Das Herz einer Geisterstadt - Helena Gäßler - E-Book

Das Herz einer Geisterstadt E-Book

Helena Gäßler

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

"Wenn du zuhören würdest, wüsstest du es auch. Wie das Herz einer Geisterstadt schlägt. Nur dadurch lässt sich der Spuk austreiben." London, 1867 Ivy studiert an der Königlichen Akademie für Geisteraustreibung. Als sie für die Abschlussprüfung aufgrund ihres Geschlechts übergangen wird, bleibt ihr nichts anderes übrig, als die exzentrische Dozentin Miss Feyler um Hilfe zu bitten. Die selbsternannte »Häuserflüsterin« redet nicht nur mit ihrem mechanischen Hund, sie versucht auch, mit Spukhäusern zu sprechen, um sie zu beruhigen. Ivy ist skeptisch, doch bald stellt sie fest, dass sie für ihre Berufung nicht nur Neues lernen, sondern auch alles riskieren muss … Magnolia Feyler hatte sich nach ihrem letzten Auftrag geschworen, nie wieder einen Fuß in ein Spukhaus zu setzen. Das ändert sich, als Ivy ihr von der irischen Geisterstadt Port berichtet. Denn Prof. Thompson und die Schüler, die vor ihnen aufgebrochen sind, unterschätzen den Fall gewaltig. Schnell realisiert Magnolia, dass Geisterstädte nach anderen Regeln spielen als ihre geliebten Spukhäuser. Und Port wird nicht ruhen, ehe sie den Fremden das Grauen begreiflich gemacht hat, das ihre Bewohner in der Großen Hungersnot erleiden mussten …  Häuserflüsterin-Reihe: Band 1: Die Seele eines Spukhauses Band  2: Das Herz einer Geisterstadt

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 490

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Herz einer Geisterstadt

HELENA GÄSSLER

Copyright © 2025 by

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Stephan Bellem

Korrektorat: Jessica Strang

Layout Ebook: Stephan Bellem

Umschlag- und Farbschnittdesign: Marie Graßhoff

Bildmaterial: Shutterstock

Fotografie Vorsatz Print: Astrid Behrendt

Druck: Booksfactory

ISBN 978-3-69130-043-7

Alle Rechte vorbehalten

Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von §44b UrhG ausdrücklich vor.

Diese Geschichte behandelt Themen, die belastend sein können, insbesondere Trauma, Diskriminierung, Leid, Gewalt, Hungersnot und Tod.

Es sind auch Kinder und Tiere betroffen.

Das Buch wird daher ab 16 Jahren empfohlen.

Inhalt

Grundregeln des Exorzismus

Klassifikation Manifestationen

Prolog

1. Der Stadtrand

2. Cattle Lane

3. Bog Street

4. Ashdown Street

5. Ashdown Manor

6. Church Row

7. Erinnerungen

8. Der Marktplatz

9. East Wall

10. Brewer’s Yard

11. Lower Main Street

12. Baker Street

13. Butcher’s Street

14. Victoria Square

15. Station Road

16. Broad Street

17. Im Nebel

18. Upper Main Street

19. Harbour Lane

20. Port Workhouse

21. Das Geisterschiff

22. Lady Hope

23. Old Willow Way

Wimbledon

Danke

Drachenpost

Für alle,

die Magnolia und Robby

in ihr Herz geschlossen haben.

Ohne euch hätte es diese Geschichte nie gegeben.

Grundregeln des Exorzismus

1. Der Spuk ist manipulativ. Wende niemals Gewalt gegen dich, deine Kollegen oder Zivilisten an, außer eine eingehende Prüfung hat keinen anderen Ausweg ergeben.

2. Angst ist der größte Risikofaktor beim Bekämpfen des Spukes. Solltest du nach Erreichen einer Basis oder einer anderweitig sicheren Situation länger als einige Minuten Symptome von Angst verspüren, ist der Auftrag sofort abzubrechen und an ein anderes Gildenmitglied zu übergeben.

3. Das Logbuch dient als Anker deines Verstandes und zur Dokumentation der Geisteraustreibung. Verfasse Einträge nur in Ruhe und im Zustand geistiger Klarheit. Notiere sämtliche deiner Beobachtungen und stufe Manifestationen dabei nach dem offiziellen Klassifikationssystem ein.

Klassifikation Manifestationen

Illusionen

Stufe 0 ‒ Nichtvisuelle Illusion

(z.B. Geruch, Geräusch, usw.)

Stufe 1 ‒ Unklare visuelle Illusion

(z.B. Schemen, flackerndes Bild)

Stufe 2 ‒ Klare visuelle Illusion

(z.B. Gegenstand, Person, Tier)

Stufe 3 ‒ Überlagerte Illusionen

(z.B. tickende Standuhr, sprechende Person)

Stufe 4 ‒ Komplexe Illusion

(lebensechte Darstellung, Szene)

Bewegter Gegenstand

Stufe 0 ‒ Windnachahmung

(z.B. flackernde Kerzen, bewegte Vorhänge, fallendes Papier)

Stufe 1 ‒ Natürlich möglich

(z.B. zuschlagende Türen, umfallende Gegenstände,

Defekt einer Dampfmaschine)

Stufe 2 ‒ Einfache Bewegung

(z.B. drehende Schlüssel, blätternde Bücher)

Stufe 3 ‒ Schwebende Gegenstände

Stufe 4 ‒ Komplexe Bewegungen

(z.B. Kochen einer Suppe, Schreiben eines Briefes)

Fremdgesteuerte Lebewesen

Stufe 0 ‒ Niederes Lebewesen

(z.B. Insekten, Würmer, Spinnen)

Stufe 1 ‒ Kleintier

(z.B. Frosch, Kaninchen, Fledermaus)

Stufe 2 ‒ Intelligentes Kleintier

(z.B. Ratte, Rabe, Katze)

Stufe 3 ‒ Bedrohliches/großes Tier

(z.B. Hund, Eber, Pferd)

Stufe 4 ‒ Mensch

Anmerkung: Mehrere gleichzeitig gesteuerte Lebewesen

erhöhen die Stufe entsprechend (ein Insektenschwarm wäre beispielsweise eine Manifestation der Stufe 1)

Echte Manifestation

Stufe 0 ‒ Illusion mit minimaler Haptik

(z.B. Kribbeln bei Berührung)

Stufe 1 ‒ Besessener Gegenstand

(z.B. Spiegel, Puppe)

Stufe 2 ‒ Besessene Person

(z.B. Kind)

Stufe 3 ‒ Eigenständige Manifestation, gebunden

(an Gegenstand/Ort/Zeit)

Stufe 4 ‒ Eigenständige Manifestation, frei

(Geist, der wie Person agiert)

Prolog

DIE AKADEMIE

Wimbledon, 26. Dezember 1866

Schneeflocken fielen aus einem grauen Himmel und schmolzen auf dem Pflaster der Stadt. Ivy saß am Fenster und beobachtete, wie sie vorbeischwebten. Die Kristalle tanzten und wirbelten durch die Winterluft, wild und frei. Doch kaum küssten sie die Straße oder die Ziegel des Nachbarhauses, zerfielen sie zu Nichts. Die Welt draußen blieb so farblos wie das Zimmer hinter der Scheibe. Seit Ivy nicht mehr hier wohnte, hatte jemand jeden persönlichen Gegenstand daraus entfernt. An der Tapete prangte ein Rechteck, wo ihr Lieblingsbild gehangen hatte.

Ivy seufzte, stieß sich vom Fensterbrett ab und streifte ihre Handschuhe über. Ihre Mutter wartete sicher schon. Sie verließ ihr Zimmer und schritt zügig durch den Gang. Die Luft war kalt hier. Nur einmal verlangsamten sich ihre Schritte, um an jener Tür vorbeizuschleichen. Ihr Blick fiel auf den Schlüssel. Er steckte noch immer im Schloss, obwohl ihn seit Jahren niemand mehr berührt hatte. Ihre Fingerspitzen kribbelten, doch Ivy eilte weiter. Die Holzstufen des Treppenhauses knarzten unter ihren Stiefeln. Sie atmete tief durch, bevor sie die Tür zur Eingangshalle aufstieß.

Der Baum füllte fast den ganzen Raum. Seine Spitze knickte unter der Decke ein und die ausladenden Äste ließen kaum Platz, um sich an ihnen vorbeizuzwängen. Gläserne Kugeln, Engel aus Stroh, Süßigkeiten und Girlanden hingen daran. Der Baum machte selbst denen im Buckingham Palace Konkurrenz.

Ivys Mutter hatte sich stolz davor aufgebaut. Dutzende Päckchen und Karten stapelten sich auf dem Tisch neben ihr. Gehüllt in ihren besten Pelzmantel zierte ein Lächeln ihre rotgeschminkten Lippen, bis sie Ivy erblickte. Für einen Augenblick wurde ihr Ausdruck missbilligend, während ihre Tochter den Kopf einzog und zu ihr hinüber eilte.

»Wo hast du gesteckt?«, zischte sie. »Die Bediensteten werden gleich hier sein. Diese Menschen leisten harte Arbeit für uns, du könntest dich ruhig dankbarer zeigen.«

»Ja, Mutter.« Ivy stellte sich neben sie. Ihr Blick fuhr über die Postkarten. Der Druck zeigte eine Familie am Heiligen Abend, in Glückseligkeit vereint. Der Vater lehnte mit einer Pfeife und einem Lächeln in einem Ohrensessel, die Mutter kniete auf dem Boden, umgeben von goldgelockten Kindern mit ihren Spielzeugen. Ein Hündchen mit Knopfaugen tollte dazwischen, Gold und Silber hingen von der Tanne und hinter dem Fenster sah man eine Schneelandschaft. Ivy verzog das Gesicht.

Die Tür schwang auf und die Bediensteten betraten zögerlich den Raum. Sie trugen ihre Reisekleidung und hatten Taschen gepackt, um ihre Familien zu besuchen. Doch zuerst mussten sie einer nach dem anderen vor der Dame des Hauses antanzen. Ivys Mutter verteilte Boxen mit den Resten des Festtagsmahls, das die Dienerschaft selbst besorgt, zubereitet und serviert hatte. Dennoch erwartete sie Dankbarkeit für ihre Güte.

Dem alten Jack war die ganze Sache sichtlich unangenehm, doch er nickte Ivy zu, als sie ihm seine Karte zusammen mit einigen Scheinen überreichte. »Du bist groß geworden.«

Das entlockte ihr ein Lächeln. »Ich bin neunzehn Jahre alt, Jack. Ich bin seit drei Jahren nicht mehr gewachsen.«

»Ach so?« Er zuckte mit den Schultern. »Dann hältst du deinen Kopf höher, junge Dame. Die Stadt tut dir gut.«

»Danke. Ich wünsche deiner Familie und dir ein frohes Fest.«

Jack drückte ihre Hand und schlurfte davon. Ivy teilte weiter Postkarten aus und achtete darauf, die Scheine so abzuzählen, wie ihre Mutter es ihr eingebläut hatte. Es war ein kompliziertes System, das Stellung, Alter und Dienstjahre berücksichtigte. Jeder von Ivys Handgriffen wurde überwacht. Sie musste ebenso vorsichtig sein wie beim Zeichnen eines Bannkreises. Es fühlte sich an wie eine Prüfung an der Akademie.

»Wann wirst du endlich bei Paul einziehen?«, fragte ihre Mutter im nasalen Ton.

»Nach der Hochzeit, Mutter.« Und dann, weil die Worte auf ihrer Zunge brannten, fügte sie hinzu: »Das habe ich euch schon Dutzende Male erzählt. Pauls Eltern haben eine Wohnung in London, die sie uns zur Hochzeit schenken wollen.«

»Werde nicht vorlaut. Ich finde, es geziemt sich nicht für eine Dame deiner Abstammung, in einem Wohnheim zu wohnen. Unter Männern und als ledige Frau!«

»Ich bin verlobt, Mutter. Wir werden im April heiraten. Vater und du habt meinen Wunsch, der Exorzistengilde beizutreten, immer unterstützt. Ich weiß nicht, wo plötzlich das Problem liegt.«

Ihre Mutter fuhr herum und durchbohrte sie mit einem jener Blicke, die Ivy schrumpfen ließen. Ihre Schultern sackten zusammen und sie duckte sich unter der geballten elterlichen Wut und Enttäuschung weg.

»Weil wir dachten, du würdest dich von der Gilde zur Krankenschwester ausbilden lassen, wie deine Cousine Mary!«, donnerte sie. »Ein ehrbarer Beruf, voll Hilfsbereitschaft und Wärme, das Richtige für eine Dame. Aber nein, du musst dich wie ein Mann kleiden, mit einem Messer herumfuchteln und durch staubige Gemäuer kriechen. Du könntest verletzt werden. Invalide! Dein Vater hat nicht geschuftet, damit du so dein Geld verdienen musst. Du wirst heiraten, aber benimmst dich wie ein Kerl. Denkst du denn nicht darüber nach, was das für ein Licht auf Paul wirft? Auf deine Familie?«

Das Dienstmädchen vor ihr nahm mit zitternden Händen ihre Postkarte entgegen und floh. Die anderen Frauen in der Schlange sahen betreten zu Boden. Ivy versuchte, die Tränen hinunterzuschlucken, die in ihr aufstiegen.

»Paul steht hinter mir«, brachte sie hervor. »Er unterstützt es, wenn eine Frau selbstständig ist und etwas lernt. Seine Eltern haben ebenfalls kein Problem damit. Ich wusste nicht, dass ihr es anders seht.«

Ihre Mutter schnaubte. »Wenn du nur einen Moment an deine Familie denken würdest, wüsstest du, wie wir dazu stehen. Du hast eine Rolle zu erfüllen, wie wir alle. Ein frohes Fest, Miss Carter.«

»Ich bin glücklich, Mutter.« Dieses Mal konnte sie die Tränen nicht zurückhalten. »Ich habe einen wunderbaren Verlobten, eine Arbeit, in der ich gut bin und bei der ich Menschen helfen kann. Ich bin glücklich. Sollte das nicht genug sein?«

Ihre Mutter schwieg. Ivy wischte ihre Wangen mit einem Taschentuch ab und reichte Miss Carter ihr Geld.

Natürlich, es war eine ungewöhnliche Beschäftigung für eine junge Dame, Gespenster zu jagen. Aber sie war nicht die einzige Frau in der Akademie. London war weltoffen. Die Gesellschaft machte ebenso Fortschritte wie die Technologie. Nur ihre Familie schien weiterhin den Geistern der Vergangenheit nachzuhängen. Es würde nichts ändern. In wenigen Monaten würde Ivy von Gildenmeister Bennett zu einer Exorzistin ernannt werden, heiraten und einen neuen Namen annehmen.

Dann konnte sie diesem Haus den Rücken zukehren, wann immer sie wollte …

* * *

Königliche Akademie für Geisteraustreibung, 17. Januar 1867

Dunkelblaue Banner hingen von den Säulen des Festsaals. Der kunstvoll gehauene Sandstein und die Bleiglasfenster erweckten den Anschein, sich in einer Kirche zu befinden. Ebenso andächtig stand Ivy auf ihrem Platz neben der Bühne. Ihr Kleid hatte die Farben der Gilde und die Haare waren diesen Morgen in einem Salon hochgesteckt worden. Die schweißnassen Handflächen klebten an dem Stoff ihrer Röcke. Sie hatte heute keinen Bissen herunterbekommen. Ivy achtete darauf, ruhig und tief zu atmen, bis ihr Name aufgerufen wurde.

Auf der Bestuhlung im Saal hatte sich ein gemischtes Publikum eingefunden. Zwischen den Ballkleidern der Oberschicht saßen Eheleute in einfacher Garderobe. Ivy entdeckte Adrians Vater in seiner Marineuniform. Der schwarze Stoff war nicht viel dunkler als seine Haut. Ivys Mutter hätte darüber den Kopf geschüttelt, aber in der Marine und der Gilde zählte Talent mehr als Abstammung. Ivy war sich sicher, dass einige Minenarbeiter unter den Zuschauern waren. Die Plätze, die für ihre Eltern reserviert waren, waren leergeblieben. Sie ignorierte den Stich in ihrer Brust und wandte ihren Blick wieder der Bühne zu.

»Miss Ivy Jones.« Ihr Herz machte einen Hüpfer, als sie die Stufen erklomm. Mr Bennett lächelte ihr zu. Graue Haare hatten sich in seinen roten Bart geschlichen. Trotz der Stirnfurchen hatte er ein freundliches Gesicht. Wie automatisch nahm sie Haltung an. Er drückte ihre Hand sanft.

»Gratulation«, raunte er ihr zu, bevor er sich zum Publikum wandte. »Miss Ivy Jones erhält einen Preis für herausragende Leistungen in ihrer theoretischen Abschlussarbeit. Sie zählt zu den Besten der diesjährigen Abschlussklasse der Akademie.«

Höflicher Applaus. Ivy entdeckte Adrian hinter Mr Bennets Rücken. Er grinste und hatte beide Daumen erhoben. Ivy hätte am liebsten die Augen gerollt, doch insgeheim war sie ihm dankbar. Die leeren Stühle gaben ihrem Stolz einen bitteren Beigeschmack.

Sie nahm ihre Urkunde entgegen, deutete einen Knicks an und gesellte sich zu Adrian und den anderen. Mr Bennett gratulierte drei weiteren Studenten, dann trat er an das Pult.

»Exorzismus ist eine gefährliche Arbeit im Dienst der Gesellschaft. Diese jungen Männer und Frauen haben in den letzten Jahren ihrer Ausbildung nicht nur Mut bewiesen, sondern auch Verstand, Einsatzbereitschaft und Kameradschaft. Ich bin stolz, sie in die Gilde aufzunehmen. Sie werden viele Familien vor dem Grauen in den eigenen vier Wänden beschützen und Frieden über altehrwürdige Gebäude bringen. Einige von ihnen werden für die Sicherheit aller ihr Leben geben. Schon bald steht ihr erster Einsatz im Dienste der Gilde an. Als Exorzisten ersten Ranges werden sie ein erfahrenes Mitglied unserer Akademie an der Seite haben, das unsere Absolventen sicher durch den Spuk leitet. Ich möchte mich herzlich bei unseren Professoren und Dozenten bedanken, die eine Austreibung für die praktische Abschlussprüfung ausgeschrieben haben. Doch viel mehr gilt mein Dank diesen jungen Seelen, die unser Vermächtnis weitertragen.« Er unterbrach sich, um sich vor den Absolventen zu verbeugen. »Und jetzt, worauf Sie alle gewartet haben, möchte ich das Buffet eröffnen …«

* * *

Ivy würgte mit Mühe ein Häppchen hinunter. Sie konnte nicht sagen, warum ihr noch immer übel war. Mr Bennett hatte ihr eine Auszeichnung verliehen! Paul würde sie heute Abend zum Essen ausführen, um ihren Abschluss zu feiern. Dies sollte der glücklichste Tag in ihrem Leben sein, zumindest bis zur Hochzeit.

»Hey Ivy«, riss Adrian sie aus ihren Gedanken. »Hast du mitbekommen, dass Professor Thompson gleich im Anschluss an die Zeremonie mitteilen wird, wer ihn auf seine Austreibung begleitet?«

»Natürlich.« Ihr Blick flatterte zur Wanduhr. »Wir haben noch eine halbe Stunde.«

»Ich denke, wir sollten uns auf den Weg machen. Professor Thompson legt viel Wert auf Pünktlichkeit.«

Ivy nickte, froh über eine Ausrede, um die Feierlichkeiten zu verlassen. Sie hatte Adrian in der Akademie kennengelernt und schnell verstanden, dass man sich auf ihn verlassen konnte. Während er in den Vorlesungen gerne den Klassenclown spielte, zeigte er in Geisterhäusern äußerste Disziplin. Aufgrund seiner Hautfarbe hatte er sich den Respekt seiner Dozenten erst erarbeiten müssen. Eine Erfahrung, die sie als Frau ähnlich gemacht hatte. Ivy hoffte sehr, dass sie ihre Abschlussprüfung zusammen absolvieren würden.

Gemeinsam schritten sie durch die Gänge der Akademie. Mit Marmorböden und Vitrinen stellte die Gilde ihren Einfluss zur Schau. Aus dem Innenhof erklangen die gedämpften Rufe der Studierenden, die ihren Kampfübungen nachgingen. Einige Blätter hingen noch an den Ästen der alten Bäume, die im Sommer Schatten spendeten. Keiner von ihnen sagte viel. Ivy verspürte einen Anflug von Heimweh bei dem Gedanken, bald von hier fortzugehen.

Sie waren unter den Ersten, die sich im Hörsaal einfanden. Professor Thompson sah von seinen Akten auf, als sie sich auf eine der Bänke in den vorderen Reihen setzten. Er war ein gewichtiger Mann mit einem buschigen Schnurrbart. Seine Ausstrahlung hatte Ivy stets eingeschüchtert. Über ihm war eine Photographie der Austreibungsstätte an die Wand projiziert.

Die Kleinstadt Port lag eingezwängt zwischen dem Grau des Himmels, des Meeres und der Hügel hinter ihr. Auf der Abbildung waren wenig Details zu sehen, nur eingefallene Häuser und gähnend leer stehende Lagerhallen. Die Straßen dazwischen waren voll Schlamm und Unkraut. Dennoch ließ der Anblick Ivys Herz höherschlagen. Eine Geisterstadt! Gab es etwas Aufregenderes als einen Ort, der völlig von Leben verlassen war? Sie würden sich ins Dunkle vorwagen, das Unbekannte kartographieren und dem Grauen trotzen. In Ivys Augen war die Erforschung des Okkulten ebenso wichtig wie die Entdeckung der neuen Welt.

Eine halbe Stunde später drängten sich etwa zwanzig Studenten um das Pult im Hörsaal. Die meisten von ihnen trugen die dunkelblauen Exorzistenuniformen, andere waren in Zivil, wie Ivy.

Professor Thompson sah auf seine Taschenuhr. »Es ist an der Zeit. Wer zu spät kommt, muss eben einen von Ihnen fragen. Die Studenten, die mich begleiten werden, sind ohnehin bereits unter uns.«

Er strich sich über seinen Schnurrbart und warf einen vielsagenden Blick in die Runde. Ivy spürte, wie ihr Herz schneller zu schlagen begann und atmete sofort tief durch. Es war nur Aufregung, keine Angst, aber sie hatte ihre Gefühle trotzdem gerne unter Kontrolle.

»Ich habe bei meiner Entscheidung auf Leistung und persönliche Eignung geachtet, nicht auf Sympathien. Also erspart mir bitte Beschwerden. Die erste Person, die mich auf meiner Exkursion in die Geisterstadt Port in Nordirland begleiten wird, ist Mr Adrian Carlton.«

»Jawoll!«, rief Adrian, hieb die Faust in die Luft und strahlte. Sogleich umringte ihn eine Gruppe Studenten, die ihm auf die Schulter klopften.

Ivy hätte ihn vor Freude am liebsten umarmt, stattdessen klatschte sie in die Hände. »Ich habe es gewusst!«

Professor Thompson beobachtete das Spiel mit einer missmutig erhobenen Augenbraue. Dann räusperte er sich. »Schön, dass sich alle so für Mr Carlton freuen. Außer ihm wird mich zudem Mr Samuel Moore begleiten. Wenn Ihr Name nicht genannt wurde, müssen Sie sich eine andere Austreibung suchen.«

Grummeln von einigen Studenten, während andere gratulierten. Ivy spürte, wie ihr Lächeln einfror. Die Übelkeit war mit einem Schlag zurück.

»Aber seine Leistungen waren immer schlechter als meine!«, entfuhr es ihr, bevor sie sich zusammenreißen konnte.

Professor Thompson warf ihr einen abfälligen Blick zu. »Ich sagte, keine Beschwerden bitte. Ihre Leistungen sind beachtlich, aber es geht auch um persönliche Eignung. Ich kann es mir nicht leisten, jemanden mitzunehmen, der Angst bekommt. Das gefährdet alle beteiligten Exorzisten bei einer Austreibung.«

»Aber ich fürchte mich nicht! Sie haben mich doch bei der praktischen Übung gesehen. Ich habe nie Anzeichen von emotionaler Instabilität gezeigt. Es ist nicht gerecht, dass Sie Mr Moore den Vorzug geben!«

Ihr Professor seufzte. »Genau das meine ich. Sehen Sie, all Ihre Kollegen können meine Entscheidung ruhig aufnehmen. Frauen sind zu emotional für diesen Beruf.«

Ivy sog die Luft ein. Zorn wallte in ihr auf. Die belustigten Blicke der anderen Studenten brachten sie zur Weißglut. Es war nicht gerecht. Keiner von ihnen hatte härter dafür gearbeitet oder bessere Ergebnisse erzielt! Eine Antwort brannte auf ihrer Zunge, die sie mit Mühe herunterschluckte. Sie würde sich nur blamieren.

Stattdessen senkte sie den Blick. »Natürlich. Entschuldigung, Professor Thompson.«

»Möchte sich sonst noch jemand über meine Entscheidung beschweren? Nein? Na bitte, geht doch. Mr Carlton, Mr Moore, ich habe hier eine Liste mit Gegenständen, die Sie für den Auftrag benötigen werden …«

Ivy drehte sich um und stürmte aus dem Hörsaal, so leise und unauffällig, wie sie konnte. Jemand kicherte. Die Gänge begannen sich zu drehen. Sie fuhr sich mit der Hand durch das Gesicht und erinnerte sich an ihre Ausbildung. Atmen. Es bestand keine Gefahr. Doch warum fühlte es sich dann so an, als würde ihr der Boden unter den Füßen wegbrechen?

Adrian stolperte neben ihr auf den Gang. In der Hand hielt er die Mappe, die Professor Thompson ihm gegeben hatte. Seine Wangen glühten vor Wut. »Er hat dich nur übergangen, weil du eine Frau bist!«

»Das habe ich selbst bemerkt«, erwiderte Ivy.

»Aber das ist nicht gerecht. Wir sollten uns beim Rektorat beschweren! Ich kann von dem Auftrag zurücktreten und zu jemand anderem gehen, wenn du magst.«

Sie schüttelte den Kopf. »Eine Beschwerde würde nichts bringen. Professor Thompson würde einfach abstreiten, dass er mich benachteiligt hat. Die Professoren können entscheiden, wen sie mitnehmen. Du hast es verdient. Ich meine, eine Geisterstadt! Das war, wovon wir geträumt haben.«

»Was für ein Arsch.« Adrian lief aufgebracht hin und her. »Mach dir nichts aus ihm. Du wirst einen der anderen Plätze haben. Die Burgruine von Professor Spinster sah beeindruckend aus.«

Ivy spürte, wie sich Tränen in ihren Wimpern sammelten. »Ich habe mich nur bei ihm beworben. Ich war so naiv, ich dachte, er würde mich sicherlich nehmen. Die meisten Dozenten haben sicher schon jemanden für ihre Austreibung. Es kommt nicht gut an, wenn ich mich so spät bewerbe. Wenn ich niemanden finde, kann ich mein Studium erst im nächsten Semester abschließen!«

Er blieb stehen. »Verdammt.«

Sie wischte sich über die Augen. Das ging alles schrecklich schief …

Adrian hob die Hand, um sie auf ihre Schulter zu legen, und zog sie wieder zurück. Verlegen stand er neben ihr. »Ich glaube, Miss Feyler hat noch niemanden.«

»Miss Feyler?« Ivy schniefte. »Ist das nicht die Esoterikerin, die ein Seminar über Häuserflüstern hält? Die behauptet, dass man den Geistern nur gut zureden müsste, dann würden sie schon verschwinden?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ihre Bilanz ist ausgezeichnet. Sie hat vor ihrer Dozentenstelle mehrere Aufträge der Stufe 4 absolviert. Vielleicht ist an dem spirituellen Kram ja etwas dran?«

* * *

Zögerlich klopfte Ivy an die Tür des Arbeitszimmers. In den Händen hielt sie eine Mappe mit ihren Zeugnissen, Einsatzberichten und Empfehlungsschreiben von einigen ihrer Professoren. Sie hatte nie ein Seminar bei Miss Feyler belegt, es würde schwer sein, die Dozentin zu überzeugen.

»Herein!«

Die Stimme klang bestimmt, aber freundlich. Ivy betrat den Raum. Auf den ersten Blick wirkte es wie ein stattliches Arbeitszimmer: Regale voller Fachbücher und ein mit Notizen beladener Schreibtisch, über dem das Bild eines Herrenhauses hing. In einer Ecke stand eine Vitrine mit Artefakten von Austreibungen. Ivy erkannte eine Puppe, einen rostigen Schlüssel und ein Holzkreuz. Der Raum versprach Kenntnisse von Theorie und Praxis. Doch Miss Feyler selbst brach das Bild.

Ihr Haar war weiß, wie Ivy missbilligend bemerkte. Sie war um die dreißig, recht jung für eine Dozentin. Die Haare konnten also nur durch den Einfluss einer starken Manifestation ausgebleicht sein. Der Spuk hatte ihr beinahe die Seele ausgesaugt – ein grober Fehler. Ivy hasste es, wenn Exorzisten unvorsichtig waren. Ansonsten machte Miss Feyler einen aufgeweckten Eindruck. Sie trug ihre Uniform, Zylinder und Mantel hingen an einem Kleiderständer neben der Tür. Ihren stahlgrauen Augen schien keine Regung zu entgehen.

Ivy räusperte sich und trat näher. Etwas bewegte sich hinter dem Schreibtisch. Instinktiv duckte sie sich und hob ihre Arme zur Verteidigung über den Kopf. Doch es war nur eines dieser Aufziehspielzeuge, die reiche Damen sich leisteten. Ein Hund aus Metall mit blitzenden Glasaugen. Miss Feyler strich mit ihrer Hand über seinen Kopf.

»Ist schon gut, Robby, es ist ein Gast.« Sie lächelte Ivy an. »Gute Reflexe. Setz dich doch.«

Sie redete mit ihrem Spielzeughund. Ivy biss die Zähne zusammen. Schlimm genug, dass sie mit Häusern verhandeln wollte. Aber ihrer Vorliebe für Unterhaltungen mit leblosen Gegenständen schienen keine Grenzen gesetzt zu sein. Am liebsten wäre Ivy sofort wieder gegangen. Leider war Miss Feyler ihre letzte Chance, das Studium in der vorgesehenen Zeit zu beenden. Sie brauchte einen Platz für ihre praktische Abschlussprüfung.

Also zwang sie sich zu einem zuckersüßen Lächeln und setzte sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. »Was für ein bezaubernder Hund. Er war sicher sehr teuer.«

»Oh ja. Es hat mich einiges gekostet, ihn zu bekommen. Aber deshalb bist du nicht hier, oder?«

Gott, sei Dank wollte sie nicht weiter über ihr Haustier reden. »Genau! Ich wollte fragen, ob ich Sie bei einer Ihrer Austreibungen begleiten kann. Ich brauche noch einen Platz für meine Prüfung und Ihre Arbeit ist beeindruckend.«

Miss Feyler verzog das Gesicht. »Wenn du dich mit meiner Arbeit beschäftigt hättest, wüsstest du, dass ich keine Austreibungen von Stufe 2 oder höher mehr annehme. Ich sehe diese Stelle als eine Art Ruhestand. Hast du dich nicht bei jemand anderem beworben?«

»Ich habe es nur bei Professor Thompson versucht. Er hat vor, eine Geisterstadt auszutreiben. Das wollte ich mir unter keinen Umständen entgehen lassen«, gestand Ivy.

Miss Feylers Blick wurde mitfühlend. »Ich kann mir denken, warum Prof Thompson dich nicht genommen hat. Mach dir nichts draus, Geisterstädte sind langweiliger, als man denkt. Meistens werden sie aufgegeben, weil die Minen leergeschürft sind. Keine besonders mächtigen Emotionen, um den Spuk zu befeuern.«

»Wenn Sie das sagen …« Ivy startete einen letzten verzweifelten Versuch. »Falls sich ihre Meinung in den nächsten Monaten ändern sollte, würde ich Sie gerne auf eine Austreibung begleiten. Bitte, ich habe meine Referenzen dabei.«

Sie hielt Miss Feyler ihre Unterlagen entgegen. Die Mappe zitterte leicht in der Luft, was weder Ivy noch Miss Feyler entging. Die Dozentin nahm die Unterlagen entgegen und blätterte durch die Seiten. »Nur Bestnoten, ein Empfehlungsschreiben von Mr Bennet … Es wäre eine Schande, wenn du damit nicht genommen wirst.«

Ivy hielt die Luft an.

Miss Feyler seufzte. »Na gut. Es wird schon eine ungefährliche Austreibung geben, die wir übernehmen können. Hast du mein Lehrbuch gelesen?«

»Noch nicht.« Ivy schwankte zwischen Erleichterung und Enttäuschung. Sie hatte sich einen großen Fall für den Start ihrer Karriere gewünscht.

Miss Feyler schob ihren Stuhl zurück und stand auf, um einige Schritte vom Schreibtisch zum Regal zu machen. Sie stützte sich dabei auf einen Spazierstock. Ihr linker Unterschenkel war amputiert worden, stattdessen trug sie eine Prothese. Jedoch keine moderne Version der Gilde, die Bewegungsabläufe perfekt imitieren konnte, sondern ein Holzbein. Die Dozentin zog ein Buch aus dem Regal und reichte es Ivy. Sie las die Überschrift. Über die Seelen von Spukhäusern– Techniken des Zuhörens, Klärens und Besänftigens zur Geisteraustreibung. Magnolia Feyler, Häuserflüsterin.

Ivy unterdrückte ein Seufzen, als sich die Bürotür hinter ihr schloss. Was hatte sie sich nur eingebrockt? Man erzählte sich an der Akademie, dass Miss Feyler exzentrisch war. Dass es so weit ging, dass sie Spukhäusern Seelen zuschrieb, hatte Ivy nicht befürchtet. Sie schüttelte den Kopf.

»Miss Jones?«

Als sie aufschaute, stand Mr Bennett vor ihr. Sie beeilte sich, einen Knicks vor dem Gildenmeister zu machen.

Er gab ihr mit einem Wink zu verstehen, dass die Ehrerbietung nicht nötig war. »Sollten Sie nicht auf Ihrer Prüfungsaustreibung sein? Nach Ihrer herausragenden theoretischen Arbeit bin ich sehr gespannt auf Ihren Abschlussbericht.«

Sie lächelte nervös. »Miss Feyler und ich haben uns noch nicht auf einen Fall geeinigt.«

Er hob eine Augenbraue. »Miss Feyler? Jedes Mal, wenn ich ihr einen Fall vorlege, erhalte ich eine Absage. Sie meint, bei ihrem letzten Einsatz hätte es genügend Grausamkeiten für eine gesamte Laufbahn gegeben. Wie haben Sie es geschafft, sie zu einer Austreibung zu bewegen?«

Ivy errötete. »Ich schätze, ich habe gebettelt.«

Der Gildenmeister schmunzelte. »Darauf bin ich nicht gekommen. Aber ich bin froh, Miss Feyler wieder im Einsatz zu sehen. Eine brillante Exorzistin.«

»Die Frau redet mit ihrem Aufziehhund«, entfuhr es Ivy.

»Ach, die meisten Exorzisten sind ein wenig sonderbar. Das Gewöhnungsbedürftige an Miss Feyler sind ihre Techniken. Egal, welchen Kollegen ich ihr zugeteilt habe, immer gab es Streit um die richtige Vorgehensweise. Habe ich sie allein ausgesandt, waren selbst die schwersten Fälle kein Problem. Mein Rat wäre, Sie folgen ihren Anweisungen, egal, wie merkwürdig es scheinen mag.«

»Was ist mit dem Bein?«

Er zuckte mit den Schultern. »Berufsunfall.«

»Das habe ich mir gedacht. Ich meine, warum ein Holzbein?«

Sein Blick verdunkelte sich. »Welche Prothese ein Gildenmitglied trägt, ist eine persönliche Entscheidung und hat niemanden etwas anzugehen, Miss Jones. Ich würde vorschlagen, dass Sie Miss Feylers Einschätzungen zu respektieren lernen. Wie ich bereits sagte, haben wir es hier mit einer brillanten Exorzistin zu tun, die Ihnen in vielen Dingen weit voraus ist.«

Ivy senkte den Kopf. »Ich werde es mir merken. Danke, Mr Bennet.«

Sie sah auf das Buch in ihren Händen. Vielleicht würde es ihr helfen, ihre Lehrerin zu verstehen. Immerhin war Miss Feyler ihre letzte Hoffnung, den Abschluss dieses Semester zu schaffen.

* * *

Drei Tage später saß Ivy zwischen den Regalen der Akademiebibliothek. An den Tischen wälzten andere Studenten Lehrbücher und Aufzeichnungen vergangener Austreibungen für ihre Hausarbeiten. Ihre Gesichtsausdrücke sahen gequält aus, doch Ivy liebte diesen Ort. Es war leise, aber nie still. Regen prasselte gegen die Fenster, Seiten raschelten, gedämpfte Gespräche wurden in den Leseecken geführt. Das Quietschen einer der Rollleitern störte die Atmosphäre. Die Räder mussten dringend geölt werden.

Ivy saß in einem der Lehnsessel in einer Nische der Bibliothek. Das Lehrbuch von Miss Feyler lag aufgeschlagen in ihrem Schoß. Es war spannend zu lesen, besonders die Beispiele, die für die Techniken beschrieben wurden. Ivy konnte sich nicht vorstellen, wie etwas davon tatsächlich funktionierte, und das Spüren von Schwingungen kam ihr abergläubisch vor. Aber zumindest brachte Miss Feyler Beweise für ihre Theorien an. Vielleicht war sie nicht so weltfremd, wie Ivy befürchtet hatte.

Ein Räuspern riss sie aus ihren Gedanken. Miss Feyler stand vor ihr, den Aufziehhund an ihrer Seite. Die beiden schien es nur im Doppelpack zu geben. Das Tier wedelte mit dem Schwanz, was ablenkend gewesen wäre, wenn Miss Feylers Blick nicht so intensiv gewesen wäre.

»Planänderung«, sagte sie ernst. »So sehr es mir widerstrebt, wir werden auch zu dieser Geisterstadt fahren.«

Ivys Mund stand offen. »Wieso das?«

»Weil Prof Thompson nicht weiß, worauf er sich da einlässt.« Sie schnaubte ärgerlich. »Die Erkundungen ergaben ein mittleres Intensitätsniveau des Spukes, aber das ist hier nicht entscheidend. Es ist die Art des Spukes, die diese Stadt so gefährlich macht!«

»Ich dachte, Sie finden Geisterstädte langweilig …?«

Miss Feyler winkte ab. »Normalerweise. Es geht um die Leitemotion.«

Ivy verstand gar nichts mehr. »Leitemotion?«

»Ein neues Konzept, das ich gerade ausarbeite. Nach meiner Theorie übernimmt das Haus – oder in diesem Fall die Stadt – die Emotionen der ehemaligen Bewohner. Das prägende Gefühl entscheidet darüber, wie der Spuk agiert. Meistens ist das Angst oder Wut. Das Gebäude handelt demnach wie ein verletztes Tier. Deshalb sind sanfte, beruhigende Techniken so sinnvoll.«

Ivy nickte eifrig, erleichtert, endlich etwas zu verstehen. »Ja, das habe ich in Ihrem Buch gelesen! Sie raten von einem invasiven Vorgehen ab, da das die Situation eskalieren könnte, und empfehlen stattdessen … ungewöhnlichere Techniken. Zum Beispiel die Pflege des Gartens, um den Spuk zu besänftigen.«

»Das wird hier nicht viel bringen«, erwiderte Miss Feyler trocken. Ivy bemerkte, dass ihre Finger nervös über den Knauf ihres Spazierstocks fuhren. »Normalerweise ist die Leitemotion einer Geisterstadt Enttäuschung. Geplatzte Träume, verlorene Arbeitsplätze – kein besonders gefährlicher Spuk. Aber Port …«

Langsam begann Ivy zu begreifen. »Die Stadt Port wurde nicht wegen erschöpfter Minen oder falscher Kalkulationen aufgegeben. Es ist eine Stadt in Irland, die im Laufe der großen Hungersnot vor zwei Jahrzehnten verlassen wurde …«

»Richtig. Das bedeutet, die Leitemotion ist Verzweiflung. Der Spuk wird vor nichts zurückschrecken, um seinen Willen zu bekommen. Und viel schlimmer als das: Es gibt ein zweites prägendes Gefühl …« Miss Feyler holte tief Luft. »Hunger.«

KAPITEL1

Der Stadtrand

Logbuch von Miss Magnolia Feyler; Häuserflüsterin

Irland, 25. Januar 1867, Tag 1 der Geisteraustreibung

Miss Jones und ich sind gestern mit dem Luftschiff in Dublin gelandet, jetzt sind wir mit dem Zug unterwegs in Richtung der Geisterstadt Port. Ich hoffe, Prof Thompson noch zu erwischen, bevor er sich zu weit in die Stadt vorwagt. Dies ist meine erste größere Austreibung seit einer Weile und ich bin überzeugt, dass es sich um einen Fall der Stufe 4 handelt – nicht um einen der Stufe 2, wie veranschlagt.

Mich begleitet Miss Ivy Jones, Exorzistin ersten Ranges, als Studentin in ihrer Abschlussprüfung. Sie hat bisher keinerlei Erfahrung mit meinen Methoden, aber versicherte mir, schnell lernen zu können. Mein Lehrbuch hat sie zumindest gelesen. Ausrüstung vollständig, große Mengen an Proviant vorhanden.

Magnolia sah von ihrem Logbuch auf und musterte ihre Schülerin. Ivy war stämmig, eher klein und hatte ein rundes Gesicht. Auf den hochgesteckten braunen Strähnen ruhte ein Hut. Statt ihre Uniform gleich anzulegen, war ihre Wahl auf ein hochgeschlossenes Kleid und Stoffhandschuhe gefallen. Dafür hatte das Mädchen bergeweise Gepäck dabei. Ein Chauffeur hatte die Koffer am Bahnhof abgeladen. Niemand war gekommen, um sich zu verabschieden, obwohl sie einen Verlobungsring trug.

Ivy starrte angestrengt aus dem Fenster, als wollte sie jetzt schon jeden Geist abmurksen, der ihr über den Weg lief. Magnolia lehnte sich auf ihrem Sitz zurück. Sie hatte die Abschlussarbeit des Mädchens gelesen. Ein hervorragend recherchierter Text, aber treu den klassischen Sichtweisen des Exorzismus ergeben. Geister als eine Ausgeburt der Hölle, die von dieser Welt getilgt werden mussten.

Magnolia mochte Exorzisten nicht besonders, obwohl es ihre offizielle Berufsbezeichnung war. Ihr eigener Ansatz war feinfühliger und erlaubte mehr Verständnis für die verlorenen Seelen, die sich in Spukhäusern herumtrieben. Dass ihre Arbeit als Häuserflüsterin ihr in der Gilde den Ruf einer Exzentrikerin eingebracht hatte, nahm sie hin. Sie war am Leben. Das reichte als Beweis, dass an ihren Theorien etwas dran war.

Robby hatte seinen Kopf auf ihren Schoß gelegt. Es machte ihr nichts aus, dass sich die Kanten seines Metallkinns dabei in ihren Oberschenkel bohrten. Mit einem Lächeln begann sie, ihn hinter den Ohren zu kratzen. Es war fraglich, ob er etwas davon spürte, aber er liebte die Aufmerksamkeit.

Tiere waren in dem Abteil nicht erlaubt, aber niemand hatte etwas gegen ein Accessoire einzuwenden gehabt. Ivy rümpfte die Nase über ihn, wenn sie glaubte, Magnolia würde es nicht sehen. Was schade war, denn Robby liebte es, neue Leute kennenzulernen. Die ganze Fahrt über beobachtete er Ivy aus seinen Glasaugen. Magnolia beschloss, dem Mädchen eine Chance zu geben. Ihr Ehrgeiz erinnerte sie an sich selbst in jungen Jahren. Und früher oder später könnte Magnolias Leben davon abhängen, ob Ivy tatsächlich so schnell lernte, wie sie behauptete …

Zu dieser Jahreszeit sahen selbst die grünen Hügel Irlands vor dem Fenster fahl aus. Vorhänge aus Regen hingen über dem Horizont und die Wolken der Dampflok stiegen zu einem grauen Himmel empor. Schafe drängten sich auf den Wiesen zusammen und der Wind hatte alle Blätter von den Bäumen gerissen. Vereinzelt zogen heruntergekommene Dörfer vorbei, Ansammlungen von schiefen Häusern und schlammigen Straßen. Schließlich fuhr der Zug in den Bahnhof einer Kleinstadt ein, von der aus sie nach Port weiterreisen würden.

Magnolia trat auf den einsamen Bahnsteig und wich dabei Pfützen und Müll aus. Die Fenster des Bahnhofsgebäudes waren mit Brettern verschlagen. Robby sprang hinter ihr aus dem Zug und rannte zu einer Hausecke, an der er aufgeregt schnüffelte. »Friss ja nicht den Dreck auf dem Boden! Dann muss ich wieder deine Zahnräder reinigen«, rief Magnolia ihm hinterher.

Ivy mühte sich neben ihr mit ihren Koffern ab. Magnolia entging nicht, wie sie dabei mit den Augen rollte. Ein Mitarbeiter der Railway Company half ihnen mit den Kisten und Zeltplanen. Während Magnolia für ihre persönliche Ausrüstung einen Aktenkoffer und eine Reisetasche benötigte, stapelte sich der Gepäckturm neben Ivy beinahe bis zu ihrer Schulter. Ob sie glaubte, ein passendes Outfit für ein Teekränzchen und eine Abendgala zu brauchen? Magnolia biss sich auf die Zunge. Sie würde Ivy eine Chance geben.

»Die Ausrüstung und der Proviant wurden vollständig abgeladen, Miss Feyler«, teilte Ivy ihr folgsam mit, nachdem sie die Anzahl der Kisten mit einem Eintrag in ihrem Logbuch verglichen hatte.

»Gut, dann sieh nach der Kutsche. Man hat mir gesagt, dass sie am Bahnhof auf uns warten soll.«

Die Kutsche stellte sich als ein Holzwagen heraus, der bisher sicherlich nur Kartoffeln transportiert hatte. Dazu gehörten ein alter Klepper und ein noch älterer Kutscher. Dieser zog sich die Kappe vom Kopf und nickte ihnen zu. Er schenkte beiden ein Lächeln und sagte in deutlichem irischem Akzent: »Als man mir sagte, ich solle einen zweiten Trupp Exorzisten nach Port bringen, habe ich etwas anderes erwartet. Es ist mir eine Ehre, zwei so schönen jungen Damen zur Hilfe zu sein.«

Magnolia winkte ab, bevor die Unterhaltung ausufern konnte. »Danke. Setzen Sie uns einfach in sicherer Entfernung von der Stadt ab, wie mit der Gilde vereinbart.«

Es dauerte, bis sie ihr Gepäck auf der Ladefläche verstaut hatten und sich im Schritttempo auf nach Port machten. Nieselregen fiel auf sie herab, kaum schwerer als Nebel. Das Pferd scheute, wenn es Robby sah, weshalb Magnolia in sicherer Entfernung hinter den anderen herlief. Ivy saß auf dem Kutschbock und bemühte sich um Konversation, während der Kutscher das Pferd führte oder sich hinter den Karren stemmte, wenn er im Schlamm stecken blieb.

Magnolia hielt sich auf dem Grasstreifen in der Mitte des Weges, damit ihr Holzbein nicht im Matsch einsank. Robby sprang aufgeregt umher, sein silberner Körper war überzogen mit Schlammspritzern. Ihn zu putzen, würde eine Ewigkeit brauchen, dennoch freute es sie, ihn so ausgelassen zu sehen. Ihm sagten London und die Akademie weit weniger zu als ihr selbst. Sie liebte die Großstadt, während er in der Natur am glücklichsten war.

Als sie die anderen einholte, sprachen diese bereits darüber, wo die Ausrüstung abgeladen werden sollte.

»Könnten Sie die Kisten bitte zum ersten Gebäude der Stadt bringen?«, fragte Ivy.

»Kommt nicht infrage«, fuhr Magnolia dazwischen.

Die Studentin sah überrascht zu ihr herüber. »Warum nicht? Wenn wir die Geisterstadt mit einem Spukhaus gleichstellen, wäre das die Eingangstür. Das Handbuch Basen in Geisterhäusern legt explizit fest, dass die Haustür in der ersten Basis enthalten sein sollte.«

»Es legt auch fest, dass man sich bei Aufträgen möglichst wenig im Spukhaus aufhalten sollte. Außerdem sind diese Regeln wertlos. Wohin eine Basis gehört, hängt immer vom Spuk ab.«

Magnolia sah sich um. Das Erste, was ihr ins Auge stach, war, wie arm die Gegend war. Einfache Hütten, umzäunte Felder, nur wenige mehrstöckige Gebäude. Die Natur hatte in den letzten zwanzig Jahren begonnen, die Stadt zurückzuerobern. Die Strohdächer konnten der Witterung nichts entgegensetzen und überall spross Unkraut aus den Straßen. Der Kirchturm ragte wie ein einsamer Wächter zwischen den Häusern auf. Sein Stolz wurde durch die Krähen getrübt, die sich zwischen den Glocken eingenistet hatten und auf den Ziegeln saßen. Hinter der Stadt begann das Meer. Unablässig nagten die Wellen an dem hölzernen Pier, bis er in die Fluten stürzen würde.

Sie schloss die Augen. Der Wind schlug ihr kalt entgegen und brachte den Geruch von Salz und Fisch mit sich. Doch sie spürte die Schwingungen, die von der Stadt ausgingen. Dumpf, aber stark. Ihr Magen verkrampfte sich. Tiefe Verzweiflung ging von diesem Ort aus. Sie öffnete die Lider und blinzelte ein paar Mal.

Hinter den Stadtgrenzen erhoben sich windgepeitschte Hügel. Früher hatte hier Vieh gegrast, heute übersäten Hecken die Weiden. Magnolia deutete auf einen Schuppen. »Bringen Sie unsere Kisten bitte dorthin. Ich bezahle für den Mehraufwand.«

Ivy verzog das Gesicht beim Anblick der Bruchbude. Dann nickte sie gewissenhaft. »Die Basis sollte in sicherem Abstand zum primären Wirkradius errichtet werden. Da wir diesen noch nicht eingrenzen können, wird es außerhalb der Stadt sicherer sein. Darf ich Ihnen beim Reinigungsritual behilflich sein?«

»Sicherlich«, murmelte Magnolia abwesend. Ihre Aufmerksamkeit war noch immer von der Aura der Stadt gefangen. Erst einmal waren ihr solch starke Schwingungen so weit abseits des Gebäudes begegnet. Damals hatte sie sich geschworen, nie wieder Fuß in ein solches Geisterhaus zu setzen. Worauf hatte sie sich nur eingelassen?

* * *

Die Hütte hatte kein Dach mehr und die drei Wände bestanden aus aufeinandergestapelten Steinen. Vor langer Zeit schien es einmal ein Stall gewesen zu sein, denn die einzige Einrichtung bestand aus einem Trog voll Regenwasser und einem Eimer. Magnolia stellte ihre Tasche ab. »Es ist perfekt.«

Ivy warf ihr einen Seitenblick zu. »Wie sollen wir hier einen Bannkreis ziehen? Der Boden ist voll Schlamm.«

»Wir werden eine Salzlinie um die Hütte streuen und einige Schutzrunen an die Wände zeichnen, das sollte genügen. Ich spüre hier genauso wenig Schwingungen wie im Zugabteil vorher. Wir sollten sicher sein.«

Ivy zog einen Apparat aus ihrer Manteltasche, fuhr die Antenne aus und begann, an den Knöpfen herumzudrehen. Ein MgA oder Messgerät gespenstischer Aktivität. Magnolia schnappte es ihr aus der Hand und warf es achtlos in ihren Aktenkoffer.

»Hey!«, entfuhr es Ivy. »Sie haben doch gesagt, das MgA kommt am nächsten an das Konzept Ihrer Schwingungen heran.«

»Ich habe auch gesagt, dass es völliger Humbug ist und viel zu ungenau. Es kommt auf die Qualität der Schwingungen an, nicht nur auf die Quantität!«

»Was soll ich dann tun?«

»Schließ die Augen und versuche, die Energie des Raumes zu spüren.«

Ivy kam ihrer Anweisung nach und warf die Stirn in Falten, als würde sie eine Rechenaufgabe lösen. »Ich spüre gar nichts«, sagte sie schließlich.

»Eben«, entgegnete Magnolia. »Dann können wir ja unser Lager aufschlagen.«

Während Magnolia mit großzügigem Abstand eine Salzlinie streute, bereitete Ivy das Reinigungsritual vor. Sie räucherte jeden Winkel des Raumes aus und zog die Zeichen mit Sorgfalt. Der Kutscher beobachtete die beiden, wann immer er eine der Kisten abstellte.

Nachdem die Hütte gegen Geister gesichert war, kam die Witterung dran. Eine Plane auf dem Boden bedeckte den Matsch und eine zweite diente als Dach. Gemeinsam errichteten sie ihre Zelte und legten das Innere mit Filzdecken aus. Die Kisten bildeten einen ausreichenden Windschutz zur offenen Seite der Hütte. Sie entzündeten eine Feuerschale mit der mitgebrachten Kohle und drängten sich darum, als mit der Dunkelheit auch die Winterkälte hereinbrach.

Wir haben einen sicheren Rastplatz in einem Stall außerhalb der Stadt gefunden. Eine Basis der Stufe 0 sollte genügen. Mein Plan ist, mir zunächst einen Überblick über die Lage zu verschaffen und eine Gelegenheit zu finden, Ivys Gespür für Schwingungen zu überprüfen. Sie beherrscht die Standardtechniken des Exorzismus, doch für diesen Fall ist es unabdinglich, dass sie meine Methoden lernt.

Sie sah von ihren Notizen auf und entdeckte einen Faden Rauch, der aus einem der Schornsteine am Stadtrand aufstieg. Das musste Prof Thompsons Truppe sein. Magnolia vermerkte sich die Position auf einer Skizze und klappte ihr Logbuch zu.

»Morgen werden wir mit einer Umrundung der Stadt beginnen«, sagte sie und schob sich ein Stück Brot in den Mund. »Danach ist unser oberstes Ziel, die anderen zu finden und zu warnen, ohne uns selbst in Gefahr zu bringen. Wir sollten bald schlafen, wir werden unsere Energien brauchen.«

Ivy nickte und machte sich daran, das Feuer mit dem gusseisernen Deckel zu löschen. Sofort eroberte die Nacht den Raum zurück. Magnolia stand auf, streckte sich und kroch dann in ihr Zelt. Sie nahm ihre Prothese ab, schlang die Decke um sich und versuchte zu schlafen. Die Kälte machte ihr zu schaffen. Wenn die Temperaturen sanken, weckte das manchmal ein Ziehen in ihrem Unterschenkel, der längst nicht mehr da war. Dann rieb sie ihren Stumpf, als könnte das das Gefühl vertreiben.

Unzufrieden warf sie sich auf ihrem Lager herum. Wäre Robby ein lebendiger Hund gewesen, hätte sie sich an ihn gekuschelt, um etwas von seiner Wärme abzubekommen. Doch so war sein metallener Körper kalt wie Eis. Mitten in der Nacht erklang ein Schluchzen aus Ivys Zelt.

* * *

Port, 26. Januar 1867, Tag 2 der Geisteraustreibung

Muss noch in Betracht ziehen, wie ich mein Vorgehen an eine Geisterstadt anpasse. Mir eröffnet sich eine spannende wissenschaftliche Frage: Agiert die Stadt als Eins oder handeln die Häuser für sich? In jedem Fall ist größte Vorsicht geboten und ich muss meine Methoden anpassen. Schließlich kann ich keine ganze Stadt putzen.

Magnolia schlug missmutig die Zeltplane beiseite. Die Nacht war unruhig gewesen und ihre Zehen fühlten sich an, als würden sie bald abfallen. Es war lange her, dass sie von Albträumen aus dem Schlaf gerissen worden war. Normalerweise halfen die Tropfen, die ihr der Doktor verschrieben hatte. Es musste die Anwesenheit des Spukes sein, die alte Geister weckte.

Ivy war schon auf den Beinen und kochte Porridge. Der Geruch von frischgebrühtem Tee aus einer Blechkanne brachte ein Lächeln auf Magnolias Gesicht. Es gab nichts Besseres, wenn man müde und durchgefroren war, als eine Tasse Schwarztee.

Sie ließ sich auf eine Kiste sinken, schenkte sich einen Becher ein und schlang ihre Finger darum. Nach einem Schluck zog sie eine Salbe aus ihrer Tasche und begann, ihren Stumpf einzureiben. Früher war es merkwürdig gewesen, über die Narben zu fahren. Besonders am Anfang, als die Stelle schmerzhaft und geschwollen war. Mittlerweile war der Stumpf ein Teil von ihr geworden, dessen Form ihr vertraut war. Während die Creme in die Haut einzog, schlürfte sie ihren Tee.

Nebel stieg von den Wiesen auf und schlich in die Stadt. In der Ferne versuchte die Sonne vergeblich, die Schwaden zu durchbrechen. Kein Vogel war zu hören, von dem Krächzen der Krähen abgesehen. Im Gegensatz zu anderen Tieren fürchteten Aasfresser den Tod nicht. Magnolia schauderte. Dieser Ort war verdammt, das spürte sie, egal wie friedlich er sich gab.

Ivy hatte endlich ihre Exorzistenuniform angelegt, dennoch hielt sie ihre Knöchel damenhaft gekreuzt. Auf ihren Knien lag ihr Logbuch. »Einen schönen guten Morgen, Miss Feyler.«

»Guten Morgen«, wünschte Magnolia und warf einen Blick auf Ivys Notizen. Das Mädchen war dabei, einen Stadtplan zu skizzieren, der um einiges professioneller aussah als ihre eigenen Kritzeleien. Sie stocherte mit dem Holzlöffel im Porridge herum, um zu sehen, ob er bald fertig war. »Worauf muss man bei einer ersten Umrundung achten?«

»Ein- und Ausgänge«, antwortete Ivy wie aus der Pistole geschossen. »Auch für Notfälle, also Fenster und Balkone. Auffälligkeiten im Allgemeinen und alles, was auf einen Spuk hindeutet.«

Magnolia klatschte einen Schöpfer Porridge in ihre Schüssel. »Und?«

Ivy brauchte einen Moment. »Man bewertet die Schwingungen, richtig? Ähm … versucht, ihre Stärke auf der Feyler-Skala einzuschätzen und Anhaltspunkte zu finden, mit welcher Art von Spuk man es zu tun hat.«

»Genau.« Magnolia wusste nicht, was dem hinzuzufügen war. Schwingungen musste man spüren, man konnte sie nicht beschreiben.

Robby saß vor dem Eingang des Stalles und beobachtete mit gespitzten Ohren die Felder. Was er dort draußen wohl sah? Einen Hasen oder einen Geist? Sie kratzte ihren Porridge aus und suchte dann nach dem Ölkännchen, um seine Zahnräder zu schmieren. Manchmal wünschte sie sich, das Öl würde auch gegen ihre steifen Gelenke helfen.

Ivy widmete sich ganz ihrer Skizze. Es entging Magnolia nicht, dass sie ihr Frühstück kaum anrührte.

»Hast du deinen Salzbeutel und dein Schutzamulett bereit? Ich möchte bald aufbrechen.«

Die Schülerin schreckte von ihrer Zeichnung auf. Ihre Hand fuhr zu dem Kreuz, das sie um den Hals trug. »Ich bin immer bereit, Miss Feyler. Ich warte nur auf Ihre Befehle.«

Magnolia verzog das Gesicht. »Gut, dann … los.«

Sie zog einen Strumpf und das Holzbein über, packte ihre Aktentasche und stiefelte aus der Hütte. Hinter ihr erklangen die Geräusche einer Basis, die hastig zum Aufbruch fertig gemacht wurde. Magnolia wusste nicht, wie man mit Schülern umzugehen hatte. Ihre Erfahrung beschränkte sich auf die Behandlung von Häusern. Sie würde zusehen, dass Ivy am Leben blieb, das musste reichen.

Robby folgte ihr auf den Fersen. Normalerweise nutzte er jede Gelegenheit, die sie außerhalb Londons verbrachten, um über die Felder zu jagen. Er musste die Gefahr ebenfalls wittern. Natürlich, sie hatte ihn aus einem Spukhaus gerettet. Diese Welt war ihm nicht fremd. Magnolia tätschelte seinen Kopf, dankbar für das Gefühl der Sicherheit, das er ihr gab.

Ivy tauchte neben ihr auf, Logbuch und Stift gezückt. »Zählt jede Straße als Eingangstür in die Stadt?«

Die Häuserflüsterin zuckte mit den Schultern. »Ich schätze schon.«

»Was ist mit den tatsächlichen Türen? Sie würden wahrscheinlich den Fenstern eines Hauses entsprechen, wenn sie aus der Stadt führen. Aber was sind dann die Fenster? Und die Gartenmauern, die niedrig genug sind, darüber zu klettern?«

Magnolia warf einen Blick auf ihre Skizze. »Wenn du alle Fenster einzeichnest, kann man dann noch etwas erkennen?«

Ivy betrachtete ihren Plan, dann schüttelte sie den Kopf. »In Ordnung. Nur die Straßen.«

Langsam umrundeten sie die Stadt. Magnolia ging voraus, spürte den Schwingungen nach. Sie musste sich eingestehen, dass es ihr gefehlt hatte. Die Vibrationen auf der Haut, den Ruf der Geister. Welches Geheimnis ihr die Fassaden wohl erzählen wollten? Geschichten von Angst und Verderben, Verzweiflung und Tod. Ein angenehmer Schauer breitete sich über ihren Nacken aus.

Sie gingen mit Abstand zur Stadt, dennoch konnte Magnolia das Unheil in der Luft spüren. Es legte sich auf ihre Schultern und drohte, sie zu Boden zu drücken. Hier mussten vor Jahrzehnten die Felder der Menschen gewesen sein. Sie konnte es erahnen – die erstickende Hoffnungslosigkeit, als Ernte um Ernte verfaulte.

Niedere Mauern aus Steinen grenzten die Felder voneinander ab. Die Bauern hatten die Brocken aus dem Boden geholt. Magnolia hatte keine Ahnung von Ackerbau, aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass es einfach war, etwas in dieser kargen Landschaft anzubauen. Umständlich kletterte sie über die Abgrenzungen. Die Parzellen waren bisweilen winzig. Selbst wenn die Ernte gut war, konnte eine Familie davon kaum über die Runden gekommen sein. Ihr Magen zog sich zusammen. Sie hatte gewusst, dass die Menschen in Irland arm waren, doch hier, umgeben von den Nachbeben ihres Leids, spürte sie es.

Es führen vier größere Straßen aus der Stadt hinaus und Dutzende Durchgänge zwischen den Häusern. Die umgebenden Felder scheinen zur Stadt zu gehören. Port reicht auf beiden Seiten bis an den Strand heran und liegt auf abschüssigem Gelände. Es gibt einen Güterhafen mit Lagerhallen und Kränen. Ein Bach findet seinen Weg aus dem Hinterland durch die Stadt ins Meer.

Größere Gebäude sind von außen wenig zu erkennen. Eine Kirche und ein Adelshaus, außerdem etwas, das ein Armenhaus gewesen sein könnte. Lagerhallen am Hafen und einige besser gebaute Gebäude, vielleicht Gasthäuser oder der Besitz von wohlhabenderen Bürgern. Ich vermute, dass es einen Marktplatz in der Nähe der Kirche gibt, aber das lässt sich von außen nicht verifizieren.

Ich konnte kaum Unterschiede in den Schwingungen erspüren. Überall das gleiche, erdrückende Gefühl. Es ist dumpf – nur 4 von 10 Punkten auf der Feyler-Skala, aber es macht mir Sorgen. Es wirkt resigniert: das Gefühl, das übrigbleibt, wenn aller Kampf vergebens war. Ich erwarte stärkere Emotionen (und damit Schwingungen) in der Stadt.

Konnte allerdings zwei Punkte mit besonderer Qualität ausmachen. Auf der breitesten Straße nahm ich eine 6 auf der Feyler-Skala und einen zornigen Unterton wahr. Die stärksten Schwingungen waren allerdings an einer Stelle am Bach mit einer 7. Von der Qualität her würde ich auf eine nicht aggressive Erscheinung tippen. Die ideale Stelle, um Ivys Fähigkeiten auf die Probe zu stellen. Ich werde sie zuerst die Schwingungen beschreiben lassen und dann ausnahmsweise eine Manifestationssuche durchführen, um ihr meine Methoden in einer relativ sicheren Umgebung zu präsentieren.

Sie standen auf dem Streifen Sand und blickten hinüber zum Hafen. Strände weckten in Magnolias Kopf das Bild von Sonne und dem Kontrast zwischen leuchtendem Blau, Weiß und Grün. Doch hier ging nur Grau in Grau über. Die Wellen spülten Treibholz und stinkenden Seetang an Land. Möwen machten sich in sicherer Entfernung zur Stadt über Krabben und anderes Kleintier her. Ihre Schreie hallten schrill über das monotone Rauschen des Meeres. Sand und Muschelschalen knirschten, als sie sich auf den Weg zurück zur Wiese machte.

Sie beäugte Ivy. »Du solltest deine Ausrüstung überprüfen. Es wird Zeit für deine erste Lektion in der Kunst des Häuserflüsterns.«

Sie fand die Stelle am Bach ohne Schwierigkeiten wieder. Wie beim ersten Mal spürte sie die Schwingungen klar und deutlich. Ein Stich in ihrem Herzen. Der Schmerz war stark, doch es lag keine Wut darin. Trauer, Angst vielleicht. Erwartungsvoll drehte Magnolia sich zu ihrer Schülerin um. »Was spürst du?«

Ivy biss sich auf die Lippen. »Es ist kalt. Die Stelle hier ist … irgendwie unangenehm, düster. Sind das die Schwingungen?«

»Es ist leichter, wenn du die Augen schließt«, fügte Magnolia hinzu.

Ivys Lider flatterten, während sie sich auf der Stelle drehte. Schließlich seufzte sie. »Es tut mir leid. Ich spüre nichts, außer der allgemeinen Bedrückung, die von einem verlassenen Ort ausgeht. Mein Herz schlägt schneller, aber das liegt daran, dass ich Ihren Test nicht bestehe.«

Magnolia konnte ihre Enttäuschung nur schwer verbergen. Wie sollte sie mit Ivy arbeiten, wenn die Schwingungen unbemerkt an ihr vorübergingen? Sie presste die Zähne zusammen. »Du scheinst ein gutes Gespür für dich selbst zu haben. Du wirst die Schwingungen schon erkennen, sobald du weißt, worauf du achten sollst. Hier, lass uns stattdessen etwas anderes probieren. Mach bitte einige Schritte zurück.«

Sie öffnete ihre Aktentasche und holte einen Kristallstab in der Länge ihrer Handfläche heraus. Dann räusperte sie sich: »Mein Name ist Magnolia Feyler. Ich möchte nicht mit der Tür ins Haus fallen und ich weiß, dass es unhöflich ist, in den Wunden fremder Leute herumzustochern. Aber dies hier ist Miss Ivy Jones, eine Schülerin, die lernen möchte, wie sie helfen kann. Ich würde ihr gerne zeigen, wie man zuhört, falls du bereit bist, zu sprechen.«

Peinliche Stille, nur durchbrochen von Ivy, die mit den Füßen scharrte. Der Bach plätscherte und der Wind fuhr unbeeindruckt durchs hohe Gras. Robby schnappte nach einer Mücke.

»Sie führen eine Manifestationssuche durch?«, fragte Ivy schließlich.

»Richtig. Wie in meinem Lehrbuch erwähnt, kann dies das Haus anstacheln und einen schlechten Eindruck hinterlassen. Ich hoffe, dass die Erscheinung hier unabhängig vom Spuk in der Stadt ist, aber es bleibt ein Risiko. Halte dein Amulett bereit und bleibe zurück.«

Magnolia atmete tief ein und stieß die Luft aus, während sie den Kristall durch den betroffenen Bereich zog. Sie versuchte die Schwingungen einzufangen, die wie Nebel in der Luft hingen. Die Energien verfingen sich in dem Stein wie das Licht. Magnolia spürte, wie er in ihren Händen zu vibrieren begann. Es war, als würde er an Gewicht zunehmen, ihren Arm zu Boden ziehen. Mit einem tiefen Atemzug folgte sie dem Impuls und senkte die Spitze des Kristalls auf die Wiese. Mit einem Mal entluden sich die Energien.

Sie richtete sich auf. Etwas hatte sich verändert. Das Wasser im Bach schien anzuschwellen, als sich die Manifestation ereignete. Ein Schemen erschien in der Ferne. Je näher er kam, desto deutlicher wurden seine Umrisse. Es war eine junge Frau, die über die Wiese stolperte. Der Saum ihres Kleides war zerrissen, Strähnen ihres roten Haares fielen ihr ins Gesicht. Ihr Gang war stolpernd. Immer wieder sah sie über die Schulter, ohne eine Sekunde innezuhalten.

Magnolia konnte ihre Verzweiflung spüren. Wie Wellen gingen die Schwingungen von ihr aus. Ihre Augen zuckten wie die eines gehetzten Tieres. Schließlich schien sie Magnolia zu entdecken. Sie blieb wie angewurzelt stehen. Ihre Augen weiteten sich. Sie presste die Hand gegen die Brust und ihre Lippen formten ein stummes Gebet.

Behutsam kam Magnolia einen Schritt näher. Sie streckte eine Hand nach der Frau aus und erwiderte ihren Blick. Die Schwingungen wurden stärker, die Angst breitete sich auf Magnolia aus. Ihr Puls raste. Doch sie bemühte sich, ruhig zu bleiben. Diese junge Frau hatte etwas gesehen, das ihr Herz brach. Etwas, das ebenso starke Trauer hervorrief wie Angst. Sie brauchte jemanden, der ihr beistand – jetzt, in diesem Moment, der vor vielen Jahren geschehen war.

Die Illusion war so nah, dass Magnolia sie berühren konnte. Jede Regung in dem Gesicht vor ihr war erkennbar. Die Tränen in den Augen, die vor Schmerz zusammengepressten Lippen, der Schweiß auf ihrer Stirn. Magnolia legte ihre Hand sanft auf die Schulter der Frau. Da war ein Widerstand, kaum merklich. Als würden ihre Finger durch Wasser streichen, statt durch Luft. Der Geist sah sie mit großen Augen an, endlich ein Hauch von Hoffnung darin.

Plötzlich bohrte sich eine Klinge durch den Oberkörper der Frau. Fassungslos glitt ihr Blick hinab auf die Wunde in ihrer Brust. Schwarzes Blut quoll zwischen den Rippen hervor, sog sich durch den Stoff ihres Kleides. Bevor sie unter den Schmerzen zusammenbrechen konnte, löste sich ihr Körper auf. Sie schaffte es, den Kopf zu heben, um Magnolia einen letzten, anklagenden Blick zuzuwerfen. Warum hast du mich verraten?

Der Geist verschwand und stattdessen stand Ivy vor ihr. Sie hatte eine geduckte Haltung eingenommen und atmete schwer. In ihren Händen blitzte die Klinge eines Silberdolches.

KAPITEL2

Cattle Lane

Port, 26. Januar 1867, Tag 2 des Exorzismus

Miss Feyler ist wütend. Sehr wütend. Sie hat sogar ihren Aufziehhund auf mich gehetzt. Er hätte mich beinahe gebissen, was mit ziemlicher Sicherheit auf eine Fehlfunktion des Modells schließen lässt. Und ich kann beim besten Willen nicht verstehen, was sie so zornig macht.

Sie nutzte die Manifestationssuche und wir beobachteten eine komplexe Szene. Die Umgebung änderte sich, der Fluss schwoll an und Nebelschwaden stiegen auf – eine Illusion der Stufe 2 – klare visuelle Illusion. Dann erschien eine junge Frau in den Gewändern einer höheren Hausangestellten, mit roten Haaren. Zunächst dachte ich, sie gehörte ebenfalls zur Illusion. Doch als Miss Feyler die Schulter der Frau berührte, konnte ich eine Unregelmäßigkeit in ihrer Bewegung wahrnehmen – einen Widerstand. Es handelte sich also um eine echte Manifestation! Ein Geist der Stufe 0 – Illusion mit minimaler Haptik. Trotz der niedrigen Stufe ist eine echte Manifestation äußerst gefährlich. Selbst kleine Verletzungen durch Geister können tödliche Folgen haben. Also widersetzte ich mich den Befehlen meiner Vorgesetzten und griff ein, um keine Sekunde zu verlieren. Zunächst dachte ich, sie wäre deshalb wütend.

Aber das ist es nicht. Nachdem ich den Geist wie vorgesehen mit einer Silberklinge getötet hatte, hielt Miss Feyler mich davon ab, die Stelle mit einem Reinigungstrank umgehend gründlichst zu reinigen. Damit riskiert sie bewusst, dass sich der Geist erneut manifestiert! Sie sagt, der Geist könnte uns wichtige Hinweise über den Rest des Spukes geben und ihn zu töten würde der Stadt ein falsches Bild von uns geben. Was, wie ich finde, nicht nur ein eigenartiges, sondern auch ein äußerst riskantes Vorgehen ist. Das zudem gegen alle Regeln der Gilde verstößt.

Ich frage mich, wie sie so auch nur einen Fall der Stufe 4 überlebt hat, fügte Ivy in Gedanken hinzu. Die Gilde forderte ihre Mitglieder dazu auf, ehrlich in ihren Logbucheinträgen zu sein, auch wenn es um Kollegen oder Vorgesetzte ging. Wenn sich jemand seltsam benahm, sollte dies nicht aus Höflichkeit verschwiegen werden. Die Person konnte durch den Spuk überwältigt worden sein oder – schlimmer noch – von einem Geist besessen sein. Bei Miss Feyler war das Problem, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit ohne übernatürliche Einflüsse sonderbar geworden war.

Ivy überlegte, ob sie sich im Schutz der Nacht aus ihrem Lager schleichen sollte, um die Stelle heimlich zu klären. Aber Miss Feyler hätte mit Sicherheit das Fehlen eines Reinigungstrankes bemerkt. Und seit heute Abend fürchtete sich Ivy vor ihr und ihrem stählernen Teufelshund. Also ging sie schlafen und betete, dass Miss Feylers Unvernunft nicht ihr vorzeitiges Ende bedeuten würde.

* * *

Port, 27. Januar 1867, Tag 3 des Exorzismus

Miss Feyler scheint eine Tasse Tee als Versöhnungsgeschenk akzeptiert zu haben. Zumindest hat sie mir soeben verkündet, dass wir heute die Stadt betreten werden. Sie möchte Prof Thompson so schnell wie möglich warnen, um ihn und seine Schüler in Sicherheit zu bringen.

»Wir werden die Straße nehmen, die am nächsten zu unserem Lager ist. Dort habe ich niedrige Schwingungen gespürt. Außerdem ist sie besonders breit und wir können uns schnell zurückziehen.« Miss Feylers Ton klang unterkühlt.

»Wann brechen wir auf?«

»Sobald der Porridge fertig ist.«

Ivy starrte verwirrt auf die halbgegessene Schüssel in ihren Händen.

Miss Feyler grinste. »Wir brauchen mehr als das, wenn wir uns der Stadt gebührend vorstellen wollen.«

Die sogenannte Häuserflüsterin zwang sie dazu, zu jeder der Eingangsstraßen zu gehen, eine Schale Porridge abzustellen und sich vorzustellen. Währenddessen blieb ihre Lehrerin zurück und beobachtete die Gasse, die sie betreten wollten, um die Stadt »an ihren Geruch zu gewöhnen«. Ivy schüttelte den Kopf.

Es war verlockend, den Inhalt des Kessels einfach in einen Graben zu schütten. Stattdessen ging sie pflichtbewusst vor einer schlammigen Straße in die Hocke, stellte eine Schale ab und schöpfte eine Kelle Hafer hinein. Sie beobachtete die zerfallenen Häuser aufmerksam, den Dolch an ihrem Gürtel. Nichts regte sich.

»Hallo, Port. Mein Name ist Ivy Jones«, nuschelte sie. »Ich bin hier, um dir zu helfen. Du brauchst keine Angst vor mir zu haben.«

Sie stand auf, strich die Jacke ihrer Uniform glatt und schleppte ihren Kessel weiter. Als gestandene Exorzistin kam sie sich albern bei der Sache vor. Miss Feyler beschrieb in ihrem Lehrbuch in Kapitel 3– Der erste Eindruck, dass es darauf ankam, sich dem Haus freundlich zu präsentieren. Wenn der Exorzist verdeutlichte, dass er nichts Böses wolle, würden die Manifestationen weniger bedrohlich und dafür aufschlussreicher ausfallen. Die Mahlzeiten passten zu einer Stadt, die der Hungersnot erlegen war. So merkwürdig Miss Feylers Logik war, sie schien in sich kohärent zu sein. Ivy konnte nur hoffen, dass das Häuserflüstern auch funktionierte, wenn man nicht daran glaubte …

Wie von selbst wanderten ihre Finger zu dem Medaillon, das neben dem Kreuz um ihren Hals hing. Sie öffnete es und starrte auf die Photographie, die sich darin befand. Paul. Behutsam fuhr sie mit dem Daumen über sein Gesicht. Er sah ernst in die Kamera. Es schmerzte, an sein Lächeln zu denken, an das Strahlen seiner blauen Augen. Sie hatten sich gestritten, in der Nacht vor ihrer Abreise. Er war nicht gekommen, um sich zu verabschieden. Wenn ihr auf dieser Austreibung etwas zustoßen würde, wäre das, wie sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Mit fest zusammengepressten Lippen und der kleinen Falte zwischen den Augenbrauen.

Ivy ließ das Medaillon zuschnappen und verschloss die Gedanken in der hintersten Ecke ihres Bewusstseins. Sie musste Miss Feyler von ihren Fortschritten berichten.