Das Haus meiner Eltern hat viele Räume - Ursula Ott - E-Book
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Das Haus meiner Eltern hat viele Räume E-Book

Ursula Ott

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Beschreibung

»Tolles Buch, sehr empfehlenswert – ist ein großer Bestseller und ich verstehe jetzt, warum.« Markus Lanz, ZDF

Das Elternhaus. Es ist zu groß geworden für die alten Eltern. Es steht vielleicht sogar weit weg vom Leben, Lieben und Arbeiten der Kinder, die in der Mitte des Lebens genug mit sich selbst zu tun haben – und jetzt doch entscheiden müssen: Was machen wir mit dem Ort unserer Kindheit? Wie verabschieden wir die Heimat in Würde? Was hat für uns als Familie wirklich noch einen Wert und was muss weg?

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Zum Buch

Das Elternhaus. Es ist zu groß geworden für die alt gewordenen Eltern. Es steht vielleicht weit weg vom Leben, Lieben und Arbeiten der Kinder, die in der Mitte ihres Lebens eigentlich genug mit sich selbst zu tun haben – und jetzt doch entscheiden müssen.

Was machen wir mit dem Ort unserer Kindheit?

Wie verabschieden wir uns von unserem alten Zuhause in Würde?

Was muss weg, und was kann bleiben?

Zur Autorin

URSULA OTT, Jahrgang 1963, ist Chefredakteurin des Magazins »chrismon«. Sie ist Absolventin der Deutschen Journalistenschule in München und arbeitete u.a. als Gerichtsreporterin bei der »Frankfurter Rundschau«, als Autorin und Kolumnistin bei der »Woche«, »Brigitte« und »Sonntag aktuell« sowie als freie Autorin für Radio und Fernsehen. Sie ist außerdem Autorin zahlreicher Sachbücher über Familie, Kinder und Gesellschaft. Ursula Ott lebt in Köln und Frankfurt am Main.

URSULA OTT

Das Haus meiner Eltern hat viele Räume

Vom Loslassen, Ausräumen und Bewahren

INHALT

KAPITEL 1

Vorwärts fest den Schritt • Wie unsere Familie beschloss, das Elternhaus aufzugeben. Und was uns dabei Mut gemacht hat.

KAPITEL 2

Schwindel im Kletterpark • Wie man sich lange dagegen wehren kann. Und dann doch erkennt: Wir müssen uns vom Elternhaus trennen.

KAPITEL 3

Von alten Bäumen und neuen Wurzeln • Warum man auf das Geschwätz der anderen Leute pfeifen sollte. Und den Neustart wagen.

KAPITEL 4

Das kalte Haus • Wie die Generation der Kriegskinder ihre Gefühle eingemauert hat. Und was das für unsere Kindheit bedeutete.

KAPITEL 5

Etwas Besseres als den Tod findest du überall • Wie syrische Kinder jetzt mit meinem Märchenlöffel gefüttert werden und meine Bowlegläser im Schrank eine Party feiern.

KAPITEL 6

Der Bravo-Starschnitt und die romantischen Sonnenuntergänge • Warum Geschwister unterschiedliche Räume bewohnen. Und die Ältere sich schwerer davon trennt.

KAPITEL 7

Aufstand in der Puppenstube • Warum wir Mädchen der 60er Jahre doppelte Botschaften empfingen. Und wie wir uns damit versöhnen können.

KAPITEL 8

Ein Teil vom kollektiven Gedächtnis werden • Warum wir nicht alles selber sammeln müssen. Und wie moderne Museen mit Kitsch, Kunst und Krempel umgehen.

KAPITEL 9

Das Leben ist zu kurz für schlechte Gummistiefel • Was wir gegen das Gefühl tun können, im Zuviel zu ersticken – und wie wir von unseren Großeltern eine Lektion in Nachhaltigkeit lernen können.

KAPITEL 10

War Opa doch ein Nazi? • Was tun, wenn man beim Aufräumen auf Familiengeheimnisse stößt – und wie man sich damit versöhnen kann.

KAPITEL 11

Beschlossen und besiegelt • Warum der Notartermin ein wichtiger Abschluss ist – und wie man ihn ohne Tränen übersteht.

KAPITEL 12

Wir sind die Neuen! • Wie Loslassen gelingt – und wie schnell neues Leben ins alte Haus einzieht.

KAPITEL 13

Ich tus für meine Kinder • Was Kriegsenkel schaffen können – und damit der nächsten Generation ein aufgeräumtes Haus hinterlassen.

EPILOG

ANHANG

Das ABC der Dinge

Zum Weiterlesen

KAPITEL 1

Vorwärts fest den Schritt

Wie unsere Familie beschloss, das Elternhaus aufzugeben. Und was uns dabei Mut gemacht hat.

Mir ist kalt. Es ist Ende Oktober 2017, und der Wetterbericht behauptet: zu warm für die Jahreszeit. Wetterbericht können wir aber gar nicht mehr gucken, die Tagesschau auch nicht, der Fernseher ist schon verschenkt ans Flüchtlingsheim. Aber als wir das letzte Mal mit Mutters altem Mercedes zum Haus gefahren sind, haben wir im Autoradio gehört: Es wird 18 Grad warm und sonnig werden an unserem Umzugstag. »Das ist gut«, sagt meine Mutter, »dann kommen wir morgen gut durch auf der Autobahn und sind vor den Umzugsleuten in Stuttgart.«

Aber ist wirklich alles gut? Die Wände hallen, weil alle Teppiche weggepackt sind und nur noch eine eichene Schrankwand steht. Leer steht sie da, wie ein Gerippe. Da, wo Papas Modellautos fünfzig Jahre lang im Regal standen, ist jetzt ein heller Abdruck im Holz. Mir ist flau im Magen, und mich fröstelt es. Wir sitzen zu zweit auf der Campingmatratze, die uns die Nachbarin geliehen hat für die letzte Nacht im alten Haus. Meine Mutter springt auf, obwohl sie mit 87 deutlich schlechtere Kniegelenke hat als ich mit meinen 53 Jahren. »Ich mach uns eine Wärmflasche.« Aber das geht ja gar nicht. Der Wasserkocher ist zwar noch da, den schenken wir der Putzfrau, die morgen durchwischen wird. Aber die alte blecherne Wärmflasche ist in einer Umzugskiste verpackt. Bloß in welcher?

Morgen früh wird der Umzugswagen kommen, der Esstisch, Fernsehsessel, Kaffeetassen mit Goldrand und siebzehn Fotoalben aus unserem Elternhaus abholt. Streng genommen ist es schon gar nicht mehr unser Haus. Wir haben es verkauft, entschieden, beschlossen und besiegelt von einem Notar – nachdem es über fünfzig Jahre im Besitz der Familie war. Wir haben es verkauft, weil keines der Kinder im Haus wohnen wird. Längst sind beide Töchter weit weggezogen, haben ihre eigenen Wohnungen in anderen Städten. Haben geheiratet, sich scheiden lassen, sind krank geworden und wieder gesund, sind ins Ausland gegangen und wieder zurückgekommen. Alle haben ihr eigenes Leben, weit weg von der Heimat.

Wir haben es zusammen entschieden, beschlossen und besiegelt. Die Mutter und die beiden erwachsenen Töchter. Auch die Enkel, beinahe volljährig, sind damit einverstanden. Jahrelang, jeden Sommer, haben sie ihre Ferien hier verbracht. Es war schön, wunderschön, aber jetzt fängt ein neuer Abschnitt an. Und immer wieder haben wir uns gesagt: Papa, längst tot, fände es auch richtig. Die Vernunft spricht dafür. Und vorwärts fest den Schritt. Und doch wissen alle, die Mutter, die Töchter und die Enkel: Das Herz wird schwer werden.

Vergesset, was dahinten liegt / Und Euern Weg beschwert / Was ewig Euer Herz vergnügt / Ist wohl des Opfers wert.

Wir sitzen in der Kirchenbank und hören diese Zeilen. »Vergesset, was dahinten liegt« – eine richtige Motivationshymne ist das. Der Lieddichter August Hermann Francke schrieb es im Jahr 1889. Interessant, dass wir ausgerechnet ein Francke-Lied singen an diesem Sonntag. Der Theologe etablierte das gemeinschaftliche Singen als reguläres Schulfach in seinen für damalige Zeiten vorbildlichen Schulen und Waisenhäusern. Diese »Singestunden«, so der unermüdliche Francke, »fördern die Gemeinschaft und dienen der spirituellen Erhebung«.

Als der Schulstifter und Sozialreformer das Lied Nummer 394 schrieb, war er bereits schwer an einer Lungenentzündung erkrankt. Aus Überanstrengung. So fühlen wir uns auch, an jenem Herbsttag 2017: nicht so sehr »spirituell erhoben«. Sondern angestrengt. Denn natürlich vergisst man nicht mal so eben, was »dahinten liegt und unsern Weg beschwert«. So wird es dem Theologen damals gegangen sein, drum dichtete er dagegen an. So geht es uns heute, drum singen wir dagegen an.

Ein Jahr lang haben wir aufgeräumt. Unser Haus. Unsere Kindheit. Unsere Familie. Ganz viele machen das im Moment. Kein Klassentreffen ohne die Frage: Und wo schläfst du heute Nacht? Habt ihr noch das Haus? Keine Managerinnentagung, kein Journalistentreffen ohne das Thema: und deine Mutter? Lebt sie noch im Haus? Kann sie die Treppen noch gehen, den Rasen noch mähen? Fährt sie noch Auto? Ach, sie ist gefallen. Die steile Kellertreppe. Ach je. Das Haus.

Ich bin Jahrgang 1963, geburtenstark. Sehr geburtenstark. Immer, wenn in meinem Leben etwas passierte, passierte es noch Millionen anderen. Nein, nicht nur, weil unsere menschliche Psyche selektiv wahrnimmt: Wer schwanger ist, sieht nur dicke Bäuche; wer sich einen Apple-Computer kauft, sieht überall den Apfel auf dem silbernen Laptop-Deckel; und wer für einen Triathlon trainiert, sieht überall Rennräder.

Nein, wir sind wirklich viele: Söhne und Töchter, die inzwischen in ihren Fünfzigern unterwegs sind. 1963 und 1964 sind die geburtenstärksten Jahrgänge der Nachkriegszeit. Bis heute. Wir heißen Babyboomer. Als wir in die Schule kamen, quengelten mit mir zweiundvierzig aufgeregte ABC-Schützen in der Mehrzweckhalle Weissenau. Als wir an die Uni kamen, quetschten sich bei der Einführungsvorlesung an die tausend Studierende auf die Heizung und unters Waschbecken. Als wir unsere Kinder bekamen, hatte offenbar niemand die Geburten der Geburtenstarken vorhergesehen. Es gab viel zu wenig Krippenplätze. Und jetzt, da wir unsere Kinder irgendwie durchs defizitäre Bildungssystem geschleust haben und hinaus in die Welt schicken – jetzt hat meine Generation eben dieses eine Thema: Was wird aus den alten Eltern – und was machen wir mit deren Haus?

Viele von uns wohnen inzwischen weit weg von den Eltern. Für einige kann es eine Option sein, jetzt zurückzugehen in die Heimat, ins Elternhaus. Meine Eltern hatten sich das seinerzeit gewünscht: dass wir eines Tages in dieses Haus wieder einziehen. Und in der Straße, in der unser Haus steht, hatten alle Nachbarn irgendwann einmal diesen Wunsch. Damals, Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger Jahre.

Aber für die meisten hat sich das Leben inzwischen anders entwickelt. Wir sind in andere Teile der Welt gezogen, wir haben ein anderes Leben geführt, als es die Erwartung, die in die Grundsteine des Elternhauses verbaut wurde, vorgesehen hatte. Wir wollen nicht zurück. Und dennoch wollen wir die Eltern gut versorgt wissen. Gut fünfzig Jahre, nachdem die Häuser in unserer Straße gebaut worden sind, gibt es nur in einem einzigen Haus in der ganzen Nachbarschaft den Generationenwechsel, den sich die Eltern damals vorgestellt hatten. Nur in einem Haus wohnen jetzt »die Jungen«. Alle anderen kommen nur zu Besuch. Aus München, aus Berlin, aus Avignon, es hat uns weit hinausgetrieben in die Welt.

Also – vorwärts fest den Schritt. An diesem Sonntag jedenfalls fühlt es sich richtig an, den Schritt zu gehen. Denn wir haben uns Zeit genommen. Zeit für die Mutter, um auszuprobieren, ob sie den Schritt wirklich schafft, der sich doch eher anfühlt wie ein Sprung: vom großen Haus in eine kleine betreute Wohnung. Vom vertrauten kleinen Dorf in die große Stadt. Nach Stuttgart, näher bei den Töchtern.

Ein Jahr Zeit aber auch für uns Töchter, die Dinge unserer Kindheit noch mal genau anzuschauen. Wir hätten einfach ausräumen lassen können, entrümpeln, entsorgen. Aber so war es für die Seelen einfacher nachzukommen. Diese Puppe noch mal in die Hand nehmen und jenes Fotoalbum. Verstehen, wo wir selber herkommen, damit wir befreiter einbiegen können in die nächste Kurve unseres Lebens.

Aber klar ist auch: Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Für meine Mutter nicht – sie muss es jetzt wirklich schaffen im neuen Zuhause. Für mich nicht. Sollte mich Arbeitslosigkeit, Scheidung oder plötzliche Armut überfallen – ich kann nicht mehr zu Hause unterschlüpfen. Ich fürchte, ich muss jetzt wirklich erwachsen werden. Meine Mutter und ich, wir singen jetzt laut. Sehr laut.

KAPITEL 2

Schwindel im Kletterpark

Wie man sich lange dagegen wehren kann. Und dann doch erkennt: Wir müssen uns vom Elternhaus trennen.

Ein Jahr zuvor. November 2016. Eine Umzugsfirma, die auf Seniorenumzüge spezialisiert ist, schickt uns einen kleinen Transporter. Einen Ford Transit, den kleinsten aus der Fahrzeugflotte. »Ist nur zur Probe mit dem Umzug«, erklärt meine Mutter den Arbeitern, die nur einen Tisch, zwei alte Stühle und das Bett einpacken sollen. Und ein paar alte Töpfe. Den am besten deutschsprechenden Möbelpacker nimmt sie sich extra zur Brust: »Gucken Sie sich gut um hier, Sie müssen mich in einem Jahr wieder zurückbringen, wenn es nicht klappt.«

Zur Probe? Mit 87? Ob man da noch viel ausprobieren kann? Ja, man kann. Unsere Eltern sind ja nicht wie wir zehnmal im Leben umgezogen. Woher sollen sie denn wissen, ob ein Neuanfang gelingt? »Ich probier das mit Stuttgart«, sagt meine Mutter allen, die ungläubig fragen, ob sie wirklich, wirklich das schöne Haus verlassen wolle. Ein Haus! In der Nähe vom Bodensee! Nach fünfzig Jahren? Das macht man doch nicht! Die Vokabel »probieren« klingt wie eine Besänftigungsformel.

Im Nachhinein entpuppte sich das Jahr »Probezeit« als die beste Idee von allen. Schon allein, weil sie signalisierte: Das Leben ist nicht vorgezeichnet. Man kann es gestalten, selber entscheiden, auch wenn oft Krankheiten, finanzielle Nöte oder sogar Todesfälle mitspielen. Im hohen Alter sind nicht mehr alle Optionen offen. Aber man kann noch eigene Entscheidungen fällen. Ein gutes Gefühl. Man nennt es Freiheit.

Ganz freiwillig ist es allerdings nicht, das Probejahr. Es ist der Kompromiss zwischen uns dreien.

Meiner Mutter, die entschieden hat, auszuziehen – aber mit jedem Tag, an dem der Termin näherrückt, Respekt vor der eigenen Courage bekommt.

Meiner älteren Schwester, die sich voller Tatendrang um die neue Bleibe gekümmert hat, um Mietverträge, Kautionen und Pflegevereinbarungen – aber doch innig verbunden ist mit dem Haus, sogar noch ein perfekt eingerichtetes Mädchenzimmer dort hat, mit Enid-Blyton-Büchern im weißen Schleiflackregal und Fotos vom Landschulheim an der Wand.

Und mir, die ich am liebsten eine schnelle Entscheidung gehabt hätte – aber verstehe: Wenn die Mutter sich schnell entscheiden muss, sagt sie Nein. Und dann reden wir wahrscheinlich erst dann wieder über das heikle Thema, wenn ein Notfall eintritt. Ein Knochenbruch, ein Autounfall. Also lieber jetzt zur Probe das Haus räumen. Lieber jetzt, wo sie noch weitgehend gesund ist. Lieber so lange pendeln zwischen dem alten und dem neuen Leben, bis alle so weit sind, einen gemeinsamen Schnitt zu machen.

Wann ist nun der richtige Zeitpunkt für den Abschied vom Elternhaus? Nun ja: Es gibt ihn nicht. In vielen Fällen bleiben die Eltern zu lange zu Hause und lassen sich nicht helfen – bis die ganze Fassade aus unzähligen Kompromissen und Notlösungen zusammenbricht und Mutter oder Vater in die Kurzzeitpflege der Kliniken geraten – dehydriert und verwirrt. Es ist aber auch vollkommen individuell, was richtig ist. Unser Weg ist für uns richtig, nicht unbedingt für alle. Die Fragen sind endlos: Ab wann soll eine Pflege ins Haus kommen? Ist betreutes Wohnen nicht besser? Wie machen wir das mit dem Essen? Es gibt keine Standardlösung, das ist sicher. Man muss rechtzeitig darüber reden, den Weg langsam und gemeinsam gehen – das ist der vielleicht wichtigste Punkt. Viele räumen das Haus erst aus, wenn die Eltern tot sind.

Ich bin froh, dass mir das erspart geblieben ist. Das Elternhaus ausräumen und die Eltern nicht mehr fragen können, was da an Geschichten war mit dieser Puppenstube. Mit jener Urkunde. Wie traurig es sein muss, Fotoalben alleine ausräumen zu müssen, ohne noch einmal gemeinsam darin blättern zu können. Ich hätte sicher viele Tränen vergossen.

Auch wir haben spät begonnen, über das Thema »Haus« zu sprechen. Dabei hätte es so viele Anlässe gegeben. Mein Vater starb, als meine Mutter dreiundsiebzig Jahre alt war. Wie schlau wäre es gewesen, schon damals gemeinsam über einen Neustart zu sprechen. Aber wir Töchter waren zu sehr mit unserem eigenen Leben beschäftigt. Ich war frisch geschieden mit zwei kleinen Kindern. Meine Zeitung, »Die Woche«, hatte von heute auf morgen pleite gemacht. Für mich war das Haus eine Zuflucht. Gerade jetzt, wo mein Vater gestorben war, wo ich selber in eine finanzielle Schieflage geraten war, fuhr ich so oft es ging mit meinen Kindern hin. Die Totenstille wurde von Kinderstimmen übertönt. Es war gut so. Aber es war auch eine vertane Chance: Mit dreiundsiebzig hätte meine Mutter noch viel mehr Wurzeln an einem neuen Ort schlagen können.

Mit einundachtzig hatte sie dann einen leichten Herzinfarkt, zwei Jahre später einen leichten Schlaganfall. Beide Male: große Panik bei den Töchtern. Mit dem nächsten ICE runter zum Bodensee, das Handy immer am Ladekabel, bloß keinen Anruf verpassen, das typische Schicksal aller berufstätigen Kinder. Wie oft höre ich im Großraumwagen diese Handytelefonate: »Bitte geben Sie mir den Oberarzt! Nein, ich kann nicht in dreißig Minuten da sein. Wie, Sie wollen morgen schon meine Mutter entlassen? Das geht nicht.«

Ich hatte solche Dialoge bereits unzählige Male mitgehört, nun traf es uns selber. Die Mutter, die uns immer umsorgt hatte, die uns Maultaschen gekocht, Marmeladegläser gefüllt und den von Windpocken geplagten Enkeln kalte Wickel um die glühenden Waden gewickelt hatte. Sie lag nun selber im Krankenhaus. Als sie den Schlaganfall hatte, waren wir zufällig in den Ferien dort, mitsamt dem französischen Austauschschüler. Die Großen backten Kuchen und schleppten ihn dann auf die Intensivstation, der Kleine nahm sein »Elfer-raus«-Kartenspiel und probierte aus, ob die Oma mit ihren Doppelbildern im Hirn schon die grüne Elf von der blauen unterscheiden konnte.

Abends, als wir vom Krankenhaus nach Hause kamen, waren wir zum allerersten Mal ohne Oma dort. Die Nachbarin zur Linken guckte ab und zu, ob wir beim Kuchenbacken nicht allzu viele Teigspritzer hinterließen. Die Nachbarin zur Rechten wunderte sich, dass nach fünfzig Jahren, in denen der Balkontisch immer auf dem Balkon gestanden hatte, nun plötzlich eine lange Tafel im Garten gedeckt wurde.

Es waren seltsame Sommerferien im Elternhaus ohne Oma. Die Vormittage verbrachten wir am Krankenbett, nachmittags machten wir Ausflüge an den Bodensee – wie immer im Sommer. In Immenstaad, in einem Kletterwald, den wir schon oft besucht hatten, merkte ich zum ersten Mal, dass sich bei mir etwas verändert hatte. Ich stand oben auf dem schwankenden Seil und musste direkt wieder absteigen. Ich bin normalerweise der Typ »schwindelfrei«, noch nie hatte mir der Blick in den Abgrund etwas ausgemacht. Doch jetzt musste ich wie ein doofer Angsthase zurück zum sicheren Buchenstamm, die Leiter hinunter zur Erde. Mir fehlte der Boden unter den Füßen. Die Kinder mussten alleine weiterklettern. Da merkte ich zum ersten Mal: Das Fundament, es schwankt. Der Vater tot, die Mutter lebensbedrohlich erkrankt – und das Haus?

Ach, hätten wir es damals nur verkauft. Es wäre gut gewesen. Aber wir haben es nicht getan, und daran ist auch dieser blöde Nachmittag auf dem Seil schuld. Als ich wieder ins Elternhaus kam, war ich froh, dass es noch stand.

Hinzu kam: Mir fehlte die Fantasie, wo meine Mutter wohnen könnte, wenn sie es im Haus nicht mehr schaffen würde. Seit meinem Abitur in Ravensburg waren mehr als dreißig Jahre vergangen, vieles hatte sich verändert. Ich kannte mich vor Ort nicht mehr so gut aus. Schließlich rief ich meinen alten Klassenlehrer an, der selber inzwischen im Ruhestand war. Ich dachte: Der weiß bestimmt, wo es eine Einrichtung für betreutes Wohnen gibt. Bis ich merkte: Er hat selbst Angst vor dem hohen Alter. Es wurde ein Gespräch über das Thema, wie man um jeden Preis im eigenen Haus bleiben kann. Polnische Pflegerinnen, Taxi statt Auto, Badewannen-Einstieg von unten. Solche Sachen. Keine Hilfe – dafür war es einfach schon zu spät.

Einzig eine Sozialarbeiterin aus einem Alt-Jung-Wohnprojekt, die ich mit meinen Journalismus-Schülern vor Jahren interviewt hatte, sprach Tacheles: »Ihre Mutter hat jetzt zwei gelbe Karten bekommen. Sie werden sehen: Je älter sie wird, desto höher der Aufwand, das Eigenheim in Schuss zu halten, und desto geringer der Gewinn.« An den Satz habe ich später oft gedacht. Aber sie sagte auch, wir seien reichlich spät dran mit der Idee, das Haus zu verkaufen und stattdessen eine seniorengerechte Wohnung zu erwerben. Die seien alle schon verkauft, bevor der erste Spatenstich erfolgt, wusste sie, Wartelisten bis unendlich, und ich glaubte ihr sofort. Zinsen im Dauertief, Schwaben haben Geld. Alle Immobilien, die fürs Alter gerecht wären, schon weg. Und für das Alt-Jung-Projekt, das sie selber managte, sei meine Mutter leider schon ein bisschen zu alt. Das saß.

Man hört solche Sätze und trägt sie dann vor, wenn es passt. Natürlich hätte man auch damals, wenn man sich dahintergeklemmt hätte, etwas gefunden, Zinsniveau und Immobilien-Flaute hin oder her. Aber es war offenbar für uns alle drei noch zu früh.

Und so trainierte meine Mutter mit der ganzen Entschlossenheit einer schwäbischen Nachkriegs-Trümmerfrau – damit sie wieder zurück in ihr Haus konnte. Ging jeden Tag zur Orthoptistin, um ihren Augen die Doppelbilder wieder abzutrainieren, und strampelte auf dem Hometrainer, den mein Vater in den Achtzigern gekauft hatte. Wir räumten die losen Teppiche und andere Stolperfallen weg, ließen den Schreiner neue Handläufe an der Treppe anbauen und Haltegriffe in der Dusche. Hauptsache, der Status quo bleibt erhalten.

Es war fast ein Wunder, dass wir es dann doch noch packten. Es war kein Notfall, der das Thema auf den Tisch brachte. Es war ein schleichender Prozess. Es war das ganz normale Altern.

Von uns allen dreien.