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Alexis will nicht aufgeben. Er hat einen Plan geschmiedet, um die gewohnte Ordnung der Dinge wiederherzustellen. Indessen sieht June sich veränderten Bedingungen gegenüber: Jäger, Menschen und Vampire leben in einem fragilen Frieden zusammen. June selbst ist zu einer tragenden Säule dieses Friedens geworden und hat sich dazu notgedrungen mit dem Vampirkönig arrangiert. Aber wie soll gerade ihr früherer Feind jetzt ein verlässlicher Partner sein? Zudem ist die Zusammenarbeit von June und Reginald nicht nur Alexis ein Dorn im Auge ...
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Seitenzahl: 300
Veröffentlichungsjahr: 2020
Alexis sah sich mit ernster Miene erneut in der Runde um. Die meisten der Vampire hier waren jung, jünger als er selbst zumindest. Eine traurige Erkenntnis, die er im Laufe der letzten Wochen gewonnen hatte, erklärte diesen Umstand: Vampire konnten eigentlich sehr alt werden und einen Menschen um ein Vielfaches überleben, aber die Mehrheit seiner Artgenossen überstand kaum die Dauer eines durchschnittlichen Menschenlebens. Oftmals gingen sie zu unvorsichtig mit ihrer Existenz um und fielen so den Vampirjägern zum Opfer. Diese Tatsache bestätigte sich nun in Paris ebenso, wie zuvor in London. Überwiegend traf Alexis daher auf junge Vampire, wenn er Verbündete suchte, doch diese Vampire hatten wenig Interesse daran, was sich in der Welt außerhalb ihrer Heimatstadt abspielte. Sie wollten ihre neugewonnene Unsterblichkeit auskosten und würden so bald den Jägern zum Opfer fallen. Die meisten hatten noch nie von dem Möchtegern-Vampirkönig Reginald gehört oder störten sich nicht an seiner Existenz. Er war ja nicht hier und daher nicht ihr Problem. Dabei gehörte auch Paris zu Reginalds Einflussbereich, weil bereits vor Jahren ein Großteil der älteren Vampire hier ihm die Treue geschworen hatte, und offenbar standen sie immer noch zu ihrem Wort. Die jüngeren Vampire interessierte es nicht, ob es einen Vampirkönig gab und was er tat, so lange er sich nicht in ihre Angelegenheiten einmischte. Alexis steuerte auf Pierre zu, der ihn am Tresen einer Kellerbar voller Vampire erwartete. Bei Pierre war er vor einer Woche auf offene Ohren gestoßen. Offenbar hatte der selbst vor einigen Jahren den Platz eines der einflussreichsten Vampire eingenommen, da jener scheinbar spurlos verschwunden war. Sehr wahrscheinlich hatte Pierre den Vampir verschwinden lassen, um dessen Platz einzunehmen. Genau das machte ihn zu einem geeigneten Partner für Alexis‘ Vorhaben. »Ich breche morgen auf«, erklärte Alexis ruhig, als er sich neben Pierre stellte und das angebotene, bauchige Glas voller Blut entgegennahm. Der Franzose nickte. »Hast du weitere Verbündete gefunden?« Widerwillig schüttelte Alexis den Kopf. Leider kam er mit seinen Rekrutierungsbemühungen nur schleppend voran. In den letzten Monaten hatte er zahlreiche Städte bereist und nie mehr als ein oder zwei Mitstreiter gefunden, wenn überhaupt. Das machte das Ganze zwar frustrierend, änderte aber nichts an seinen Plänen. Trotz seiner Enttäuschung würde er nun die Rückreise antreten, weil er keine andere Wahl hatte und es vermutlich nicht helfen würde, noch länger durch Paris zu streifen. Er hatte sich mit seinen Verbündeten aus den übrigen Städten auf einen konkreten Termin geeinigt, an dem sie sich zum Angriff sammelten, und dieser Tag rückte gefährlich nahe. Ihm lief die Zeit davon und er wollte nicht riskieren, die bereits gefundenen Mitstreiter zu verlieren. Es hatte auch Vorteile, dass er nun mit nur einem guten Dutzend Männer angreifen würde. Eine große Armee würde Reginald vermutlich bemerken, sobald sie in die Nähe seines Herrschaftssitzes kam, doch eine Handvoll entschlossener Kämpfer konnte sich hoffentlich unbemerkt nähern. Trotzdem wäre Alexis froh, wenn er mit Pierre einen mächtigen Verbündeten hätte, obwohl der Pariser wahrscheinlich einer derjenigen Mitstreiter wäre, mit denen er später Probleme bekommen könnte. Mehrere von Alexis‘ neuen Freunden hatten sich ihm nicht angeschlossen, weil sie sich an Reginalds Machtansprüchen störten, sondern weil sie seinen Thron wollten. Alexis hatte damit bisher kein Problem, er selbst war ja nicht darauf aus, Reginalds Platz einzunehmen. Er wollte lediglich June befreien, dass er dazu Reginald stürzen würde, war ein Nebeneffekt, auf den er sich freute, allerdings nicht aus machtpolitischen Gründen. Diesen großkotzigen Vampirkönig mochte er einfach nicht, deshalb wollte er ihn am Boden sehen. Alles Weitere war für Alexis nicht von Bedeutung. Sollten die anderen sich doch später um den begehrten Posten prügeln. »Hast du genug Mitstreiter für deinen Plan?«, hakte Pierre interessiert nach, wobei er sich sein graugefärbtes, schulterlanges Haar zur Seite strich. Zweifellos war er jemand, der sich gerne inszenierte, womit er etwas gemeinsam hatte mit Reginald. Möglicherweise wollte er diesen deshalb bekämpfen, die Welt brauchte keine zwei Vampirkönige – vermutlich brauchte sie nicht einmal einen. Aber es war Alexis egal, was Pierre vorhatte, selbst wenn der sich irgendwann zum Kaiser der Vampire krönen sollte. Solche Machtfragen interessierten Alexis nicht. Alexis lächelte selbstbewusst. »Je mehr, desto besser«, versicherte er gelassen und darum bemüht, sich nicht anmerken zu lassen, dass er durchaus Bedenken hatte. Erstens hatte er viel weniger Unterstützer gefunden, als er sich erhofft hatte, zweitens hatte er nicht im entferntesten so etwas wie einen Plan. Wie sollte er auch einen Plan schmieden, wenn er nicht wusste, was ihn in jener Stadt erwartete? Er war nicht einmal sicher, ob die Jäger auf seiner Seite oder auf Reginalds standen. Ganz zu schweigen von der Frage, wie June sich verhalten würde. Pierre musterte ihn erneut nachdenklich, bevor er langsam nickte. »Ich habe da ein paar Männer, die sich bereits auf den Weg zu eurem Treffpunkt gemacht haben. Ich hoffe, sie werden dir von Nutzen sein.« Natürlich wagte Pierre sich nicht selbst in den Kampf. Er war aus der Phase seines Lebens längst heraus, in der er um seinen eigenen Platz persönlich gekämpft hatte, jetzt hatte er dafür Untergebene. So konnte Pierre notfalls auch bestreiten, dass er Alexis‘ Angriff auf Reginald unterstützt hatte. »Sehr großzügig von dir.« Alexis lächelte erleichtert. Majestätisch gönnerhaft nickte Pierre. Natürlich war er nicht großzügig. Er wollte nur eine sich bietende Gelegenheit nutzen. Die Männer, die er entsandt hatte, sollten nach gewonnener Schlacht seinen Anspruch auf den Thron durchsetzen. »Warum tust du das? Warum wagst du diesen Kampf, obwohl es dich dein Leben kosten könnte«, erkundigte sich Pierre nun ruhig, obwohl er das vielleicht besser hätte fragen sollen, bevor er seine Unterstützung zusagte. Gelassen zuckte Alexis mit den Schultern, denn seine Gründe hatte er in den vergangenen Monaten bereits so oft darlegen müssen, dass er seinen Text auswendig kannte. »Reginald beansprucht einen Platz, der ihm nicht zusteht. Obendrein macht er gemeinsame Sache mit Jägern und zeigt ihnen die Verstecke der Vampire. Er verrät das Volk, dessen König er sein will. Das muss ein Ende haben!« Dabei war es Alexis eigentlich egal, was Reginald tat oder warum er es tat. Sollten er und die Jäger doch die Vampire in Angst und Schrecken versetzen, bis die Furcht ihrer Gegner ihnen letztlich das Genick brach! Alexis wollte lediglich verhindern, dass June in diesem Chaos zu Schaden kam. Er wollte sie befreien und den Rest sollten die anderen unter sich ausmachen. Erneut nickte Pierre offenbar zufrieden mit dieser Antwort, obwohl sie eine Lüge war. Vielleicht glaubte er Alexis, vielleicht hatte er aber auch einfach kein Interesse daran, sich mit ihm zu streiten. Letztlich wollte der Franzose vermutlich nur sicherstellen, dass Alexis nicht vorhatte, selbst Reginalds Platz einzunehmen. »Dann wünsche ich euch viel Erfolg und bin gespannt, was man über euren Kampf erzählen wird.« Er klopfte Alexis noch einmal auf die Schulter, so hart, dass es sogar ihm schmerzte. »Ich wäre froh, meine Leute lebend wiederzusehen.« Aber auf Alexis konnte er wohl verzichten, vielleicht hatte er sogar den Befehl gegeben, ihn nach gewonnener Schlacht aus dem Weg zu räumen – nur um ganz sicher zu gehen, dass er nicht doch versuchte, selbst König der Vampire zu werden. Pierre war ein Verbündeter, dem schwer zu trauen war, aber immerhin war er ein Verbündeter mehr.
June atmete erleichtert auf, als sie aus dem staubigen Keller wieder hinaus an die warme Nachtluft trat. Die Jäger folgten ihr nach und nach. »Sieben auf einen Streich!«, verkündete Jungjäger Paul zufrieden, als er sie einholte und sich den Aschestaub der toten Vampire von der Lederjacke klopfte. Er war zurecht stolz und untertrieb noch, insgesamt hatten sie fast ein Dutzend Vampire ausgeschaltet, ganz wie Reginald angekündigt hatte. Elf Vampire, die vor Kurzem eine Blutbank überfallen und dort eine Krankenschwester getötet hatten. Den Raub an sich hätte man ihnen vermutlich durchgehen lassen, den Mord allerdings nahm Reginald so ernst, dass er die Todesstrafe verhängt hatte. Wie vor Monaten angekündigt ließ er konsequent jeden Vampir, der einen Menschen tötete, hinrichten und hatte auch kein Problem damit, selbst Hand anzulegen, wenn kein Jäger zur Stelle war, um dieses Urteil zu vollstrecken. Dadurch hatte er seinen Standpunkt inzwischen so klar gemacht, dass viele Vampire nun bereitwillig diejenigen Artgenossen verpetzten, die nicht den Vorgaben folgten. Alle glaubwürdigen Informationen gab Reginald an June weiter, damit sie mit den Jägern Ordnung schaffen konnte. Obwohl es viele am Anfang bezweifelt hatten, funktionierte dieses Konstrukt. Die Jäger beschränkten sich darauf, die Vampire zu jagen, die ihnen Reginald vorgab, und immer mehr Vampire fügten sich Reginalds Gesetzen. »Es hat sich gelohnt«, stimmte June halbherzig zu. Vampire zu jagen war für die Jäger die natürlichste Sache der Welt und sie als Tochter eines Vampirjägers, verstand sie, was ihre Begleiter dachten. Doch sie war nun mal auch eine Vampirin und als solche war es ein seltsames Gefühl, dass sie ihre Artgenossen jagte. Reginald schien keiner Bedenken in dieser Richtung zu haben, stets gab er sich vollkommen überzeugt von dem, was er tat, auch wenn er immer wieder Kritik von anderen Vampiren erhielt. June allerdings war sich nie sicher, ob sie auf der richtigen Seite stand. Natürlich war es unstrittig, dass die zum Tode verurteilten Vampire unschuldige Menschen getötet hatten und daher aus dem Weg geräumt werden mussten, doch damit stützte sie ständig Reginalds Machtposition. Dazu hatte sie sich verpflichtet, aber war es wirklich das, was sie tun sollte? War er der Richtige als Anführer für die Vampire? Jemand, der ohne Zögern seine eigenen Leute töten ließ und sich mit dem früheren Feind verbrüderte? Angeblich hatte er keine andere Option, um Ordnung zu schaffen. Es gab kein Gefängnis, in dem man Problemvampire einsperren könnte, und Reginald hatte offensichtlich auch keine Ambitionen, eines zu errichten. Vermutlich wäre es aussichtslos, beinahe unsterbliche Wesen mit lebenslangen Haftstrafen zu belegen. Das war zumindest eine Rechtfertigung für sein Vorgehen und mit dieser Erklärung im Hinterkopf konnte June mit ihm arbeiten, doch das war keine ausreichende Grundlage, um ihm zu vertrauen. Dazu war sie nicht imstande, schon allein weil sie kaum etwas über ihn wusste. Er gab nur wenig über sich preis und aus dem, was er über sich sagte, konnte June nur erahnen, dass er von einer Zeit geprägt war, in der Übeltäter nicht eingesperrt, sondern gehängt wurden. »Und keiner von uns hat einen Kratzer abbekommen!«, freute sich Paul weiter, als wäre June nicht selbst dabei gewesen und hätte gesehen, wie der Kampf verlaufen war. Diese Kämpfe endeten zur Zeit immer erfolgreich für die Jäger. Dank Reginald wussten sie meist bereits im Voraus genau, wo sie ihre Gegner suchen mussten, wie viele es waren und ob sie bewaffnet waren. Mit diesen Informationen konnten sie sich so gut vorbereiten, dass es leichte Kämpfe waren, zumal die Jäger jahrelange Übung darin hatte, mit Vampiren fertig zu werden. Obendrein konnten sie nun, da sie weniger Vampire bekämpfen mussten, mehr Energie in die verbleibenden Kämpfe stecken. »So soll es auch sein«, stimmte June lächelnd zu, während sie ein paar menschliche Nachtschwärmer auf dem Weg von einer Disco nach Hause beobachtete. Diese Menschen ahnten gar nicht, dass diese Stadt inzwischen unter der Kontrolle eines Vampirs stand, genauso wenig wie sie früher geahnt hatten, dass die Jäger sie Nacht für Nacht beschützten. Damals hatten die Jäger ständig ihr Leben aufs Spiel gesetzt und es waren viele von ihnen gestorben. Inzwischen waren schon Verletzungen eine Seltenheit geworden und das hatten sie ausgerechnet einem Vampir zu verdanken. Eine Wendung, an der die Jäger immer noch zu knabbern hatten, doch die neue Sicherheit ermöglichte ihnen einen Lebensstil, den sie durchaus genossen. Sie schlossen wieder mehr Freundschaften untereinander, zudem hatten allein in den letzten drei Monaten zehn Jäger ihre Verlobung bekanntgegeben, die davor stets behauptet hatten, ihr Beruf mache einen Bund fürs Leben unvorstellbar. Nun standen sie zu ihren bisher heimlich geführten Beziehungen und begannen, eine Zukunft zu planen, die mehr als drei Wochen umfasste. Eigentlich sollte June glücklich darüber sein, doch noch konnte sie nicht an den Frieden glauben. Weil sie selbst Tochter eines Vampirjägers war, wusste sie, wie schnell das Leben auf den Kopf gestellt werden konnte. Ihr Vater hatte einst eine Familie gegründet, obwohl ihn seine Kollegen davor gewarnt hatten. Er hatte ein bisschen mehr vom Leben gewollt als die anderen, aber letztlich waren all seine Töchter Vampiren zum Opfer gefallen. Diese Vergangenheit gab ihr nicht viel Hoffnung für die Zukunft der Jäger, die jetzt ebenfalls an Familienplanung dachten. »Ich hätte nie gedacht, dass es sich mal gut anfühlen könnte, mit Vampiren zusammenzuarbeiten«, versicherte Paul grinsend und schlug ihr auf die Schulter. »Auf dich kann man sich einfach verlassen.« June zwang sich, zu lächeln. Sie mochte es nicht, wenn man sie an ihre Natur erinnerte, zumal sie sich immer noch nicht als Vampir empfand, obwohl sie unbestritten Blut trinken und Abstand von Sonnenbädern nehmen musste. Im Herzen fühlte sie sich immer noch den Jägern näher als den Vampiren, vielleicht auch weil sie ständig ihren Auftrag im Hinterkopf hatte. Wüsste Paul davon, hätte er sie wohl nicht als zuverlässig betitelt, denn bisher hatte sie jede Gelegenheit verstreichen lassen, das zu tun, was sie tun sollte. Ihr Vater musste bitter von ihr enttäuscht sein – wie so oft schon. »Immer gerne«, versicherte sie lächelnd, um sich den Schmerz nicht anmerken zu lassen, der sich gerade durch ihr Inneres fraß. Sie wollte ihren Vater nicht enttäuschen, aber sie war ebenso wenig von der Richtigkeit ihres Auftrags überzeugt, wie davon, dass sie Reginald vertrauen konnte. Hinter ihr schüttelte sich nun Manuel, die rechte Hand ihres Vaters und nun der eigentliche Anführer der Jäger, bevor er den letzten Staub von seinen Kleidern klopfte. Er hatte an diesem Abend alleine sieben Vampire vernichtet, Paul seinerseits zwei, June keinen einzigen. Es reichte, dass sie mit den Jägern kämpfte, sie musste nicht noch selbst Vampire töten. Natürlich würde sie es tun, wenn die Männer ihre Hilfe brauchten, aber meist begleitete sie die Männer nur, um zu verdeutlichen, dass sie auf Reginalds Befehl handelten. Außerdem war June froh, gelegentlich rauszukommen aus dem Hochhaus, in dem sie nun lebte und von dem aus Reginald die Stadt Stück für Stück an sich riss. »Du kannst Reginald berichten, dass das Problem gelöst ist«, versicherte nun Manuel, als bräuchte sie diesen Hinweis von ihm. Vielleicht fühlte er sich verpflichtet, eine Art Bericht zu erstatten. Dabei erwartete Reginald nichts dergleichen von ihr oder den Jägern. Er hatte seine Quellen und wusste vermutlich längst, wie der Kampf ausgegangen war. Die Jäger hatten vielleicht noch nicht realisiert, dass sie unter Beobachtung standen, aber June war sich dessen sicher, allerdings wusste sie bisher nicht, was sie daraus schließen sollte. Wollte Reginald sie beschützen? Oder misstraute er ihr? »Sollen wir dich nach Hause bringen?«, bot Manuel freundlich an. Er und die meisten Jäger glaubten immer noch, sie müssten June beschützen, weil sie in ihr nach wie vor ein Kind sahen. Dabei war sie nicht mehr die kleine Tochter des Vampirjägers, sondern eine Vampirin und obendrein die offizielle Anführerin der Jäger, auch wenn im Einsatz Manuel das Sagen hatte. Aber June brauchte keinen Schutz. Vor wem denn? Die Jäger würden sie wohl nicht einmal angreifen, wenn Reginald es befahl, und die Vampire würden es nicht tun, weil sie ihren König nicht verärgern wollten, und June derzeit sein liebstes Spielzeug war. Außerdem war sie durchaus in der Lage, sich zu verteidigen, falls irgendwer den Mut hätte, sie anzugreifen. Schließlich hatte sie oft genug gegen Vampire gekämpft, um zu beweisen, dass sie sich zur Wehr setzen konnte. Sie hätte nicht einmal Angst davor, sich mit Reginald messen zu müssen. Die Vorstellung, dass ihre brüchige Partnerschaft zu Bruch gehen könnte, machte sie allerdings doch nervös, auch wenn sie nicht daran glaubte, dass ihre Zusammenarbeit von langer Dauer sein würde. Sie wollte nicht, dass die Jäger zu ihrem alten Leben zurückkehrten und der Alltag wieder vom Tod bestimmt wurde. Der Frieden war zu schön, um wahr zu sein, dennoch wollte June, er könnte wahr sein. »Keine Sorge, ich kenne den Weg«, versicherte June lächelnd, bevor sie ihren Blick noch einmal über die versammelten fünf Jäger schweifen ließ, um zu überprüfen, dass nicht doch einer von ihnen zu schaden gekommen war. Glücklicherweise waren sie alle gesund – staubig, außer Atem und verschwitzt, aber wohlbehalten. Drei wurden nun zuhause sehnsüchtig von ihren Verlobten erwartet, da konnte June es ihnen nicht verdenken, dass sie erleichtert waren, dass sie nicht um eine Eskorte nach Hause bat. Zumal die Jäger alle lieber einen Bogen um Reginalds Hochhaus machten. Zur Not suchten sie June auch in ihrem Büro dort auf, aber im Grunde wollten die Jäger nichts mit der neuen Vampirzentrale zu tun haben, die sich jede Nacht mehr mit Vampiren füllte. Reginald wollte sein Wort halten und jedem Vampir Zuflucht dort bieten, der darum bat. Sie konnten in dem Hochhaus wohnen und er wachte darüber, dass dieses Zusammenleben friedlich ablief. Jäger waren verständlicherweise nicht gerne gesehen, auch wenn die Vampire aus Respekt vor ihrem König nicht wagten, einen von ihnen anzugreifen. Doch es lag stets eine gewisse Spannung in der Luft, wenn sich ein Jäger in das Gebäude verirrte.
June winkte den Jägern noch einmal und verschwand in der Nacht. Das Vampirdasein hatte durchaus seine Vorzüge. Sie war alles andere als müde trotz des zurückliegenden Kampfes und sie fühlte sich in der nächtlichen Dunkelheit nicht unbehaglich, weil sie fast so gut sehen konnte, wie bei Tag. Zudem wusste sie, dass sie körperlich allem, was ihr gefährlich werden könnte, überlegen war: Vampiren, weil von Ihnen wenige so viel Kampferfahrung hatten wie sie, und Menschen, weil sie ein Vampir war. So gesehen war das Vampirdasein durchaus annehmbar, doch es änderte nichts daran, dass sie ständig das Menschenleben vermisste: die warmen Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht, das morgendliche Erwachen beim Anblick der roten Sonnenscheibe, die sich über den Horizont hob, oder die friedlichen Stunden beim Beobachten des Sonnenuntergangs zwischen strahlenden Wolken. Dinge, die Vampiren kaum möglich waren, zumindest nicht ohne Hilfsmittel. Reginald hatte eine Lösung für dieses Problem, UV-Schutzfolie an den Fensterscheiben, was ihr erlaubte, Sonnenaufgang und -untergang zu beobachten, aber es war nicht dasselbe und fühlte sich nicht so magisch an. Dennoch war ihr Leben in Reginalds Hochhaus weitaus lebenswerter als zuvor mit Alexis und sie wusste, dass Reginald ständig bemüht war, ihr dieses Dasein angenehmer zu machen. Dabei spürte sie jedes Mal einen Stich des Schuldbewusstseins, wenn sie sich wohlfühlte. Es kam ihr falsch vor, glücklich zu sein, obwohl sie Alexis im Stich gelassen hatte. Es war noch dunkel, als sie das hellerleuchtet Vampirhochhaus erreichte, das Reginald als Verwaltungsgebäude einer Bank tarnte. Gleichzeitig nutzte er diese Tarnung, um irgendwelche Aktiengeschäfte abzuwickeln, und die waren wohl durchaus lukrativ, denn er verfügte zweifellos über ein gewisses Vermögen. So hatte er dieses Gebäude rechtmäßig erworben und auch alle Umbaumaßnahmen gewissenhaft bezahlt. In solchen Punkten unterschied er sich von vielen andere Vampiren, die leerstehende Gebäude besetzten und Menschen beklauten. Stattdessen beobachtete Reginald ständig die menschliche Welt und arrangierte sich mit ihr. June wusste inzwischen auch, dass der Vampirkönig seine Natur durchaus einzelnen Menschen offenbart hatte, beispielsweise Politikern, mit denen er gemeinsame Ziele verfolgte. Unbestreitbar war er wirklich darauf aus, die Stadt zu kontrollieren, und bezog das auch auf die darin lebenden Menschen. Das zeigte sich vor allem darin, dass er stets über alle Geschehnisse auf dem laufenden war. So wunderte es June nicht, dass sie ihn schon von außen am Fenster seines Büros stehen sah, als sie auf das Gebäude zuging. Von dort aus beobachtete er die Welt, wandte sich nun ab und verschwand. Sie könnte ja glauben, es wäre nur zufall, aber er war nun mal ein Vampir. Er hatte genauso gute Augen wie sie, die sie ihn über all die Stockwerke hinweg erkannt hatte. Vermutlich hatte er auf sie gewartet. June straffte sich und trat in die hellerleuchtete Lobby des angeblichen Bankgebäudes, ausgestattet mit edlem, teurem Marmor und einem leeren Empfangstresen, der nicht darüber hinwegtäuschen konnte, dass man hier beobachtet wurde. Die Vampire wechselten sich mit dem Wachdienst ab und verfolgten alle Geschehnisse mithilfe von Videokameras. Deshalb versuchte June unweigerlich, sich etwas größer zu machen, um nicht schwach zu erscheinen, obwohl sie manchmal daran zweifelte, ob sie in diesem Haus wirklich willkommen war. Aus dem Nichts bildete sich vor ihr eine schwarzgraue Wolke, aus der einen Moment später Reginald hervortrat. Diesmal in einem eleganten, schwarzen Anzug mit einer modernen samtschwarzen Veste über einem anthrazitfarbenen Hemd. Natürlich wusste er, dass sie hier unter Beobachtung standen, und hatte sich sicher auch deshalb für die Wolke und gegen den Aufzug oder gar die Treppe entschieden. »Mylady«, begrüßte er sie lächelnd, »wie erfreulich, dass du wohlbehalten zurück bist.« June zwang sich, sich ihrer Bewunderung für seine Fähigkeiten nicht anmerken zu lassen. Reginald musste nicht wissen, wie das auf sie wirkte. Früher hatte sie nicht geglaubt, dass es Vampire gab, die wirklich solche Filmkunststücke beherrschten. Die Jäger hatten so etwas immer als Märchen abgetan und auch jetzt wussten die Jäger noch nicht, dass Reginald diese Zaubertricks scheinbar mühelos vollführte. June hatte es ihnen bisher nicht gesagt, obwohl die Jäger darauf vertrauten, dass sie alle wichtigen Informationen weitergab. Allerdings konnte June noch gar nicht sicher sagen, wozu er wirklich imstande war – war er in der Lage, sich auch über kilometerweite Strecken so fortzubewegen? Wenn ja, dann tat er es zumindest nicht. Warum sie bisher den Jägern nicht einmal das gesagt hatte, was sie sicher wusste, konnte June sich selbst nicht erklären. Im Grunde sollte sie ehrlich zu den Jägern sein, schließlich waren diese Männer sozusagen ihre Familie und sie verließen sich auf June. Doch es kam ihr falsch vor, Reginald an die Jäger zu verraten. Angesichts dessen, dass er eigentlich sehr selbstbewusst war, war es vermutlich keine falsche Bescheidenheit, dass er diese besonderen Fähigkeiten selten zur Schau stellte. Er musste dafür andere Gründe haben. Vielleicht war es sogar so, dass er diese Fähigkeiten geheim hielt, um sie im Kampf als Überraschungselement einsetzen zu können. Wenn diese Vermutung zutraf und June die Jäger ins Bild setzte, brachte sie Reginald möglicherweise in Gefahr. Im Moment wusste sie nicht, ob sie das wollte. Andererseits hatte Reginald gerade wieder so eindrucksvoll unter Beweis gestellt, wozu er fähig war, dass es fast unsinnig erschien, ein Geheimnis daraus zu machen. Aber er hatte dieses Kunststück nun nicht grundlos vorgeführt, sondern vermutlich um Eindruck bei seinen Gefolgsleuten vor den Überwachungsmonitoren zu schinden. »Du hattest doch nicht daran gezweifelt, dass ich zurückkomme?«, witzelte June lächelnd. Inzwischen waren ihre Missionen mit den Jägern Routine geworden, sodass er wissen musste, dass sie weder die Gelegenheit zur Flucht nutzte, noch in Gefahr war. Reginald versuchte auch gar nicht, sie von diesen Einsätzen abzuhalten, das hatte er von Anfang an nie getan. In den ersten Wochen hatte er ihr lediglich Hausarrest verordnet, weil sie angeblich durch ihre Weigerung gegen das Trinken von Blut zu sehr geschwächt war, um mit den Jägern Vampire zu bekämpfen. Nachdem sie inzwischen immer wieder sein Blut getrunken hatte, hatte er sie bereitwillig ziehen lassen. Er sagte auch nicht so etwas, wie »Sei vor Sonnenaufgang zurück« oder »Ich erwarte deinen Bericht«, aber er hatte sie im Blick. Er erkundigte sich immer, wie ihr Streifzug verlaufen war, und hatte vermutlich ohnehin längst alles erfahren, von irgendwem, der sie beschattete. »Sollte ich daran zweifeln?« Er zog eine Augenbraue hoch und wandte sich dann dem Aufzug zu, um nun auf ganz herkömmliche Weise mit June den Weg zurück nach oben anzutreten. June schüttelte den Kopf. »Du weißt, dass ich zu unserem Deal stehe.« Sie stand dazu, dass er bestimmte, welche Vampire gejagt werden sollten, im Gegenzug hielt Reginald seine Artgenossen davon ab, Menschen zu töten. Anfangs hatte sich dieses Abkommen wie Wunschdenken angefühlt und sie hatten beide mit Widerständen zu kämpfen gehabt, aber nach sechs Monaten begann June, immer mehr daran zu glauben. Inzwischen standen auch viele Jäger dieser Vereinbarung scheinbar aufgeschlossener gegenüber, weil sie sich bewährt hatte. »Ich hatte eigentlich erwartet, dass die Jäger versuchen, dich von der Sache abzubringen«, gestand Reginald ehrlich und lächelnd, als sich die Fahrstuhltüren hinter ihnen geschlossen hatten, sodass keiner sie hören konnte. Er wusste, wann er was sagen konnte, wann sie beobachtet und wann unbeobachtet waren. So offen er sich als König der Vampire auch für seine Untertanen gab, so sehr filterte er doch, welche Informationen er zu ihnen durchdringen ließ. »Sie respektieren meine Entscheidung, dir zu vertrauen«, log June, denn vor allem respektierten die Jäger die Anweisung ihres Vaters, der sie ursprünglich angeführt und June seinen Posten überlassen hatte. Eigentlich hätte Rafael Meloy auf Reginalds Geheiß sterben sollen, doch er hatte ihn begnadigt, weil im Gegenzug June sich zu dieser neuartigen Zusammenarbeit verpflichtet hatte. Natürlich könnte ihr Vater nun in sicherer Entfernung einen Angriff vorbereiten, aber June vertraute darauf, dass er es nicht tat. Er setzte seine ganzen Hoffnungen in sie. Und scheinbar hatte er das auch den Jägern vermittelt, sodass sie sich June unterordneten. Bisher. »Das zeigt, was für eine außergewöhnliche Frau du bist, dass du selbst als Vampir noch die Jäger im Griff hast.« Es war merkwürdig. Wenn Reginald solche Dinge zu ihr sagte, tat es gut. Anerkennung war etwas, das June von den Jägern schon lange kannte, aber von den Vampiren schlug ihr gewöhnlich nur Misstrauen entgegen. Sie hatte sich von ihnen distanziert, weil sie anfangs nicht dazugehören wollte, und auch jetzt hatte sie noch Schwierigkeiten damit, sich selbst als Vampir zu akzeptieren. Sie war gegen ihren Willen verwandelt worden und hatte dieses Dasein von Beginn an gehasst. Seit sie ihre neue Aufgabe als Reginalds Partnerin im Kampf um den Frieden gefunden hatte, fühlte sie sich besser mit ihrem Dasein, obwohl es mehr Schein als Sein war. Von den Jägern wurde sie nur geduldet, weil es ihr Vater angeordnet hatte, und auch von den Vampiren wurde sie nicht wirklich akzeptiert. Gerade deshalb tat es ihr so gut, wenn Reginald ihr seine Anerkennung zeigte. »Wir dürfen uns nicht zu früh freuen, noch ist alles brüchig. Ein kleiner Rückschlag und es könnte alles zu Bruch gehen«, erinnerte sie ernst, obwohl er gar nicht ahnen konnte, wie realistisch so ein Rückschlag war. Allerdings würde er den Bruch ihres Bündnisses gar nicht mehr mitbekommen, wenn sie ihren Auftrag erfüllte und ihn umbrachte. »Hattet ihr denn heute Schwierigkeiten?«, hakte Reginald ernst nach, weil er wohl aus ihren Worten Zweifel herausgehört hatte. June schüttelte den Kopf und lächelte wieder. »Es ist ein Kinderspiel, seit wir von dir so detaillierte Informationen bekommen. Wir wissen, wo wir angreifen müssen, wen wir antreffen werden und wie viele Gegner uns gegenüberstehen. Das ist schon beinahe unfair.« Nicht, dass sie Mitleid mit diesen Vampiren hatte, aber es war ihr klar, dass es keine gerechten Kämpfe mehr waren. Früher hatte oft ein Jäger gegen einen Vampir gekämpft, abgesehen von den Großangriffen, bei denen eine Gruppe Jäger ein Vampirnest aushob. »Wenn Vampire ahnungslose Menschen angreifen und töten, ist das auch nicht fair«, erwiderte Reginald emotionslos, obwohl er von einem Todesurteil sprach, dass er gegen seine eigenen Artgenossen gesprochen hatte. Zweifellos war ihm auch bewusst, dass nicht alle Vampire mit seinem Vorgehen einverstanden waren, doch davon unbeeindruckt schien er stets überzeugt von dem, was er tat. Diese Entschlossenheit beeindruckte June immer wieder. »Aber bist du sicher, dass deine Artgenossen es verstehen, wenn du deinesgleichen den Jägern auslieferst?« Reginald zuckte mit den Schultern und ging voran, als sich die Aufzugtüren im Obergeschoss öffneten. Für seine und ihre Wohnräume hatte er das ganze Dachgeschoss ausbauen lassen, wohingegen die übrigen Vampire sich mit kleinen Zimmern auf den restlichen Stockwerken begnügen mussten. Doch bisher hatte June gehört, dass die Vampire sich über diese unterschiedlichen Lebensverhältnisse beklagten. »Ich biete all denjenigen, die sich meinen Regeln fügen Sicherheit, sogar die Sicherheit vor den Vampirjägern«, erinnerte Reginald voller Selbstbewusstsein. Vielleicht war dieses Angebot tatsächlich für die Vampire so verlockend, dass viele sich deshalb seinen Regeln beugten. Dabei hatte June nie geahnt, dass die Vampire so große Angst vor den Jägern hatten. Und nun hatten die Jäger ja gar nicht mehr die Freiheit, jeden beliebigen Vampir auszuschalten. Höflich hielt Reginald ihr die Tür zu ihrer Wohnung auf, bevor er ihr hinein folgte. Inzwischen pflegten sie ein gewisses Vertrauensverhältnis, sodass June nichts einzuwenden hatte, wenn er ihre Wohnung betrat. Dennoch vermied sie es weiterhin, seine zu betreten, weil diese für sie immer noch so etwas wie feindliches Gebiet darstellte. »Und du beherbergst zugleich die Anführerin der Jäger«, wandte June ruhig ein, in dem Wissen, dass viele Vampire einen weiten Bogen um sie machten und froh wären, wenn man sie ausquartierte. Auch ihm musste das bewusst sein. Müde ließ sich auf das neue Sofa fallen, das Reginald ihr gekauft hatte. Es war sonnengelb, obwohl er sonst zu eher dunklen Farben neigte. Offensichtlich hatte er es bewusst für sie ausgesucht, genauso wie die Bilder von Sonnenaufgängen, welche die Wände zierten. Es war beinahe unheimlich, wie gut er sich in sie hineinversetzen konnte, gerade weil Alexis es nie ansatzweise geschafft hatte, ihre Gefühle zu verstehen, obwohl er so oft seine Liebe bekundet und monatelang mit ihr zusammengelebt hatte. »Man könnte auch sagen, dass du meine Gefangene bist«, erklärte Reginald lächelnd und rechtfertigend, bevor er sich neben sie setzte. »Du solltest etwas trinken, June. Du warst im Kampfeinsatz und, auch wenn du mit solchen Situationen sehr gut umgehen kannst, wird es dich doch beansprucht haben.« June lächelte mit abwehrend erhobener Hand. »Es geht mir gut.« Das entsprach sogar den Tatsachen. Sie kam gut einige Tage ohne Blut aus, schließlich hatte sie es schon mehr als eine Woche ausgehalten. Allerdings wusste sie, dass er in dieser Hinsicht nicht mit sich reden ließ. Anders als Alexis, der sie verwandelt und es über Monate nicht geschafft hatte, sie zu überreden, menschliches Blut zu trinken. Dagegen überzeugte Reginald sie fast jede Nacht, etwas zu trinken. Doch er respektierte ihre Abneigung gegen Blut von Menschen und bot ihr stattdessen bereitwillig sein eigenes an. Alexis hatte ihr zwar auch immer wieder erlaubt, sein Blut zu trinken, aber er hatte sich dagegen gesträubt und angedeutet, dass andere Vampire dieses Verhalten missbilligen würden. Im Gegensatz dazu hatte Reginald scheinbar keine Bedenken, wie dieses Arrangement bei ihren Artgenossen aufgenommen werden könnten. Dennoch ahnte June, dass Alexis nicht so sehr im Unrecht gewesen war mit seinen Bedenken. Glücklicherweise hatte es bisher keine Situation gegeben, in der Außenstehende von Junes besonderer Verbindung mit dem Vampirkönig erfahren hatten, weil sie sich stets die notwendige Abgeschiedenheit suchten. Ihnen war wohl beiden bewusst, dass man beobachtete, wie eng ihr Kontakt zueinander war. Reginald sprach beinahe jeden Tag mit ihr, öfter als mit jedem anderen seiner Untergebenen. So würde es früher oder später auch die Runde machen, dass sie vom Blut des Vampirkönigs lebte, und dann würden vermutlich auch die Jäger davon erfahren. Deshalb versuchte June, diesen Vorgang so selten wie möglich zuzulassen, damit ihr Geheimnis lange gewahrt blieb. Reginald seufzte. »Das weiß ich, aber ich will nicht riskieren, dass es dir morgen schlecht geht.« Seine Miene wurde ernster und er legte freundschaftlich einen Arm um ihr Schultern. June störte sich inzwischen nicht mehr an derlei Gesten, weil es stets bei solchen harmlosen Berührungen blieb. Dennoch hatte sie nicht vergessen, dass er angekündigt hatte, Alexis‘ Platz in ihrem Leben einzunehmen. Er hatte damals nicht gesagt, wie er sich das vorstellte, aber sie ahnte, dass er damit mehr als Freundschaft und ihr Blut-Arrangement im Sinn hatte. Sanft zog er sie heran, bis sie dicht an seine Seite gelehnt saß. »Es gibt keinen Grund, warum wir hiermit länger warten sollten.« Vor ihren Augen führte er sein Handgelenk an seinen Mund, um hineinzubeißen. Obwohl June sich eigentlich nicht durstig fühlte, übte sein Blut auf sie eine gewisse Anziehung aus. Er war der Einzige, bei dem sie das Gefühl hatte, trinken zu können, ohne jemandem zu schaden. Reginald beteuerte immer wieder, dass er den Blutverlust problemlos verkraftete und sie glaubte ihm das. Im Sinne ihres Vaters müsste sie jede Chance nutzen, ihn zu schwächen, wenn sie ihr eigentliches Ziel erreichen wollte. Falls sie das wollte. In erster Linie und trotz ihrer Zurückhaltung war sie dankbar, dass Reginald ihr auf diese Art half, zu überleben, statt ihr weiter menschliches Blut aufzudrängen, wie es Alexis getan hatte. So machte Reginald es ihr leichter, zu akzeptieren, was sie nun war. Allerdings war June auch bewusst, dass sie abhängig von Reginald war. Er könnte ihren Durst eines Tages als Druckmittel gegen sie verwenden, damit sie sich seinem Willen beugte. Bisher hatte er das nie getan, aber war sie sicher, dass er es nicht irgendwann versuchen würde? Noch gab er sich stets hilfsbereit und verständnisvoll und vielleicht sollte sie besser so viel wie möglich trinken, bevor irgendwann seine Meinung änderte. Zögernd legte sie die Lippen um die blutende Wunde an seinem Handgelenk und trank, während er sie fest im Arm hielt. Es fühlte sich gut an, seine Umarmung genauso wie sein Blut. Nicht so, als müsste sie sich für das hier schämen oder ein schlechtes Gewissen haben. Sie schloss die Augen und spürte, wie die Anspannung dieser Nacht und des vergangenen Kampfes von ihr abfiel. Natürlich durften gerade die Jäger nichts von dieser speziellen Ernährung erfahren, weil sie dann nicht mehr glauben würden, dass June wirklich zu ihnen gehörte. Reginald hatte einmal erzählt, dass es unter Liebenden eine verbreitete Geste war, das Blut des Partners zu trinken. Die Vampire würden daher Junes Arrangement mit Reginald lediglich falsch interpretieren, für die Jäger wäre es wohl aber Verrat, wenn sie eine derartige Beziehung mit Reginald einging. Möglicherweise würden sie ihr auch gar nicht glauben, dass es nur um Blut ging, nicht um Zuneigung.
Wieder war ein Tag friedlich vergangen, zumindest soweit June das aus ihrem Glasturm heraus beurteilen konnte. Die Sonne war gerade untergegangen, also konnte sie auch erst jetzt aufbrechen und das würde sie tun, obwohl Reginald ihr diesmal keinen Auftrag gegeben hatte. Ohne seine Zustimmung durften die Jäger zwar keine Vampire töten, aber das bedeutete nicht, dass sie untätig abwarteten, bis der Vampirkönig den nächsten Einsatzbefehl gab. Die Jäger verließen sich nicht darauf, dass er immer über alles Bescheid wusste, was die zahlreichen Vampire in der Stadt taten. Weiterhin zogen sie in ihren Patrouillen durch die Straßen, auf der Suche nach gefährlichen Vampiren. Im Gegensatz zu früher mussten sie diese nun jedoch gefangen nehmen und zu Reginald bringen, was tatsächlich ein riskanteres Unterfangen war, als sie einfach zu vernichten. Glücklicherweise nahm die Zahl der Problemvampire stetig ab und die Jäger kehrten in den meisten Nächten mit leeren Händen zurück. Daher begleitete June die Jäger längst nicht mehr jede Nacht. Oft blieb sie in ihrem Büro und sammelte dort die Beobachtungen der Jäger, wie sie es schon früher getan hatte, als ihr Vater noch Kopf der Jäger gewesen war. An diesem Abend war sie allerdings mit Manuel verabredet, weil der sich angeboten hatte, um sie abzuholen. Er war bisher der einzige Jäger, der sich ins Vampirhochhaus wagte. Als er in der offenen Tür zu Junes Büro erschien, war an seiner Miene abzulesen, dass er seine Umgebung nicht gerade genoss. »Können wir?«, erkundigte er sich ungeduldig, ohne jede Begrüßung. June nickte und griff den Pflock, den sie sich erst an diesem Tag neu geschnitzt hatte. Eine lächerlich altmodische Waffe, die doch so viel Wirkung zeigte. Sichtlich froh, dass er sich bald wieder an der frischen Luft befinden würde, wandte Manuel sich bereits zum Gehen. Trotz seines offensichtlichen Unwohlseins wussten sie beide, dass es eine wichtige Geste war, dass er sich gelegentlich in Reginalds Machtzentrum wagte. Es zeigte, dass Vampire und Jäger einander tolerierten. Würden die Jäger immer vor dem Gebäude bleiben, würde es wirken, als wäre dieses Haus eine Zone, in der sie keinen Einfluss hatten. Aber das war es nicht, wenn es unter den Vampiren, die hier lebten, solche gäbe, die über die Stränge schlugen, würden die Jäger hier ebenso durchgreifen, wie im Rest der Stadt. Diese Botschaft vermittelten die Besuche des Jägers und deshalb mussten sie immer wieder stattfinden. Trotzdem war June jedes Mal froh, wenn diese Stippvisiten ereignislos zu Ende gingen. Sie hatte großen Respekt vor Reginald und hoffte, dass die Vampire ihn respektierten, doch das bedeutete nicht, dass die Vampire ihren uralten Hass auf die Jäger vergessen hatten. Leider war June auch nicht sicher, ob Reginald seine Leute aufhalten könnte, wenn die sich entschieden, Manuel anzugreifen. Möglicherweise wäre selbst June machtlos, weil die Vampire hier in der Überzahl waren. Wenn es notwendig wäre, würde Reginald wohl kaum sein Leben riskieren, um einen Jäger zu schützen. June indessen würde es tun, sie würde Manuel mit ihrem Leben beschützen, weil er zu ihrer Familie gehörte – zwar nicht genetisch, aber emotional. »Wie du hier nur leben kannst!«, murrte der Jäger bemüht leise, obwohl ihn die lauschenden Vampire dennoch hören würden, sie hatten schließlich ein ausgezeichnetes Gehör. »Es ist gar nicht so übel«, versicherte June ernst und musste dabei gar nicht lügen. Mit Alexis hatte sie in einer winzigen Wohnung auf einem ehemaligen Bauernhof gelebt, die heruntergekommen und unkomfortabel war. Hier stellte Reginald ihr ein Penthouse-Appartement und ermöglichte ihr obendrein, das Sonnenlicht zu sehen, wenn es auch nur durch die UV-Schutzfolie an ihren Fenstern war. Das war mehr, als sie sich von ihrem Vampirleben überhaupt erhofft hatte. »Ich bin nun mal eine von ihnen«, erinnerte June ernst, obwohl Manuel wusste, was sie war. Alle Jäger wussten es, selbst die unter ihnen, die es nicht direkt von ihr gehört hatten. Die Nachricht, dass die letzte lebende Tochter des berühmten Vampirjägers Rafael Meloy verwandelt worden war, hatte sich rasend verbreitet, und June machte sich nicht vor, dass alle Jäger damit so entspannt umgingen wie Manuel. Er kannte sie von Kindesbeinen an und hatte sich anscheinend entschieden, sie auch in dieser Form zu akzeptieren. Nur dank ihm und anderer treuer Untergebener ihres Vaters konnte sie als Vampir die Jäger anführen. Allerdings würde das nicht von Dauer sein, wenn sie nicht endlich ihren eigentlichen Auftrag erfüllte. »Aber du gehörst nicht wirklich dazu«, stellte Manuel ruhig fest und versetzte June damit einen Stich. Dennoch zuckte sie mit den Schultern, um sich gelassen zu geben. Ursprünglich hatte sie sich ja bewusst entschieden, dass sie nichts mit den anderen Vampiren zu tun haben wollte. Alexis hatte sie oft motivieren wollen, sich mit ihren Artgenossen zu unterhalten, aber sie hatte lieber mit ihrem Vater telefoniert, als könnte sie so an ihrem früheren Leben festhalten. Nun war sie zwar Teil der Gemeinschaft, weil sie sich öffentlich auf Reginalds Seite gestellt hatte, aber am Ende war sie weiterhin ein Sonderfall. Das würde so immer bleiben, weil sie von den Jägern abstammte und ihr Leben der Vampirjagd gewidmet hatte, auch als Vampirin. Inzwischen kam noch ein Faktor hinzu, der sie zunehmend isolierte. Die Vampire distanzierten sich auch deshalb von ihr, weil sie nicht einschätzen konnten, welcher Art ihr Verhältnis zu Reginald war. »Es ist okay«, versicherte sie und war sich doch bewusst, dass ihr Leben vor allem einsam war, weil sie weder zu den Jägern noch zu den Vampiren gehörte. Der Einzige, der sich daran scheinbar nicht störte, war Reginald, der sie als Mischwesen bezeichnete und genauso auch respektierte.