Traumwandler - A. K. Frank - E-Book

Traumwandler E-Book

A.K. Frank

0,0
2,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Traust du dich, einzuschlafen? In einem kleinen Dorf im Harz werden einige Kinder und Jugendliche plötzlich von Alpträumen gequält, an die sie sich morgens nicht mehr erinnern können. Es kommt zu ersten mysteriösen Todesfällen dieser Jugendlichen, die sich niemand erklären kann. Paula hat andere Probleme. Die Trauer um ihren verstorbenen Vater, Sorgen um ihre depressive Mutter und Liebeskummer plagen sie. Dann beginnen Alpträume auch ihren Schlaf zu stören. Aber haben hier wirklich übernatürliche Kräfte ihre Hände im Spiel, wie ihre Freundin Johanna behauptet?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Astrid Radtke

Traumwandler

Ein mystischer Tannengrund Roman

Inhaltsverzeichnis

Impressum

A. K. Frank

Traumwandler

Das Buch

Traust du dich, einzuschlafen?

In einem kleinen Dorf im Harz werden einige Kinder und Jugendliche plötzlich von Albträumen gequält, an die sie sich morgens nicht mehr erinnern können. Es kommt zu ersten mysteriösen Todesfällen dieser Jugendlichen, die sich niemand erklären kann.

Paula hat andere Probleme. Die Trauer um ihren verstorbenen Vater, Sorgen um ihre depressive Mutter und Liebeskummer plagen sie. Dann beginnen Albträume auch ihren Schlaf zu stören. Aber haben hier wirklich übernatürliche Kräfte ihre Hände im Spiel, wie ihre Freundin Johanna behauptet?

Die Autorin

A. K. Frank ist das Pseudonym einer deutschen Autorin. Aufgewachsen in einer Stadt im schönen Harzvorland hatte sie schon immer den Kopf voller Geschichten und den Wunsch, diese veröffentlicht zu sehen.

Weitere Informationen

https://www.facebook.com/astridschreibt/

Für Papa, Frank und Philip

Ihr fehlt.

Immer.

Prolog

Tannengrund war ein verschlafenes Dorf mitten in den tiefen Wäldern des Harzes. Die Hauptstraße schlängelte sich durch die schroffen Berge und die Häuser schienen sich an raue Felsen zu schmiegen. Es gab einen Supermarkt am Rande des Dorfes, einen Kindergarten und eine Grundschule. Die älteren Kinder wurden mit dem Schulbus in die nächstgelegene Stadt gefahren. Das Leben hier war beschaulich und niemand ahnte, welch ein Schrecken schon bald hier einfallen würde.

Nach einem verregneten Frühjahr und Sommer, zeigte sich der Spätsommer von seiner schönsten Seite. Es war hochsommerlich warm und die meisten Teenager der Gegend verbrachten den letzten Ferientag vor Beginn des neuen Schuljahres am Blauen See. Dieser lag nicht weit vom Dorf entfernt und war gut mit dem Fahrrad erreichbar. Dazu musste man nicht auf der Bundesstraße fahren. Jedes Kind hier kannte den Schleichweg durch den Wald.

Der Blaue See durchmaß an seiner längsten Stelle ungefähr hundert Meter und machte an jenem Sommertag seinem Namen so gar keine Ehre. Denn anstatt Türkisblau, schimmerte das kristallklare Wasser in einem tiefen Smaragdgrün, das nichtsdestotrotz einen reizvollen Kontrast zu den weißen, an drei Seiten steil aufragenden Kalkwänden bildete. Mehrere Teenager tummelten sich am steinigen Ufer des Sees und obwohl das Schwimmen hier offiziell nicht erlaubt war, hatten sich einige Wagemutige doch in das tiefe, eiskalte Wasser getraut.

Alles an diesem Tag fühlte sich für Marie nach Abschied an. Die warmen, fast heißen Sonnenstrahlen auf ihrer Haut, das kühle Wasser des Sees an ihren Füßen. Sogar die Luft schien danach zu riechen. Nun ja, dachte sie. Heute nehme ich ja auch Abschied. Es waren ihre letzten Tage hier in Tannengrund, denn schon morgen würde sie nach Hamburg zurückkehren.

Die gleißend hellen Sonnenstrahlen, die sich im Wasser spiegelten, brannten in ihren Augen und sie unterdrückte ein Gähnen.

„Du siehst toll aus!“ Marie fuhr erschrocken herum. Hinter ihr stand David, ihr Freund. Seine Blicke wanderten bewundernd an ihrem Körper herab. Marie lachte verlegen und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ein Blick in Davids Augen und ihre Knie wurden weich. Sie war bis über beide Ohren in diesen gut aussehenden Jungen verliebt. Ihn zu verlassen, fiel ihr am schwersten. Kaum zu glauben, dass sie sich anfangs so gegen den Besuch bei ihren Großeltern gesträubt hatte. Es war ihr vorgekommen, als ob ihre Eltern sie ans Ende der Welt verfrachteten. Bis sie auf David und seine Freunde getroffen war. Marie nahm seine Hand und drückte sie, während sie ihn anstrahlte.

„Ich kann nicht glauben, dass du morgen schon wieder fährst“, flüsterte er und legte seine Stirn an ihre. Seine blonden Haare kitzelten Marie im Gesicht. Sie streichelte seine Wangen und antwortete: „Wir können doch über WhatsApp schreiben und Video chatten. Und in den Herbstferien kommst du zu mir nach Hamburg.“

David küsste sie auf die Lippen. „Ich werde dich jeden Tag anrufen“, versprach er ihr.

„Hey David! Lass uns sehen, wer zuerst am anderen Ufer ist!“

Etwas verärgert über die Störung blickte David zu seinem besten Kumpel hinüber. Er überlegte kurz, dann zuckte er mit den Schultern und sah Marie mit einem übermütigen Blitzen in den Augen an. „Bist du dabei?“

Ein Frösteln lief Marie über den Rücken. Sie konnte nur mäßig schwimmen. Tiefes Wasser machte ihr Angst. Deshalb hatte sie sich nur im flachen Gewässer aufgehalten und an den Wasserschlachten teilgenommen. Abwehrend schüttelte sie den Kopf. David wandte sich von seinem Kumpel ab, doch Marie konnte spüren, dass er gern mit ihm geschwommen wäre. Sie wollte kein Klotz am Bein sein und deutete über das Wasser. „Nein, geh nur. Wir sehen uns später.“

David beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie sanft auf die Lippen. Marie strahlte ihn an. Ihr Herz stolperte kurz in ihrer Brust, bevor es umso heftiger gegen ihren Brustkorb hämmerte. Sie konnte es kaum fassen, dass dieser tolle und beliebte Junge ihr Freund war.

„Hey Kumpel, du hast keine Chance!“, rief David, bevor er übermütig mit einem eleganten Sprung kopfüber ins tiefere Wasser sprang und auf die Mitte des Sees zuhielt.

Marie lachte und schaute ihm hinterher. Etwas wehmütig dachte sie daran, dass sie sich heute Abend von ihm verabschieden musste. Sie vermisste ihn jetzt schon wahnsinnig und hoffte, dass ihre Eltern erlauben würden, dass er sie besuchte.

Als Marie an ihre Eltern dachte, wurde ihr das Herz schwer. Was würde sie daheim erwarten? Ob sie sich wieder zusammengerauft hatten? War Scheidung noch immer ein Thema?

Wegen der ständigen Streitigkeiten hatte man sie nach Tannengrund geschickt. Marie hatte sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, doch ihre Eltern hatten darauf bestanden. Sie sagten, sie wollten ihre Probleme in Ruhe angehen und Marie nicht damit belasten. Als ob ich noch ein kleines Kind bin, dachte sie grummelnd und spritzte mit dem Fuß etwas Wasser auf. Natürlich hatte sie mitbekommen, dass ihr Vater eine Affäre hatte. Und obwohl sie den Kummer ihrer Mutter nachvollziehen konnte, hoffte sie sehr, dass ihre Eltern sich nicht trennen würden.

Die Ungewissheit, was sie daheim zu erwarten hatte, bedrückte sie. Aber sie gestand sich auch ein, dass die Zeit hier im Harz ihr gutgetan hatte. Das Zusammenleben mit ihren Großeltern war sehr harmonisch. Die beiden alten Leute hatten sie nach Strich und Faden verwöhnt. Marie würde auch sie sehr vermissen. Und in Tannengrund hatte sie schnell Anschluss an Gleichaltrige gewonnen. Im Prinzip waren die Jugendlichen hier nicht anders als in Hamburg. Nur die Umgebung war ländlicher. Und alles etwas ruhiger als in der Großstadt.

Langsam watete sie auf das steinige Ufer zu. Sie kletterte die steile Böschung hinauf, bis sie an der großen Weide anlangte. Niemand nahm Notiz von ihr, was Marie im Augenblick doch sehr recht war. Nach Atem schnappend hielt sie inne und blickte nach unten. David hatte soeben vor seinem Freund das andere Ufer erreicht. Er schwang sich auf einen hervorstehenden Felsvorsprung und riss voller Kraft beide Arme hoch. Sein Kumpel hieb mit beiden Armen auf das Wasser, dass es nur so spritzte. Marie glaubte fast, ihre Stimmen bis hier herüber zu hören.

Vielleicht lege ich mich etwas hin und ruhe aus, dachte sie und unterdrückte ein Gähnen. Es würde eine Weile dauern, bis David wieder bei ihr wäre. Und etwas Ruhe konnte sie gut gebrauchen.

Marie wunderte sich über ihre Müdigkeit, die sie, seit sie in Tannengrund weilte, immer wieder rasend schnell überfiel. In letzter Zeit hatte sie das Gefühl, ständig schlafen zu müssen. Aber des Nachts, wenn sie sich endlich ausruhen konnte, wälzte sie sich hin und her, gequält von bösen Träumen. Wenn sie davon erwachte, waren ihr Bettzeug und das Nachthemd durchgeschwitzt und sie fürchtete sich davor, die Augen wieder zu schließen. Morgens hatte sie nur verworrene, undeutliche Erinnerungen daran, die allenfalls einen schalen Nachgeschmack hinterließen.

Vielleicht nur eine Mangelerscheinung, dachte sie, als sie sich durch die tief hängenden Zweige der Trauerweide schob und sich an den Stamm gelehnt hinsetzte. Sie würde zu Hause ihren Arzt mal aufsuchen und sich durchchecken lassen. Natürlich war es ebenso möglich, dass die Probleme ihrer Eltern und die Sorge vor der Zukunft ihr so zu schaffen machten. Marie gestand sich das nur ungern ein, denn sie wünschte sich doch nur ein unbeschwertes Teenagerleben. Mit einem so großartigen Freund, wie David es war, an ihrer Seite. Schade nur, dass bald schon mehrere Hundert Kilometer sie trennen würden.

Die tief hängenden Zweige des Baumes schufen einen natürlichen Raum, in den nur zögerlich das Licht der Sonne fiel. Es war angenehm kühl und schattig. Marie seufzte wohlig auf. Vielleicht konnte sie sich später mit David hier etwas zurückziehen und dann…

Ihr umherschweifender Blick fiel auf eine dunkel gekleidete Gestalt. Der Junge stand auf dem hoch gelegenen Ufer auf der gegenüberliegenden Seite des Sees. Zwischen den dunklen Bäumen leuchtete sein blasses Gesicht hervor. Unter ihm der steile Abhang, der direkt im See mündete. Marie erkannte ihn gleich, obwohl sie durch das Blätterwerk nur unscharf sehen konnte. Beklommenheit befiel sie, doch gleich darauf schalt sie sich einen Narren. Er konnte sie unmöglich sehen und doch schien es ihr, als ob sein Blick sie durchbohrte.

Immer wieder tauchte dieser Typ in ihrer Nähe auf. Er beobachtete sie, das spürte Marie deutlich. Bei seinem Anblick überlief sie eine Gänsehaut. Nun, auch wenn sie morgen David verlassen musste, war sie doch froh, bald wieder zu Hause zu sein. Sie und David waren beide in der Abschlussklasse. Und vielleicht würden sie auch gemeinsam studieren können. Ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen. Ja, so stellte sie sich ihre Zukunft vor.

Marie warf noch einen Blick durch die Zweige. Der Junge stand immer noch am selben Platz und starrte zu ihr herüber.

Nein, dachte sie, als ihre Augenlider immer schwerer wurden. Er kann mich nicht sehen. Sie lehnte den Hinterkopf an die borkige Rinde. Fast unmerklich glitt sie in einen tiefen Schlaf.

Es ist ein Traum. Das Wissen darum erfüllte sie glasklar und Marie wunderte sich. Sie hatte schon immer sehr lebhaft geträumt, aber noch nie war ihr so schnell bewusst geworden, dass dies nicht die Realität war.

Nun, dann kann ich den Traum ja genießen, beschloss sie.

Sie lag auf einer Strandliege am Pool ihrer Großeltern. Alles um sie herum war bunt geschmückt, wie zu der Geburtstagsfeier ihrer Oma vor wenigen Wochen. Marie seufzte und sah sich um. Niemand war zu sehen. Alle Farben waren so klar und strahlend. Das Weiß des Hauses blendete sie fast, während das Rot der Dachschindeln leuchtete. Der Rasen war sattgrün, nicht sonnenverbrannt, wie in der Realität. Marie kicherte, als bunte Schmetterlinge von der Größe fetter Tauben um sie herumflatterten. Das war ja wirklich ein kitschiger Traum, dennoch wunderschön. Marie richtete sich auf und ihr Blick fiel auf das herrlich blaue Wasser des Pools. Sie fühlte den unbändigen Drang hineinzusteigen. Seltsam, was Träume doch so anstellten. In der Realität würde sie niemals in den Pool gehen. Selbst im Blauen See hatte sie nur das Wasser ihre Füße benetzen lassen und das auch nur, weil sie den Spott der anderen fürchtete und sich vor David nicht blamieren wollte.

Der Pool ihrer Großeltern war nicht tief, doch allein die Vorstellung, ihr Kopf könnte unter Wasser geraten, hatte sie davon abgehalten ihn zu betreten. Doch nun zog der Pool sie unwiderstehlich an. Marie überlegte nicht lange und stieg hinein. Was sollte denn passieren? Sie träumte doch nur. Das Wasser umschmeichelte ihren Körper. Sie fühlte sich leicht, fast schwerelos.

Nein, befand sie. Wasser war doch nicht so schlimm. Langsam schritt sie weiter in die Mitte des Pools. Seltsam, wunderte sich Marie, sie konnte deutlich das Wasser auf ihrer Haut spüren, wie es sanft ihren Körper umspülte. Für einen Traum fühlte sich das hier alles sehr real an. Marie ließ das Wasser durch ihre Finger rinnen, bewunderte die im Sonnenlicht schimmernden Wassertropfen, wie sie gemächlich auf die Wasseroberfläche fielen und Kreise malten. So zart und filigran wirkten sie. Marie schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Jetzt fehlt nur noch David, dann wäre der Traum perfekt. Sie schmunzelte, als ihr eine Idee durch den Kopf schoss. Das war ihr Traum, sie musste sich vielleicht einfach nur wünschen, er wäre hier. Erwartungsvoll öffnete Marie ihre Augen und drehte sich um sich selbst. Und tatsächlich: Im Augenwinkel nahm sie eine Person am Rande des Pools wahr! Doch das Lächeln gefror ihr auf dem Gesicht. Das war nicht David! Es war der unheimliche Junge. Marie erschrak zutiefst und machte unwillkürlich ein paar Schritte rückwärts. Dann fiel ihr ein, dass es ihr Traum war.

„Verschwinde!“, rief sie ihm zu. Doch der Junge mit den schwarzen Haaren lachte nur hämisch. Marie wich weiter zurück. Instinktiv wollte sie Abstand zu ihm gewinnen. Ihr Herz schlug hart gegen ihren Brustkorb. Der schwarzhaarige Junge hockte sich an den Rand des Pools und ließ eine Hand durch das Wasser gleiten.

„Du hast eine unbändige Angst davor zu ertrinken. Richtig, Marie?“, fragte er. Es klang nicht wie eine Frage. Eher wie eine Feststellung. Seine Stimme klang ungewöhnlich hoch, ganz so, als ob er die Pubertät noch nicht erreicht hatte. Marie schätzte ihn auf ungefähr dreizehn Jahre alt.

Kalte Furcht überkam Marie. Sie fröstelte. Eine Gänsehaut hatte sich auf ihren Unterarmen ausgebreitet. Woher wusste er davon? Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Sie schüttelte vehement den Kopf.

„Was willst du von mir?“, fragte sie.

Der Junge lachte freudig auf und klatschte in die Hände.

„Immer die gleichen Fragen! Du bist wie alle anderen auch. Zu schnell zu langweilig. Und nun sag: Lebewohl!“

Mit diesen Worten stand er auf und hob beide Arme seitwärts auf Schulterhöhe. Den Kopf legte er in den Nacken und bewegte lautlos seine Lippen. Im gleichen Moment spürte Marie, wie das Wasser stieg.

„Aber…, aber… Das ist doch unmöglich!“, flüsterte sie, während das Wasser über ihre Schultern stieg. Hastig versuchte sie, den Rand des Pooles zu erreichen. Umsonst, je mehr sie lief, umso weiter war der Rand entfernt. Voller Panik schrie sie auf. Das Wasser stieg unaufhörlich weiter; schwappte ihr ins Gesicht. Marie versuchte zu schwimmen, konnte ihre Füße aber nicht vom Boden lösen.

Oh mein Gott, ich ertrinke!

Der Junge lachte.

„Du hast Angst, Marie! Todesangst!“

Sie schnappte noch einmal nach Luft, hielt automatisch die Luft an. Doch der Drang zu atmen wurde immer größer. Ihre Lungen schrien nach Sauerstoff und unwillkürlich riss sie den Mund auf. Ihre Lungen füllten sich mit dem Poolwasser und ihr Körper zuckte in rasendem Schmerz. Sie begriff, dass sie sterben würde.

Aber das ist doch nur ein Traum, war ihr letzter verwunderter Gedanke. Eine Antwort erklang in ihrem Kopf, bevor alles um sie herum schwarz wurde.

„Nein, es ist MEIN Traum!“

1. Kapitel

Paula

Lustlos starrte ich auf den Zeichenblock vor mir. Ich sah, wie Strich für Strich sich die Umrisse meiner liebsten Badestelle am Blauen See zeigten. Wie gern würde ich jetzt an diesem heißen Tag dort bei meinen Freunden sein! Frustriert ließ ich den Stift fallen und stand auf. Im Grunde genommen ärgerte ich mich über mich selbst. Das Ausgehverbot hatte ich mir allein eingebrockt. Ich wusste doch, wie empfindlich meine Mutter war, wenn ich zu spät nach Hause kam. Auch wenn es nur wenige Minuten waren. Allerdings fand ich ihre Strafe etwas überzogen, denn es waren immer nur wenige Minuten gewesen und sie wusste genau, dass der Bus, der abends die Harzer Bergdörfer abklapperte, nicht immer auf die Minute genau pünktlich hier hielt. Außerdem war ich siebzehn Jahre alt. Da war es doch kein Beinbruch, wenn ich mich mal verspätete. Aber nun musste ich das Ganze aussitzen.

Missmutig lief ich die schmale Treppe hinab. Ich hatte Lust auf eine Cola. Vielleicht hätte ich das Verbot einfach ignorieren sollen. Dann würde ich jetzt bei meinen Freunden sein und mich im eiskalten Wasser abkühlen. Mama würde es wahrscheinlich nicht mal bemerken.

Doch wem wollte ich etwas vormachen? Um mich so meiner Mutter zu widersetzen hatte ich keinen Mut. Wir hatten sowieso ständig Streit und ich war das so leid.

Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass meine Mutter bald Feierabend haben würde. Vielleicht war jetzt die Zeit ihr stillschweigend ein Friedensangebot zu machen. Ich suchte alle Zutaten für einen leckeren knackigen Salat zusammen und fing an zu schnippeln. Dazu würde ich Putenbruststreifen anbraten und ein Dressing zusammenrühren. Perfekt für einen so heißen Tag.

Mein Handy klingelte und ich hoffte inständig, dass meine Mutter mir nicht sagen würde, dass sie wieder Überstunden machen musste. Ein Blick aufs Display ließ mich aufatmen. Es war meine Freundin Meli. Ich wischte mir die Hände am Geschirrtuch ab, bevor ich das Gespräch annahm.

„Melissa! Willst du mir erzählen, was ich alles am See verpasse?“ Ich setzte mich auf einen Küchenstuhl und schlug die Beine übereinander. Wenn Meli anrief, konnte das Gespräch schon mal eine Weile dauern. Und wie erwartet schnatterte sie ohne Punkt und Komma. Plötzlich horchte ich auf.

„…ist jemand im See ertrunken. Die Polizei ist dort und die haben alles abgesperrt.“

Ich erschrak. Auf meinen Unterarmen bildete sich eine Gänsehaut. Das konnte doch nicht wahr sein! „Warte mal, Melissa! Nicht so schnell“, unterbrach ich ihren Wortschwall. „Wer ist ertrunken?“ Fest umklammerte ich mein Handy. Bitte, bitte! Es durfte niemand sein, den ich kannte. Ich wusste nicht, ob ich es ertragen konnte, schon wieder jemanden zu verlieren.

„Dieses Mädchen aus Hamburg, sagt man. Marie hieß sie. Vielleicht hast du sie mal gesehen. Ihre Großeltern leben bei euch in Tannengrund. Aber so genau weiß ich es nicht. Die Polizei hat niemanden mehr in die Nähe gelassen und alle Badegäste nach Hause geschickt, nachdem sie unsere Personalien aufgenommen haben. Ich hoffe, wir bekommen keinen Ärger, weil wir dort schwimmen waren.“

Melissa redete weiter am Telefon, während meine Gedanken abschweiften. Ich kannte Marie nur vom Sehen her. Ihre Großeltern lebten am anderen Ende des Dorfes. Marie hatte sich schnell der Clique um David Schwarz angeschlossen. David war nicht nur der süßeste Junge von Tannengrund, sondern auch der ganzen Schule. Früher hatte ich heimlich für ihn geschwärmt, doch er hatte nie auch nur das geringste Interesse an mir gezeigt.

Warum auch? Statt auf Partys zu gehen, zeichnete ich lieber. Mode und Kosmetik kümmerten mich recht wenig. Ich liebte Kunst, gute Musik. Und wenn ich mal Gesellschaft brauchte, hing ich lieber mit meinen Freunden ab.

„Paula?“ Melissas Stimme unterbrach meine Gedanken.

Ich schreckte auf und murmelte etwas, um ihr zu zeigen, dass ich ihr noch zuhörte.

„Es ist relativ sicher, dass es Marie war. Ich hörte, wie David zu den Polizisten sagte, dass sie nicht mit ihm ins tiefe Wasser gehen wollte und er nicht verstehen könne, wie sie ertrunken sein sollte.“

„David?“, fragte ich sicherheitshalber nach und ärgerte mich, dass ich nachgefragt hatte. Innerlich wappnete ich mich schon, auf das, was jetzt unweigerlich folgen würde. Jetzt würde die alte Leier wieder losgehen. Melissa wollte einfach nicht glauben, dass ich schon lange nicht mehr in David verliebt war.

Ich hörte, wie sie erschrocken nach Luft schnappte. „Oh Paula, es tut mir leid. Ich… Vergiss den Blödmann! Er ist es nicht wert. Wirklich nicht. Er war wohl mit Marie zusammen.“

„Melissa! Ich bin über David hinweg. Es kümmert mich nicht, welchem Rock er hinterherläuft!“ Ich hoffte, dass meine Stimme fest genug klang, denn so ganz war ich nicht davon überzeugt. Als ich kurz nach Ferienbeginn die beiden im Dorf zusammen gesehen hatte, hatte mir das einen gewaltigen Stich versetzt. Aber wenn ich ehrlich zu mir selbst war, dann musste ich zugeben, dass Marie mit ihren langen, blonden Haaren, viel besser in Davids Beuteschema passte.

Frustriert fuhr ich mir durch die halblangen, dunklen Haare. Bisher war ich auch keinem anderen Jungen begegnet, der mein Herz berühren konnte. Wie auch, wenn ich die halben Ferien zu Hause hocken musste. Und in der Schule gab es niemanden, der mich auch nur ansatzweise interessierte.

„Ach, vergiss David. Ich bin über ihn hinweg“, beteuerte ich meiner Freundin, die nur ungläubig in den Hörer schnaubte, zum Glück aber nicht weiter nachhakte.

„Paula, ich muss jetzt Schluss machen. Dein Hausarrest ist ja zum Glück bald vorüber und dann sehen wir uns wieder. Moritz kommt gleich vorbei und ich wollte vorher noch schnell unter die Dusche springen.“

Wir verabschiedeten uns und nachdenklich legte ich mein Smartphone beiseite. Im gleichen Moment hörte ich die Haustür zuklappen und kurz darauf erschien meine Mutter in der Küche. Sie trug ein schickes Kostüm in hellen Beigetönen und eine weiße Bluse, welche aber nun arg zerknittert war. Das Haar klebte ihr an den Schläfen und sie sah müde aus. Als ihr Blick auf meine Vorbereitungen für das Essen fiel, leuchteten ihre Augen auf. „Oh Liebes, das ist nett von dir.“ Sie umarmte mich und ich atmete unwillkürlich auf. Heute schien ein guter Tag zu sein.

„Ich bin total kaputt. Die Hitze und die viele Arbeit schaffen mich.“ Meine Mutter legte ihre Tasche auf den Stuhl und zog ihre Kostümjacke aus. Mein Blick blieb an der Tasche hängen. Ich sah einen hellen Flaschenhals mit einem blauen Drehverschluss herausragen. Wodka! Ich unterdrückte ein Seufzen, wusste aber aus leidvoller Erfahrung, dass ich meine Mutter besser nicht darauf ansprach. Sie hängte ihre Jacke sorgfältig über einen Bügel, griff nach der Tasche und versteckte sie hinter ihrem Körper. Ihr Blick wich meinem aus, als sie ins Wohnzimmer ging. Meinte sie wirklich, dass ich die Flasche nicht gesehen hatte?

Nachdenklich folgte ich ihr. „Hast du von dem Badeunfall gehört?“, fragte ich, ohne nachzudenken. Ruckartig wandte sich meine Mutter um und starrte mich erschrocken an. Augenblicklich bedauerte ich meine unbedachten Worte.

„Badeunfall? Nein! Was ist passiert?“

Ich zuckte unbehaglich mit den Schultern. Hätte ich es doch nur nicht angesprochen! „So genau weiß ich das auch nicht. Melissa rief mich an und erzählte, dass dieses Mädchen aus Hamburg wohl ertrunken wäre.“

Meine Mutter wurde mit einem Mal leichenblass. Sie sank auf einen Hocker und schüttelte ungläubig den Kopf. „Du liebe Güte! Die armen Eltern.“ Dann blickte sie mich an und murmelte: „Gut, dass du zu Hause geblieben bist. Wenn ich mir vorstelle, du…“ Sie führte den Satz nicht zu Ende und starrte blicklos ins Leere. Aber auch so wusste ich, was sie sagen wollte und spürte, wie der altbekannte Ärger wieder in mir hochwallte. „Mama! Du kannst mich nicht vor allem bewahren. Außerdem bin ich eine sehr gute Schwimmerin.“

Sie nickte. Aber ich wusste, dass sie mich am liebsten in Watte gepackt und zu Hause eingesperrt hätte. Seit dem Unfalltod meines Papas vor zwei Jahren war sie übervorsichtig, wenn es um mich ging. Teilweise konnte ich das ja verstehen, aber ich war jung! Ich wollte leben und nicht eingeengt werden. Und manchmal, in letzter Zeit immer häufiger, hatte ich das Gefühl, dass Mamas Besorgnis mir die Luft zum Atmen nahm. Ich schluckte hart und kämpfte die aufsteigenden Tränen zurück.

Als mein Blick auf meine Mutter fiel, die wie ein Häufchen Elend auf der kleinen Bank saß, verpuffte mein Ärger schlagartig. Ich hockte mich vor sie hin, fasste ihre Hände und hoffte, sie erreichen zu können. „Ich weiß ja, dass du Angst hast, mich zu verlieren. Aber du weißt doch auch, dass ich nicht unvorsichtig bin. Bitte, Mama! Du kannst mich nicht vor allem beschützen.“

Langsam nickte meine Mutter und entzog mir ihre Hände. Sie stand auf und ging ein paar Schritte in Richtung Diele. An der Tür wandte sie sich noch mal um. „Ich weiß, Schatz. Aber gib mir noch etwas Zeit, okay? Dass dein Papa uns verlassen hat, ist für mich immer noch unfassbar schmerzhaft.“

Sie brach ab und kurz bevor sie sich umwandte und den Raum verließ, konnte ich sehen, dass ihre Augen sich mit Tränen füllten. Ich ballte meine Hände zu Fäusten und marschierte in die Küche. Dabei trat ich mit den Füßen etwas stärker auf als gewohnt. Das war eine kindische Angewohnheit von mir, die ich einfach nicht ablegen konnte. Irgendwie hatte ich dabei das Gefühl, meinen Ärger in den Boden zu trampeln und das half mir dabei, wieder herunterzukommen.

Ich hatte keine Eile damit das Abendessen fertigzustellen. Alles in mir zögerte den Moment hinaus, mich mit meiner Mutter wieder zusammenzusetzen. Es schmerzte mich sehr, als mir das bewusst wurde. Doch ihre Stimmungsschwankungen machten mir arg zu schaffen. Irgendwann war der Salat klein geschnitten, das Dressing angerührt und die Putenstückchen gebraten. Ich holte tief Luft und ging ins Wohnzimmer. „Mama?“ Meine Mutter lag mit geschlossenen Augen und angezogenen Beinen auf dem Sofa. Resigniert erblickte ich das Glas auf dem Tisch. Auch ohne daran zu riechen, wusste ich, dass sich kein Wasser darin befand.

Ich wollte mich gerade abwenden und sie schlafen lassen, als sie mich verwirrt anblinzelte. „Paula?“

„Ich habe das Essen fertig“, sagte ich leise. „Wenn du aber lieber noch schlafen möchtest ...“

Meine Mutter schüttelte energisch den Kopf und setzte sich auf. Mit ihren dunklen Augenringen und den Trauerfalten wirkte sie sehr viel älter, als sie eigentlich war. Sie tat mir unglaublich leid und ich nahm mir vor, in Zukunft etwas verständnisvoller zu sein.

Beim Essen schwiegen wir. Nur das Klappern des Bestecks auf den Tellern war hin und wieder zu hören. Meine Mutter war tief in Gedanken versunken. Wie anders waren doch die Abende gewesen, als mein Papa noch lebte. Lebhaft und voller Gespräche.

„Wenn die Schule wieder beginnt, werde ich mir einen Termin bei einem Studienberater holen“, erzählte ich, nur um die dröhnende Stille zu durchbrechen.

Meine Mutter blickte mit gerunzelter Stirn auf. „Ach ja?“

Ich nickte. „Ja. Ich will mit ihm über die Möglichkeiten eines Stipendiums sprechen. Du weißt schon, für das Kunststudium.“

Klirrend fiel die Gabel meiner Mutter auf ihren Teller. Wütend blitzten ihre Augen mich quer über den Tisch an. „Kunststudium?“ Ihre Stimme klang laut und schrill. „Hast du denn in den letzten beiden Jahren gar nichts begriffen?“

Ich hatte das Gefühl, auf meinem Stuhl festgenagelt zu sein. Ich konnte mich vor Schreck nicht rühren.

„Nachdem dein Papa ...“, sie zögerte, wie immer wenn sie von Papas Tod sprach. „Also, seit dein Papa uns verlassen hat, muss ich irgendwelche Bürohilfsjobs annehmen, damit wir uns überhaupt über Wasser halten können.“

„Ja, deswegen versuche ich ja ein Stipendium zu bekommen“, warf ich zaghaft ein. Ich hatte tatsächlich geglaubt, dass sie sich darüber freuen würde!

„Paula!“ Mama stemmt die Hände auf den Tisch und beugte sich zu mir herüber. „Willst du mich nicht verstehen? Wenn ich etwas Anständiges gelernt hätte, wären wir jetzt nicht in dieser verflixten Situation! Willst du etwa später weiter so leben? Von der Hand in den Mund?“

Ich hütete mich, ihr zu sagen, dass mir ein karges Leben nichts ausmachen würde, so lange wie ich nur meine Kunst ausüben durfte. Außerdem ging es uns gar nicht so schlecht. Wir lebten in einem schönen Haus, welches für uns zwei fast ein wenig zu groß war. Und zu essen hatten wir auch genug. Oder verschwieg meine Mutter mir etwas? Schnell schob ich diesen Gedanken beiseite. Zu beängstigend war er.

„Du studierst keine Kunst! Das ist mein letztes Wort!“ Damit lief sie aus der Küche.

Heiße Wut brandete in mir auf. Am liebsten hätte ich die leeren Teller vom Tisch gefegt. Mühsam versuchte ich, mich zu beherrschen. Ich stand auf, ballte meine Hände zu Fäusten und lief die Treppe hinauf. In meinem Zimmer schlug ich die Tür fest hinter mir zu und warf mich aufs Bett. Zornestränen liefen mir über die Wangen.

Es war so ungerecht. Ich vermisste Papa doch auch. Schmerzlich wurde mir jeden Tag bewusst, dass er nie wieder heimkommen würde. Die Lücke, die er hinterließ, konnte einfach nicht geschlossen werden. Schon gar nicht, wenn meine Mutter sich nicht endlich zusammenriss!

Doch dann spürte ich, wie die alten Schuldgefühle in mir hochkrochen. Sehnte ich mich danach, meinen Papa zu vergessen? Nein, wahrlich nicht! Aber wir konnten doch nicht nur trauern, oder?

Ich drehte mich auf den Rücken und starrte hoch an die Zimmerdecke. Papa hätte nicht gewollt, dass wir ständig traurig sind, dachte ich. Dessen konnte ich mir sicher sein. Ich nahm ein gerahmtes Foto vom Nachttischschrank und betrachtete es nachdenklich. Es zeigte eine dreiköpfige, glückliche Familie. Langsam streichelte ich mit einem Zeigefinger über das lachende Gesicht meines Papas. Er war immer so lebensfroh gewesen. Niemals hatte ich ihn schlecht gelaunt erlebt. Stets und ständig hatte er seine Späße gemacht. Wie leer und still das Haus doch nach seinem Tod geworden war! Wieder stiegen mir Tränen in die Augen. Wütend wischte ich sie beiseite und griff nach meinem Zeichenblock. Ich wollte nicht mehr grübeln, sondern lenkte mich lieber ab.

Damian

Vor ihrem Fenster, verborgen durch die vielen dichten Büsche und Sträucher stand ein Junge, nicht älter als dreizehn Jahre alt. Er war dunkel gekleidet und blickte nachdenklich auf das Haus. Plötzlich flog ein Lächeln über sein Gesicht. Er schloss die Augen und atmete tief ein.

Ja, er hatte gut gewählt, als er sich diesen Teil des Harzes ausgesucht hatte. Hier gab es so viele Emotionen. So viele leichtgläubige Leute. Genug für ihn zum Leben. Hier konnte er eine Weile bleiben und alles auskosten. Herrlich!

Dann runzelte er die Stirn. Mit der kleinen Marie hatte er seinen Spaß gehabt. Und doch hatte er es viel zu schnell beenden müssen. Er hatte es nicht voll auskosten können, denn sie hatte schon bald wieder abreisen wollen. Und das konnte er nicht zulassen. Wenn er ein Opfer erst einmal im Griff hatte, ließ er nicht mehr los.

Er sog noch einmal die gefühlsgeladene Luft ein, die nur er schmecken konnte, und öffnete seine Augen. Er blickte zu Paulas Schlafzimmerfenster hinauf und kurz war er in Versuchung, sich in ihre Träume zu schleichen. Aber er zügelte sich. Noch nicht, süße Paula! Du bist später dran. Und dann werde ich es genießen! Mit diesem stillen Versprechen wandte er sich ab und ging pfeifend die Straße hinab. Fürs Erste hatte er sich ein anderes Opfer auserkoren. Er fühlte sich gut gelaunt und gestählt. Todesängste waren so nahrhaft, stärkend und gut bekömmlich.

2. Kapitel

Paula

Eine Woche nach dem Badeunfall begann die Schule wieder. Ich konnte es kaum erwarten und verließ mit eiligen Schritten das Haus. Schnell lief ich die kopfsteingepflasterte Gasse hinunter zur Bushaltestelle. Tannengrund war ein kleines Dorf und bestand gerade mal aus einer Hauptstraße, die lang durch den ganzen Ort verlief, und einer Handvoll Querstraßen. Endlich durfte ich das Haus wieder verlassen und kam wieder unter die Leute. Ich fühlte mich befreit und glücklich.

An der Haltestelle wartete meine Freundin Johanna, die mich herzlich umarmte. „Hey Süße! Schön, dich wieder zu sehen.“

Fest drückte ich sie. Viel zu lange hatte ich auf ihre Gesellschaft verzichten müssen. Telefonieren und chatten sind zwar praktisch, aber nichts gegen ein Gespräch von Angesicht zu Angesicht. „Ich bin so froh, dass die Schule wieder beginnt.“

Jo verzog das Gesicht, als ob sie Zahnschmerzen hätte. „Ich weiß nicht, wie man sich darüber freuen kann.“ Der ankommende Bus unterbrach sie. Wir stiegen ein und suchten uns einen ruhigen Platz im hinteren Bereich.

„Nein, wirklich! Die Schule hat mir so gar nicht gefehlt“, setzte Johanna das Gespräch fort. „Du dafür umso mehr.“ Sie griff nach meiner Hand und drückte sie. „Und nun erzähl schon. Hat deine Mutter den Hausarrest aufgehoben?“

Ich grinste und nickte. „Die drei Wochen sind um und ich bin endlich wieder frei. Und jetzt raus mit der Sprache. Was habe ich alles verpasst?“ Mehr musste ich gar nicht sagen und Jo legte los. Erst als der Bus ruckelnd im nächsten Dorf zu stehen kam, machte sie eine Pause. Die Türen öffneten sich mit einem Zischen und die nächsten Schüler strömten herein. Ich hob die Hand, als ich in der Menge Melissa entdeckte. Sie drängelte sich durch die schwatzenden Schüler und fiel auf den Sitz vor uns.

„Ehrlich“, stöhnte sie genervt. „Ich bin heilfroh, wenn ich endlich meinen Führerschein habe und selbst mit dem Auto fahren kann!“ Melissa war vor wenigen Wochen achtzehn Jahre alt geworden und hatte von ihren Eltern ein Auto geschenkt bekommen. Da sie aber bereits zweimal durch die praktische Fahrprüfung gefallen war, stand der kleine, rote Toyota unbenutzt auf dem Hof ihrer Eltern.

Johanna grinste. „Wenn du nicht immer so hibbelig wärst, hättest du längst selbst fahren können.“

Melissa hob empört die Augenbrauen. Ich wusste, dass nun ein neuer, wenn auch nicht ernst zu nehmender Streit zwischen den beiden losbranden würde, und wandte mich ab. Es fühlte sich gut an, die beiden um mich zu haben. Viel zu lange hatte ich der Stille unseres leeren Hauses gelauscht. Ich badete in der vertrauten Geräuschkulisse und lehnte mich in meinem Sitz zurück.

Der Bus fuhr durch die dichten Wälder des Harzes. Die kurvenreiche Strecke führte bergab und es würde nur noch wenige Minuten dauern, bis wir Wernigerode erreichten, wo sich das Gymnasium befand, auf welches wir gingen. Ich legte die Stirn an die kühle Scheibe und schaute gedankenverloren auf die vorbeifliegenden Bäume, die so hoch und dicht am Straßenrand wuchsen, dass sie einen Großteil des Tageslichtes schluckten. Der Wald wirkte düster und geheimnisvoll. Er steckte voller Motive für meine Zeichnungen und Bilder. Zu dumm, dass ich die letzten Wochen zu Hause hatte herumsitzen müssen, denn eigentlich hatte ich verschiedene Wanderungen geplant gehabt. Ich seufzte und nahm mir in diesem Moment vor, meine Mutter nicht so schnell wieder zu verärgern. Was derzeit gar nicht so einfach war. Viele Sorgen plagten sie, das wusste ich. Und doch wünschte ich mir häufig mehr Verständnis von ihr. Der Bus polterte über ein Hindernis und ich schüttelte die trüben Gedanken ab. Meli und Jo diskutierten immer noch und unwillkürlich grinste ich.

Wir drei waren seit der Grundschulzeit eng miteinander befreundet, obwohl, oder vielleicht auch weil, wir so unterschiedlich waren.

Ich war die introvertierte Künstlerin. Meine Freundinnen hatten sich schon vor langer Zeit daran gewöhnt, dass ich häufig mitten im Satz innehielt und auf einen Gegenstand starrte und plötzlich nicht mehr ansprechbar war. In diesen Augenblicken sah ich ein Motiv und überlegte bereits, wie ich es am besten aufs Papier oder eine Leinwand bannen konnte.

Melissa mit ihren langen, blonden Haaren und den modischen Klamotten war die Partyqueen. Wo sie war, war etwas los. Nur ihr Dauerfreund Moritz war noch wichtiger für sie.

Und Johanna, die dritte im Bunde, war eine waschechte Hexe, wie sie selbst behauptete. Alles Okkulte interessierte sie brennend. Obwohl das ständige Gerede von Tarot und dem schicksalhaften Stand der Sterne uns manchmal etwas nervte, durfte sie nicht fehlen.

Ich seufzte wohlig auf. Jo warf mir einen fragenden Blick zu.

„Ich bin so froh, dass die Schule endlich wieder beginnt.“

Jo verdrehte genervt die Augen und schüttelte verständnislos den Kopf.

Melissa war da etwas redseliger. „Hey! Nur weil du den Großteil deiner Ferien zu Hause verbringen musstest, heißt das nicht, dass wir anderen nicht unseren Spaß hatten! Wenn ich nur daran denke, dass ich Moritz jetzt nur noch in den Pausen und nach der Schule sehen kann, dann wird mir ganz übel“, schimpfte sie wie ein Rohrspatz.

Ich hielt belustigt den Atem an, denn das war das Stichwort für Jo.

„Oh bitte Melissa! Verschon uns mit deinem Moritz! Ich höre nichts anderes mehr von dir. Nicht jeder gibt sich so selbstlos für einen Mann auf.“

Ich überlegte noch, ob ich das Streitgespräch unterbrechen sollte, als der Bus ruckelnd vor der Schule hielt. Wir standen auf und griffen nach unseren Rucksäcken. Beim Aussteigen stupste Johanna Melissa an. „Sieh mal, da am Schultor wartet schon dein Romeo.“ Jos Stimme klang bissig und ich wollte schon intervenierend eingreifen, als mein Blick auf einen großen Typ fiel, der neben Moritz stand. Er überragte Melis Freund um einen halben Kopf, stand aber leider mit dem Rücken zu uns. Er hatte breite Schultern und kurze, blonde Haare. Ich überlegte, ob ich ihn schon mal gesehen hatte. Irgendwie kam er mir bekannt vor. Vielleicht war er aber auch nur neu in der Schule.

Melissa quiekte vor Freude auf, als sie Moritz erblickte, während Jo die Augen verdrehte. „Mal ehrlich Melissa! Ihr seid seit über einem Jahr ein Paar und du freust dich immer noch so sehr, ihn zu sehen? Laut der Statistik, die ich neulich gelesen habe, bleibt ein Pärchen in unserem Alter nicht länger als zwei Monate zusammen. Danach trennen sie sich und suchen sich neue Freunde.“

Doch Melissa hörte Jo nicht mehr zu. Sie drängte sich zwischen den anderen Schülern durch, lief mit langen Schritten auf ihren Freund zu und umarmte ihn fest von hinten.

Ich lächelte unwillkürlich. Auch wenn das verliebte Getue der beiden manchmal etwas nervig war, so wusste ich doch, dass es echt war. Beneidenswert! Warum konnte mir nicht dasselbe passieren?

Ich würde es nie offen zugeben, aber ich sehnte mich nach einem Menschen an meiner Seite, der mich liebte, so wie ich war und dem ich meine Sorgen und Probleme anvertrauen konnte. Ich beugte mich zu Jo, die endlich mal den Mund hielt und fragte sie: „Wer ist der Typ da bei Moritz?“

Jo schaute mich verwundert an. „Erkennst du ihn nicht?“ Dann schlug sie sich mit der Hand vor die Stirn. „Natürlich erkennst du ihn nicht! Du warst ja die letzte Zeit nicht mit am See. Es ist Ben. Er ist aus den USA zurück. Toll sieht er aus, nicht wahr?“

Ben? Ben Seifert? Ich erstarrte und hatte das Gefühl keinen Schritt mehr gehen zu können. War es tatsächlich schon ein Jahr her, dass er Deutschland verlassen hatte und als Austauschschüler in die Staaten gegangen war?

Schlagartig fiel mir unser letztes Treffen ein. Ben hatte mir seine Liebe gestanden und ich hatte ihn abgewiesen. Ich spürte, wie mir das Blut in den Kopf stieg. Während ich seinen Rücken anstarrte, drehte er sich langsam zu uns herum. Seine blauen Augen raubten mir buchstäblich den Atem. Ben hob grüßend die Hand und ich fragte mich, wo der kleine Junge, der immer etwas zerbrechlich gewirkt hatte, geblieben war. Wie sehr er sich doch verändert hatte!

„Hallo Paula!“, sagte er mit tiefer Stimme, welche meine Knie weich werden ließ und reichte mir zur Begrüßung die Hand.

„Ben!“, antwortete ich atemlos und ärgerte mich über mich selbst. „Ich wusste gar nicht, dass du wieder daheim bist.“

Ben hob etwas verlegen die Schulter. „Nun, ich bin seit knapp zwei Wochen wieder hier. Ich musste mein Zeug auszupacken und so. Und meine Familie wollte Zeit mit mir verbringen. Vor allem meine Mutter hatte da viel Nachholbedarf.“ Er grinste und ich konnte kaum die Augen von ihm nehmen. Noch immer hielt er meine Hand und schaute mich an. Melissa räusperte sich vielsagend, während Jo uns beide grinsend musterte.

„Du hast dich ziemlich verändert“, stellte ich fest, während ich versuchte, meine Freundinnen zu ignorieren. „Ich hätte dich fast nicht erkannt.“

Wieder zuckte Ben verlegen mit den Schultern. „Nun ja, ich bin gewachsen und treibe etwas Sport.“

Nur etwas?, fragte ich mich, während ich seine durchtrainierten Oberarme in dem engen T-Shirt unauffällig musterte. Das war wohl untertrieben.

Moritz schaltete sich in das Gespräch ein und deutete auf seine Armbanduhr. „Leute, können wir die Wiedersehensfeier auf später verschieben? Wir kommen sonst zu spät zum Unterricht.“

„Ja“, rief Melissa begeistert und klatschte in die Hände. „Wir treffen uns alle nach der Schule im Eiscafé am Markt!“

Tatsächlich waren wir inzwischen fast alleine auf dem Schulhof. Hastig betraten wir das Gebäude und eilten in die Klassenräume. Gedanklich war ich immer noch bei Ben.

Ich kannte ihn fast mein ganzes Leben lang. Er wohnte auch in Tannengrund und wir hatten schon als Kinder viel miteinander gespielt, obwohl er ein Jahr älter war als ich. Die Abfuhr von damals hatte mir schnell leidgetan, doch vor einem Jahr war ich noch bis über beide Ohren in David verliebt gewesen. Der mich wiederum natürlich keines Blickes gewürdigt hatte.

Ben hatte mir gefehlt. Als Freund, versteht sich. Doch etwas hatte sich in diesem Jahr verändert. Mein heftig schlagendes Herz und ein Kribbeln in meinem Innern verrieten mir, dass meine Gefühle zu ihm nicht mehr rein freundschaftlich waren.

3. Kapitel

Paula

Das Eiscafé am Markt war nach Schulschluss brechend voll. Es schien, als ob sich halb Wernigerode hier traf. Bei dem schönen Wetter waren draußen vor dem Café alle Tische belegt. Suchend blickte ich mich nach meinen Freunden um. Ich hatte mich etwas verspätet, da meine Kunstlehrerin mit mir nach der Schule noch ein Projekt besprechen wollte.

Ich bahnte mir einen Weg nach innen. Einheimische, Touristen, Schüler und Senioren kamen gern in das gemütliche Café, denn sowohl das Eis, als auch der selbst gebackene Kuchen waren einfach der Hammer. Die Geräuschkulisse war unglaublich, denn alle redeten lautstark durcheinander.

Suchend blickte ich mich in dem Gewirr um. An der Wandseite sah ich meine Freunde bereits zusammen sitzen. Hastig drängte ich mich zwischen den Stühlen durch und wurde freudig von meiner Clique begrüßt.

„Hey, ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr. Setz dich. Hier neben Ben ist noch ein Platz frei.“ Jo grinste mich verschmitzt an. Verlegen glitt ich auf die Bank neben Ben. Mein Oberschenkel streifte seinen und unvermittelt spürte ich, wie mir das Blut in den Kopf stieg. Verlegen blickte ich auf meine verschränkt auf dem Tisch liegenden Hände. Was war nur los mit mir? Es war doch nur Ben, den ich fast mein ganzes Leben lang kannte!

Verstohlen blickte ich ihn von der Seite her an. Ja, es war mein Freund Ben. Und doch auch wieder nicht. Mal abgesehen von seiner körperlichen Veränderung, strahlte er auch eine neue Selbstsicherheit aus. Er wirkte reifer und älter. Nicht nur, das eine Jahr älter, welches er in den Staaten verbracht hatte. Erwachsen.

„Wir haben dir einen Milchshake mitbestellt, Paula“, unterbrach Melissa, die fast auf dem Schoß von Moritz saß, meine Grübeleien.

„Erdbeere. Ich hoffe, das ist okay?“ Bens Stimme war leise und doch ging der dunkle Klang mir durch Mark und Bein. Ich spürte Bens Blick fast körperlich und mir wurde wieder heiß. Ich konnte mich nicht dazu durchringen, ihn anzusehen, und nickte nur knapp. Dabei freute ich mich wahnsinnig, dass er noch meine Lieblingssorte kannte. „Ja, klar. Danke!“

Melissa schien zum Glück meine Verlegenheit nicht zu bemerken. Jo hingegen, die gern von sich selbst behauptete, sie habe das zweite Gesicht, grinste, wie ein Honigkuchenpferd und zwinkerte mir vergnügt zu.

---ENDE DER LESEPROBE---