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Wo ist Emily? Auf der Suche nach ihrer Schwester betritt Sarah voller böser Vorahnungen Gilberts Park - die Anlage, in der bereits eine Mädchenleiche gefunden wurde. Doch keine Spur von Emily! Dafür trifft Sarah auf den geheimnisvollen Gabriel, der neu in der Stadt ist und ihr Herz schneller schlagen lässt. Sarah ist misstrauisch. Hat er etwas mit dem Verschwinden ihrer Schwester zu tun? Doch was er erzählt, klingt unglaublich: Er bewacht den magischen Schleier, hinter dem sich jetzt Emily befindet. Gefangen von dem Bösen, das sie bei Vollmond opfern will. Dies ist eine überarbeitete Neuauflage des Bestsellers "Das Grauen von Longfellow Garden" von A. K. Frank.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhaltsverzeichnis
Impressum
A. K. Frank
Blutzorn
Das Buch
Karsten Seemayer ist ein erfolgreicher Zahnarzt und fürsorglicher Familienvater. Er führt seine eigene Privatklinik und lebt mit seiner Frau und den beiden Kindern in einer noblen Villa. Was aber niemand ahnt: Seit seiner Kindheit flüchtet Karsten sich immer wieder in Tagträume, in denen er Menschen unvorstellbare Qualen zufügt. Plötzlich ereignen sich seltsame Vorfälle in seinem Umkreis, und Karsten ahnt, dass er nicht das einzige Familienmitglied mit einem dunklen Geheimnis ist. Als kurz darauf sein Sohn verschwindet, beginnt eine ungeahnte Spirale der Gewalt, die alles übersteigt, was Karsten sich in seinen brutalsten Träumen ausgemalt hat …
Die Autorin
A. K. Frank ist das Pseudonym einer deutschen Autorin. Aufgewachsen in einer Stadt im schönen Harzvorland hatte sie schon immer den Kopf voller Geschichten und den Wunsch, diese veröffentlicht zu sehen.
Weitere Informationen
https://www.facebook.com/astridschreibt/
Es gibt Geschichten, die das Leben schreibt. Sie werden von Menschen geschrieben. Und manche davon handeln vom ewigen, endlosen Sterben. Dem inneren und äußeren Sterben.
1. Kapitel
Dr. Karsten Seemayer zögerte.
Die Unruhe in seinem Kopf und Körper wollte nur langsam weichen. Adrenalin raste durch seine Adern. Behutsam legte er das Skalpell zurück auf das Tray und trat in den Lichtschein des Vollmondes, der seine fahlen Strahlen durch die großen Fenster des alten Gebäudes schickte.
Karstens Arbeit - eine wahrhaft künstlerische Tätigkeit - erforderte Disziplin und ein kühles Gemüt. Er versuchte, sich darauf zu besinnen, aber es gelang ihm nicht. Widerwillig sah er sich in seinem Behandlungsraum um, den die Neonröhren an der Decke in ein blasses Licht tauchten. Großflächig waren die Überreste seines nächtlichen Patienten in dem Raum verteilt. Auf dem Behandlungsstuhl klebten Blut und menschliches Gewebe. Davor breitete sich eine Blutlache aus. Ein See voll verborgener Erwartungen und Verlangen. Mehr davon. Immer mehr davon …
Karsten ging in die Knie, tauchte seine Hand in den roten Pfuhl. Das Blut fühlte sich gut an. Es war noch ein bisschen warm. Weich schmiegte es sich an seine Haut. Als er seine Hand wieder hob, tropfte das rote Nass langsam auf den Boden. Karsten schloss die Augen und roch an seiner blutverschmierten Hand. Er genoss den leicht metallischen Geruch, saugte ihn tief in sich hinein, bis er ihn sogar auf seiner Zunge zu schmecken glaubte. Den Kopf zur Seite gedreht, betrachtete er nun die Flecken unter dem Behandlungsstuhl. Sie ergaben ein bizarres Muster: ein kleines Kunstwerk - von ihm geschaffen. Am liebsten hätte Karsten es noch stundenlang angestarrt.
Ein neuer Schwall Adrenalin jagte durch seine Adern, und voller Elan richtete er sich wieder auf. Es war eine Menge Arbeit, die noch auf ihn zukam. Und das zu dieser späten Stunde. Karsten besah sich schmunzelnd den Augapfel, der neben dem Behandlungsstuhl lag. Mit einem scharfen Löffel hatte er ihn aus der Augenhöhle entfernt. Erheitert durch die Szene, die sich gerade in seinem Geiste ein weiteres Mal abspielte, gab er sich einen Ruck. Er schritt zum Waschbecken, drehte den Wasserhahn auf und begann, das Blut von seinen Händen zu waschen.
„Dr. Seemayer?“, erklang eine Stimme in seinem Rücken.
Erschrocken zuckte Karsten zusammen. Er fuhr herum, und sein Ellenbogen knallte gegen den Seifenspender an der Wand. Fast hätte er ihn abgerissen.
Schwester Sabine stand in der Tür und blickte Karsten irritiert an.
Sein Blick flog hastig von ihr zu dem hellen Behandlungsstuhl. Er stand dort. Mitten im Raum. Vollkommen sauber. Ungläubig schaute Karsten auf seine Hände. Kein Blut. Erleichtert schloss er die Augen. Eine Fantasie - es war wieder nur eine Fantasie!
„Alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragte Sabine leise.
Karsten blickte sie an. Sein Herz raste, sein Kopf dröhnte, doch er zwang sich zu einem Lächeln und nickte. Er musste sich zusammenreißen, sonst würden ihn seine Angestellten irgendwann noch für komplett verrückt halten.
Karsten räusperte sich. „Wer ist der nächste Patient?“, wollte er mit kratziger Stimme wissen.
Sabine lächelte ihn freundlich an und nannte den Namen einer langjährigen Patientin. Erleichtert atmete Karsten auf. Noch mal davongekommen, schoss es ihm durch den Kopf. Sabine hatte nichts bemerkt.
Stunden später stand Karsten in seinem Büro und blickte aus dem Fenster. Er beobachtete, wie die letzten seiner Angestellten in ihren Feierabend eilten. Dann schloss er die Augen und atmete tief durch. Endlich herrschte Stille in seiner Klinik. Er sog sie gierig in sich hinein.
Was war vorhin passiert? Verlor er nun endgültig die Kontrolle? Die Grenze zwischen Fantasie und Realität wurde immer fließender. Schluss jetzt, ermahnte er sich selbst und rieb sich mit beiden Händen fest über das Gesicht. Verzweifelt bemühte er sich, seine Gefühle in positive Bahnen zu lenken. Es geht mir gut, ich bin gesund. Wie ein Mantra wiederholte er in Gedanken diese Worte.
Karsten öffnete wieder die Augen und richtete seinen Blick nach draußen. Der Angestelltenparkplatz war inzwischen leer. Nur sein BMW stand verlassen im Halbdunkel. Die Sonne war gerade untergegangen.
Er ließ seinen Blick schweifen. Gleich hinter der alten, denkmalgeschützten Villa, die seit nunmehr fünf Jahren seine Privatzahnklinik beherbergte, begann der Garten: eine ausgedehnte Rasenfläche mit verschiedenen Ziersträuchern. Mittendrin stand ein pittoresker Pavillon, der jedoch nie genutzt wurde. Als Karsten ihn vor einigen Jahren hatte errichten lassen, wollte er, dass seine Patienten ein schönes, beruhigendes Bild vor Augen hatten, wenn sie in seine Klinik kamen. Nicht umsonst bot das große Fenster des Wartezimmers einen bildschönen Ausblick auf den Garten. Seine Patienten, die zumeist aus der Oberschicht von Hannover kamen, wussten dies zu schätzen, wie er ihren zahlreichen Kommentaren hatte entnehmen können. Die stilvolle Atmosphäre und das formvollendete Ambiente entsprachen offenbar nicht nur Karstens eigenen Vorstellungen. Er war stolz auf sich und auf das, was er bisher in seinem Beruf erreicht hatte.
Und vielleicht würde seine Klinik ihm eines Tages die Möglichkeit verschaffen, seine Fantasien unentdeckt ausleben zu können. Schnell verbannte er diesen Gedanken und rief sich selbst zur Ordnung. Nie und nimmer durfte er sich gehen lassen. Zu viel stand für ihn auf dem Spiel. Nein, die Träume mussten bleiben, was sie waren: eine Fantasie. Er durfte niemals die Kontrolle über sich verlieren! Diese Entscheidung hatte er bereits vor Jahren getroffen, und das war gut so.
Es war wieder einmal spät geworden, als Karsten den BMW in der Garage seines Hauses parkte. Er hoffte, dass niemand mehr auf ihn wartete. Heute wollte er sich nicht mehr unterhalten; zu sehr hatte das Geplauder mit den Patienten an seinen Nerven gezerrt. Es fiel ihm immer schwerer, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren – und sich davon abzuhalten, einfach loszulassen und in die tiefen, dunklen Abgründe seiner selbst zu gleiten.
Müde schloss Karsten die Haustür auf, ließ die Schlüssel in die Schale auf dem Dielenschrank fallen und hängte sein Sakko in den großen Wandschrank. Spontan beschloss er, sich noch ein Glas seines besten Cognacs und eine Zigarre zu gönnen. Er betrat das weiträumige Wohnzimmer, schaltete im Vorbeigehen eine kleine Stehlampe an und öffnete die Bar. Ihm genügte das wenige Licht, er liebte das Halbdunkel. Nur schemenhaft waren die Möbel zu erkennen. Mehr brauchte er nicht. Dunkelheit und Stille.
Mit ruhigen Bewegungen schenkte Karsten sich einen Cognac ein und griff nach einer Havanna. Genüsslich schnupperte er daran, bevor er sie anzündete. Er setzte sich in einen Sessel, trank in kleinen Schlucken den edlen Weinbrand und rauchte langsam die Zigarre. Zu guter Letzt überkam ihn endlich die lange ersehnte Ruhe. Die Stimmen in seinem Kopf schwiegen.
Nachdem er wieder aufgestanden war, ließ er die Schultern kreisen, und sein verkrampfter Körper entspannte sich. Seine Frau Monika hasste es, wenn er im Haus rauchte; daher ging er zur Terrassentür und öffnete sie weit, damit der Havanna-Geruch aus dem Wohnzimmer verschwand. Karsten schenkte sich noch einen Cognac nach, trat in die sommerwarme Nacht hinaus und steuerte die Sitzgruppe auf der Terrasse an.
Plötzlich stieß sein Fuß gegen etwas Weiches. Er geriet ins Stolpern und wäre beinahe gefallen. Irritiert blickte er nach unten - und erstarrte. Direkt vor seinen Füßen lag etwas Dunkles. Da er das Außenlicht nicht eingeschaltet hatte und nur das wenige Licht der Stehlampe aus dem Wohnzimmer auf die Terrasse fiel, konnte er nicht gleich erkennen, über was er da gerade gestolpert war. Doch er ahnte, was das sein könnte. Nicht schon wieder, schoss es ihm durch den Kopf.
Genervt schaltete er die Beleuchtung ein und blickte angewidert auf den reglosen Körper: Es war eine tote Katze. Das wievielte tote Tier war das nun?
Vor wenigen Wochen hatte es angefangen: Mäuse, Igel, einmal sogar ein junger Fuchs. Und immer lagen sie an genau dieser Stelle! Das war kein Zufall!
Karsten runzelte die Stirn. Wer zum Teufel spielte ihm diese makabren Streiche? Erinnerungen krochen in ihm hoch. Wusste jemand, was er als Jugendlicher getan hatte? Dass er … Nein. Es gab nur einen Menschen, der davon wusste – und der war sicher weggesperrt.
Karsten holte tief Luft, griff nach dem alten Lappen, den seine Frau über den Schuhabtreter zur Terrassentür gelegt hatte, und packte damit die Katze. Ihr Kopf baumelte grotesk zur Seite, als er sie hochhob. Ihr Genick war gebrochen. Karsten hielt sie unter das Licht und betrachtete sie genauer. Sogleich erkannte er das Tier: Ginny, die Katze von nebenan. Er dachte kurz nach. Besser, er sagte nichts zu den Nachbarn. Es könnte das harmonische Nebeneinander erheblich stören, wenn die Leute von nebenan erfahren würden, dass ihr geliebtes Haustier tot auf seinem Grundstück gefunden worden war.
Karsten warf einen prüfenden Blick durch die geöffnete Terrassentür. Im Haus war es weiter dunkel und ruhig. Er legte den Kadaver mit dem Tuch auf den Boden und lief ins Haus hinein. Im Abstellraum wurde er fündig. Er riss eine Mülltüte von der Rolle ab und lauschte noch einmal. Nichts zu hören. Mit der Tüte in der Hand eilte er nach draußen und stopfte die tote Katze samt dem Lappen hinein. Mit schnellen Schritten ging er zur Mülltonne hinter der Garage und entsorgte den Kadaver. Erledigt! Karsten atmete erleichtert auf.
Anschließend ging er ins Haus zurück, verschloss sorgfältig die Terrassentür und aktivierte die Alarmanlage.
2. Kapitel
Mürrisch blickte Karsten in den von zahlreichen LED-Lämpchen erhellten Spiegel. Seine Gesichtshaut war glatt rasiert, das kurz geschnittene Haar noch feucht von der Dusche. Was ihn störte, waren die dunklen Augenringe, die fahle Hautfarbe und die hängenden Mundwinkel – Zeugnisse einer Nacht, in der er keinen Schlaf gefunden hatte.
Karsten musste sich eingestehen, dass er langsam alt wurde. Doch warum so schnell? Er war doch erst Mitte vierzig! Probeweise zog er mit den Fingern seine Haut straff, und zum ersten Mal in seinem Leben dachte er für einen kurzen Moment darüber nach, sich bei einem Schönheitschirurgen unters Messer zu legen. Doch genauso schnell, wie der Gedanken gekommen war, verwarf Karsten ihn auch wieder. Als Zahnarzt kannte er schließlich die Risiken. Außerdem waren Schönheitsoperationen etwas für Frauen wie Monika. Nichts für einen gestandenen Mann wie ihn. Karsten seufzte. So weit war es schon mit ihm gekommen. Sport, gesunde Ernährung: All das half nicht gegen den Alterungsprozess. Aber war es wirklich nur das Alter, was ihn plagte?
Frustriert warf Karsten das Handtuch auf den Waschtisch und verließ das Bad. Ein Blick auf die geöffnete Schlafzimmertür seiner Frau verriet ihm, dass sie bereits aufgestanden war. Karsten und Monika schliefen schon seit Jahren in getrennten Räumen. Seine Frau war eines Nachts lautstark protestierend ins Gästeschlafzimmer ausgezogen, weil er wie ein Holzfäller schnarchen würde, und nie wieder in das gemeinsame Bett zurückgekehrt.
Anfangs hatte Karsten dieses Arrangement gestört, weil Monika auch nicht mehr mit ihm schlafen wollte. Inzwischen wusste er es aber zu schätzen und holte sich die körperliche Befriedigung bei anderen Frauen. Die waren auch nicht so zimperlich wie Monika. Einzig auf Diskretion legte er viel Wert. Nichts durfte den äußerlichen Schein einer heilen Welt stören. Dafür nahm er sich auch gern mal einen ganzen Tag frei, erzählte seiner Familie etwas von einem Seminar und fuhr in irgendeine Großstadt. Neben Berlin gefiel ihm Hamburg ausnehmend gut. Auf der sündigen Partymeile konnte er sich anonym vergnügen. Niemand kannte ihn dort, und niemals würde jemand in seiner Heimatstadt etwas von den perversen sexuellen Spielchen erfahren. Käufliche Liebe war hervorragend diskret, solange er sie nicht in Hannover genoss. Vielleicht sollte er in naher Zukunft wieder ein „Seminarwochenende“ einplanen und in der Ferne etwas Dampf ablassen? Ja, das war eine gute Idee. Doch im Augenblick fühlte er sich erschöpft und antriebslos. Vielleicht wäre ein verlängertes Wochenende im Harz die bessere Idee? Auf Drängen Monikas hatte er vor einigen Jahren ein Ferienhaus in Schierke am Brocken erworben. Hier hatten er und seine Familie schon viele ruhige Tage verlebt. Wandern, dabei die gute Luft in den Wäldern des Harzes genießen und abends gemütlich am Kaminfeuer zusammensitzen. Wie lange hatten sie das schon nicht mehr getan?
Vor dem Esszimmer zögerte Karsten kurz. Würde er seine Familie heute früh ertragen können? Am liebsten wäre er gleich in die Klinik geflüchtet, ohne jemanden hier im Haus zu Gesicht zu bekommen, doch just in diesem Moment trat Frau Winter aus dem Zimmer. Sie lächelte ihn an und grüßte munter. So munter, dass Karsten die nette Frau, die schon mehr als zehn Jahre seinen Haushalt führte, am liebsten erwürgt hätte. Und während sie ganz erschrocken um Atem rang, würde er ihr ins Gesicht lächeln und mit seinen Fingern ihren Hals immer fester zudrücken. Er könnte dann spüren, wie sie immer schwächer würde, bis auch das letzte bisschen Kraft ihren Körper verließ. Und wenn sie schließlich zusammensackte, würde er sie fallen lassen und den dumpfen Aufprall ihres toten Leibes auf dem Fliesenboden genießen.
Im nächsten Moment holte Karsten tief Luft und löste sich von dieser Fantasie; er zwang sich zu einem Nicken und bestellte eine große Kanne Kaffee bei der Frau. Während er ihr hinterher sah, wie sie schnurstracks in die Küche eilte, fragte er sich zum wohl tausendsten Mal, woher diese Aggressivität in ihm bloß kam? Und warum nahm sie stetig zu? Was, wenn er eines Tages tatsächlich die Kontrolle verlieren würde …
„Karsten?“, erklang die leicht quengelige Stimme seiner Frau aus dem Esszimmer. „Komm bitte herein, und steh‘ da nicht so im Flur rum.“
Karsten unterdrückte den Drang, die Augen zu verdrehen, und trat ins Esszimmer. Der große Tisch, an dem gut ein Dutzend Personen Platz fand, war an einem Ende wie immer üppig gedeckt. Die Normalität, die in diesem Raum herrschte, hob Karstens Laune merklich an. Sein Sohn Alexander saß mit gesenktem Kopf über einer Schale Müsli und blickte auch nicht auf, als Karsten den Raum betrat.
Karsten strich ihm im Vorbeigehen durch die strubbeligen, blonden Haare und fragte: „Na Großer. Gut geschlafen?“
Alexander zuckte nur mit den Schultern.
Teenager, dachte Karsten leicht amüsiert und wandte sich Monika zu. Sie war eine gut aussehende Frau. Ihre Haare waren stets ordentlich frisiert - dafür bezahlte Karsten auch Woche für Woche horrende Coiffeurrechnungen -, und sie verließ ihr Schlafzimmer nie ohne Make-up. Er beugte sich zu ihr hinunter und hauchte einen Kuss auf ihre Wange. Sie schien das kaum wahrzunehmen, denn sie tippte wie verrückt mit den perfekt manikürten Fingernägeln - dieses Mal in einem hellen Rot, passend zu ihrer Lippenstiftfarbe - auf ihrem I-Pad herum.
„Karsten …“ Auch sie blickte nicht auf. „Wir müssen unbedingt unsere Termine abstimmen.“
Schlagartig änderte sich seine Stimmung. Jetzt reichte es. Er schlug mit der flachen Hand so heftig auf den Tisch, dass das Geschirr und Besteck klirrten. Erschrocken blickten seine Frau und sein Sohn ihn an. Endlich!
„Ist es wirklich zu viel verlangt, dass ihr mir morgens beim Frühstück kurz mal in die Augen schaut?“, schnauzte Karsten.
Alexander blickte tatsächlich für eine Sekunde seinen Vater an, senkte den Blick aber sofort wieder und löffelte weiter sein Müsli. Monika schürzte die rot bemalten Lippen und schob mit theatralischer Miene das I-Pad zur Seite, während genau in diesem Moment Frau Winter mit dem bestellten Kaffee hereinkam.
Karsten kochte innerlich vor Wut. Am liebsten würde er ihnen, vor allem Monika, endlich mal zeigen, wozu er fähig war! Mit wenigen Schritten könnte er bei Frau Winter sein, ihr die heiße Porzellankanne aus der Hand reißen und in Richtung seiner Frau schleudern. Vor seinem inneren Auge sah er ganz deutlich, wie Monika kreischend beide Arme vor ihr Gesicht hob, um sich vor dem fliegenden Unheil zu schützen. Dennoch würde die Kanne sie an der Schulter treffen. Der heiße Kaffee würde auf sie spritzen und an etlichen Stellen, die durch die Kleidung nicht geschützt waren, die Haut verbrennen. Beinahe konnte Karsten hören, wie Monika schrie und fluchte. Karsten lächelte kalt. Na, wie würde dir das gefallen? Zufriedenheit erfüllte ihn, während er sein Bewusstsein in die Realität zurückzwang.
„Karsten, träumst du? Setz dich endlich hin.“
Er kniff die Augen zusammen und ließ den Tagtraum endgültig hinter sich. Monika und Alexander sahen ihn abwartend an, während Frau Winter hinter ihm stehen geblieben war. Die Haushälterin hielt in der einen Hand die Kaffeekanne und in der anderen einen großen Teller mit gebratenem Schinken und Rührei – Karstens Lieblingsfrühstück. Lächelnd blickte sie in die Runde, als er Platz nahm, stellte dann den Teller vor ihm auf den Tisch und schenkte ihm Kaffee ein.
Karsten holte tief Luft. Die Wut schwelte immer noch in ihm, und sein Kopf schmerzte. Er ballte die Fäuste und bohrte seine Nägel in die Handflächen. Ruhig, alles ist gut! „Seht genau hin!“ Karsten zwang sich, in normaler Lautstärke zu sprechen, und doch klang seine Stimme bedrohlich. Er deutete mit der Hand auf Frau Winter und erklärte: „So hat das morgens auszuschauen. Ein Lächeln im Gesicht und eine freundliche Begrüßung! Viel mehr verlange ich nicht!“
Monika und Alexander starrten ihn mit offenen Mündern an. Er verlor sonst nie die Beherrschung. Frau Winters Lächeln verblasste. Betreten blickte sie zuerst zu Alexander, dann zu Monika. Doch keiner von beiden sagte etwas. Die Hände der Haushälterin flatterten vor Nervosität.
„Frau Doktor“ sie wusste, dass Monika es liebte, wenn man sie mit diesem Titel ansprach, „…darf ich Ihnen noch etwas bringen?“
Monika verneinte kleinlaut.
Karsten griff nach seiner Gabel. Immer noch wütend, hieb er sie in das Rührei und schaufelte einen Bissen nach dem anderen in sich hinein. Durch die hohen Fenster fiel helles Sonnenlicht herein, und Karsten beobachtete fasziniert, wie die Strahlen das Geschirr und Besteck funkeln ließen. Doch das lenkte ihn nicht lange von dem mürrischen Gesicht seiner Frau ab.
Alexander schob scharrend seinen Stuhl zurück.
Karsten hob den Kopf und blickte seinen Sohn fragend an. Alexander besaß den Anstand, ihm wenigstens flüchtig in die Augen zu schauen, und murmelte dann: „Ich muss in die Schule.“
Karsten nickte nur, und sein Sohn rannte fast aus dem Raum. Das hatte er ja wieder gut hinbekommen! Seine Frau schmollte und sein Sohn flüchtete vor ihm. Karsten seufzte, legte die Gabel auf den Teller und tupfte sich mit der Leinenserviette die Mundwinkel ab. Er lehnte sich zurück und überlegte, ob eine Entschuldigung bei seiner Frau angebracht wäre. Seine linke Hand lag auf der Tischplatte, und mit dem Zeigefinger klopfte er nervös auf das Holz. Karsten entschied sich dagegen. Immerhin verdiente er das Geld in der Familie. Da konnte er von seiner Frau und seinem Sohn ja wohl ein wenig Respekt erwarten!
Während Monika wieder auf ihrem I-Pad herumtippte, schaute er zum Fenster hinaus. Eine Bewegung weit hinten im Garten erregte seine Aufmerksamkeit. Dort war, versteckt zwischen hohen Bäumen und dichten Sträuchern, eine kleine Gartenpforte. Nur seine Familie wusste davon. Wer also war gerade durch dieses Tor gegangen und kam nun durch den Garten auf das Haus zu? Karsten reckte sich neugierig, doch dann erkannte er seine Tochter Sophie.
Sie war zu Besuch hier, denn sie hatte zurzeit Semesterferien. Sophie studierte Zahnmedizin, und Karsten war unglaublich stolz darauf. Er träumte davon, dass eines seiner Kinder - oder besser noch alle beide - seine Klinik irgendwann weiterführen würden. Sophie war auf dem besten Weg dorthin. Und auch Alexanders Noten in der Schule waren überdurchschnittlich gut, und Karsten hoffte, dass sein Sohn sich ebenfalls für die Zahnmedizin entscheiden würde. Er beobachtete, wie seine Tochter die Terrasse betrat. Gut, dass er letzte Nacht noch mal draußen gewesen war und das tote Tier gefunden hatte. Nicht auszudenken, wie sehr sich die arme Sophie erschreckt hätte, wenn sie auf die Katze gestoßen wäre.
Sophie betrat durch die Terrassentür den Raum. Wie schon zuvor Karsten, beugte auch sie sich zu ihrer Mutter hinab und küsste sie auf die Wange. Auch dieses Mal reagierte Monika nicht, und Karsten spürte, wie die Flamme der Wut wieder hell in ihm leuchtete. Doch seiner Tochter schien das Verhalten ihrer Mutter nichts auszumachen. Anschließend tänzelte sie auf ihn zu und küsste auch ihn.