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Die Fortsetzung von "Die Tochter des Vampirjägers" Vampire sind böse, Jäger sind gut, so hat Junes Vater, der Vampirjäger Rafael, ihr einst die Welt erklärt. Doch dieses Weltbild steht kopf, seit der Vampir Alexis in ihr Leben getreten ist. Junes Welt hat sich verändert. Sie will mit Alexis ein neues Leben beginnen, fernab von den Vampirjägern und deren Schlachten. Aber das Leben unter den Vampiren fällt June schwer. Sie trauert der Vergangenheit nach und hält ständig Kontakt zu ihrem Vater. Wäre es vielleicht besser, sie wäre Alexis nie begegnet? Doch weder June noch die Jäger ahnen, dass die vergangenen Ereignisse weite Kreise gezogen haben. Vampirkönig Reginald hat Gerüchte gehört und will für Ordnung sorgen ...
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Seitenzahl: 266
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Die Tochter des Vampirjägers Band 2
»June!« Alexis‘ Stimme drang durch einen dichten blutroten Nebel zu ihr, aber ihr Mund war vor Trockenheit wie zugeklebt, sodass sie nicht antworten konnte. Sie hatte Durst. Alles andere war unendlich weit entfernt, sogar Alexis, der sie ungeduldig schüttelte, damit sie ihn ansah. Aber sie wollte ihn nicht ansehen. Sie wollte nicht mit ihm sprechen. Sie hätte ihm einen Pflock ins Herz stoßen sollen, als ein kreuzförmiges Brandmal auf der Schulter seine wahre Natur offenbarte. Stattdessen hatte sie zugelassen, dass er ihr Herz im Sturm eroberte, und trotz aller Warnungen hatte sie nicht wahrhaben wollen, dass die Liebe von Mensch und Vampir nur ein mögliches Happy End haben konnte. Nur war sie gar nicht happy in diesen Stunden, in denen der Durst sie überwältigte. »Du musst trinken, June!«, wiederholte Alexis eindringlich, vermutlich zum einhunderteinsten Mal. Das war ihr egal. Sie wollte es nicht und hatte es nie gewollt. Niemals würde sie einen Menschen beißen! Selbst die Blutkonserve, die Alexis ihr irgendwie beschafft hatte, wollte sie nicht annehmen. Dieses Blut hatte ein Mensch gespendet, um andere Menschen zu retten, nicht etwa um einen Vampir zu ernähren. Starb vielleicht nun irgendwo Jemand, weil Alexis dieses kostbare Blut gestohlen hatte, bevor es seinen eigentlichen Zweck erfüllen konnte? Wie konnten Vampire mit dieser Schuld leben? »June, verdammt! Ich kippe das Zeug einfach in den Abfluss, wenn du es nicht trinkst!«, drohte Alexis – wieder Mal. Dieselbe Diskussion führten sie inzwischen mindestens einmal pro Woche und er verlor jedes Mal. Sie hatte noch nie einen Menschen gebissen oder eine Blutkonserve ausgeschlürft, obwohl sie bereits seit sechs Monaten ein Vampir war. Sie sah verschwommen, wie Alexis‘ Hand mit der Blutkonserve über dem Waschbecken ihrer Zweizimmerwohnung zitterte. Er wollte standhaft sein und sie glauben machen, dass er tatsächlich tat, womit er ihr gedroht hatte, aber sie wusste, dass er das nicht konnte. Sein Blutdurst war so stark, dass er nicht widerstehen konnte, wahrscheinlich war er sogar froh, dass sie das kostbare Blut ablehnte, weil es so ihm freistand davon zu trinken. Sollte er doch. Der Plastikbeutel mit dunklem Inhalt landete geräuschvoll im Spülbecken und Alexis stapfte herüber zu der Couch, auf der sie sich unter einer warmen Decke eingekuschelt hatte. Obwohl der ohnehin nicht besonders harte Winter fast vorüber war, war June ständig kalt. Alexis führte das natürlich auf ihre Mangelernährung zurück. Er würde vermutlich alles sagen, damit sie Blut trank. Wenn es ihm nötig schien, würde er wahrscheinlich auch bereitwillig lügen. Brummend ließ er sich neben sie fallen. »Es tut mir leid«, krächzte June mit ausgetrockneter Kehle, während Alexis bereits einen Pulloverärmel hochschob, wenngleich sie ihn nie darum gebeten hätte. »Du wirst uns noch beide ins Grab bringen, June!«, murrte er bitter. »Und das ist schon eine beachtliche Leistung, da wir beide untot sind.« Aus der Tasche seiner Jeans zog Alexis das Taschenmesser hervor, das er stets mit sich trug, um sich gegen spontane Angriffe der Vampirjäger zu wehren. Geschickt klappte er es auf und zog die Klinge einmal über seinen Unterarm. Seinem Blut zu widerstehen war so viel schwerer. Eigentlich unmöglich. Es duftete verführerisch und Junes Gewissen hatte dagegen erstaunlich wenig einzuwenden. Welche Wahl hatte sie schon, wenn sie nicht verdursten wollte?
***
Reginald sah auf die Stadt herab. Sie war groß und vibrierte regelrecht vor Menschenleben. Den Leben dummer Menschen, die nichts ahnten, von den Schlachten, die sich hier scheinbar zutrugen. Dabei waren die örtlichen Vampire in hellem Aufruhr, weil eine Gruppe Jäger offenbar ihre Ausrottung anstrebte und bereits erstaunliche Erfolge erzielt hatte. Vampirjäger. Wie oft hatte Reginald in seinen 399 Lebensjahren mit diesen Exemplaren der menschlichen Spezies zu tun gehabt? Er zählte es nicht mehr und er hatte auch keine Angst vor ihnen. Im Laufe seines Lebens hatte er schon viele getötet. Bisher hatte er angenommen, dass die Vampire in dieser Stadt das Problem im Griff hatten. Offenbar ein Irrtum. Die Zahl der Vampire hatte sich innerhalb von zehn Jahren halbiert. Eine recht beeindruckende Leistung für ein paar Menschen. Zuletzt hatte es zudem den inoffiziellen Kopf der örtlichen Vampire dahin gerafft. Jason. Das war ärgerlich. Jason war ein rachsüchtiger und heißblütiger Mann gewesen, aber er hatte es verstanden, sich Respekt zu verschaffen. Er war nicht unbedingt perfekt für den Job des Anführers, weil es ihm stets an Weitsicht gemangelt hatte, dennoch war er besser als jeder andere Anwärter – zumal er Reginald immer treu ergeben gewesen war. Nach seinem Tod war ein gefährliches Machtvakuum entstanden. Indessen griffen die Vampirjäger scheinbar öfter als bisher sichergeglaubte Vampirverstecke an und die Vampire in ihrer Panik schlachteten unbeteiligte Menschen ab. Nicht nur, um sich zu ernähren, sondern um sich an den Jägern zu rächen, weil sie sich nicht trauten den eigentlichen Feind direkt anzugreifen. Leider übersahen die Vampire, welche Folgen ihr Handeln langfristig hatte: Wenn Menschen gehäuft starben, wurden andere Menschen misstrauisch und irgendwann würden sich schließlich menschliche Streitkräfte mit den Vampirjägern verbünden. Deshalb hatte Reginald entschieden, sich um die Sache zu kümmern, bevor die Lage außer Kontrolle geriet und sein ganzes Herrschaftsgebiet ins Chaos stürzte. Die Vampire in dieser Stadt benötigten einen neuen Anführer, der die Vampire wieder zu einem vernünftigen Lebensstil zwang. Natürlich musste er dazu das Jägerproblem lösen, vorzugsweise, ohne massenhaft unbeteiligte Menschen abzuschlachten. Die Jäger auszurotten konnte nicht das Ziel sein, denn das war schlichtweg unmöglich. Sie mussten nur in ihre Schranken gewiesen werden. Es ging um nichts Geringeres als die Rettung der Welt. Zumindest aus Sicht der Vampire.
June lächelte zum ersten Mal seit Tagen, als sie aus dem Bett schlüpfte und nach dem scheppernden Handy griff. Alexis brummte nur etwas darüber, was er von der Störung seines Schlafes hielt. Tagsüber war er zu so gut wie nichts zu gebrauchen, wohingegen June stets spätestens zum Mittag ausgeruht aufstand. Leider konnte sie am Tag nichts mit sich anfangen. Sie konnte nicht nach draußen gehen und nicht einmal aus dem Fenster sehen. Vielleicht telefonierte sie deshalb immer noch fast täglich mit ihrem Vater und das üblicherweise bei Tag, wenn er nicht arbeitete. Die Jäger behaupteten von sich, sie hätten zuviel Ehrgefühl, um tagsüber die schlafenden Vampire anzugreifen. Nach wie vor führte Rafael die Jäger an, nun zwar ohne Junes Unterstützung, aber genauso erfolgreich. »Hi, Dad«, flüsterte sie, um Alexis nicht weiter zu verärgern. Erst als sie das winzige Schlafzimmer verlassen und in der kleinen Küchenecke angelangt war – möglichst weit von Alexis entfernt – wagte sie in voller Lautstärke zu sprechen. Alexis war von ihren Telefonaten mit Rafael etwa so begeistert, wie sie davon Menschenblut zu trinken. »Hi, June. Ich hoffe, ich habe dich nicht…«, ihr Vater zögerte, weil er immer noch mit sich rang, wie er mit ihrem neuen Lebensstil umgehen sollte. »Geweckt«, sprach er es letztlich aus, als würde es ihm körperlich Schmerzen bereiten. Dabei war es auch unter den Vampirjägern üblich, tags zu schlafen und nachts zu arbeiten. Sie passten sich dem Leben ihrer Beute an. »Nein, ich war schon wach«, versicherte sie zu seiner Beruhigung. Es war ja nicht gelogen. Sie wachte immer noch viel zu früh auf, weil ihr Körper sich an das lange Leben als Mensch erinnerte und ihr Kopf dieses Leben zurückwollte. Dabei wusste sie, dass das vollkommen unmöglich war. »Wie geht es dir?«, erkundigte er sich, weil er wohl sonst wieder nicht wüsste, was er sagen sollte. Dabei hätte er sicher einige Fragen an sie, die ihn umtrieben: Zum Beispiel, wann sie zuletzt einen Menschen gebissen hatte, oder, wie sie mit den anderen Vampiren zurechtkam. Fragen, die er ihr nicht stellte, weil er wusste, wie schwer das alles für sie war, zudem hatte er wohl selbst Angst vor ihren Antworten. Sie wollte kein Vampir sein und hätte sich niemals bewusst dafür entschieden. Aber Alexis hatte nicht um ihre Zustimmung gebeten, dazu hätte er auch keine Chance gehabt. Verwandelt hatte er sie, um sie zu retten, und das konnte sie ihm eigentlich nicht übel nehmen, schließlich hätte sie genauso wenig sterben wollen. So gesehen, hatte er zweifellos das Richtige getan. Trotz dieser logischen Überlegungen fühlte es sich für sie immer noch falsch an. Das Einzige, was dieses Dasein erträglich machte, war die Tatsache, dass sie Alexis liebte und mit ihm zusammen war. »Es geht mir gut«, log sie, wie immer, weil sie all diese Überlegungen nicht mit ihrem Vater teilen konnte. Rafael schwieg kurz, bevor er ein »Schön« hervorpresste, das wohl ebenso gelogen war. Ihm wäre es natürlich lieber, sie wäre bei ihm und ein Mensch. »Wie geht es dir?«, fragte sie im Gegenzug. Rafael schwieg auffällig lange, was zweifellos bedeutete, dass er wieder nicht die Wahrheit sagen würde. June kannte ihren Vater zu gut, um sich so leicht täuschen zu lassen. »Es gibt viel zu tun«, antwortete er ausweichend. Natürlich wollte er ihr nicht erzählen, wie viele Vampire er in der vergangenen Nacht getötet hatte, weil er wohl fürchtete, sie damit zu verletzen. Dabei waren es für June immer noch ihre Feinde, zumindest fühlte es sich so an, obwohl sie inzwischen selbst ein Vampir war. Sie würde ihrem Vater keine Vorwürfe machen wegen dem, was er tat. Sie fühlte sich den Vampiren, die er tötete nicht verbunden, im Gegenteil, es waren nach wie vor die Übeltäter, die Alexis hatten hinrichten wollen. Außerdem wusste sie, dass ihr Vater gute Gründe für das hatte, was er tat, weil er die nichtsahnenden Menschen beschützte. Dafür gab er alles, egal was es ihn kostete. Sie hatte wohl bemerkt, dass er der Frage zu seinem Gesundheitszustand ausgewichen war, was vermuten ließ, dass er den letzten Kampf nicht unbeschadet überstanden hatte. »Bist du verletzt?«, hakte sie gezielt nach. Er seufzte und ihr Herz zog sich bereits schmerzhaft zusammen. Ihr Vater war ein guter und erfahrener Vampirjäger, den man nicht so leicht verletzte, also musste der Kampf hart gewesen sein. Zumal er um einiges widerstandsfähiger schien, seit er seinen Alkoholkonsum eingeschränkt hatte. »Nichts, was nicht wieder verheilt.« Das konnte bei ihm jedoch alles vom harmlosen Kratzer bis hin zum gebrochenen Arm sein. So konnte er June nicht beruhigen., vielleicht wollte er das auch gar nicht. Immerhin war sie mitten unter den Vampirjägern aufgewachsen und wusste, wie deren Leben aussah. »Nimmst du dir eine Auszeit?« Ihr Vater seufzte erneut, »Wird wohl nicht gehen, die Vampire sind zu aktiv.« Ein Kribbeln in Junes Fingern. Sie vermisste ihren Computer, die Listen, in denen sie alle Beobachtungen der Jäger notiert hatte, und die Stadtkarten mit den besonders auffälligen Gebieten. Diese schwammige Aussage ihres Vaters konnte alles sein, von einem bevorstehenden Großangriff bis zur harmlosen Jugendbande. Sie brauchte Details, die sie gründlich auswerten konnte, doch diese Informationen enthielt man ihr vor, seit sie zum Feind übergelaufen war. Ihr Vater vertraute ihr wenigstens noch genug, um mit ihr zu sprechen, aber an seinen Plänen ließ er sie nicht mehr teilhaben. »Denkst du, sie bereiten einen Racheakt vor?«, fragte sie, obwohl sie nicht mit einer Antwort rechnete. Selbst, wenn ihr Vater einen Verdacht hätte, würde er sie nicht einbeziehen. Schon alleine, weil sie mit Alexis lebte, dem ihr Vater überhaupt nicht vertraute. Wäre er nicht der einzige Vampir, den Rafael kannte, hätte er sicher nicht zugelassen, dass er June mitnahm. Doch nach ihrer Verwandlung hatte außer Frage gestanden, dass sie nicht länger unter den Jägern leben konnte. Rafael akzeptierte ihr Zusammenleben mit Alexis notgedrungen, allerdings würde es bei ihnen wohl nie ein besinnliches Familientreffen zu Weihnachten geben. »Schwer zu sagen«, begann Rafael nachdenklich. »Nichts deutet bisher daraufhin, dass die Vampire überhaupt als Gemeinschaft agieren. Ich glaube nicht, dass sie inzwischen einen neuen Anführer gefunden haben.« In dieser Hinsicht war June skeptisch. Die Jäger hatten den Vampiren auch früher jede Form von Gemeinschaftsgefühl abgesprochen und inzwischen wussten sie alle, dass das ein Irrtum gewesen war. Die Vampire waren zwar hauptsächlich in kleinen Grüppchen organisiert und hatten kaum Regeln für ihr Zusammenleben, trotzdem hatte es im Hintergrund ein paar Vampire gegeben, die über das Chaos geherrscht hatten. Mit Jasons Tod waren seine Machtstrukturen wohl zerfallen, aber sollte das wirklich bedeuten, dass kein anderer seinen Platz einnahm? Jasons Macht hatte sich darauf gestützt, dass er den Vampiren sichere Unterkünfte bot und sie ihn im Gegenzug Treue schworen. Irgendwer hatte dieses Imperium gewiss übernommen, auch wenn es die Jäger noch nicht bemerkt hatten. »Ich kann Alexis bitten, Informationen einzuholen, wenn du willst.« Natürlich würde der nicht begeistert sein und leider standen seine Erfolgsaussichten eher schlecht. Er hatte längst jeden Kontakt abgebrochen, weil er als Verräter galt, seit er die Jäger zu Jasons Hauptwohnsitz und dem Versteck von hunderten Vampiren geführt hatte. Die wenigen Überlebenden dieses Angriffs würden ihn kaum bereits vergessen haben. Allerdings hatte Alexis einige Kontakte hier in Frankreich und würde so sicher an Informationen kommen. »Nein, June, das ist unsere Sache. Du musst dich um andere Dinge kümmern.« Hätte er damit doch nur recht. Neben ihrer Unfähigkeit, Menschen zu beißen, war Junes Hauptproblem in ihrem neuen Leben, dass sie nichts zu tun hatte. Die Vampire hatten alle nicht wirklich Geldsorgen, weil sie kaum auf Geld angewiesen waren. Sie lebten in Häusern, die anderen mächtigeren Vampiren gehörten, sie brauchten keine Nahrungsmittel, und beim Einkauf von Kleidern und anderen Alltagsgegenständen leisteten Alexis seine Hypnosefähigkeiten gute Dienste: Die Menschen vergaßen einfach, dass er nicht bezahlt hatte. So waren die Vampire nicht auf Arbeit angewiesen und hatten daher viel Freizeit, die sie zum Jagen und Feiern nutzten. »Ist gut«, erwiderte sie dennoch. Sie ahnte, wie wütend Alexis werden würde, wenn sie versuchte, ihren Vater unterstützte, dabei wäre es das Einzige, was sie sinnvoll mit ihrem Leben an fangen könnte. Ihr Vater nickte vermutlich, bevor er sich verabschiedete, weil er an die Arbeit gehen wollte. Er fragte nie, was sie mit Alexis tat, wo sie sich aufhielten oder womit sie ihre Zeit verbrachten. Wahrscheinlich war es besser so, sonst wäre für ihn wohl die einzig logische Schlussfolgerung, ihnen zu folgen und das Vampirnest, in dem sie sich niedergelassen hatte, auszuheben. Stattdessen versuchte er, weiterzumachen wie bisher, und hielt deshalb an seinen alten Zielen, vor allem aber an seinem gewohnten Feinbild fest. Er wusste, wo sein Platz in der Welt war. June dagegen fühlte sich nirgends zugehörig und hatte keine Vorstellung davon, was sie mit ihrer Zukunft anfangen sollte. Früher war die Jagd nach Vampiren ihr Lebensinhalt gewesen, obwohl sie immer im Hintergrund geblieben war, nun war sie selbst ein Vampir und konnte das nicht mehr tun. Eigentlich war sie zwar nie glücklich als Teil der Jägergemeinschaft gewesen, allerdings hatte sie zumindest eine Aufgabe gehabt und sich nützlich gefühlt. Sie hatte die Aktivitäten der Jäger koordiniert und deren Beobachtungen gesammelt, damit ihr Vater von ihren Analysen ausgehend die notwendigen Schritte planen konnte. Ihre Arbeit war sinnvoll gewesen, was sie von ihrem jetzigen Leben nicht behaupten konnte.
***
Alexis atmete noch einmal tief durch, bevor er die Tür öffnete und zu June in das Wohnzimmer ihrer winzigen Übergangswohnung trat. Er hasste das Versteck auf dem heruntergekommenen Bauernhof in einer menschleeren Wald- und Weidelandschaft., wo sie sich als Notlösung niedergelassen hatten. Nun waren sie jedoch schon sechs Monate hier und wussten nicht, wie es weitergehen sollte. Eigentlich wollte er weiter. Ihm träumte es vom Meer, von Sand und mediterranem Klima – nicht davon, tags das Blöken von Schafen zu hören und nachts kilometerweit bis zur nächsten Menschensiedlung zu wandern. Außerdem konnte er kein Wort Französisch, was die Jagd nach Menschen nicht gerade erleichterte. Aber June hatte darauf bestanden, dass sie in Rufweite ihres Vaters blieben – weshalb auch immer. Sie konnte Rafael wohl kaum bei der Vampirjagd helfen und Alexis hatte ernste Zweifel daran, dass er das überhaupt wollte. »Hey«, begrüßte er June, die vor Schreck ihr Handy fallen ließ und damit verriet, dass sie wohl wieder einmal mit ihrem Vater telefoniert hatte. Sie wusste genau, was er von diesen Kontrollanrufen hielt und vor allem davon, dass June diesen Gesprächen regelrecht entgegenfieberte. Diesmal war sie bei Tageslicht aufgestanden, um mit ihrem Vater zu sprechen, und offensichtlich noch nach Anbruch der Nacht in Gedanken bei ihm. Was wollten die beiden damit erreichen? Von einer normalen Vater-Tochter-Beziehung waren sie wohl nie weiter entfernt gewesen als jetzt, und sehr wahrscheinlich würde sich daran nichts mehr ändern, da sie nun ein Vampir war. Erst recht nicht, wenn sie endlich wagte, zu leben wie ein Vampir, statt weiter nur ihr Dasein zu beklagen. Doch die Vergangenheit rief in Form von Rafael jeden zweiten Tag bei ihr an und verhinderte so, dass sie sich weiterentwickelte. Vielleicht sollte er ihr das Handy wegnehmen … »Guten Morgen«, begrüßte sie ihn verlegen lächelnd. Nicht viele Vampirinnen schafften es, zu erröten, aber June schon, und das trotz ihres Blutmangels. Diesen konnte nicht einmal sie leugnen, denn selbst wenn sie Alexis‘ Blut trank, nahm sie nur so viel zu sich, wie sie eben brauchte, um zu überleben. »Wie geht es Rafael?« Alexis gab sich nicht einmal Mühe, den Groll in seiner Stimme zu verbergen. Es war schließlich nicht so, dass sie nicht wusste, was er von diesen Telefonaten hielt, aber offenbar zählte seine Meinung für sie nicht. »Ich glaube, er hat Probleme mit den Vampiren«, unüberhörbar schwang in ihren Worten die Sorge mit. Dabei war ihr Vater Vampirjäger und Probleme mit Vampiren gehörten daher von Anfang an zu seinem Job. Das hatte er gewusst und akzeptiert, er hatte sogar drei Töchter in diesem Umfeld aufgezogen. Es war schon ein Glück, dass wenigstens eine dieser Töchter noch lebte, wenn auch als Untote. Es gab also wirklich keinen Grund, sich um Rafael zu sorgen, jedenfalls nicht mehr als sonst. »Er kommt zurecht«, versicherte Alexis kühl, während er sich neben June auf das schmale beige Sofa gegenüber der Terrassentür setzte. So hatten sie einen herrlichen Blick auf die nächtliche Kuhweide, inklusive schlafender Kühe. »Anscheinend ist er verletzt.« Auch das rührte Alexis nicht unbedingt zu Tränen. Rafael war immer verletzt und er hatte vermutlich gerade einen oder ein Dutzend ihrer Artgenossen ausgelöscht, als er verletzt wurde. Es ging ihm immerhin gut genug, dass er telefonieren konnte. Die getöteten Vampire hatten sehr wahrscheinlich auch Freunde, die nie mehr von ihnen hören würden. »Er wird wieder«, versicherte Alexis ruhig, dabei rechnete er insgeheim jeden Tag damit, dass irgendwann der unvermeidliche Anruf kam, weil eine von Rafaels Verletzungen zu schwerwiegend war, um zu verheilen. Eines Tages würde es so kommen. Alexis konnte sich nicht noch vorstellen, ob er dann erleichtert oder betroffen sein würde. Es ging immerhin um einen Mann, der zahlreiche von Alexis‘ Freunden getötet hatte, nicht zuletzt das frühere Vampiroberhaupt Jason, der Alexis ein guter Freund gewesen war, bevor er Alexis zum Tode verurteilt hatte. Er hatte gute Gründe, Rafael den Tod zu wünschen, trotzdem wünschte er, dass June der Verlust ihres Vaters noch lange erspart blieb. Irgendwann würde sie ihr neues Dasein so weit verinnerlicht haben, dass sie sich von ihrem Vater – dem Vampirjäger – abwandte. »Du solltest ihm sagen, dass er nicht so oft anrufen soll«, bat Alexis ernst, denn diese Anrufe aus ihrer Vergangenheit waren June keine Hilfe. Das musste sie endlich einsehen. »Irgendwann«, antwortete sie ausweichend mit Blick in die friedliche Nacht, vollkommen in sich gekehrt. Dabei müsste June eigentlich halbwahnsinnig vor Hunger sein und nur auf die Jagd fixiert. Alexis hatte noch nie erlebt, dass ein Vampir so mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt war, dass er sogar seinem Selbsterhaltungstrieb widerstehen konnte. Diese Selbstkontrolle war etwas, das er an June bewunderte und zugleich verfluchte. Denn nicht nur er sah, dass sie anders war, auch die anderen zwanzig Vampire auf dem Hof hatten das bemerkt und sie waren nicht gerade begeistert von Junes Andersartigkeit. Zärtlich fasste er ihre Hand und streichelte sie, »Schieb es nicht ewig hinaus. Du machst es dir damit nur selbst schwer und irgendwann wird es zu spät sein. Die Vampire hier sind nicht dumm. Denen ist längst klar, dass du kein Menschenblut trinkst, dass du nicht zu uns gehörst.« Sofort ärgerte er sich über seine unbedachten Worte, noch bevor er das Flackern in ihren Augen sah. Seine Aussage war richtig und es war höchste Zeit, dass June sich diesen Tatsachen stellte, aber er hätte sich vorsichtiger ausdrücken sollen … »Wer sagt denn, dass ich eine von euch sein will?«, erwiderte sie wütend und Alexis spürte einmal mehr ihren Zorn, nicht wegen seiner Worte, sondern weil er sie in ein Leben gezwungen hatte, dass ihr so sehr widerstrebte. Trotzdem bereute er seine Entscheidung immer noch nicht. Er hätte sie nicht sterben lassen können. Irgendwann würde sie es verstehen. Sogar ihr Vater hatte gesagt, es wäre besser für sie, ein Vampir zu werden, als zu sterben. June entzog ihm die Hand und sprang auf. Sie kochte vor Wut, »Ich wollte nie zu eurer erlesenen Gemeinschaft gehören, ich will es auch jetzt nicht!« Alexis seufzte leise, »Du hast aber keine Wahl, du bist ein Vampir und du musst dich anpassen.« Natürlich war es schmerzhaft für sie, das war es für ihn ebenso. Er hatte ihr dieses Dasein nicht aufzwingen wollen. Tatsächlich war es nicht der auch nicht übliche Weg, denn gewöhnlich verwandelten Vampire ihre Opfer auf deren ausdrücklichen Wunsch. Dann auch noch ausgerechnet die Tochter eines Vampirjägers zu verwandeln war so offensichtlich falsch, dass kaum einer es tun würde. Hätte er daher anders entschieden, wenn er tagelang Zeit gehabt hätte, seine Entscheidung zu treffen? Vielleicht. Aber June hatte tot am Boden gelegen und er hatte nur Minuten, um zu entscheiden. Er hatte sich entschieden, ihr Leben zu retten. Das war ihm richtig erschienen. »Du kannst mich nicht zwingen!« Sie tigerte aufgebracht und ziellos in dem kleinen Raum umher. June zu etwas zwingen – er hatte lange geglaubt, er könnte das erreichen, weil sie nur eine Frau und scheinbar naiv war, doch inzwischen wusste er, dass sie sehr stur und kämpferisch sein konnte. Trotzdem hatte er es wieder versucht. Mehrfach hatte er sie hungern lassen, damit sie sich endlich überwand, Blut zu trinken. Er hatte sie damit gequält und sich selbst dafür gehasst, dennoch musste er es eben versuchen, weil er June nicht ewig ihrem Selbsthass überlassen konnte. Er musste aus ihr einen richtigen Vampir machen, sonst würde sie früher oder später erneut sterben. »Ich will dich gar nicht zwingen, June«, er stand auf und folgte ihr, machte aber nicht den Fehler sie festzuhalten, »Ich will dich nur zur Vernunft bringen. Du musst doch einsehen, dass du dich nicht ewig deiner wahren Natur verschließen kannst.« Zumindest hoffte er, dass June diese Überzeugung irgendwann teilte, am besten bald. Auch wenn er es gerne geleugnet hätte, war ihm bewusst, dass die anderen Vampire im Unterschlupf begannen, über June zu reden, über den neu erschaffenen Vampir, der sie alle mit Verachtung strafte und nie mit ihnen auf die Jagd ging. Wenn irgendwer dahinter kam, dass sie die Tochter eines Vampirjägers war, würde man June vermutlich schnell loswerden wollen. Mit ihrer verschlossenen Art erregte sie zunehmend Misstrauen. »Ich kann meinen Vater nicht einfach aus meinem Leben streichen. Er gehört dazu und ist alles, was von meiner Familie übrig ist.« Alexis seufzte. Er selbst hatte nach seiner Verwandlung kaum mehr einen Gedanken an seine menschliche Familie verschwendet, sondern Jason als seinen neuen Vater angesehen. Inzwischen war seine leibliche Familie längst tot und Jason war nach Alexis‘ Verrat ebenfalls gestorben. Beides nahm ihn nicht sonderlich mit, deshalb konnte er schwer nachvollziehen, was in June vor sich ging. Aber er hatte sich damals bewusst für das neue Leben als Vampir entschieden und gewusst, dass er damit alles aufgab. Es war eine leichte Entscheidung gewesen, weil ihm seine Zukunft als Erbe eines Gestüts nicht gereizt hatte. Letztlich hatte vermutlich seine Schwester geerbt, während Alexis mit Jason Partys gefeiert hatte. Seine Familie hatte er nie wiedergesehen. »Du kannst nicht ewig an Rafaels Welt festhalten. Er tötet Unseresgleichen und wird zweifellos eines Tages von einem der unseren getötet. Du solltest dir diese Trauer ersparen, indem du jetzt Abschied nimmst. Im Grunde bist du für ihn doch schon gestorben!« Alexis spürte einen Stich von Schuldbewusstsein, obwohl es unumgänglich war, diese Tatsachen auszusprechen. Auch wenn er wusste, dass er damit June verletzte, denn jedes Wort schmerzte ihr und eigentlich wollte er sie doch glücklich machen. Auch deshalb wollte er mit ihr weiter fort, vielleicht nach Rom oder Venedig, wo sie ihre Nächte in beeindruckenden historischen Bauwerken verbringen konnten. So hoffte er, Junes Freude am Leben wieder zu entfachen, doch scheinbar bedeutete das, dass er ihr erst einmal das Ende ihres früheren Lebens vor Augen führen musste. »Das kannst du wohl kaum beurteilen. Du weißt genau, dass er gerade erst meine großen Schwestern verloren hat. Ich bin alles, was er noch hat, das kann ich ihm nicht nehmen!« Was June wieder einmal nicht aussprach, war die Tatsache, dass Rafael ebenso seinen Ziehsohn Michael verloren hatte, ebenfalls durch Alexis. Er hatte wirklich alles getan, um den Jäger gegen sich aufzubringen. Das Einzige, was ihn vor Rafaels Rache schützte, war Junes Liebe, denn Rafael brachte es all seinen Drohungen zum Trotz nicht fertig, June die Liebe ihres Lebens zu nehmen. Jedoch war sich Alexis seit ihrer Verwandlung nicht mehr sicher, ob er wirklich von June geliebt wurde. Sie wäre nicht der erste Vampir, bei dessen Verwandlung auch die Gefühle sich dramatisch veränderten. Dazu kam noch, dass er June gegen ihren Willen verwandelt hatte, nachdem er ihre Schwestern ins Unglück gestürzt hatte. Kein guter Start in ihr gemeinsames Leben. »Aber auch dich hat er nicht mehr wirklich. Du bringst ihn ständig in Konflikt mit seiner Arbeit, mit seinem Gewissen und seinem Weltbild. Irgendwann wird er zu dem Schluss kommen, dass er dich töten muss. Erspar uns das. Zieh einen Schlussstrich!« June starrte ihn mit brennendem Blick an, vermutlich die emotionalste Reaktion von ihr, die er seit Beginn ihrer Flucht zu sehen bekam. Echte Wut, vielleicht sogar Hass. Wenigstens etwas. Aber natürlich sehnte er sich eigentlich nach Annäherung und sah doch, wie sich June täglich weiter von ihm entfernte. »Er ist mein Vater, er wird sich niemals gegen mich wenden! Er ist ein Mensch und offenbar in diesem Punkt loyaler als ihr Vampire!« June wollte vermutlich an ihre Schwestern erinnern, die sich nach ihrer Verwandlung zu Vampiren sofort gegen ihre Familie gestellt hatten. Ihr Vater dagegen hatte es nicht über sich gebracht, die beiden anzugreifen, wenngleich es zu seinem eigenen Schutz gewesen wäre. June stürmte in das kleine Badezimmer, vermutlich, um mehr Abstand zu ihm aufzubauen. »Wir Vampire«, murmelte Alexis indessen, obwohl sie es wohl kaum hörte. Wieder einmal ließ June durchblicken, dass sie sich immer noch nicht als Vampir sah. Dabei spielte es keine Rolle, was sie empfand, es war nun mal keine Entscheidung, die sie selbst treffen konnte. Alexis hatte sie längst getroffen, mit Rafaels Einverständnis.
***
Reginald zwang sich kein Lächeln auf, als er in die düstere Kneipe im Erdgeschoss eines Mehrfamilienhauses schlenderte. Er strebte nicht an, sich beliebt zu machen, er wollte sich lediglich Respekt verschaffen, was erfahrungsgemäß weniger Höflichkeit erforderte, sondern eher kühle Distanz. Erfreulicherweise zog er bereits die Blicke der Vampire in dem kleinen Lokal auf sich. Was nicht verwunderlich war, weil er neu in der Stadt war. Früher hätte man ihn wohl einfach ignoriert, aber jetzt waren die Vampire verängstigt und misstrauisch, besonders gegenüber Fremden. Reginald ließ sich an der Theke nieder und orderte ein Glas Wein, während er die Runde musterte: überwiegend Einzelgänger, nur ein oder zwei Pärchen. Vampire waren einfach nicht unbedingt Herdentiere, vielleicht weil sie keine Familien hatten. Vampire konnten keine Kinder zeugen, lebten jedoch ewig. Die meisten Beziehungen waren eher von geringer Dauer, ganzgleich ob Affäre, Liebe oder Freundschaft. Es gab zwar hin und wieder Paare, die hundert oder zweihundert Jahre zusammenlebten, jedoch niemals bis an ihr Lebensende. Menschen wurden von ihren Beziehungen durch den Tod erlöst, doch Vampire hatten dieses Glück nicht. Ihre Beziehungen endeten meist mit Streit oder durch einen Jäger. Um sich den Kummer zu ersparen, entwickelten sich viele daher zu Einzelgängern, die sich jeden Abend neue Freunde für ein paar Stunden oder auch mal einige Tage suchten. »Hi«, begrüßte ihn ein eher jüngerer Vampir, der vor seiner Verwandlung höchstens 18 gewesen sein dürfte und auch jetzt sicher noch kein Jahrhundert alt war, sonst hätte er Reginald kaum angesprochen. Vampire entwickelte mit der Zeit einen Instinkt dafür, wer älter und stärker war. Das allein sicherte Reginald den Respekt vieler Artgenossen, bei den wenigen älteren Vampiren verschaffte er sich Ansehen mit der Tatsache, dass er bereits zahlreiche Städte Europas unter seine Herrschaft gebracht hatte. Neue Gebiete an sich zu reißen, wurde nun immer einfacher, weil sein Ruf ihm oft vorauseilte. Besonders leicht würde es in dieser von Angst beherrschten Stadt werden. »Du bist neu in der Stadt«, begann der Jungvampir freundlich. Verglichen mit den verschlossenen Gesichtern in dieser Kneipe musste Reginalds ernste Miene einladend auf den Jüngling wirken. Was ihm gelegen kam, denn er musste Kontakte knüpfen, um seinen neuen Hofstaat aufzubauen. »Im Moment schon, das letzte Mal ist lange her«, er wusste gar nicht mehr, wann er das letzte Mal vorbeigeschaut hatte. Jason hatte damals die Stadt kontrolliert und da Reginald sich mit ihm gut verstand, hatte er darauf verzichtet, Ansprüche zu geltend zu machen. Zurückgekommen war Reginald nun, weil man ihm zugetragen hatte, dass Jason den Jägern zum Opfer gefallen war und die Stadt ins Chaos stürzte. Offenbar gab es bisher keinen Nachfolger, was sich schnell ändern musste. Zum Glück gab es nicht viel, was man tun musste, um die Vampire zur Ordnung zu bringen. Man musste sie nur verinnerlichen lassen, dass ihr Überleben abhängig war von der Tatsache, dass Menschen sie für Fabelwesen hielten. Daraus ergab sich auch, dass die Vampire stets im Verborgenen agieren mussten. Wer das nicht verinnerlichte, der musste anderweitig kontrolliert werden. »Das letzte Mal war allerdings die Stimmung besser«, ergänzte Reginald mit einer deutenden Geste in die Runde. Natürlich machte er sich damit nicht beliebt, aber das wollte er ja auch nicht. Im Moment wollte er vor allem Informationen erhalten und Aufsehen erregen. Das gelang ihm offensichtlich, denn er erntete zahlreiche Blicke und noch mehr Ohren lauschten ihm heimlich. Der junge Vampir runzelte die Stirn, »Du hast es wohl bisher nicht mitbekommen«, er seufzte theatralisch, offenbar stolz darauf, dass er einem älteren Vampir etwas berichten konnte. »Wir haben in der Stadt ein echtes Vampirjägerproblem, also solltest du besser weiterziehen. Kürzlich haben die sogar so einen Obervampir umgebracht.« Reginald seufzte, »Jason«, korrigierte er gelassen. »So hieß der Obervampir.« Offenbar hatte Jason sich nicht sonderlich darum bemüht, dass seine Untertanen ihn angemessen ehrten. Reginald war da anders und würde sich nie so herablassend als ein Obervampir bezeichnen lassen, das klang so nach Oberkellner und war eines Königs nicht würdig. Jason hatte eben nie ein Händchen für Stil gehabt. Er hatte sich bestenfalls um Coolness bemüht und man sah ja, wohin das geführt hatte … »Kanntest du ihn etwa?«, erkundigte sich der Jüngling mit fettigen, braunen Haaren und leichenblasser Haut. Seit wann sahen Vampire aus wie heruntergekommene Junkies? War es denn nicht mehr erstrebenswert, der Kultfigur Dracula nachzueifern? Dabei erleichterte die düstere Attraktivität jener Figur es erheblich, sich die Menschen gefügig zu machen. »Wir waren Freunde«, antwortete er, ohne sich seine Verachtung für das Erscheinungsbild des jungen Vampirs anmerken zu lassen. So etwas wie Respekt flackerte in den Augen seines Gegenübers auf. »Die Vampirjäger haben ihn umgebracht«, wiederholte der Vampir betreten. »Das hatten wir schon. Aber wie haben sie das geschafft? Jason hätte einem Menschen weit überlegen sein müssen.« Das war etwas, das Reginald bereits seit Tagen umtrieb. Jason war zwar jünger und unerfahrener als er selbst, dennoch hatte er sich im Laufe der letzten Jahrzehnte ein beachtliches Imperium aufgebaut und seine Schläger engagiert, um die mangelnde Kampferfahrung zu kompensieren. Letzten Endes waren Vampirjäger doch nur Menschen. Ein Vampir sollte im Kampf mit einem Menschen immer im Vorteil sein, weil Menschen müde wurden im Gegensatz zu Vampiren. »Das ist alles nicht so einfach. Die Vampirjäger kämpfen als Gruppe und planen ihre Angriffe lange im Voraus.« Reginald zuckte mit den Schultern. Das mochte für Jason eine Herausforderung gewesen sein, der er möglicherweise nicht gewachsen war, aber es hätte ihn nicht das Leben kosten dürfen. Wenn er sich bedroht gefühlt hätte, wäre Jason sicher rechtzeitig geflüchtet – er hing an seinem Leben. »Es bleiben Menschen«, und die waren für Reginald eine Mischung aus Nahrung und Unterhaltung, aber nicht ernstzunehmenden Gegner. Er hatte bisher noch keinen wirklich bedrohlichen Vampirjäger erlebt, was freilich daran lag, dass er seine Kampftechniken immer wieder trainierte und stets auf der Hut war. Viele Vampire rechneten einfach nicht mit Angriffen und glaubten nicht damit, dass Menschen ihnen gefährlich werden konnten. Viel zu viele Vampire vertrauten auf die angeblich übernatürliche Stärke ihrer Art und realisierten erst zu spät, dass das ein fataler Fehler war. Dabei war es durchaus so, dass Vampire die Veranlagung hatten, den Menschen überlegen zu sein, wenn sie wenigstens ein bisschen Zeit auf Training verwendeten – was die meisten Vampire leider nicht taten. Der junge Vampir zögerte, wohl unsicher, was er sagen sollte. Sein Blick glitt hilfesuchend durch die Runde, als hoffte er, jemand würde ihm beistehen, aber offenbar wollte sich keiner einmischen. Die meisten dieser Vampire hatten vermutlich längst erkannt, wie alt und mächtig Reginald war, vielleicht erkannte ihn sogar der eine oder andere. »Man sagt, es gab einen Verräter«, platzte der Junge aufgebracht heraus, als hätte er Angst, dass Reginald ihm dafür den Kopf abriss. Damit hatte er endlich eines der fehlenden Puzzleteile, um die Geschehnisse zu verstehen. Verräter gab es überall und gerade Vampire waren nun mal eher egoistisch als loyal veranlagt, trotzdem war es irritierend, dass ein Vampir sich ausgerechnet mit den Jägern verbündet haben sollte. Dass ein Vampir aus purer Machtgier einen anderen Angriff, war nicht ungewöhnlich, aber offenbar hatte niemand bisher Jasons Platz beansprucht, was bedeutete, dass er nicht getötet worden war, weil Jemand anderer ihn entthronen wollte. Irgendein Vampir hatte Jason an die Jäger verraten. »Warum sollte einer von uns mit Jägern zusammenarbeiten?«, fragte Reginald laut, allerdings vor allem an sich selbst gerichtet, denn die Vorstellung war absurd. Zumal sich zusätzlich die Frage stellte, weshalb Jäger mit einem Vampir kooperieren sollten. Die Vorstellung warf Fragen auf, war aber immerhin eine Erklärung für die Ereignisse. Damit, dass ihm einer seiner Artgenossen die Jäger auf den Hals hetzte, hätte keiner gerechnet. »Angeblich sollte der Kerl eigentlich die Jäger ausspionieren, wurde aber irgendwie zum Doppelagenten.« Reginald runzelte die Stirn. Das klang verwirrend. Was vermuten ließ, dass es die Wahrheit war, in der Welt verliefen die Dinge selten logisch und Menschen wie Vampire handelten nicht immer vernünftig. »Weiß man denn, wer der Verräter war?« Der junge Vampir zögerte und fuhr sich nervös durch die Haare, »Angeblich ein Freund von Jason, ein von ihm geschaffener Vampir.«