klara die beiden Männer, die zwischen dem Sprecher und der Brüstung standen. Der vordere war schlank, gediegen gekleidet und hatte wallendes, gelbweißes Haar. Der hintere wirkte jung und sehr groß, doch ansonsten ließ sich über ihn nichts sagen. Der Weißhaarige beugte sich vor, um Klaras Vater eine Frage zu stellen. Zwischen beiden entspann sich ein gedämpfter Wortwechsel, währenddessen der Vater unter dem Kaftan nach Zigaretten kramte. Dann straffte er sich und wandte sich wieder an den Mann mit dem Schmiss. »Sultan Abdülhamid ist seit dem Sommer im Exil«, belehrte er den Mann mit dem Schmiss, geflissentlich unterschlagend, dass er davon selbst nichts gewusst hatte. »An der Hohen Pforte regiert seither sein Bruder Mehmed.«

»Puh«, machte der Kerl mit dem Schmiss und ruckelte an seinem Monokel. »So viel Wind um unseren kranken Mann am Bosporus.«

»Welchen kranken Mann am Bosporus?«, warf Klara ein.

»Nie gehört? So nennt man den osmanischen Koloss, der in seine Einzelteile zerfällt. Hätten unsere Berater den maroden Heerscharen da unten nicht auf die Füße geholfen, hätten sie längst Kreta und was auch immer an die vorwitzigen Griechen verloren. Kein Wunder übrigens. Dieses Durcheinander von Völkern, bei dem niemand weiß, was er eigentlich ist – was soll daraus werden? Eine Köchin, die einem so viele Zutaten in den Suppentopf wirft, hätte man längst in hohem Bogen gefeuert.«

Lauernd blickte er von einem zum andern. »Und was die wild gewordene Horde betrifft, die sich Jungtürken nennt«, fügte er noch hinzu, »so war mir natürlich hinlänglich bekannt, dass die einen Sultan ins Exil geschickt haben. Nur ob der jetzt Abdülhamid oder Mohammed hieß, schien mir zweitrangig.«

Der Weißhaarige hatte offenbar Verständnisprobleme, weshalb Klaras Vater in einer fremden Sprache auf ihn einredete. Der große junge Mann stellte in derselben Sprache eine Frage, während andere im Raum das Thema in erregtem Deutsch erörterten. Da die Frauen unbeirrt fortfuhren, dagegen anzuschnattern, erhaschte Klara nur Fetzen.

Irgendwo in der Weite des Osmanischen Reiches, wo ihr Vater seine Pomeranzen, seine Feigenmilch, sein Wasser von Orangenblüten einkaufte, hatte es einen Aufstand und etliche Tote gegeben. So etwas geschah ständig in diesen wilden, fremden Ländern zwischen Wüsten und Märchenpalästen. Madame Caribert hatte erklärt, bis dorthin sei der Geist der Aufklärung nicht vorgedrungen, weshalb ein Menschenleben nicht viel Wert besitze. »Wer weiß, vielleicht haben Sie in Ihrem Pascha-Aufzug ja recht, Reinecke«, tönte der Mann mit dem Schmiss. »Am Ende wird das auf Knien krauchende Osmanenreich für uns Deutsche das, was Indien für die Briten ist, und wir alle lassen es uns auf unseren Terrassen unter Palmwedeln wohl ergehen wie Gott im Orient.«

Klaras Vater löste sich aus der Gruppe. Sein Gesicht glänzte, als wäre er einer Rauferei entkommen, und er zerrte den hoch aufgeschossenen Fremden mit sich, der sich das blassbraune Haar raufte. Dem Spötter mit dem Schmiss gönnte er noch einen vernichtenden Blick, dann wandte er sich ihr zu: »Klärchen, mein Liebes, du sprichst doch vorzüglich Französisch.«

Er erwähnte es bei jeder Gelegenheit. Dem Pensionat in Lausanne hatte er seinerzeit den Zuschlag gegeben, weil dort der Unterricht auf Französisch abgehalten wurde, in der Sprache der vornehmen Welt. »Sei so gut und kümmere dich ein bisschen um Peter.« Er packte Klara am Arm und versetzte dem jungen Mann einen Stoß, sodass sie um ein Haar zusammenprallten.

»Pardonnez-moi mille fois«, murmelte der Mann, obwohl ihn nicht die Spur einer Schuld traf.

In der fremden Sprache schwatzte ihr Vater nun auf ihn ein. War das türkisch? Dieser turmlange Jüngling mit dem Milchgesicht war aber doch wohl kein Türke? Klara hatte noch keinen zu Gesicht bekommen, aber sie stellte sie sich klein und krummbeinig vor, mit Haaren wie Draht und zusammengewachsenen Augenbrauen.

»Peter Delacloche«, stellte ihr Vater den jungen Mann vor. »Der Sohn meines neuen Geschäftspartners aus Smyrna.« Mit einer Kopfbewegung wies er auf den Weißhaarigen. »Der Vertrag, den wir heute geschlossen haben, läutet das kosmopolitische Zeitalter der Kosmetik ein. Reinecke & Delacloche – Schönheit aus dem Land der Morgenröte, wie gefällt dir das?«

»Ich dachte, bei den Türken herrscht Aufruhr«, bemerkte Klara. »Dein Bekannter mit dem Schmiss hat das Osmanische Reich den kranken Mann am Bosporus genannt.«

»Ach, Heidenreich ist grün vor Neid, weil Delacloche die Sache mit mir macht, nicht mit ihm«, brummte ihr Vater. »Ja, sicher, den Südländern schwillt das Blut in den Adern, da gibt’s schon mal Zunder, aber unter dem Strich leg ich für einen braven Orientalen wie meinen Bedros eher die Hand ins Feuer als für einen Rechenschieber wie Heidenreich. Außerdem gilt, was für die Herren von Konstantinopel bis Bagdad gilt, noch lange nicht für mein süßes Smyrna.«

Nicht ohne Faszination sah Klara ihm zu, wie er den Mund spitzte, Luft einsog und theatralisch die Augen schloss. »Ach, meine Perle, mein Paris des Orients, mein Brennglas zwischen den Kontinenten! Kaum hat ein Mann diese Stadt verlassen, da vermisst er sie schon, und etwas, das man in Smyrna nicht bekommt, das ist es nicht wert, begehrt zu werden.«

Abrupt unterbrach er seinen Wortschwall, weil ihm offenbar einfiel, dass der junge Mann neben ihm nichts verstand. »Nun aber zu Peter«, schwenkte er hastig um. »Er ist zum ersten Mal in Berlin, kennt noch niemanden und weiß nicht, wo die Jugend aus guter Familie sich trifft. Nimmst du ihn ein bisschen unter deine Fittiche, damit er uns Deutsche nicht für schlechte Gastgeber hält?«

Ausgerechnet ich, dachte Klara. Woher soll, bitte schön, gerade ich wissen, wo irgendeine Jugend sich trifft? Peter Delacloche lächelte jedoch so hilflos wie Hausmeister Krauses Dackel, den sie auch nicht hätte abweisen können. »Ich bin Klara Reinecke«, sagte sie auf Französisch und reichte ihm die Hand. »Haben Sie sich in der Philharmonie schon umgesehen? Möchten Sie, dass ich sie Ihnen zeige?«

»Wenn es Ihnen nicht zu viele Umstände macht?« Die Miene des jungen Mannes hellte sich auf, als hätte sie ihm einen Flug im Voisin-Doppeldecker angeboten. »Ich muss Sie allerdings warnen – ich gelte als König der Langweiler.«

Verblüfft lachte Klara auf – und entschied, dass sie diesen seltsamen langen Menschen nett fand. »Wenn es für Langeweile Könige gibt, wimmelt’s hier von gekrönten Häuptern«, sagte sie und zog Peter Delacloche aus der Loge. Sie liefen ein Stück den leeren Gang hinunter, dann blieben sie stehen und sahen sich an wie einer Strafe entronnene Kinder. Der junge Mann atmete auf. »Merci mille fois – haben Sie tausendmal Dank.«

»Ist das Ihr Lieblingswort? Tausendmal?« Sein Französisch war fließend, doch bei seinem Akzent hätte Madame Caribert nach ihrem Riechfläschchen gegriffen.

Peter Delacloche seufzte. »Meine kleine Schwester und meine Cousine behaupten, ich sage es in jedem Satz.«

Alle Leute hatten Cousinen, kleine Schwestern, große Brüder, Familien, die ihnen die Wohnstuben verstopften, Klatsch verbreiteten und Anteil nahmen. Sooft jemand dergleichen erwähnte, versetzte es Klara einen Stich.

»Habe ich etwas Falsches gesagt?«

»Ach was.« Ein Einfall kam ihr. Er konnte nicht wissen, dass ihr Vater sie zu jung fand, um Champagner zu trinken. Stöhnend zerrte sie an ihrem Kragen. »Ist Ihnen auch so heiß? Es ist furchtbar stickig, finden Sie nicht?«

Er überlegte und fuhrwerkte mit der Hand wieder in seinem Haarschopf, der zu weich aussah, um sich legen zu lassen. »Eigentlich nicht«, sagte er. »Ich finde es kalt, obwohl ich ein bisschen enttäuscht bin, weil ich gern sehen wollte, wie es schneit.«

»Schneit es in diesem Symmna, aus dem Sie kommen, denn nie?«

»Smyrna«, sagte er sachte, ohne sie zu belehren. »Ägäische Küste, Westanatolien. Nein, ich denke, so wie bei Ihnen schneit es bei uns nie.«

»Sie sind aber kein Türke, oder? Sind Sie Franzose und wohnen in einer türkischen Stadt?«

Er musste das netteste Lachen der Welt haben – so als lache er vor allem über sich selbst. »Schließen Sie das etwa aus meinem Charme und Esprit? Leider muss ich passen, auch wenn Katholiken in Smyrna dem Schutz des französischen Konsuls unterstehen. Seit die Verfassung in Kraft ist, sind Christen wie wir, wenn sie es wollen, Osmanen. Vierzig Millionen Menschen sollen im Reich derzeit leben, und nur etwa die Hälfte sind türkische Muslime. Aber ganz davon abgesehen bin ich Levantiner.«

»Sie sind was?«

Wieder lachte er. »Wir in Smyrna sagen: Levantiner sind die, die schon so lange da sind, dass sie nicht mehr wissen, wie sie hergekommen sind. Die Ersten waren Händler aus den italienischen Seerepubliken, danach kamen Niederländer, Briten, Franzosen – nach Smyrna fuhr früher oder später jeder, und keiner wollte wieder weg.«

»Warum denn nicht? Ist es dermaßen schön in diesem Smyrna?« Klara kannte nichts von der Welt, war noch nirgendwo gewesen – außer zur Sommerfrische in Baden-Baden, wo es genauso öde war wie in der Schweiz.

Wieder kratzte er sich am Kopf. »Sie müssten jemand anderen fragen«, befand er. »Ich bin in Smyrna geboren, und natürlich ist für jeden seine eigene Stadt die schönste von allen.«

Klara war in Berlin geboren. Der Gedanke, Berlin könnte die schönste Stadt von allen sein, war ihr noch nie gekommen.

»Homer nennt das Meer vor Smyrna ›die weindunkle Ägäis‹«, sprach Peter Delacloche weiter. »Aber Homer zählt wohl nicht. Er war blind. Und er ist außerdem in Smyrna geboren wie ich.«

»Wer ist Homer?«

Seine Lippen zuckten. »Ich langweile Sie. Pardonnez-moi mille fois. Auf der Militärakademie haben sie uns erklärt, wie man mit Damen Konversation macht, aber ich fürchte, für mich bleibt das ein Buch mit sieben Siegeln.«

»Was haben sie Ihnen denn da erklärt?«, fragte Klara.

»Nun, beispielsweise dass eine Dame sich unterhalten fühlt, wenn ein Herr ihr von seinen Interessen berichtet, solange er nicht an das Thema Politik rührt. Taubenschießen oder Motorbootfahren sollen sich eignen, und mein Bruder Nimrod ist ein wahrer Meister darin. Das Problem bei mir ist allerdings: Ich habe gar keine besonderen Interessen.«

»Meinen Sie das im Ernst?«

Ihre Blicke trafen sich. Der seine kam ihr zu nackt vor, um geheuchelt zu sein. Dabei hätte er zum Heucheln mehr Grund als jeder andere. Wenn sein Vater als eine Art Juniorpartner bei Reinecke Kosmetik eingestiegen war, konnte ihm etwas Besseres als eine Heirat des Sohnes mit Ferdinand Reineckes Tochter nicht passieren.

Klara hielt inne. Dass ihr Vater ihr irgendwann einen Mann kaufte, war unvermeidlich. Sie würde mit dem Mann in einem Haus wohnen, in dem sie sich genauso eingesperrt und fehl am Platz fühlte wie in ihrem Elternhaus, würde sich zum Trost ans Essen halten und irgendwann so fett werden wie ihre Mutter, deren Hintern über den Rand der Logensessel quoll. Was aber wäre, wenn der gekaufte Mann gar nicht von hier stammte, wenn sie weit weg ginge, an einen Ort, wo allein der Name schon eine Fülle von Geheimnissen barg?

Sie stellte sich vor, wie sie der snobistischen Sidonie erzählte, sie heirate ins Ausland. »Ich gehe nach Smyrna.«

»Nach wohin?«

»Ins Osmanische Reich, an die Küste von Anatolien. Mein Verlobter ist Levantiner …«

»Mademoiselle Reinecke?« Peter Delacloche, mit dem sie sich soeben in Gedanken verlobt hatte, lächelte sie hilflos an.

»Nein!«, rief Klara. »Sagen Sie es nicht.«

»Was bitte?«

»Pardonnez-moi mille fois.«

Sie lachten beide. »Genau das hatte ich sagen wollen«, bekannte er. »Und jetzt weiß ich schon wieder nicht weiter.«

»Wie wär’s mit einer Erinnerung daran, dass mir heiß ist«, schlug Klara vor. »Wenn Sie tatsächlich nicht darauf brennen, mir von Ihren Interessen zu erzählen, könnten Sie sich nützlich machen und mir etwas zu trinken holen.«

»Sapristi!« Mit dem Handrücken schlug er sich gegen die Stirn. »Sie müssen mich für einen Holzklotz sondergleichen halten. Ehe ich mich wieder tausendmal entschuldige, hole ich Ihnen lieber endlich ein Glas Wasser.«

»Wasser muss es nicht sein. Ich bin kein kleines Kind.« Dann fiel ihr etwas ein, das der Vater erwähnt hatte. »Oder dürfen Sie das nicht – mit einem Mädchen Alkohol trinken? Aber Sie sind doch kein Türke, ist denn Alkohol in Smyrna verboten, auch wenn es gar keine türkische Stadt ist?«

»Eine türkische Stadt ist Smyrna schon ein bisschen«, erwiderte er. »Eine griechische auch. Eine europäische, eine orientalische, so genau lässt sich das nicht sagen. Ich habe einen türkischen Diener, der sich gewissenhaft an das Verbot von geistigen Getränken hält. Meine Schwester ist mit einem armenischen Arzt bekannt, der nur trinkt, wenn der Anlass es gebietet. Dann sind da die griechischen Verwandten meiner Mutter, bei denen Sie bereits zum Gabelfrühstück in ein Gelage geraten können, und der Pariser Schwager meines Vaters, der nur Cognac trinkt, den er sich in Eichenholzkisten liefern lässt. Und zu guter Letzt finden Sie den Peter, der recht gern ein heldenhafter Trinker wäre, der es aber leider nicht ganz so heldenhaft verträgt.«

Er ging davon, und sie dachte: Ich will keinen Mann, der sich von meinem Vater kaufen lässt, aber nicht mal Scholzens Bockwurst wäre abgebrüht genug, diesen komischen Peter nicht zu mögen. Am Ende des Gangs öffnete sich die Tür zu ihres Vaters Loge, und der todmüde Kellner stolperte heraus. »Kann ich Ihnen auch etwas bringen?«, fragte er matt, sobald er Klaras ansichtig wurde.

»Mein Verlobter, Herr Delacloche, wollte Sie gerade um zwei Gläser Champagner bitten«, antwortete Klara hoheitsvoll. Schließlich war es fraglich, ob der lange Lulatsch den Ausschank finden würde, zumal er kein Wort Deutsch sprach. Der Kellner zog seines Weges, und Klara lehnte sich gegen die Wand. Unter ihren Sohlen spürte sie den Rhythmus der Musik.

Der Kellner und Peter Delacloche kamen gleichzeitig zurück. Der Kellner balancierte ein Tablett mit einer Vielzahl Getränke, darunter die zwei Kelche, die Klara bestellt hatte. Peter Delacloche hielt dagegen einen Kübel in den Armen, aus dem der Hals einer Flasche ragte. Klara nahm dem Kellner ihre Gläser ab und stellte sie aufs Fenstersims. Draußen lag schwarz und still die Straße und wartete auf etwas.

Schwer atmend blieb Peter Delacloche mit dem Kübel vor ihr stehen. »Es tut mir leid, dass es gedauert hat.«

»Tausendmal?«

Er nickte.

»Mein Vater hat uns etwas schicken lassen«, log Klara und wies auf die Gläser.

»Dass das nötig war, tut mir umso mehr leid. Ich hätte Sie nicht so lange warten lassen dürfen.«

»Jetzt stellen Sie doch erst mal das Ding ab«, befahl Klara. »Und dann müssen wir den edlen Tropfen ja nicht unbedingt schal werden lassen.« Sie konnte nicht fassen, dass er sich derart in Ausgaben gestürzt hatte. Was die dunkelgrüne, am Hals mit Goldfolie umwickelte Flasche gekostet hatte, wollte sie lieber nicht wissen.

Dankbar stellte er den Kübel zu Boden und nahm das Glas, das sie ihm hinschob. »Auf Sie«, sagte er. »Danke, dass Sie sich meiner erbarmen.«

»So schlimm ist es nun wirklich nicht.« Der Champagner war warm und schmeckte nicht halb so gut, wie sie erwartet hatte. Warum war das so, warum brachte jede Erwartung ihre Enttäuschung gleich mit? Sie stürzte den Inhalt des Glases hinunter, in der Hoffnung, dass wenigstens die Wirkung hielt, was der Wirbel um dieses Getränk versprach.

Natürlich kam Peter Delacloche wiederum nicht von allein auf die Idee, sondern musste aufgefordert werden, die Flasche zu öffnen und ihr nachzuschenken. Dann aber ploppte der Korken, und die Stimmung schlug um. Der frische Champagner prickelte wie zerstoßenes Eis auf der Zunge, derweil das erste Glas ihr zu Kopf stieg. Auf einmal schien die Walzermusik nicht mehr fade, und die Aussicht auf das neue Jahr bekam etwas Verheißungsvolles. Ihr Leben musste nicht so verlaufen, wie ihr Vater es vorgezeichnet hatte. Immerhin gab es Leute, die in Städten namens Smyrna wohnten, an einem weindunklen Meer, umgeben von exotischen Völkern, von denen nicht einmal Sidonie von Schweda gehört hatte.

Peter Delacloche sagte nichts, sondern betrachtete ihr Gesicht, als gäbe es Welten darin zu entdecken.

»Jetzt habe ich Ihnen noch gar nichts gezeigt.«

»Oh, darum machen Sie sich bitte keine Sorgen. Ich bin ein behäbiger Mensch und fühle mich hier ganz wohl. Mein Gewissen plagt mich nur, weil Sie den Tanz versäumen.«

»Mein Bedarf ist gedeckt«, erwiderte Klara.

»Wirklich? Meine ältere Schwester tanzt auch nicht gern, vielleicht weil sie lange krank war, aber meine kleine Schwester, die noch viel zu jung dafür ist, kann nicht genug davon bekommen. Bei Ihnen hätte ich gedacht …«

»Geben Sie mir noch mehr Champagner«, fuhr Klara ihm über den Mund. Sie wollte nichts mehr von den Mitgliedern dieser Familie hören, von einem Leben, gegen das ihr eigenes ohne jede Farbe war.

Peter Delacloche füllte ihr Glas bis zum Eichstrich. »Auf Sie«, sagte er noch einmal. Klara trank, bis ihr schwindlig wurde.

Wenig später schwangen die Türen zu allen Logen auf, und wie aus Schleusen quollen die Gäste auf den Gang. »Ihr seid ja immer noch hier«, bemerkte Klaras Vater tadelnd. »Klara, bring den armen Peter nach unten, damit ihm nicht auch noch die Schnee-Polonaise entgeht.«

»Was hat Ihr Vater gesagt?«, fragte der arme Peter, sobald die Menschenscharen in ihren Roben und Frackschößen vorübergerauscht waren.

»Er ist verärgert, weil ich Ihnen nichts geboten habe«, sagte sie. »Gleich ist es Mitternacht, und ich soll mit Ihnen zur Schnee-Polonaise.«

»Was ist eine Schnee-Polonaise?«

»Ein alberner Reihentanz, bei dem ein bisschen weißes Konfetti durch den Saal gepustet wird«, antwortete Klara. »Alles watschelt im Gänsemarsch durch die Gegend, bis um zwölf Uhr die Korken knallen. Also los, kommen Sie, damit dieses weltbewegende Ereignis nicht ohne uns stattfindet.«

Zweifelnd sah er sie an. Erst als die Musik einsetzte, reichte er ihr seinen Arm. Von den oberen Treppenstufen überblickten sie die Tanzfläche, auf der sich in Eile die Paare formierten. Saaldiener schoben, rückten und zerrten, bis ein Trompetenstoß die Reihe in Bewegung setzte. »Majestätisch«, hatte Madame Caribert die Tanzhaltung genannt, die für den Schreittanz eingenommen werden sollte. »Würde müsst ihr zeigen, Stolz, Eleganz!« In der mitternächtlichen Philharmonie fielen alle drei Tugenden dem Alkoholpegel zum Opfer. Der vorderste Herr stolperte und musste von seiner Dame aufgefangen werden, während das Paar dahinter den beiden wie ein Rammbock in den Rücken prallte. Gelächter und Gekreische ließen darauf schließen, dass niemand sich daran störte.

Peter Delacloche verharrte wie ein Pferd, das einen Sprung verweigerte. »Mademoiselle Reinecke«, stammelte er, die Augen schreckgeweitet. »Ich fürchte, ich kann das nicht. Ich mag recht gern Musik. Aber wenn es ans Tanzen geht …«

»Tanzen kann man das wohl kaum nennen«, sagte Klara. »Bleiben wir einfach hier stehen.«

Mit dem nächsten Takt wechselte die Beleuchtung, und aus am Rand aufgestellten Trichtern wirbelte silberweißes Konfetti. Im Nu sah die Fläche mit den Polonaise-Tänzern aus wie in Schneegeriesel getaucht. Was eben noch unbeholfen und peinlich gewirkt hatte, bekam jetzt Zauber – wenigstens wenn man nicht zu genau hinsah und zwei, drei Gläser Champagner im Blut hatte.

Der Fotograf der B. Z. am Mittag hatte den Kopf unter dem schwarzen Tuch hinter der Kamera verborgen und knipste vermutlich die prachtvollste Aufnahme seines Lebens. Die Fotografie war eine erstaunliche Erfindung, fand Klara. Auf dem Bild würde man später nichts Hässliches, nichts Banales sehen, keine Menschen, die sich langweilten, sich zerstritten oder heillos betrunken hatten, sondern nur den einen Ausschnitt, der vollkommen war.

»Schnee«, konstatierte Peter Delacloche. »Wie schön das ist.«

»Nur schade, dass wir den Kühler nicht mitgenommen haben«, bemerkte Klara.

»Möchten Sie das?«

»Was?«

»Noch etwas trinken.«

»Machen Sie sich keine Umstände«, sagte Klara.

»Ich gehe gern. Wenigstens etwas, das ich für Sie tun kann.« Statt die Treppe hinaufzulaufen und den Kühler zu holen, hastete er hinunter in den Saal, wo Klara ihn im Schneegestöber aus den Augen verlor. Gleich darauf begann der Dirigent mit dem Taktstock rückwärts zu zählen, und der Saal stimmte ein:

»Zehn, neun, acht, sieben, sechs …«

Dass ein Jahr vorüberging, hatte Klara nie zuvor berührt. Sie wusste nicht, woher der Anflug von Furcht kam, der Wunsch, etwas festzuhalten, weil es ihr sonst entging und nicht wiederkam.

»Fünf, vier, drei, zwei, eins – Neunzehnhundertzehn!« Der Sprecher sprang auf das Podium und rief in den Orkan des Jubels: »Gott schütze Kaiser und Reich. Wir stehen im Morgenrot eines neuen Jahrzehnts – möge das anbrechende Zeitalter uns Fortschritt, Eintracht und Wohlstand bescheren!«

»Und freie Wahlen in Preußen!«, schrie jemand. »Nieder mit der Schande des Dreiklassenwahlrechts!«

Die meisten Gäste beachteten ihn nicht, sie waren zu beschäftigt, von den Tabletts der umhereilenden Kellner Gläser zu ergattern. Die Musik spielte einen Tusch, und die Gebläse wirbelten noch einmal Konfettischnee auf, während die Saaldiener den Schreihals ergriffen und aus der hinteren Tür schleiften.

»Mademoiselle Reinecke!«

Vor ihr stand Peter Delacloche, hielt einen silbernen Kübel in den Armen und strahlte wie ein kleiner Junge. »Tausendmal Glück zum neuen Jahr. Ich würde gern mit Ihnen anstoßen, aber mir fehlt eine freie Hand …« Mit dem Kinn wies er in den Kübel, aus dem neben einer Flasche zwei langstielige Gläser ragten.

»Himmel, Arsch und Zwirn«, platzte Klara heraus. Ehe sie sich entschuldigen konnte, fiel ihr ein, dass er kein Wort verstand. Sie nahm ihm den Kübel ab und fischte die tropfnassen Gläser aus dem Eis. Peter Delacloche öffnete die Flasche, und der Korken schoss irgendwohin. »Prosit Neujahr!« Die Kelche klirrten. Etliche Paare tauschten Küsse, und Klara hätte nach all dem Champagner selbst gern gewusst, wie ein Kuss schmeckte.

Er aber hielt sich züchtig zurück. »Es ist so schön hier.« Die Musik leitete in den Schneewalzer über, und Paar um Paar begann zu tanzen.

»Zumindest haben Sie Ihren Schnee noch bekommen.«

»Ja, dank Ihnen habe ich das.«

»Macht man das so in Smyrna? Champagner kübelweise heranschleppen, wenn man um ein einzelnes Glas gebeten wird?«