Das Haus der Katzenweberin - Andrea Rohn - E-Book

Das Haus der Katzenweberin E-Book

Andrea Rohn

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Beschreibung

Die vierjährige Elisa langweilt sich, weil das raue Winterwetter sie im Haus einsperrt. Daher bittet sie ihre Uroma Therese, ihr eine Geschichte über deren Kater Flicken zu erzählen. Mit der Zeit entwickelt sich daraus ein tägliches Ritual, das sowohl dem Kind, als auch der alten Frau Freude bereitet. Die folgenden Erzählungen handeln allerdings von den sieben Lorich, welche für Mutter Natur Tiere stricken, häkeln, nähen, sticken oder knüpfen. Einzig die jüngste Schwester, Lorwinnja, scheint keine für sich passende Handarbeitsart zu finden. Doch eines Tages entdeckt auch sie ihre Bestimmung und wird von Mutter Natur zur Katzenweberin ernannt. Lorwinnja verleiht ihrem ersten Kater, Jadeblatt, eine ungewöhnliche Fellfarbe. Daher darf er auch bei ihr bleiben. Doch welche Verantwortung sie sich mit dem Kitten aufhalst und ob sie es schafft, Jadeblatt zu einem selbstständigen Jungkater zu erziehen, wird sich erst mit der Zeit zeigen. Turbulente Monate liegen vor ihr.

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Seitenzahl: 353

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Personenverzeichnis

Die menschlichen Protagonisten

Elisa

vierjährige Tochter von Heike, Urenkelin von Therese

Heike

Mutter von Elisa, Enkelin von Therese

Therese

89-jährige Oma von Heike, Uroma von Elisa

Die Lorich-Schwestern

Lormascha

älteste, Strickerin

Lorstine

zweitälteste, Stickerin

Lornade

drittälteste, Häklerin

Lorzusi

viertälteste, Näherin

Lorgana

fünftälteste, Spinnerin

Lorflori

zweitjüngste, Knüpferin

Lorwinnja

jüngste, Weberin

Die wichtigsten Katzen

Flicken

sieben Jahre, Thereses Patchwork-Kater

Jadeblatt

Kitten, Lorwinnjas grüner Webfehler

Sonstige Menschen

Benjamin

dreizehnjähriger, nachbarschaftlicher Schneeräumer

Elisabeth Landner

Nichte von Mariella Arndt, Kräuterfrau

Mariella Arndt

Tante von Elisabeth Landner, Kinderfrau von Therese

Nele Kieler

Erzieherin im Kindergarten von Elisa

Sonstige Bewohner der Lorichwelt

Adelgunde

Lorwinnjas Stubenspinne

Frühling

kindliche Jahreszeit

Kokoran

hilfreicher Besen

Mutter Natur

Schöpferin der Welten

Sommer

frauliche Jahreszeit

Winter

kaltherzige Jahreszeit

Jadeblatts Katzen-Lehrer

Nebel

graue Kätzin

Noir

schwarzer Kater

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel: Wie Flicken zu Therese kam

2. Kapitel: Die Handarbeitsschwestern

3. Kapitel: Jadeblatts Webtag

4. Kapitel: Jadeblatts Vorstellung bei Mutter Natur

5. Kapitel: Flickens erstes Zurückweben

6. Kapitel: Eine junge Katze im Haus

7. Kapitel: Krallen lieben Materialien aller Art

8. Kapitel: Unheimliche Geräusche in der Nacht

9. Kapitel: Ein Mitschläfer und Umgräber

10. Kapitel: Wohlbekannte Spuren

11. Kapitel: Die Besteigung der Kastanie

12. Kapitel: Eine seltsame Art und Weise Mäuse zu fangen

13. Kapitel: Mäusefangen will gelernt sein

14. Kapitel: Weitere Fangmethoden

15. Kapitel: Ein neues Einsatzgebiet

16. Kapitel: Der Chaos-Kater

17. Kapitel: Wieso der Webstuhl nur mit Harfenmusik fehlerfrei arbeitet

18. Kapitel: Sommer- und Winterkleidung für Jadeblatt

19. Kapitel: Erwachsen werden

Gedicht „Leben entsteht“

Über die Autorin

Dank

Bereits erschienen

In Vorbereitung

Für alle, die Märchen lieben

Wenn Du Märchenaugen hast, ist die Welt voller Wunder.

Victor Blüthgen

1. Kapitel: Wie Flicken zu Therese kam

„Du, Oma?“ Die zaghafte Stimme der kleinen Elisa wand sich von ihrem Platz auf dem Boden wie sanfter Nebel zur Höhe der im mächtigen Ohrensessel thronenden alten Frau. Noch blieb deren Gesicht ernst, die Augen starr auf das Treiben vor dem winterlichen Fenster gerichtet.

„Erzählst du mir, woher die bunten Katzen kommen?“, ließ sich die Vierjährige davon nicht abschrecken. Langsam rutschte sie, ihre Lieblingspuppe im Arm, ganz nah an den sie überragenden Sessel heran. Sollte sie diesmal mit ihrer Vorgehensweise etwa kein Glück haben?

Ein Holzscheit knackte im Holzofen und riss Oma Therese aus ihren trüben Gedanken. „Was hast du gesagt, Kleines?“ Mit diesen sanften Worten kehrte auch das feine Lächeln in ihr faltiges Gesicht zurück, welches ihre Urenkelin so an ihr liebte.

„Du hast versprochen, mir zu erzählen, wie Flicken zu dir kam“, wurde Elisa nun fordernder. Sie blickte zwischen dem rosigen Antlitz der Urgroßmutter über ihr und dem haarigen des vor dem Holzofen liegenden Katers hin und her.

„Oh, ja.“ Die weißhaarige Frau mit den wenigen Zähnen und den kurzsichtigen Augen schien sich zu erinnern. „Das ist aber eine lange Geschichte“, warnte sie mit einem verschmitzten Lächeln und zwinkerte der Kleinen verschwörerisch zu.

„Wenn du heute nichts mehr vorhast, …“ Elisa hatte diesen Satz erst heute Morgen aufgeschnappt und natürlich musste er, wie alles Neue, sofort ausprobiert werden.

Verwundert schüttelte die alte Frau den Kopf, veränderte die Lage ihrer Beine auf dem Hocker und blickte kurz zu dem mehrfarbigen Kater. Dieser streckte Wirbel für Wirbel ganz nach Katzenart und machte sich mit majestätisch hochgestrecktem Schwanz auf den Weg zu den beiden Menschen. Für eine gute Geschichte war Flicken immer zu haben, zumal es diesmal auch noch um ihn zu gehen schien.

Uroma und Enkelin warteten, bis der Kater seinen Lieblingsplatz auf dem Schoß seiner alten Streichelexpertin einnahm. Seinen Namen verdankte er nicht nur den unzähligen Farben seines Pelzes. Die Fellstücke wirkten wie eine Patchworkarbeit, da sie sich zusätzlich in der Haarlänge unterschieden.

Erst, als Flicken nach einem gezielten Sprung und einer heute recht kurzen Pfotenmassage von Thereses Oberschenkeln, seinen Platz schnurrend eingenommen hatte, begann die alte Frau zu erzählen.

„Wir sind gleich da, Fräulein Therese“, meinte Mariella Arndt wohl schon zum fünften Mal an diesem Morgen.

Und wie jedes Mal antwortete das fünfjährige Kind: „Ich begleite dich gerne.“

Für Therese war es eine willkommene Abwechslung, dass Fräulein Mariella, ihr Kindermädchen, sie heute mit ins Dorf nahm. Bisher hatte die Frau es immer so einrichten können, dass Thereses Mutter oder eines der Dienstmädchen auf die Kleine ein Auge hatte, wenn sie zu der Kräuterfrau fuhr. An diesem Morgen jedoch war die gnädige Frau unabkömmlich und auch keines der Mädchen hatte Zeit, denn am Abend sollte es eines der viel gerühmten Sommerfeste geben. So hatte sich Fräulein Mariella Arndt schließlich durchgerungen – natürlich in Absprache mit der gnädigen Frau – eine Ausnahme zu machen.

„Tun dir die Beine sehr weh?“

Die Frage des Kindes, welches eben noch verzückt einem gaukelnden Schmetterling hinterher geblickt hatte, überraschte die Kinderfrau derart, dass sie abrupt stehen blieb. Fast wäre Therese hingefallen. Im letzten Moment schafften es ihre kurzen Beinchen noch, den Sturz in den Staub zu verhindern. Vielleicht hatte sie aber auch mit einer derartigen Reaktion gerechnet, denn wenn sie eines hatte, dann eine gute Beobachtungsgabe verbunden mit einer manchmal beunruhigend wirkenden Voraussicht.

Nach einem kurzen Durchatmen hatte sich Fräulein Mariella wieder so weit gesammelt, dass sie ihrer Schutzbefohlenen ruhig antworten konnte. „Wie du weißt, Resi,“, diese Anrede gebrauchte sie nur, wenn sie mit dem Kind allein war, „werde ich langsam alt. Da zwickt es hier und zwackt es da. Aber solange Mutter Natur ein Kraut vorhält, dass mir Linderung verschafft, will ich mich nicht beklagen.“

„Und weil die Kräuterfrau sie alle kennt und Zeit hat sie zu sammeln, holst du sie dir dort ab.“ Therese wiederholte nur, was sie von einem der Dienstmädchen am Vorabend aufgeschnappt hatte.

Nun war die ältere Frau doch sehr erstaunt, welche Schlüsse dieses kleine Kind zu ziehen imstande war. Neugierig, was einmal aus ihm werden würde, blickte sie es lächelnd von oben herab an. Gerne hätte sie sich vor Therese gehockt, denn sie war der Meinung, dass man stets auf Augenhöhe mit seinem Gesprächspartner sein sollte, aber heute war sie körperlich dazu nicht in der Lage. Selbst nach dem kurzen Fußmarsch schmerzten die Beine, wie schon lange nicht mehr.

„Recht hast du, Resi. Dennoch sollten wir weitergehen. Die Leute drehen sich schon nach uns um.“ Das Kind hatte die gaffenden Bauern und Handwerker schon lange heimlich beobachtet. Es fand auch diese Leute in ihrer schmutzigen, gestopften und abgetragenen Kleidung sehr interessant.

„Warum sind wir denn nicht mit dem Wagen bis zum Haus der Kräuterfrau gefahren?“, wollte Therese wissen, als sie ihren Weg auf der staubigen Dorfstraße fortsetzten. „Wir wären viel schneller da gewesen und dir täten die Beine nicht so weh.“

„Würden die Beine nicht so weh tun“, verbesserte Fräulein Mariella gewohnheitsmäßig. „Der Heinrich konnte uns nicht mit dem Wagen bis vor die Tür fahren, weil er mit dem Pferd noch zum Schmied musste und der wohnt schließlich am Dorfeingang“, gab sie dann doch noch Auskunft. Auch das war eines ihrer Prinzipien. Stets versuchte sie, die Fragen des Mädchens zu beantworten. Noch während sie sprach, zog sie ein Spitzentaschentuch aus ihrem Ärmel und tupfte sich die Schweißperlen von der Stirn.

„Hätte ich doch daran gedacht, meinen Sonnenschirm mitzunehmen!“, fuhr sie stöhnend fort. Was ihr vor kaum fünf Minuten noch als unnötig für die wenigen Schritte erschienen war, bereute sie nun zutiefst. „Sicher wird es heute noch ein Gewitter geben, das spüre ich in den Beinen. Aber noch ist es nicht so weit, vielleicht gegen Mittag. – Oh, dieser Sommer! Schon seit Mai, also fast sechs Wochen, hat es außer ein paar vereinzelten Gewittern, die auch keine wirkliche Abkühlung gebracht hatten, nicht mehr geregnet. Wenn das so weiter geht … Wie soll ich diese Jahreszeit überstehen? Zum Glück sind wir gleich da. Siehst du das Häuschen mit dem Lattenzaun und dem wunderschönen Blumengarten? Dort wohnt die Kräuterfrau.“

Das kleine windschiefe Häuschen von Elisabeth Landner erinnerte mehr an das Haus der Hexe aus dem Märchen Hänsel und Gretel, allerdings ohne den schmackhaften Lebkuchen. Das Kind konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass gleich aus der schrägen Brettertür mit dem verblichenen grünen Anstrich eine buckelige alte Frau mit einer spitzen Adlernase heraustreten würde. Ganz sicher stützte sie sich dabei auf einen knorrigen Stock und hatte eine schwarze Katze auf der Schulter sitzen.

Aber vielleicht wollte sie sich ja auch gar nicht so gerne am helllichten Tag draußen zeigen? Therese beschloss, dass die Hexe gleich eines der winzigen Fensterchen, dessen grüne, abgeblätterte Rahmenfarbe selbst dem Kind auffiel, öffnen würde. Mit stechenden Augen, einem Grinsen, das ihren einzigen abgebrochenen Zahn zeigen würde …

Zum Glück kam die Kleine mit ihren Fantastereien nicht weiter. Noch während ihr Kindermädchen das leichtgängige Gartentürchen öffnete, trat eine Frau mittleren Alters in einem einfachen, aber sauberen grünen Kleid aus dem Häuschen.

„Sei gegrüßt, Tante Mariella!“, rief die Kräuterfrau erfreut aus. „Und wen hast du mir denn heute mitgebracht? Wenn das mal nicht das gnädige Fräulein ist!“

Im ersten Moment noch verblüfft, dass ihre schlimmsten Befürchtungen sich – zum Glück – nicht erfüllt hatten, protestierte das Kind im nächsten auch schon. „Ich bin kein gnädiges Fräulein! Ich bin die Therese Luise Christine.“ Der Körper der kleinen Person straffte sich. Gleichzeitig ballte sie die Fäustchen und hob das Kinn an.

Einige bedeutungsvolle Blicke wanderten zwischen den beiden Frauen hin und her. Was jetzt noch niedlich wirkte, könnte sich später zu einem nicht zu unterschätzenden Problem auswachsen. Fräulein Mariella würde sich die nächsten Jahre nicht, wie sie sich insgeheim erhofft hatte, immer mehr aus der Rolle der Erzieherin zurückziehen können.

„Kommt doch herein!“, forderte Elisabeth Landner ihren Besuch freundlich auf. „Wir können in der kühlen Stube weiterreden.“ Und schon drehte sie sich um und verschwand in der dunklen Türöffnung.

„Da hast du wohl recht“, stimmte Elisabeths Tante zu, wischte sich mit ihrem Spitzentaschentuch demonstrativ den Schweiß aus dem Gesicht und schob die Kleine vor sich her Richtung Haus.

Noch immer in ihrer Empörung gefangen, trippelte Therese einige Schritte vorwärts, blieb aber so plötzlich vor dem schwarzen Loch stehen, dass ihre Kinderfrau fast über sie gefallen wäre. Doch so sehr sie ihre pummeligen Beinchen in den Boden stemmte, Fräulein Mariella war stärker und beförderte sie mit einem kleinen Rempler in das Innere des Häuschens.

Es dauerte einige Minuten, bis sich die vom gleißenden Sonnenlicht geblendeten Augen der beiden Besucher an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Die winzigen Fenster ließen nur wenig Helligkeit in den kleinen Raum hinein. Und die von der Kinderfrau hinter sich geschlossene Tür trug zusätzlich zu dem diffusen Licht bei.

Trotzdem steuerte Fräulein Mariella zielsicher auf einen der beiden Stühle am mitten im Raum stehenden Tisch zu und ließ sich erschöpft und einen Seufzer ausstoßend darauf fallen.

Zunächst noch empört über die rüde Behandlung, war Therese im nächsten Moment fasziniert von den vielen Eindrücken, welche in dem kleinen Raum auf sie einstürzten.

Als Erstes erschnüffelte ihr Näschen ein Gemisch der verschiedensten Gerüche. Wenn es auch ungewohnt für das parfümverwöhnte Riechorgan des Kindes war, empfand Therese es nicht als unangenehm.

Neugierig ließ sie den Blick aus ihren dunkelbraunen Augen durch den ganzen Raum schweifen. Zunächst fiel ihr die spärliche Einrichtung auf. Außer dem Tisch und den Stühlen gab es nur noch ein Regal, welches die Wand links von der Eingangstür bis zu einer mittig in der Fachwerkwand eingelassenen Innentür einnahm. Dieses Regal war mit blaugrauen Keramiktöpfen in allen erdenklichen Größen und Formen überfüllt. Was ihnen aber allen gemeinsam war, war, dass sie mit einem Holzdeckel verschlossen waren.

An der Wand rechts von Therese stand ein riesiger Herd. Natürlich brannte bei dieser sommerlichen Hitze kein Feuer darin. Dennoch wirkte er in diesem kleinen Raum zu wuchtig.

Hätte dieses Heiz- und Kochgerät in der Küche ihres Elternhauses gestanden, wäre es ihr gar nicht aufgefallen. Von ihren heimlichen Besuchen in diesem Raum, zu dem eigentlich die Herrschaften keinen Zutritt hatten, kannte sich Therese damit aus. So aber fragte sie sich, was der riesige Herd in diesem kleinen Haus zu suchen hatte.

Da sie aber zu keinem Ergebnis kam, riss sie ihren Blick schließlich los. Ihre Augen streiften nur kurz das wie in die Ecke gequetscht wirkende Fenster, bevor sie an der gegenüberliegenden Wand entlang weiter wanderten. Diese dominierte eine zweite Fensteröffnung. Lediglich zwei gestickte Bilder mit dem Kind unbekannten Pflanzenmotiven rahmten sie ein.

An der hinteren Wand stand eine einfache Liege. Ein paar Kissen und Decken stapelten sich auf dem mit einem sauberen Leinentuch abgedeckten Ruhemöbel. Auch nichts, was das Interesse eines kleinen Mädchens hätte wecken können. Schon wollte das Kind mit einem kleinen Seufzer die Augen abwenden und sich zu den beiden am Tisch sitzenden Erwachsenen begeben, da glaubte es, auf einer der Decken eine Bewegung ausgemacht zu haben.

Neugierig trat es ein paar Schritte näher, ohne zu bemerken, dass die Frauen es beobachteten. Da! Auf der Decke hatte sich schon wieder etwas bewegt. Diesmal war sich Therese ganz sicher, wenn sie in dem Halbdunkel des Raumes auch noch nicht ausmachen konnte, um was es sich handelte.

Ohne sich dessen bewusst zu sein, ging sie Schritt für Schritt, dieses geheimnisvolle Ding fixierend, quer durch das Zimmer auf es zu. Erst als sie nur noch knapp einen Meter von der Liege entfernt war, konnte sie endlich erkennen, dass es sich um ein Tier handelte, das zusammengerollt vor ihr lag. Doch sie war sich nicht sicher, welcher Spezies diese Kugel zuzuordnen war.

Einerseits, so fand Therese, könnte es sich um einen kleinen Hund handeln; einen dieser Straßenköter, welche die Dienerschaft als spitzgedackelten Bernhardiner bezeichnete. Andererseits bestand auch die Möglichkeit, dass sich das Fellknäuel als Katze entpuppte – natürlich als Wald- und Wiesenmischung. Wenn das Mädchen auch noch nicht mit dem Virus der Überheblichkeit, wie er bei vielen Erwachsenen ihres Standes vorherrschte, angesteckt worden war, so war sie sich sicher, dass die Kräuterfrau sich kein Rassetier leisten konnte.

Als Therese sich entschloss, noch einen Schritt näher an ihre Entdeckung heranzugehen, um feststellen zu können, wem das bunte Fell gehörte, öffnete das Tier seine smaragdgrünen Augen. Sie schienen das Kind regelrecht zu fixieren, denn es war nicht fähig, auch nur den kleinen Finger zu bewegen. Stattdessen riss es die Augen weit auf und versenkte seinen Blick in die wie Teiche wirkenden des Tieres.

Obwohl ihre gedankliche Verbindung nur wenige Augenblicke gedauert hatte, glaubte Therese, dass ihr ein äußerst wertvolles Geschenk gemacht worden war. Sie hatte einen kurzen Blick in das Tal der Lorich werfen dürfen. Dort hatte sie den Handarbeitsschwestern, welche im Auftag der Göttin Natur arbeiteten, bei ihren Tätigkeiten zusehen können.

Während sie das Gefühl hatte, von den Frauen nicht wahrgenommen worden zu sein, hatte ihr das Harfe spielende Mädchen mit dem eigenständig arbeitenden Webstuhl kurz zugelächelt.

Mit einem kurzen Blinzeln unterbrach das Fellknäuel die Augenverbindung wieder und entließ ein verwirrtes Kind in die Realität zurück. Als wäre nichts geschehen, entrollte sich das Tier und stellte sich auf alle viere. Mit einer anmutigen Bewegung reckte es sich erst vorn, dann hinten. Es brachte dadurch Wirbel für Wirbel, vom Hals bis zum langen wuscheligen Schwanz, an ihre richtige Stellung zurück. Dann miaute es leise. Schließlich entschloss es sich, seine Decke ganz zu verlassen. Auf die Vorderkante der Liege zuschreitend, näherte es sich Therese.

„Du kannst Wuschel ruhig streicheln“, forderte die Kräuterfrau das Mädchen auf.

Doch Therese fand, dass der Frau es gar nicht zustand, eine derartige Erlaubnis zu erteilen. „Wenn die Katze es mir nicht erlaubt, darf ich sie auch nicht streicheln.“

Verblüfft sahen sich die beiden Frauen an. Währenddessen ließ sich das Kind, ermutigt durch die mit einem Auge zwinkernde Katze, auf der Liege nieder. Sogleich setzte sich das vielfarbige Tier neben sie und genoss Thereses Liebkosungen.

Bald waren die beiden so in ihre Beschäftigung miteinander versunken, dass man hätte meinen können, sie würden sich schon ewig kennen.

„Meine Kleine, dein Wunsch ist schon in Erfüllung gegangen!“ Das Kind war überzeugt, diesen Satz aus dem Munde jener jungen Frau gehört zu haben, die sie während ihrer geistigen Verbindung mit der Katze gesehen hatte. Wie als Bestätigung hatte ihr Wuschel mit einem Auge zugezwinkert und sich auf ihrem Schlafplatz wieder zusammenrollt. Daraufhin hatte Therese sich wieder zurück an den Tisch zu den beiden Frauen begeben. Ihre Aufmerksamkeit galt dennoch weiterhin dem leise vor sich hinschnurrenden Tier.

Eine halbe Stunde später wurden die Kinderfrau und ihr Schützling von ihrem Kutscher abgeholt. Beiden fiel es schwer, das Haus der Kräuterfrau zu verlassen, wenn sie dafür auch unterschiedliche Beweggründe hatten.

Noch während sie in den offenen Zweispänner einstiegen, bettelte Therese bei Frau Landner darum, die wunderschöne Katze mitnehmen zu dürfen.

„Wuschel kannst du nicht haben, Therese“, belehrte die neben der Kutsche stehende Kräuterfrau sie. „Sie wurde mir von der Katzenweberin geschickt, damit sie die Mäuse fängt, die meine Vorräte und Kräuter annagen. Du siehst also, dass ich meine Katze selbst dringend brauche.“

„Das schon“, gab das Kind nach, sich aber noch lange nicht zufrieden, „aber kannst du die Weberin bitten, mir auch eine Wuschel zu schicken? – Papá bezahlt auch die Frachtgebühr.“

Dem treuherzigen Blick der Kleinen konnte selbst die Kräuterfrau nicht widerstehen, weshalb sie ihr den Rat gab: „Das kann ich leider nicht, kleines Fräulein. Wenn du ein Kätzchen haben möchtest, musst du schon selbst zum Haus der Katzenweberin gehen und sie um eines bitten.“

„Setz der Kleinen keine Flausen in den Kopf, Elli“, mischte sich Frau Landners Tante leise ein. „Du weißt genau, dass eine Wald-und-Wiesen-Katze nicht als angemessen für die Herrschaft gilt. Und außerdem … Woher willst du wissen, ob die gnädige Frau dem Kind überhaupt eine Katze erlaubt?“

Die ältere Frau hatte sich von ihrem Sitz in der Kutsche aus leicht zu ihrer Nichte hinuntergebeugt, damit Therese ihren Einwand nicht mitbekommen sollte, doch ihr Schützling hatte sehr gute Ohren.

„Maman gestattet mir bestimmt ein Kätzchen, wenn ich sie darum bitte. Sonst frage ich Papá und der befiehlt ihr dann, mir eines zu erlauben.“ Therese war davon überzeugt, dass sie ihren Willen bekommen würde. Sie würde nicht davor zurückschrecken, ihre Eltern gegeneinander auszuspielen. Mit ihrem kindlichen Charme hatte sie noch jeden Wunsch durchgesetzt.

„Wir werden sehen.“ Verschwörerisch blinzelte die Kräuterfrau dem Mädchen zu, das schon siegessicher, mit strahlendem Gesicht, zurückzwinkerte.

„Ja, das werden wir“, stellte Fräulein Mariella mit Überzeugung in der Stimme fest. Allerdings rutschte ihr anschließend ein leiser Seufzer heraus, der diese Lügen strafte. So entschloss sie sich dem Kutscher die Anweisung zu geben sie zurück zum Herrenhaus zu fahren.

„Mach es gut, Fräulein Therese! Bis bald, liebe Tante!“, rief Elisabeth Landner der abfahrenden Kutsche hinterher. Sie winkte den beiden Fahrgästen nach, bis sie das kleine Dorf verlassen hatten. Dann wischte sie sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und flüchtete aus der Hitze in die Kühle ihres Häuschens.

Therese hatte der netten Kräuterfrau, die so gar nichts von einer Hexe an sich hatte, noch so lange zugewunken, bis der von den Pferdehufen und den Kutschrädern aufgewirbelte Staub die Gestalt wie im Märchen verschluckt hatte. Doch anders als dort würde Frau Landner nicht in ein fernes Land oder eine andere Zeit versetzt werden. Ganz abgesehen davon, dass die Kräuterfrau bestimmt immun gegen Zauberei war, konnte das Kind Realität und Fiktion voneinander unterscheiden.

„Du solltest deinen Schirm aufspannen, sonst holst du dir noch einen Sonnenstich, Resi!“, riss ihre Kinderfrau sie aus ihren Gedanken.

Fräulein Mariella hatte den ihren schon kurz, nachdem sie losgefahren waren, geöffnet. Wenn er auch etwas Schatten spendete, so hielt er die Hitze leider nicht ab. Somit war ihr Spitzentaschentuch auch schon nach dieser kurzen Strecke so durchnässt, dass sie es dringend auswringen musste. Daher wechselte sie den Schirm in die linke Hand, während sie den rechten Arm aus dem Einspänner hielt. In der Faust hielt sie das quatschnasse Tuch, welches sie nun so zusammendrückte, dass ein Großteil der enthaltenen Flüssigkeit auf den Wegesrand tropfte. Anschließend ließ sie es, nur an einem Zipfel festhaltend, im Fahrtwind wehen, um es so zu trocknen.

Bevor das Mädchen der Aufforderung ihrer Kinderfrau nachkam, beobachtete sie deren Treiben genau. Das veranlasste die ältere Frau, Folgendes zu sagen: „Das ist zwar eine sehr dienliche Art, sein Taschentuch zu trocknen, dennoch solltest du derlei nur anwenden, wenn du dir sicher bist, von niemandem beobachtet zu werden. Es schickt sich einfach nicht.“

„Natürlich, Fräulein Mariella“, stimmte das Kind ihr zu und wollte nach ihrem weißen Sonnenschirm, der auf der gegenüberliegenden Sitzbank lag, greifen. Doch noch, bevor ihre kleine Hand ihn berührt hatte, schrie sie auf. Gleichzeitig suchte sie bei ihrer Kinderfrau Schutz, indem sie ihr auf den Schoß sprang, sich dort, wie ein kleines Tier zusammenrollte und hinter ihren Händchen das Gesicht verbarg. Das zitternde Kind drückte sich an den üppigen Busen der älteren Frau und kroch fast in sie hinein.

Erschrocken ließ Fräulein Mariella ihr Taschentuch los, welches nur ganz kurz zum Spielzeug des Fahrtwindes wurde, bevor es sanft ins Gras neben dem Weg sank. Instinktiv legte sie den Arm um Therese, während sie mit der anderen Hand den Sonnenschirm fest umklammerte und ihn unbewusst tiefer senkte. Gleichzeitig suchten ihre Augen den gegenüberliegenden Sitz nach dem Grund von Thereses Erschrecken ab.

Schon wollte sie mit ein paar beruhigenden Worten auf das Mädchen einreden, doch außer dessen Sonnenschirm, dem kleinen Korb mit ihren Salben und Kräutern und einer etwas unordentlich zusammengelegten Wolldecke konnte sie dort nichts Außergewöhnliches entdecken. Plötzlich bewegte sich das Plaid. Fast hätte die Kinderfrau selbst einen Schrei ausgestoßen, unterdrückte ihn aber im letzten Moment aus Rücksicht auf das ängstlich an sie geschmiegte Kind. Stattdessen atmete sie einmal tief durch. Jetzt musste sie Vorbild sein und Mut beweisen.

Als Nächstes schloss sie ihren Schirm, um ihn notfalls als Waffe gegen das Tier einsetzen zu können, welches sich noch immer verborgen hielt. Dass es sich um ein Tier handeln musste, war Mariella sehr schnell klar. Als Nächstes würde sie Heinrich bitten, den Zweispänner anzuhalten, um diesen mit dem Kind möglichst schnell zu verlassen. Bevor der Kutscher dann festzustellen hatte, um welche Gattung es sich handelte – insgeheim rechnete sie mit einer Schlange – wollte sie sich und das Mädchen aus dem Gefahrenbereich bringen.

Allein der Kutscher schien völlig unberührt von den Vorgängen in seinem Rücken zu sein. Heinrich hatte in seiner langen Dienstzeit bei den hohen Herrschaften schon so manches miterlebt. Was ging es ihn an, was seine Passagiere so trieben? Und so kümmerte es ihn auch nicht.

Schon holte sie Luft, da bewegte sich die Decke noch einmal. Diesmal jedoch zappelte das Tier weit mehr als beim ersten Mal. Vor Schreck hielt die arme Frau die Luft an und erhob ihren Schirm zum Schlag. Da zappelte die Wolldecke beziehungsweise das darunter verborgene Tier derart, dass das Plaid zu Boden glitt und zum Vorschein kam … Nein – es war nicht die befürchtete Schlange.

Fräulein Arndt stieß den Atem erleichtert aus. Dann senkte sie den Arm mit dem erhobenen Schirm langsam wieder und legte ihn auf das Polster neben sich. Fast im selben Moment stieg ein Gefühl aus ihrer Brust hinauf, dass sie fast bersten ließ. Ein Lachanfall schüttelte sie dermaßen durch, dass sie das Kind auf ihrem Schoß fast fallen gelassen hätte.

Verwirrt von der Reaktion ihrer Kinderfrau nahm Therese die Händchen vom Gesicht und drehte den Kopf ganz vorsichtig in Richtung der für sie so bedrohlich erschienenen Wolldecke. Da sie es aber nicht schaffte, einen Blick darauf zu werfen, entwand sie sich dem schützenden Arm und rutschte mit dem gesamten Körper so weit herum, bis sie freie Sicht auf die gegenüberliegende Sitzbank hatte.

Was sie dort entdeckte, ließ sie mit einem Jubelruf vom Schoß der noch immer befreit lachenden Frau rutschen. Kaum stand sie wieder auf ihren eigenen Füßen, machte die Kutsche aufgrund des nun steiniger werdenden Untergrundes einen Hüpfer. Das Kind hatte zu dieser Zeit bereits die Arme ausgebreitet, um auf das frech auf dem Polster posierende Tier zuzustürmen. Durch den Schwung wurde Therese plötzlich nach vorn auf die Sitzbank geschleudert. So landete das Mädchen, abgefedert durch die auf dem Boden liegende Wolldecke, auf den Knien. Ihr Gesicht wurde ins Polster gedrückt, während sich ihre noch immer ausgestreckten Arme um einen weichen Pelz schlossen.

„Mau“, ertönte es aus dem bunt gescheckten Fell ob dieser stürmischen Begrüßung. Doch noch bevor das Kind es geschafft hatte sich wieder auf seine Füße zu erheben, gab das Pelzchen laute Schnurrlaute von sich.

Therese ließ sich ganz undamenhaft auf den Platz neben der kleinen Katze plumpsen. Mit staunenden Augen betrachtete sie das Tierchen, welches aussah, als wäre es dem Nähkasten einer Lumpensammlerin entsprungen. Das Kätzchen wies alle nur erdenklich vorstellbaren Fellfarben auf. Dabei waren die unregelmäßigen Pelzstücke auch noch unterschiedlich groß und schienen noch nicht einmal aus dergleichen Wollart zu bestehen. Während manche Felder langes Fell aufwiesen, schienen andere wiederum wie kurz geschoren. Nur der buschige Schwanz schien eine Ausnahme zu bilden. Von der Farbvielfalt her stand er der des Leibes in keinster Weise nach.

Aber auch das Menschenkind wurde kritisch gemustert. Die beiden verschiedenfarbigen Augen des kleinen Fellknäuels sahen Therese keck an, bevor sich ein laut vernehmbares „Murr“ aus dem Mäulchen des Tierkindes stahl. Mit einem wohlgefälligen Kopfnicken bekundete es, dass die Musterung zu seiner Zufriedenheit ausgefallen war. Seinen endgültigen Beschluss, eine Freundschaft mit dem Mädchen einzugehen, machte das Kätzchen auf seine Art deutlich.

Zunächst legte es das Köpfchen ein wenig schräg und blinzelte mit dem linken, grünen Auge Therese zu. Dann stand es auf, streckte seine linke Pfote so weit vor, dass sie das sonnengelbe Kleid des Kindes in Höhe des Oberschenkels sanft berührte. Nun folgte ein prüfender Blick ins Gesicht seiner neuen Freundin, die ihm staunend zusah, bevor sie sich entschloss, ihrerseits das Zwinkern zu erwidern.

Das Kätzchen wertete dies wohl als Einladung. Kurz drehte es sich noch einmal um sich selbst, bevor es sich, mit siegessicherem Grinsen, auf dem Schoß des Mädchens zusammenrollte. Zuletzt legte sich sein buschiges Schwänzchen in einem eleganten Schwung um den Katzenkörper. Doch diese Position schien dem kleinen Tierchen noch nicht ganz zu gefallen, denn mit einer Vorderpfote wurde nun das langhaarige Körperteil eingefangen und derart drapiert, dass es das freche Gesichtchen bedeckte. Nun folgte noch ein tiefer Atemzug, bevor das gesamte Fellknäuel laut schnurrend und zufrieden einzuschlafen schien.

Therese war entzückt, aber auch verblüfft ob der Frechheit ihres neuen Freundes. Bisher hatte sie nur staunend zugesehen, was ihr unerwartet schnell geliefertes Geschenk tun würde. Und auch jetzt war sie sich noch unschlüssig, ob sie es wagen könnte, mit der Hand ganz sachte über den verführerisch weich aussehenden Pelz zu streichen. Schließlich überwand sie ihre Scheu und berührte mit zwei Fingern zaghaft das Fell.

Die Reaktion des Kätzchens ließ nicht lange auf sich warten. Das Schnurren wurde noch lauter, was das Kind als Aufforderung auffasste, fortzufahren. Diesmal allerdings strich ihre gesamte Hand vom Kopf bis zum Schwanzansatz über den Katzenkörper. Der Wohlfühllaut des Fellknäuels entwickelte sich zum Surren einer Nähmaschine, was Therese als Erlaubnis deutete, diese Behandlung fortzusetzen.

Belustigt hatte die Kinderfrau ihrem Schützling zugesehen, ihn aber dann aufgefordert, seinen Schirm zu öffnen, um sich und dem Kätzchen Schatten zu spenden. Ansonsten wollte sie das kleine Glück für den Rest des Weges nicht mehr stören. So lag noch immer ein verständnisvolles Lächeln auf ihrem Gesicht, als die Kutsche vor dem Herrenhaus anhielt.

„Was haben deine Mama und dein Papa gesagt?“ Hatte Elisa ihrer Urgroßmutter auch bisher mit leuchtenden Augen und glühenden Wangen gelauscht, so schien ihr Gesicht sich nun noch mehr zu röten. Ja, vor Aufregung war sie sogar aufgesprungen und hüpfte nun auf der Stelle, weil sie die Spannung nicht mehr aushielt.

Flicken sah das Kind ob des Gehopses empört an und peitschte mit dem Schwanz unwillig auf Thereses Schoß.

Schon glitt eine zerfurchte Hand der alten Frau beruhigend über den Rücken ihres buntfelligen Freundes. Mit der anderen fuhr sie ihrer Urenkelin über das blond gelockte Haar. Sofort beruhigten sich Kind und Kater wieder, was Letzterer durch Schnurren und genüssliches Hineinschieben seines Kopfes in die Hand seiner Streichelexpertin und einem entspannt ausgestreckten Schwanz anzeigte.

Elisa hingegen beendete ihre Hopserei und steckte sich den rechten Zeigefinger in den Mund; für Therese ein untrügliches Anzeichen der Müdigkeit des kleinen Mädchens. Es wurde wirklich Zeit, dass sie die Kleine ins Bett schickte, schließlich war es schon spät. Wo ihre Enkelin Heike nur blieb? Natürlich hatte Therese Elisa auch gerne um sich. Mit ihrem Angebot, das Kind nachmittags zu betreuen, hatte sie es Heike erst ermöglicht, wieder in ihrem Beruf Fuß zu fassen. Trotzdem machte sie sich ab einer bestimmten Uhrzeit Sorgen. Gerade jetzt im Januar und bei dem vielen Schnee, der sich schon seit einer Woche pünktlich gegen Abend vermehrte, konnte sie sich genügend Situationen ausmalen, bei denen das Mädel zu Schaden kommen könnte.

„Oma!“, rief da Elisa und zerrte mit der freien Hand am wollenen Ärmel von Uromas Kleid.

„Ja, meine Eltern …“ Therese schüttelte lächelnd den Kopf. „Papá war so beschäftigt, als ich ihm meinen kleinen Kater vorstellte, dass er von seinem Papierberg nicht einmal aufblickte. Er hat auf meine Frage, ob ich das niedliche Kätzchen behalten dürfte, nur gesagt: ’Aber natürlich, mein Püppchen! Es freut mich, wenn du jemanden zum Spielen gefunden hast.’ Und Maman war so mit den Vorbereitungen für das Sommerfest am Abend beschäftigt, dass sie mir gar nicht zuhörte. ’Was immer es ist, was du mir zeigen willst, Cherie, hat Zeit bis Morgen. Aber wenn dein Papá es dir erlaubt hat, ist es schon in Ordnung. Und nun geh spielen!’, sagte sie geistesabwesend.“

„Das war ja groß … ehm … toll … super …“, freute sich Elisa, zog ihren Finger aus dem Mund und begann wieder auf der Stelle zu hüpfen.

„Ja, das war es, mein Schätzchen. – Aber würdest du bitte das Gehopse sein lassen? Du weißt doch, dass Flicken es nicht mag. Sieh dir nur an, wie wütend sein Schwanz wieder schlägt“, erinnerte die Uroma sie.

„Daran habe ich gar nicht mehr gedacht. – Entschuldige, Flicken!“ Schuldbewusst stellte Elisa ihre Hüpferei wieder ein. Sie zog ein erbarmungswürdiges Schnütchen und setzte sich auf den Fußhocker der Uroma. Sofort verschwand ihr Finger wieder im Mündchen. Gleichzeitig griff sie mit der anderen Hand nach ihrer auf dem Boden liegenden Puppe. Erst als diese wieder sicher in ihrem Arm lag, sah sie zu der alten Frau und dem schnurrenden Kater auf.

Für ihre Uroma war das ein untrügliches Zeichen, dass die Kleine bereit war, nun wieder aufmerksam zu lauschen.

„Aber du kannst dir schon denken, dass ich am nächsten Tag doch noch um meinen Flicken kämpfen musste.“ War das Leuchten in Thereses Augen nur eine Spiegelung des Flammenspiels im Holzofen? Oder beruhte es eher auf dem Umstand, dass sie sich als Kind schon für ihren Flicken so stark gemacht hatte? Ein liebevolles Lächeln lag auf dem Gesicht der Frau, als sie an diese beiden Tage ihrer Kindheit zurückdachte.

„Aber du hast gewonnen, Oma!“, stellte Elisa erfreut fest, nachdem sie ihren Finger aus dem Mund genommen hatte. Diese Ehre ließ sie zurzeit nur ihrer geliebten Uroma zuteilwerden. Ansonsten blieb der Finger, wo er war, was natürlich zur Folge hatte, dass die Erwachsenen entweder gar nichts oder nur einen Bruchteil verstanden.

„Ja, Kind, das habe ich!“ Noch immer nicht ganz zurück in der Zeit, strich eine Hand über den Rücken der schnurrenden Katze. „Du kannst mir glauben, Elisa, mich für Flicken starkzumachen, war das Beste, was ich je in meinem Leben getan habe.“

„Stark hin oder her“, erscholl da eine junge weibliche Stimme von der Wohnzimmertür her, „jetzt wird es aber höchste Zeit, dass wir Abendessen machen und Elisa ins Bett kommt. Es ist bereits acht Uhr, Oma.“

„Och“, piepste da die Kleine enttäuscht und sah erst ihre Mutter und dann die Uroma flehend an.

„Nein, Elisa“, pflichtete Letztere ihrer Enkelin bei, „deine Mutter hat recht. Morgen möchtest du doch wieder in den Kindergarten gehen. Und dafür musst du ausgeschlafen sein.“

„Morgen Nachmittag kann dir die Uroma wieder eine Geschichte erzählen“, versuchte Heike ihre Tochter, der schon die Tränen in den Augen standen, zu besänftigen.

„Na gut“, gab Elisa nach. „Dann möchte ich aber wissen …“ Das kleine Mädchen versuchte, seine Zubettgehzeit hinauszuzögern.

„E-li-sa!“ Dieses eine Wort seiner Mutter genügte, um es von der Ernsthaftigkeit ihrer Forderung zu überzeugen.

„Flicken und ich sind auch ganz müde“, stellte Therese mit einem herzhaften Gähnen fest, dem sich der Kater sogleich anschloss. „Aber Hunger haben wir auch. Also auf in die Küche!“

Flicken bestätigte den letzten Satz seiner Streichelexpertin mit einem Laut, der wie „Hunger!“ klang. Dann blinzelte er Elisa zu und erhob sich, um sich erst einmal ausgiebig zu strecken.

Fasziniert sahen die drei ihm zu, wie er einen Buckel machte, dem sein Schweif in einer Wellenbewegung folgte. Dann sprang er elegant auf den Boden und marschierte mit hoch erhobenem Schwanz voran in Richtung Küche.

2. Kapitel: Die Handarbeitsschwestern

Der nächste Tag begann als einer dieser typischen Wintertage, an denen es gar nicht richtig hell wurde. Der Himmel bestand nur aus einer schmutzig grauen Fläche, die ständig Flocken in den verschiedensten Stärken entließ. Von winzig klein bis münzengroß fielen sie vom Himmel und bedeckten im Nu die vor wenigen Minuten erst geräumten Straßen und Bürgersteige mit einer ständig ansteigenden Schicht der weißen Masse.

An den Straßenrändern türmten sich Schneewälle von ungeahnten Ausmaßen. Auf den Gehwegen sah es nicht besser aus. Manch ein Gartenzaun war unter der aufgeschütteten Winterpracht schon nicht mehr zu erkennen. Trotzdem schien Frau Holle auch gegen Mittag noch immer keine lahmen Arme bekommen zu haben. Schließlich wusste sich mancher Hauseigentümer nicht mehr anders zu helfen und schaufelte den Schnee in seinen Vorgarten. Es war schon anstrengend genug, wenigstens einen schmalen Pfad auf dem Bürgersteig freihalten zu können.

Auf den Straßen sah es noch schlimmer aus. Wenn hier auch von den Schneepflügen schneller breitere Flächen geräumt werden konnten, so hatten diese dennoch die gleichen Probleme mit der Entsorgung der Schneeberge. Schon wurden Lastwagen mit der weißen Pracht beladen, sie später auf die Wiesen und Felder außerhalb des Dorfes zu kippen.

Doch des einen Leid, ist des anderen Freud. Für Elisa hatte dieses Chaos so gar nichts Schlimmes an sich, im Gegenteil. Da ihre Mutter mit ihrem Wagen weder aus der Garage kam, noch die kleine Seitenstraße benutzen konnte, an der das Haus ihrer Oma lag, befand sie, dass auch Elisa heute zuhause bleiben konnte. Heike hatte keine Lust, sich mit dem Kind durch die Schneemassen bis zum anderen Ende des Ortes zu kämpfen, um dann womöglich festzustellen, dass der Kindergarten aufgrund der Wetterverhältnisse ohnehin geschlossen war.

So kam es, dass Heike sich draußen mit den Schneemassen abmühte, während ihre Tochter und Oma Therese gemütlich im vom Feuer erwärmten Wohnzimmer saßen.

Elisa hatte ihre Uroma natürlich nicht lange an ihr Versprechen vom Vorabend erinnern müssen, ihr eine weitere Geschichte zu erzählen. Einzig, dass sie irgendetwas mit dem Kater Flicken zu tun haben musste, darauf hatte das Kind bestanden.

Als beide es sich gemütlich gemacht hatten und Flicken wieder auf seinem Lieblingsplatz, dem Schoß von Therese, lag, begann die alte Frau zu erzählen: „In einem versteckt liegenden Tal, vergessen von den Menschen, liegen einige kleine Dörfer, welche die Werkstätten der Welt sind. Dort, in den windschiefen Häusern, wohnen die Handwerker der Natur. Diese Wesen sind weder Menschen, noch Tiere, weder Pflanzen noch Götter.

Manche könnte man für menschengroße Blumen halten, während andere wie eine seltsame Mischung zwischen Mensch und Tier aussehen. Eine dritte Art wiederum ist so zart und durchscheinend wie klares Wasser und die vierte bewegt sich sachte und leicht wie der Wind. Allerdings gibt es auch solche, die das Aussehen von uns Menschen besitzen.

Allen gemeinsam jedoch ist, dass sie von den meisten Menschen noch nie gesehen worden sind und nur wenige überhaupt von ihrem Dasein wissen. Diese Leute sind allerdings sehr wichtig für das Überleben der Handwerker der Natur, die wir als Naturgeister bezeichnen. Denn nur durch die Träume dieser Auserwählten können sie mit unserer Welt Kontakt aufnehmen.

Ihre Namen entstammen der jeweiligen Familie, werden abgeleitet von ihrer Tätigkeit oder der Bezeichnung ihres Dorfes. Einige der Naturgeister sind miteinander verwandt, andere haben sich aufgrund ihrer Aufgaben zusammengefunden.

In der Geschichte, welche ich dir heute erzähle, wirst du die Lorich kennenlernen. Sie sind sieben Schwestern, die von der Göttin Natur auserwählt wurden, neue Tierarten entstehen zu lassen. Manchmal allerdings versuchen die Lorich sich auch an neuen Pelz- oder Hautmustern für schon vorhandene Lebewesen.“

„Kannst du deine Restfäden nicht, wie wir anderen, in den Sammelkorb entsorgen?“, schimpfte die strickende Mascha. Als älteste der Lorich-Handarbeitsschwestern hasste sie Unordnung im Haus.

„Ich habe es ja versucht, aber der Korb ist so voll, dass er schon wieder überquillt“, verteidigte sich Stine, die ein besonders kompliziertes Muster für ein neues Chamäleon zu sticken begonnen hatte. Als zweitälteste war sie es nicht gewohnt, für etwas gerügt zu werden, das sie nicht zu verantworten hatte.

„Wo steckt eigentlich Lorwinnja?“ Von ihrem Platz vor dem Holzofen erklang die gereizte Stimme von Nade. Die häkelnde, drittälteste Schwester hielt diesen Sessel ständig besetzt, weil sie angeblich auf jedem anderen fror. „Sollte sie nicht dafür sorgen, dass der Korb geleert wird?“

„Bestimmt sitzt sie wieder irgendwo draußen herum und steckt in einem Menschentraum!“, war Zusi überzeugt. Auch sie war niemals müßig, zumal ihr die Arbeit mit der Nähnadel große Freude bereitete.

„Kannst du unsere faule Schwester von deinem Platz aus irgendwo sehen?“, wollte Mascha nun wissen und blickte zu der in einem Schaukelstuhl am Fenster sitzenden Zusi herüber. Da sie heute nur an einem neuen Zebrafell strickte, konnte sie es sich leisten, die Nadeln ohne die Aufsicht ihrer Augen weiterklappern zu lassen. Die kleinen Abweichungen für das Fohlen waren für ihre erfahrenen Hände keine Herausforderung mehr.

„Und wenn du sie siehst, dann …“, begann Nade und warf einen Fadenrest, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, in Richtung Korb. Sie und die fleißige Stickerin hatten heute am meisten zu dem Chaos auf dem Boden rund um ihren Sammelbehälter beigetragen. Ihre Arbeiten fielen besonders bunt aus und verbrauchten auch sehr viel Wolle. Zudem waren die Muster dermaßen kompliziert, dass ständig die Schere zum Einsatz kommen musste und damit auch viele für ihre Handarbeitsformen zu kurze Fadenstücke anfielen.

„Ich werde einfach Kokoran schicken, um sie zu suchen und an ihre Pflicht zu erinnern!“, entschied Mascha kurz entschlossen. Nur einen Augenblick später schlüpfte der Besen Kokoran, einen kühlen Windhauch hinterlassend, aus dem Haus. Diese Brise streifte die frierende Nade neckisch und entlockte ihr ein nicht ganz ernst zu nehmendes „Brrrr! Wenn ich dich erwische!“ Der kehrende Bote ersparte es ihr sehr oft, ihre Arbeit zu unterbrechen.

„Habt ihr immer noch keine Idee, welche Handarbeitsmethode Lorwinnja erlernen könnte, damit sie nicht so viel herumträumt?“, sprach Stine aus, was die Schwestern schon lange beschäftigte. Doch wie schon so oft schüttelte eine nach der anderen den Kopf.

„Ich kann mir keine vorstellen, bei der sie nicht völlig versagen würde.“ Zusi machte ein gequältes Gesicht und sah ihre Schwestern seufzend an.

„Ja, da hast du wohl recht!“ Auch der ältesten entrang sich ein ähnlicher Ton. „Jedes Mal hat sie es geschafft, die Fäden dermaßen durcheinanderzubringen, dass nur noch die Schere dem Gewirr ein Ende bereiten konnte.

Ein gemeinsamer lauter Seufzer füllte den Raum.

„Hallo, Schwestern!“ Mit einem fröhlichen Lächeln auf den Lippen hüpfte genau in diesem Augenblick der Gegenstand ihrer aller Sorgen in den Raum. Ein Schwall kalter Luft begleitete sie, was allerdings nicht an der sommerlich warmen Außentemperatur, sondern dem sie eskortierenden Kokoran lag, der sich hinter Mascha an die Wand lehnte. Dort war er vor dem von Nade angedrohten Was-auch-immer sicher.

„Ihr macht ja Gesichter, als wenn ihr die falschen Muster angefangen hättet.“ Lorwinnja konnte sich gar nicht vorstellen, was ihre Schwestern verärgert haben könnten. Selbst, als ihr Blick auf den überquellenden Korb fiel, lachte sie noch und amüsierte sich über das bunte Chaos in der Raummitte.

„Komm endlich deiner Pflicht nach und mach hier Ordnung!“, fauchte Nade mit einem so eisigen Hauch in der Stimme, dass allen, bis auf Lorwinnja, ein Schauer über den Rücken lief. Wenn die Häklerin einmal so gereizt reagierte, war äußerste Vorsicht geboten. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie dermaßen in Rage geriet, dass es bis in die Welt der Menschen spürbar wurde.

Die Worte, welche Lorwinnja eben noch auf der Zunge gelegen hatten, schluckte sie erst einmal hinunter, wuchtete den schweren Korb hoch und verschwand damit nach draußen.

Als sie wenig später den Raum mit dem leeren Sammelgefäß wieder betrat, herrschte betretene Stille, die nur vom regelmäßigen Klappern der Stricknadeln unterbrochen wurde. Selbst das Feuer im Holzofen getraute sich nur äußerst leise zu knistern, als hätte es Angst, zum Ziel für Nades Wut zu werden, dabei gab es hierfür gar keinen Grund. Nichts liebte die ewig frierende Lorich so sehr wie die Wärme.

Von der eisigen Atmosphäre gewarnt, schnappte Lorwinnja sich den Besen. Dessen einzige Aufgabe bestand darin, die bunte Farbenpracht, welche den Dielenboden bedeckte, zusammenzukehren. Dieses Kehrgerät war allerdings kein gewöhnlicher Reisigbesen, wie wir Menschen ihn kennen, wenn er auch so aussah. Vielmehr handelte es sich um eine Mischung zwischen Besen und Staubsauger. Jedes kleine Fadenstück, das auch nur in die Nähe der langen astartigen Tentakel kam, wurde von diesen angesaugt und festgehalten. Erst wenn das Kehrgerät in den Korb gehalten wurde, ließ es die Wolle wieder los. Und es gab noch eine Besonderheit, die wir Menschen uns nur allzu gern angeeignet hätten:

Begleitet von einem Fingerschnippen stellte die jüngste Lorich den Besen in die Mitte der Fadenstücke, woraufhin er mit seiner Arbeit begann. Wie ein vergnügtes junges Fohlen auf der Weide hüpfte das Kehrgerät durch die Wolle, wobei es nicht nur auf seinen jeweiligen Landeplätzen einen blanken Boden hinterließ. Auch im Umkreis von einem halben Meter fand sich kein noch so winziges Fädchen mehr.

Als Lorwinnja glaubte, dass die Last ihres Helfers groß genug geworden war, stellte sie den Korb vor ihn und hieß ihn, mit einem weiteren Fingerschnippen, seinen Stiel in ihre geöffnete Hand zu schmiegen. Sogleich gehorchte der an seinen Tentakeln bunt befädete Besen und ließ, während das Mädchen ihn in den Korb hielt, seine Last hineinfallen.

Innerhalb weniger Minuten schafften Lorwinnja und ihr fleißiger Helfer es, der Überreste von der Handarbeitsorgie der Lorichschwestern vom Vormittag Herr zu werden. Somit konnte sie ihren Helfer mit einem letzten Fingerschnippen zurück an seinen Platz neben der Eingangstür schicken.

Mit einem diesmal nur zu Hälfte gefüllten Korb verließ das Mädchen abermals das kleine Häuschen, in dem sich die Schwestern zum Handarbeiten trafen.