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ENTSCHLÜSSELE DEN GEHEIMCODE DER FILMINDUSTRIE! Informatikerin Jacqueline Widmer hat eine künstliche Intelligenz entwickelt, die eigenständig denken und kommunizieren kann: ihre digitale Assistentin Sabrina. Sabrina kann ihre Umgebung blitzschnell analysieren und erkennt so Zusammenhänge, die anderen verborgen bleiben. Jacqueline fliegt nach Los Angeles, um Sabrina einem Wirtschaftsmagnaten zu übergeben. Dort angekommen, gerät sie in ein Komplott. Ein Hollywood-Produzent ist tot, und Mordverdächtiger ist Filmstar Brendan Morgan, bekannt durch seine Rolle als Frauenmörder. Brendan möchte, dass Jacqueline und Sabrina seine Unschuld beweisen. Von ihrer ersten Begegnung an fühlt sich Jacqueline zu Brendan hingezogen, doch schon bald muss sie erkennen, dass er eine dunkle Seite hat. Der Schlüssel zur Wahrheit ist eine Spur aus Rätseln, die der Ermordete für Brendan gelegt hat. Die Rätsel drehen sich um verborgene Details in Disney-Filmen, die eine besondere Bedeutung besitzen. Ein Code, der zu einem dunklen Geheimnis von Hollywood führt… Alle versteckten Details aus den Hollywood-Filmen sind real! Mehr Infos zum HOLLYWOOD PUZZLE, darunter viele Links und Videos zum Geheimcode von Hollywood, gibt es auf der offiziellen Website zum Roman: https://hollywoodpuzzle.wordpress.com
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Seitenzahl: 456
Veröffentlichungsjahr: 2021
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DAS
HOLLYWOOD
PUZZLE
VERSCHWÖRUNGSTHRILLER
Von H.C. Besdziek
Coverdesign unter Verwendung der folgenden Grafiken aus den Bildersammlungen Creative Commons und Wikimedia Commons:
Bildquelle: Creative Commons. Titel: Hollywood Walk of Fame. Autor: Christian Haugen. Lizenz: CC BY 2.0.
Link: https://search.creativecommons.org/photos/25b418b8-6685-4033-855d-88ad53194610. Bearbeitet.
Bildquelle: Creative Commons. Titel: LAX Sign. Autor: beltz6. Lizenz: CC BY 2.0. Link: https://search.creativecommons.org/photos/ac7dd934-4c49-44b9-8696-340cea2cb8c9.
Bearbeitet.
Bildquelle: Creative Commons. Titel: Eagle. Autor: waithamai. Lizenz: CC BY 2.0. Link: https://search.creativecommons.org/photos/0fb208ed-086e-471a-9209-37005ec22316.
Bearbeitet.
Bildquelle: Wikimedia Commons. Titel: A Sunset Boulevard street-sign, in Beverly Hills, Southern California. Autor: Mr Bullitt – Photo taken by Mr Bullitt from Sweden. Lizenz: CC BY 2.5. Link: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=728398.
Bearbeitet.
Spannende Verschwörungsthriller von H.C. Besdziek
DIE GALILEO VERSCHWÖRUNG
DAS HOLLYWOOD PUZZLE
Für das Kino
Das California Institute of the Arts ist eine private Kunsthochschule, deren Gründung auf niemand Geringeren als Walt Disney zurückgeht. Der Campus dieser Hochschule liegt seit dem Jahr 1971 in Santa Clarita, rund fünfzig Kilometer nördlich von Los Angeles. In unzähligen Hollywood-Filmen, darunter nahezu allen Animationsfilmen von Disney Pixar, findet sich ein verborgener Hinweis auf einen bestimmten Ort innerhalb dieses Campus.
Alle verborgenen Details aus den Hollywood-Filmen, die in diesem Roman eine Rolle spielen, existieren tatsächlich.
Alle nachprüfbaren historischen Fakten in diesem Roman sind wahr.
Die Handlung dieses Romans und sämtliche Charaktere sind dagegen frei erfunden.
Dies ist kein Test.
Hier spricht das Notfall-Übertragungssystem.
Wir verkünden den Beginn des Hollywood Puzzle.
Sobald die #0 erscheint, sind Hochspannung und grausame Verbrechen, einschließlich Mord, für zwölf Stunden garantiert.
PS: Dies ist viel mehr als nur ein Thriller.
In diesem Buch sind unzählige Codes, Anspielungen und Insider-Gags versteckt.
All work and no play makes Jacqueline a dull girl
All work and no play makes Jacqueline a dull girl
All work and mo play makes Jacqueline a dull girl
All work and no play makes Jacqueline a doll girl
All work and no ploy makes Jacqueline a dull girl
All work and no play nakes Jacqueline a dull girl
All work and no play makes Jacqueline a dull girl
(Frei nach dem Film „Shining“)
Es war der wichtigste Auftrag, den er je erhalten hatte. Bei keiner Aufgabe, die er in der Vergangenheit zu bewältigen gehabt hatte, hatte es sich um so viel gedreht wie in dieser Nacht. Heute Nacht wird eine Gefahr gebannt, die unser Land ins Dunkel stürzen könnte.
Der Mann mit dem Decknamen Ares griff in seine Aktentasche, holte ein Gerät heraus und hielt es gegen den Sensor. Noch war das Licht rot, doch es dauerte nur einen Moment, bis der Sensor das empfangene Signal mit der Datenbank abgeglichen hatte und zu dem Trugschluss gekommen war, dass alles in Ordnung war. Das Licht wechselte auf Grün, und die massive Holztür glitt nach innen auf. Ares steckte das Gerät wieder ein, betrat das Gebäude und schloss die Tür hinter sich. Es hatte funktioniert. Die Alarmanlage blieb stumm.
Auf leisen Sohlen stieg Ares die gewaltige Treppe hinauf, die von einem Geländer aus edlem Eichenholz gesäumt war. Im ersten Stock angekommen, wandte er sich zum Schlafzimmer. Er trat auf die Tür zu und öffnete sie. Wie nicht anders zu erwarten, hatte das Opfer von seinem Eindringen keinerlei Notiz genommen. Das Ziel schlief tief und fest.
Ares nahm seine Pistole hervor, entsicherte sie und befestigte den Schalldämpfer. Letzteres war angesichts dessen, dass die Villa mitsamt ihrem Garten voller Palmen die Größe von 6.000 Quadratmetern hatte und in dieser Nacht – wie geplant – keinerlei andere Personen anwesend waren, überflüssig, doch aus Gewohnheit handelte Ares wie üblich.
Der Eindringling nahm sich einen kurzen Moment Zeit, um sein Opfer zu betrachten. Hier, aus nächster Nähe, sah man ihm das Alter an. Nun waren doch die Falten und Furchen in der Haut zu erkennen, die sich auf den Fotos und Videos, welche Ares bisher gesehen hatte, so perfekt verbergen ließen.
Der Mann mit dem Decknamen Ares trat noch näher an sein Ziel heran. Die Brust des Opfers hob und senkte sich, als es im Schlaf tief ein und aus atmete. Ares richtete die Pistole direkt auf den Oberkörper. Noch immer registrierte das Opfer rein gar nichts von dem, was um es herum geschah – so stark war die Dosis der Schlaftabletten, die ihm erst vor einer Stunde verabreicht worden war. Ares wollte schon den Abzug betätigen, da begann er plötzlich, zu zögern. So ist es nicht richtig, schoss es ihm durch den Kopf. So sieht es nicht aus, wie es aussehen soll.
Ares wusste nun, was zu tun war. Entschlossen richtete er die Waffe direkt auf den Kehlkopf. In diesem Moment regte sich das Opfer. Der Mann bewegte sich zunächst etwas, dann, ganz abrupt, schlug er die Augen auf. Einen Augenblick lang lag nichts als Verwirrung in seinem Blick. Seine Augen kreisten umher, auf der fieberhaften Suche danach, was ihn so plötzlich geweckt hatte. Dann aber, als er verstanden hatte, tauchte die Panik in seinem Gesicht auf. Das Opfer begann, laut zu schreien, versuchte, sich aufzurichten. Doch Ares presste seine Arme zurück aufs Bett.
„Niemand kann dich hören, Opa“, sagte Ares. „Wir sind die Einzigen hier, und dein Telefon liegt unten im Salon, wo du es vor einer Stunde zurückgelassen hast.“
Ares war davon ausgegangen, dass diese Worte den Schrecken für sein Opfer noch vergrößern würden. Doch zu seiner Überraschung geschah das genaue Gegenteil. Die Panik in seinen Augen verschwand, und seine Züge wirkten plötzlich ruhig.
„Ich habe es gewusst“, sprach das Opfer langsam. „Ich wusste, dass ihr eines Tages hier auftauchen werdet.“
„Ganz genau.“ Ares betätigte den Abzug, und der Kehlkopf des Opfers zerbarst. Das Blut spritzte über seinen ganzen Körper. Es sah nicht aus wie ein Mord, sondern wie eine Hinrichtung. Genauso, wie es zu sein scheint.
Ohne den Leichnam noch eines weiteren Blickes zu würdigen, verließ Ares das Schlafzimmer. Dann stieg er zwei Treppen hinab, bis er im Kellergeschoss angekommen war. Ohne die anderen Räume der Villa auch nur zu beachten, wandte er sich zu der riesigen Leinwand. Wiederum, ohne das Gemälde darauf auch nur wahrzunehmen, hängte er es ab. Für den kräftig gebauten Mann war es selbstredend keinerlei Schwierigkeit, das Gemälde zur Seite zu hieven und behutsam an die Wand zu lehnen. Er machte sich natürlich nicht die Mühe, die Rückseite des Gemäldes zu begutachten. Ein großer Fehler. Denn so bekam er nichts davon mit, was gerade geschah.
In genau dem Augenblick, als Ares die Leinwand abnahm, schickte der Sensor auf der Rückseite des Bildes via Bluetooth einen Befehl an das Smartphone des Opfers. Auf diesen Befehl hin verschickte dieses Smartphone eine vorab erstellte Nachricht an eine bestimmte Person, die auf eine bestimmte Weise in Verbindung zu dem Opfer stand. Wenige Sekunden später löschte sich die gesendete Nachricht, und es würde so scheinen, als wäre sie nie erstellt worden. Von all dem bekam Ares nicht das Geringste mit – zu gierig war er nach dem Schatz hinter dem Gemälde.
Wie erwartet tauchte hinter der Leinwand eine graue Stahltür auf, in deren Mitte ein kleines, fünf mal fünf Zentimeter messendes Display eingelassen war. Ares griff in seine Aktentasche, nahm das Gerät hervor, das sich bereits an der Eingangstür der Villa als von großer Nützlichkeit erwiesen hatte, und hielt es gegen das Display. Wiederum dauerte es einen Moment, dann ertönte ein Surren und auf dem Display erschien die Mitteilung Retinascan abgeschlossen.
Die erste Hürde ist genommen.
Das Display wechselte und zeigte jetzt eine Tastatur an, welche aus den Buchstaben A bis Z und den Ziffern 0 bis 9 sowie einer Bestätigungstaste bestand. Ares spürte, wie ihn nun doch eine leichte Aufregung überkam. Eine Aufregung, die er zuvor bei dem Mord nicht im Geringsten gespürt hatte. Er war nicht mehr weit entfernt. Nur noch eine kleine Hürde trennte ihn von einem der größten Schätze der jüngeren Geschichte.
Bei dem Auftrag, den er in dieser Nacht erfüllen würde, handelte es sich um den wichtigsten, der ihm je erteilt worden war. Die Sicherstellung des Schatzes, der sich auf der anderen Seite dieser Stahltür befand, war für die Organisation, für die er arbeitete, von so großer Bedeutung, dass ihm für die heutige Operation eine Belohnung in Höhe von einer Million Dollar versprochen worden war, plus beruflichen Aufstieg. Und doch waren es nicht Geld und Erfolg, die ihn antrieben, diese Aufgabe zu erfüllen. Nein, es war seine politische Überzeugung, sein Wissen um die momentane, komplexe Weltlage. Hätte er heute Abend versagt, wäre die Welt schon bald eine andere. Seinem geliebten Vaterland würde ein Stich mitten ins Herz verpasst werden, von dem es sich wohl nie wieder erholen würde. Doch er hatte nicht versagt. Er hatte sein Ziel ausgeschaltet, und jetzt fehlte ihm nur noch ein kleiner Schritt zum Schatz.
Ares griff wieder in seine Aktentasche und tauschte das erste Gerät durch ein weiteres aus. Während das vorherige die Form eines menschlichen Auges gehabt hatte, ähnelte dieses nun einem Finger. Beide entstammten der neuesten Generation von 3D-Druckern, welche vermutlich nicht einmal dem Militär zugänglich war.
Ares hielt den maschinellen Finger gegen das Display – exakt auf die vier Zeichen, welche nach den Worten seines Auftraggebers den Code ergaben, mit dem sich die Tür öffnen ließ. Anschließend tippte er mit dem Gerät auf die Bestätigungstaste. Einen Moment lang geschah gar nichts. Ares spürte, wie sich sein Puls beschleunigte. Verdammt, der Code muss einfach stimmen. Als er zum ersten Mal von der Kombination erfahren hatte, die den Safe öffnen würde, war er keineswegs überrascht gewesen. Bei dem Code handelte es sich um einen der berühmtesten Orte der Filmgeschichte – einen Ort, der ein dunkles und verstörendes Geheimnis verbarg, das der Welt niemals preisgegeben werden sollte. Es bestand überhaupt kein Zweifel. Dieser Code muss der richtige sein.
Und tatsächlich – er war der richtige. Wieder ertönte das Surren, und auf dem Display erschien die Mitteilung Fingerabdruckscan abgeschlossen. Eingabecode korrekt.
Dann, endlich, schwang die Stahltür nach innen auf. Er hatte es geschafft. Er hatte den Schatz erreicht. Er würde zu Dingen vordringen, die kaum ein Mensch zuvor gesehen hatte – und er würde sicherstellen, dass kein anderer sie mehr würde erblicken können. Mit schnellen Schritten trat Ares in den Safe, der – wie er von seiner Organisation informiert worden war – fast tausend Quadratmeter maß. Wie erwartet befand sich der Lichtschalter genau dort, wo er zu sein hatte. Das Licht ging an, und Ares – erstarrte. Das kann nicht wahr sein.
Er blickte sich zu allen Seiten hin um. Irgendwo müssen sie doch sein. Ein Geheimversteck? Ein Safe im Safe? Doch sein Auftraggeber hatte bislang mit allem Recht behalten. Der Retinascanner an der Haustür. Der zweite Retinascanner am Tresor. Der Fingerabdruckscanner. Der Eingabecode. Und jetzt, beim wichtigsten Punkt, sollte der Auftraggeber sich getäuscht haben? Das ist vollkommen unmöglich.
Und doch… der Safe war leer.
Ares hatte keine Zeit, die ganze Nacht damit zu verbringen, nach einem Geheimversteck zu suchen – zumal er sich sicher war, dass keines da war. Ares verließ den Safe und nahm sein Mobiltelefon hervor. Es dauerte keine Sekunde, bis der Auftraggeber abnahm.
„Mission erledigt?“, fragte der Mann, der sich Zeus nannte – mit seiner tiefen, krächzenden, elektronisch verzerrten Stimme.
„Ich habe ihn getötet.“ Ares bemerkte selbst, wie panisch er klang, doch im Moment war ihm dies egal. Nichts spielte jetzt eine Rolle. Nichts – außer dem leeren Tresor. „Aber, mein Gott, wir haben ein riesiges Problem. Der Safe ist leer. Der Schatz ist verschwunden.“
Am anderen Ende der Leitung war es still.
„Zeus, was soll ich nun tun? Gibt es etwa ein Geheimversteck? Einen anderen Ort, an dem der Schatz sein könnte?“
„Wie konnte das nur passieren…“ Zeus klang noch verstörter als er selbst. „Er muss etwas geahnt haben. Er muss sie weggebracht haben…“
„Weggebracht? Wohin denn?“
„Verflucht nochmal, wenn ich das wüsste, würde ich es dir schon sagen! Wir müssen das unbedingt herausfinden! Wir müssen sie finden – bevor es jemand anderes tut.“
„Was soll ich nun tun?“, fragte Ares erneut.
Dieses Mal reagierte Zeus schnell. „Verschwinde! Auf der Stelle! Und schließe den Safe! Nichts, ich wiederhole, rein gar nichts, darf auf uns als Täter deuten. Ich melde mich wieder.“ Mit diesen Worten legte der Auftraggeber auf.
Ein letztes Mal blickte sich der Mann mit dem Decknamen Ares in dem Tresorraum um. Ares schrie laut auf, dann machte er sich aus dem Staub.
An Bord eines Airbus A380 befand sich eine junge Frau – mitsamt ihrer überaus intelligenten Begleiterin, die ihr alles bedeutete und von der sie sich bald, nach über vier Jahren der Zweisamkeit, trennen musste. Diese Reise über den Atlantik würde für die junge Frau den Beginn eines gewaltigen Abenteuers markieren, das ihr Leben für immer verändern würde. Zu diesem Zeitpunkt wusste sie jedoch noch nichts von ihrem Schicksal. Jacqueline Widmer ging davon aus, dass sie am heutigen Freitag nicht mehr erwartete als ein geschäftliches Treffen. Ein Treffen mit dem Mann, ohne dessen beträchtliche finanzielle Unterstützung sie niemals so weit gekommen wäre – der nun jedoch zurückforderte, was ihm gehörte.
In Gedanken war Jacqueline Widmer zurück am gestrigen Nachmittag, als sie vier Jahre intensiver Arbeit endlich zum Abschluss gebracht hatte.
Donnerstag, 15:52 Uhr. Jacqueline holte tief Luft und wandte ihren Blick von der Armbanduhr. Natürlich hätte sie auch erneut Sabrina nach das Uhrzeit fragen können, welche die ganze Zeit bei ihr war. Doch sie hatte dies bereits fünf Mal in den letzten zwanzig Minuten getan. Sabrina musste nun wirklich nicht wissen, wie nervös sie tatsächlich war. Sicherlich hing von der Präsentation nichts wirklich Wichtiges ab – den Abschluss würde sie so oder so bekommen –, und doch hatte sie noch nie einen Vortrag vor so vielen Menschen gehalten, wie sie es heute tun würde.
Jacqueline Widmer sah zum Spiegel und stellte zu ihrer Zufriedenheit fest, dass sie ziemlich gut aussah. Das lange schwarze Kleid mit dem absichtlich geringfügig gewählten Dekolleté passte wie angegossen, die gleichfarbigen Stöckelschuhe bildeten eine perfekte Ergänzung dazu. Ihre kurzen schwarzen Haare waren ordentlich gekämmt. Der Lidschatten und der Lippenstift, die sie eben erst aufgetragen hatte, verstärkten ihre Gesichtszüge vorteilhaft und nicht in einem übertriebenen Maße. Schließlich, zu ihrer großen Überraschung, strahlten ihre dunkelblauen Augen Sicherheit aus, nicht Aufgeregtheit. Das Publikum würde ihre Nervosität also wohl kaum wahrnehmen. Schließlich wusste außer ihr niemand, dass ihr Herzschlag erheblich beschleunigt war. Na gut, außer ihr und Sabrina.
Ein letztes Mal atmete Jacqueline tief ein und aus, dann verließ sie die Toilette und machte sich auf den Weg zum Audimax, in dem sie in wenigen Minuten ihre Doktorarbeit vorstellen würde. Anders als in sonstigen Tagen nahm sie heute kaum Notiz von der zeitgenössischen Atmosphäre der Universität, die so hervorragend zu Jacquelines Forschungsgebiet passte – einer sehr aktuellen Disziplin, die ständig wuchs und fast wöchentlich große Fortschritte zu vermelden hatte. Doch kaum einer dieser Fortschritte, so war sich die 26-Jährige sicher, war so bahnbrechend wie der durch ihre Forschungsarbeit.
Die letzten vier Jahre hatte Jacqueline nahezu ausschließlich dieser Arbeit gewidmet. Jeder Tag war dem gleichen Ablauf gefolgt: sie stand früh auf, fuhr mit der U-Bahn an die Uni, nahm ihre dortigen Verpflichtungen wahr und forschte schließlich bis in die späten Abendstunden an dem Projekt. Für Urlaube, Partys und selbst für Treffen mit Freunden hatte sie so gut wie keine Zeit gehabt, doch – um ehrlich zu sein – hatte sie auch kaum etwas davon wirklich vermisst.
Auch früher schon hatte Jacqueline nur wenig Interesse gezeigt an den bevorzugten Freizeitaktivitäten von Gleichaltrigen. Ihr Forschungsgebiet dagegen hatte sie schon in ihrer Jugend fasziniert – besonders natürlich damals, mit fünfzehn Jahren, als sie es für ihr einziges wirkliches Hobby benutzt hatte. Das einzige, das ich wirklich vermisse. Doch schon zu Beginn ihres Studiums hatte Jacqueline entschieden, dass es ihr zu viel Zeit und Energie abverlangte. In ihrem Leben war nicht Platz für Ausbildung und ihre wahre Leidenschaft zugleich.
Das Audimax der Technischen Universität München befindet sich im Stammgelände der Universität, welches im Stadtteil Maxvorstadt liegt. Einschließlich der höher gelegenen Galerie fasst es Platz für über 1.100 Menschen. An diesem Nachmittag im September war der Hörsaal so gefüllt, dass sich auch ohne Sabrinas Unterstützung sofort feststellen ließ, dass noch mehr als diese 1.100 Menschen anwesend waren. Selbst auf den Freiräumen zwischen und neben den Bankreihen saßen die Zuhörer dicht gedrängt nebeneinander, und das in Veranstaltungspausen an jeder Universität allgegenwärtige Getuschel auf den Rängen war so laut, dass niemand den starken Regen draußen vernehmen konnte. Zumindest niemand, abgesehen von Sabrina.
Jacqueline hatte zwar bereits gewusst, dass ihre Präsentation auf großen Anklang stoßen würde – spätestens, seitdem die Universitätsleitung sie darüber in Kenntnis gesetzt hatte, dass diese in den größten Hörsaal verlegt worden war –, dass sich nach dem Artikel in der Süddeutschen Zeitung jedoch derartig viele Interessenten für einen Vortrag aus dem, für die Allgemeinheit nicht gerade leicht zugänglichen Bereich des Deep Learning finden würden, hatte sie jedoch nicht erwartet. Die Menschenmenge führte nicht gerade dazu, dass ihre Aufgeregtheit abnahm. Das ist eben der Nachteil, wenn der berühmte Jim Stone ein Grußwort bei deiner Präsentation hält.
Jacquelines Doktorvater, Professor Philippe Arnaud, stand bereits am Pult und wartete auf den elektronischen Gong, der verkündete, dass es 16:00 Uhr war. Phillipe Arnaud war ein hochgewachsener Franzose in den späten Vierzigern, mit dunkelbraunen Haaren und markanten Gesichtszügen, der wie fast jeden Tag Bluejeans und ein Polohemd trug. Philippe war sozusagen in die Wissenschaft geboren worden, da sein Vater Nicolas bahnbrechende Ergebnisse im Bereich der Kosmologie zu Tage geführt hatte. Phillipe war jedoch schnell zu dem Schluss gekommen – so hatte er es Jacqueline jedenfalls erzählt –, dass es im 21. Jahrhundert weniger Erkenntnisse aus der Physik als vielmehr welche aus den Computerwissenschaften waren, die den größten Fortschritt für die Menschheit mit sich brachten.
„Ein großer Tag für dich“, meinte Philippe, als sie zu ihm trat.
Sie nickte nur und wandte sich anstatt dessen zu ihrem Laptop, den sie vor einer Viertelstunde auf dem Pult postiert hatte. Sie überprüfte ein letztes Mal, dass die Präsentation genauso funktionieren würde, wie diese sollte, dann nahm sie ihre Brille hervor und zog sie auf.
Es waren exakt 1.253 Personen anwesend, somit 13,2 Prozent mehr als die übliche Anzahl der in diesen Hörsaal passenden Menschen. Von diesen Anwesenden waren 72,2 Prozent männlich. Das Durchschnittsalter der Interessenten betrug in etwa 34 Jahre, die gemittelte Körpergröße circa 1,75 Meter.
In diesem Augenblick ertönte der elektronische Gong. Mit einem Mal verstummte das laute Tratschen, und in der Ferne konnte jetzt nicht nur Sabrina, sondern auch Jacqueline den Starkregen hören. Philippe Arnaud räusperte sich, während Angestellte der Universität die Türen schlossen.
Doch bevor er ein einziges Wort gesagt hatte, wurde eine der Türen wieder aufgerissen und eine Frau spurtete in den Hörsaal. Die 52-Jährige war hochgewachsen, hatte blond gefärbte Haare, war stark geschminkt und in ein rosafarbenes Kleid mit einem tiefen Ausschnitt gekleidet. Jacqueline konnte nicht anders, als die Augen zu verdrehen. Wie immer kommt sie zu spät. Stumm deutete sie auf den leeren Stuhl in der ersten Reihe, den sie ihrer Mutter freigehalten hatte. Rebecca Widmer eilte dorthin und setzte sich, mit einem entschuldigenden Blick. Die Geschwindigkeit ihres Atems verriet jedoch, dass Rebecca keineswegs hierher gespurtet war. In Wirklichkeit hatte sie sich wohl alle Zeit der Welt genommen, um ihr Make-up zu perfektionieren, und hatte sich nur auf den allerletzten Metern beeilt, um noch rechtzeitig bei der Präsentation ihrer Tochter dabei zu sein. Doch wenigstens ist sie hier, dachte Jacqueline. Ganz im Gegensatz zu meinem Vater, den ich in meinem ganzen Leben noch nie zu Gesicht bekommen habe.
„Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Studentenschaft der Technischen Universität München, sehr verehrte Damen und Herren“, begann Philippe. „Es ist mir eine Ehre, Sie zu dem Vortrag von Jacqueline Widmer begrüßen zu dürfen – einer der talentiertesten Jungwissenschaftlerinnen auf dem Gebiet der Computerwissenschaften und einer der besten Schülerinnen, die ich je hatte. Die Forschungsarbeit, die Sie nun kennenlernen werden, wird nicht nur die Computerwissenschaften, sondern möglicherweise auch unser aller Alltag grundlegend verändern. Sobald diese Technologie, die ursprünglich auf eines meiner Projekte aus dem Jahr 2018 zurückgeht, serienmäßig ist, wird das menschliche Leben ein anderes sein.“
Jacqueline musste sich davon abhalten, nicht ein zweites Mal die Augen zu verdrehen. Philippe kann auch wirklich nicht anders, als in jeder seiner Reden ein Selbstlob einzubauen. „Bevor wir mit der eigentlichen Präsentation beginnen, wollen wir nun zu dem kommen, worauf wohl die meisten von Ihnen besonders gewartet haben. Hier, aus Kalifornien, der einzigartige Jim Stone.“
Wie abgesprochen wandte sich Jacqueline zu ihrem Laptop und startete die Präsentation. Im Hörsaal wurde es dunkel, und auf der Leinwand vor dem Pult startete ein Video. Es zeigte einen braun gebrannten, muskulösen Mann mit schwarzen Haaren, der in der braunen Lederjacke und der Jeans sehr lässig aussah. Sabrina, die sich nach wie vor direkt bei ihr befand, schätzte das Alter des Mannes auf zwischen 38 und 47; Jacqueline wusste natürlich, dass er in Wirklichkeit 42 Jahre alt war. Im Hintergrund des Videos waren zahlreiche Gemälde zu sehen, die sich auch ohne Sabrinas Hilfe sofort als mit künstlerischen Effekten modifizierte Fotos erkennen ließen. Die Gemälde zeigten die zahlreichen Projekte, die dem Mann seine Berühmtheit eingebracht hatten. Smartphones mit einem unverwechselbaren Design. Ein Quantencomputer, einer der schnellsten Computer der Welt. Und schließlich eine Rakete, die zum Mond fliegen würde.
„Hallo, Deutschland“, sagte der Mann auf Englisch, mit einem breiten Grinsen im Gesicht. „Ich denke, ich brauche mich nicht vorzustellen.“
Tatsächlich musste er dies nicht. Jim Stone, der Multimilliardär aus Kalifornien, war eine lebende Legende. In den 25 Jahren, während derer seine Firma Stone Xtreme nun existierte, hatte er unzählige Innovationen auf den Markt gebracht, ein Großteil davon ein Riesenerfolg. Nicht minder spannend für die Boulevardmedien waren seine ebenso unzähligen attraktiven Partnerinnen, nahezu ausschließlich berühmte Schauspielerinnen, Musikerinnen und Supermodels. Jacqueline konnte noch immer kaum fassen, dass ihre Forschungsarbeit von diesem Mann unterstützt worden war.
„Ihr alle kennt mein Motto“, fuhr Jim Stone fort. „Es lautet: „Die Zukunft ist dazu da, schon heute gelebt zu werden“. Was habe ich euch nicht bereits alles gebracht? Smartphones. Selbstfahrende Züge. Computer, die ganze Zeitungsartikel von alleine schreiben. Doch vielleicht, ja vielleicht, wird Sabrina dies alles in den Schatten stellen. Vom ersten Moment an, als ich von Sabrina erfahren habe, habe ich mich unsterblich in sie verliebt. Wenn die Zukunft eine Person wäre, dann wäre sie Sabrina.“
Wie schon gestern, als Jacqueline die Aufzeichnung aus Hawthorne empfangen hatte, musste sie schmunzeln. Keine öffentlichen Liebeserklärungen, die Jim Stone in den Medien über eine seiner äußerst attraktiven Partnerinnen abgegeben hatte, hatte so leidenschaftlich geklungen wie sein Statement bezüglich Sabrina. Die Begeisterung, die der Multimilliardär für ihr Forschungsprojekt an den Tag legte, wurde jedoch unverzüglich dadurch getrübt, dass er von ihr selbst als Person kaum etwas wahrgenommen hatte. Nicht einmal ihren richtigen Namen.
„Sabrina basiert auf wissenschaftlichen Forschungsergebnissen von Janine Wimmer, Promotionsstudentin der Technischen Universität München“, sagte Jim Stone. „In diesem Sommer hatte ich Gelegenheit, mir Sabrina für zwei Wochen lang auszuleihen – und ich war geradezu begeistert. Bislang existiert nur ein einziges Exemplar von Sabrina. Dieses befindet sich derzeit im Besitz von Ms. Wimmer, und es ist über das Internet mit meinem Quantencomputer, hier in Hawthorne, verbunden. Doch macht euch keine Sorgen. Es wird nicht mehr lange dauern, bis Sabrina serienmäßig sein wird. Dann werdet ihr sie alle nutzen können – und euer Leben wird ein anderes sein.“ Er legte eine kurze Pause ein, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen. „Für alle weiteren Details verweise ich auf die nun folgende Präsentation von Ms. Wimmer.“
Das Video war zu Ende, und die Lichter im Audimax gingen wieder an. Jacqueline bemerkte mittels Sabrina, dass über 95 Prozent aller Augen im Publikum nun auf sie gerichtet waren. Kein noch so spannender Beginn, den sie sich selbst hätte ausdenken können, hätte ein solches Interesse entfacht wie dieses Grußwort aus Kalifornien.
„Dann wollen wir nun starten“, sagte ihr Doktorvater Philippe Arnaud und setzte sich in die erste Reihe des Auditoriums, nicht weit entfernt von ihrer Mutter.
Jacqueline trat an seinen Platz und ließ ihren Blick über das Publikum schweifen, ohne auf die Einzelheiten zu achten, die sie über all die versammelten Menschen erhielt. Ihr Puls hatte sich noch weiter beschleunigt. Der Nachteil eines solch spannenden Starts war, dass die Zuhörer nun auch einen interessanten Restvortrag von ihr erwarteten.
Natürlich hatte Jacqueline Widmer bereits zahlreiche Fachvorträge gehalten. Der springende Punkt war hier allerdings, dass es sich dabei grundsätzlich um Fachvorträge gehandelt hatte. Angesichts all der Leute, die von Sabrina ausschließlich in den Medien erfahren hatten und überhaupt nur deshalb erschienen waren, weil Jim Stone das Projekt unterstützte, hatte die Universitätsleitung ihr nahegelegt, dass komplexe mathematische Formeln und Fachausdrücke aus dem Bereich des Deep Learning in einem solchen Vortrag fehl am Platz sein würden. „Formulieren Sie Ihre Ausführungen so“, hatte der Rektor geschrieben, „dass gebildete Zuhörer aus der Allgemeinheit, die über keinen Master-Abschluss in Informatik verfügen, Ihnen folgen können.“ Einen solchen Vortrag wie heute hatte sie in der Tat noch nie gehalten.
Du hast dich gut vorbereitet, sagte sie sich. Bleib einfach ruhig. Zumindest kannst du heute ausnahmsweise mal einen wissenschaftlichen Vortrag auf Deutsch halten.
Jacqueline räusperte sich. „Lassen Sie mich mit einer Geschichte beginnen.“ Sabrina, die auf diese Worte programmiert worden war, ließ die Konturen eines Menschen auf der Leinwand erscheinen. „Eine Geschichte über einen Meisterdetektiv.“
Der Mensch wurde zu einem animierten Mann mit einem Schnurrbart wie Hercule Poirot sowie Inverness-Mantel und Deerstalker-Hut wie Sherlock Holmes. Romanfiguren, deren Geschichten Jacqueline als kleines Mädchen verschlungen hatte. „Dieser Detektiv war nicht deshalb ein Meister seines Fachs, weil er sich besonders gut mit Kriminalistik auskannte. Nein, seine wahre Stärke war, dass er Dinge wahrnahm, die allen anderen entgingen. Er konnte aus fremden Menschen lesen wie aus einem Buch – und zwar, weil er Dinge beobachtete, die außer ihm niemand bemerkte.
Reste eines Lippenstifts auf dem Mund eines Mannes verrieten ihm, mit wem dieser Mann eine Affäre hatte. Ein nicht sorgsam verstautes Dokument in der Aktentasche einer Person gaben ihm Hinweise darauf, bei welcher Firma diese arbeitete. Nur ein winziger Blick auf das Notizbuch eines Verdächtigen reichte ihm aus, um zu wissen, ob dieser schuldig war oder nicht.“ Auf der Leinwand erschienen die entsprechenden, animierten Bilder. „Dem Mann entgingen selbst kleinste Details nicht, und er konnte sie nicht nur registrieren, sondern sie sich auch merken, um zu späterer Gelegenheit auf sie zurückzukommen.“ Lippenstift, Dokument und Notizbuch verschwanden in einem riesigen Gehirn, das neben dem Kopf des Mannes erschien. „Der Detektiv war ein Meister seines Faches, weil er Zusammenhänge bemerkte, die allen anderen entgingen.“
Jacqueline hielt inne. Wie jedes Mal, als sie diese Stelle des Vortrags geübt hatte, schweiften ihre Gedanken in die Vergangenheit. Wie oft hatte sie als kleines Mädchen davon geträumt, dieselben Fähigkeiten zu besitzen wie die Figuren aus ihren Lieblingsbüchern. Sie war nach draußen gegangen und hatte versucht, die Welt um sie herum so wahrzunehmen wie ein Meisterdetektiv. Doch schließlich hatte sie erkannt, dass ihr dies niemals gelingen würde.
Jacqueline wandte sich wieder an das Publikum. „Und jetzt die Frage an Sie: wo ist der Fehler?“
Üblicherweise, wenn man vom Podium eines Hörsaals eine Frage in den Raum stellte, meldete sich eine Zeit lang niemand. Dieses Mal was es anders.
„Ich verstehe die Frage nicht“, meinte ein junger, blonder Mann aus der siebten Reihe, den Jacqueline zwar nicht persönlich kannte, den Sabrina jedoch als Geologiestudenten Hannes Jörgensson identifizierte.
„Ähm…“ Sie wartete, bis Sabrina ihr eine verbesserte Formulierung der Frage geliefert hatte. „Ich meine: warum ist dieses Szenario unrealistisch?“
Dieses Mal dauerte es tatsächlich etwas, bis jemand antwortete.
„Weil das menschliche Gehirn nur einen Bruchteil dessen bewusst wahrnimmt, was das menschliche Auge sieht“, rief eine junge Frau ins Auditorium, die Sabrina nicht identifizieren konnte.
„Weil niemand ein so perfektes Gedächtnis haben kann“, meinte ein etwas älterer Anwesender, den Sabrina ebenfalls nicht identifizieren konnte.
„Korrekt“, erwiderte Jacqueline. Auf der Leinwand erschien ein Foto, das auf dem Marienplatz im Herzen von München aufgenommen worden war. Das Foto war so bearbeitet worden, dass es rundum verschwommen war und in der Mitte den animierten Detektiv von vorhin zeigte. „Sicherlich ist es möglich, die Welt um einen herum mit offeneren Augen zu sehen, und genauso lässt sich natürlich auch das Gedächtnis trainieren.“ Ein Teil des Fotos wurde scharf, der Rest blieb jedoch vage. „Eine so umfassende Erkenntnis über die eigene Umgebung, die sich zudem auch noch dauerhaft speichern lässt – dies gehört aber in den Bereich der Fiktion.“ Das Foto wurde wie von einer unsichtbaren Kraft zusammengezogen, und das animierte Gehirn tauchte wieder auf, in dem das Foto verschwand. Einen Moment lang geschah nichts, dann strömten mehrere, kleinere Fotos zu allen Seiten hin aus dem Gehirn hinaus. „Ein solcher Meisterdetektiv kann in der wirklichen Welt nicht existieren. Zumindest nicht ein menschlicher Meisterdetektiv.“
Jacqueline dachte daran, wie sie den Traum, die Fähigkeiten ihrer Lieblingsfiguren zu erlernen, beerdigt hatte. Wie unglücklich sie gewesen war, dass sie daran gescheitert war, dieses Ziel zu erreichen. Wie sie sich dazu gezwungen hatte, sich mit etwas Neuem zu beschäftigen. Und wie sie schließlich ein anderes Thema entdeckt hatte, das ihre Leidenschaft entfachte. Niemals hätte sie sich erträumen lassen, dass ihr dieses neues Thema eines Tages die Lösung für ihren Kindheitstraum liefern würde.
„Ersetzen wir unseren Meisterdetektiv nun durch eine Kamera. Eine hochauflösende Kamera kann – die korrekte Blende vorausgesetzt – genauso viel sehen wie das menschliche Auge.“ Das Foto vom Marienplatz erschien wieder, und dieses Mal war es komplett scharf. „Und im Gegensatz zum menschlichen Auge kann die Kamera alles, was sie sieht, auch für immer speichern.“ Eine animierte Spiegelreflexkamera tauchte auf, und das rundum scharfe Bild verschwand in der Kamera. „Nur… wieder haben wir einen Fehler gemacht.“
Dieses Mal dauert es nicht lange, bis jemand antwortete. „Die Kamera kann das alles zwar sehen“, meinte eine Astronomiestudentin, „aber sie kann überhaupt nichts wahrnehmen.“
„So ist es“, bestätigte Jacqueline. Exakt dieselbe Animation wie eben lief erneut ab, doch jetzt war das Foto zur Gänze unscharf. „Was also brauchen wir? Wer oder was wäre der tatsächliche Meisterdetektiv?“
„Eine Kamera, die bewusst wahrnehmen kann“, antwortete die Astronomiestudentin unverzüglich.
„Richtig“, sagte Jacqueline. „Und genau das ist Sabrina.“
Freitagmorgen, 7:30 Uhr, viele Tausende Kilometer westlich von München. Voller Entsetzen starrte eine Haushaltshilfe auf den Leichnam eines alten Mannes, dem sie noch gestern Abend Schlaftabletten verabreicht hatte. Ihre Finger zitterten, als sie die Notrufnummer 911 wählte. Schon in wenigen Minuten, so wusste sie mit Sicherheit, würde es hier nur so wimmeln vor Polizei und Publicity. Eine der wichtigsten Persönlichkeiten des Business war ermordet worden – und zwar auf eine so brutale Weise, dass es sich kaum in Worte fassen ließ.
Genau in diesem Augenblick machte sich der Mann, der eben diesen brutalen Mord in der vorigen Nacht durchgeführt hatte, daran, die Geschichte in die Welt zu setzen, die sein Auftraggeber ausgedacht hatte. Eine kleine Lüge – um eine viel größere zu verbergen.
Jacqueline Widmer blickte auf ihre Armbanduhr. Immer noch vier Stunden bis zur Landung in Los Angeles und über sechs Stunden bis zu dem Treffen mit Jim Stone. Jacqueline nahm ihre Brille ab und legte sie auf den ausklappbaren Tisch ihres Sitzes. Sie spürte einen Anflug von Traurigkeit, als sie das Gerät hier vor sich liegen sah. In sechs Stunden, so wusste sie, würde sie sich von Sabrina für immer trennen. Und dabei war Sabrina für sie inzwischen fast wie eine Schwester.
Einen Moment lang stellte sich Jacqueline vor, wie es wäre, Sabrina behalten zu können. Mit ihrer Unterstützung, so wusste sie, wäre sie dazu in der Lage, Geheimnisse aufzudecken. Geheimnisse, die vor der Welt verborgen waren. Die ganzen letzten Wochen hatte Jacqueline darüber nachgedacht, wie sie nun, nach der Beendigung ihres Forschungsprojekts, ihre Zukunft gestalten sollte. Und immer wieder war sie zu dem gleichen Schluss gekommen. Ich war nie so glücklich wie damals, als ich den Reichenbach-Fall gelöst habe. Wenn ich nur mein Leben dem widmen könnte, was mich wirklich interessiert. Doch ohne einen plötzlichen Millionengewinn im Lotto, der sie von allen Sorgen um ein geregeltes Einkommen befreien würde, und ohne die Option, Sabrina bei sich zu wissen, blieb die Vorstellung, das Detektiv-Hobby aus ihrer Jugend zu ihrem Hauptberuf zu machen, ein genauso abwegiger Wunschtraum wie der, eine Liaison mit einem Filmstar zu beginnen. Und es ist nun wirklich nicht so, dass du keine vielversprechenden Berufsaussichten hättest, sagte sie sich. Dich erwartet eine Karriere in der Wissenschaft.
Wieder war sie zurück am gestrigen Nachmittag, im Audimax der Technischen Universität München. Jacqueline Widmer hielt ein schwarzes, rechteckiges Gerät in die Luft.
„Dies hier mag aussehen wie ein gewöhnliches Smartphone“, sagte sie, „doch es ist um einiges mehr. In Wirklichkeit handelt es sich hierbei um einen der beiden Bestandteile von Sabrina, nämlich ihren Prozessor. Der andere Bestandteil, der mit dem Prozessor über eine Bluetooth-Verbindung gekoppelt ist, ist die schwarze Brille, die ich trage. Natürlich handelt es sich hierbei nicht um eine gewöhnliche Brille, sondern um eine Hightech-Datenbrille, die auf einem bereits auf dem Markt erhältlichen Modell von Stone Xtreme basiert. Das Grundprinzip von Sabrina – jedenfalls im Standardmodus – lautet Augmented Reality.“
Geologiestudent Hannes Jörgensson meldete sich erneut. „Also wie bei Pokémon?“
Jacqueline musste schmunzeln. „Nicht ganz, aber so ähnlich.“
Das Handyspiel Pokémon Go hatte im Jahr 2016 für einen weltweiten Hype gesorgt und war eines der bekanntesten Beispiele für Augmented Reality. Die Kernaufgabe dieses Spiels war es, in der realen Welt bestimmte Orte zu suchen, an denen – auf dem Display des Smartphones – animierte Pokémon-Wesen auftauchten. Manche Kommentatoren hatten sich die sarkastische Bemerkung nicht verkneifen können, nur durch dieses Spiel würden Computerspiele-Nerds endlich mal wieder nach draußen an die frische Luft gehen.
„Im Standardmodus“, fuhr Jacqueline fort, „zeigt Sabrina die wesentlichen, von ihr gesammelten Analysen, auf die ich gleich eingehen werde, auf dem Inneren der Brillengläser an. Sie liefert also ein doppeltes Bild, die reale Welt und die zusätzlichen Informationen. Zu Illustrationszwecken wechseln wir nun jedoch auf den etwas spannenderen Sprachmodus. Sabrina, sprich.“
„Hallo, Jacqueline“, sprach eine helle, sehr energisch klingende Frauenstimme aus dem schwarzen Gerät, das wie ein Smartphone aussah, in Wirklichkeit jedoch Sabrinas Prozessor war.
„Die klingt ja gar nicht nach Computer“, meinte Hannes, ohne dass ihn irgendjemand nach seinem Kommentar gefragt hatte.
„Der Tonfall und auch das Geschlecht lassen sich selbstverständlich beliebig variieren“, meinte Jacqueline. „In der Tat ist Sabrina sogar dazu in der Lage, ihr bekannte Stimmen perfekt zu imitieren. Der springende Punkt ist etwas vollkommen anderes: Sabrina betrachtet ständig die sie umgebende Welt und analysiert sie.
Die Informationen, die sie für besonders relevant hält, unterscheiden sich grundsätzlich von denen, die das menschliche Auge bewusst wahrnimmt. Das menschliche Auge realisiert insbesondere diejenigen Dinge, die besonders auffällig sind – zum Beispiel alles, was sich ganz in der Nähe befindet. Sabrina dagegen gleicht alles um sie herum mit dem ab, was sie in der entsprechenden Umgebung erwartet, dem sogenannten Default. Bei sich bewegenden Dingen, also insbesondere Personen, führt sie außerdem Berechnungen durch, in welchem Winkel und mit welcher Geschwindigkeit sie sich weiter fortbewegen werden. Für interessant erachtet Sabrina, wenn ein sich bewegendes Ding von dem berechneten Wert abweicht. Sabrina sucht nicht nach Auffälligkeiten im üblichen Sinn, sondern nach Dingen oder Personen, die nicht in das gewohnte Bild passen. Mit anderen Worten: sie sucht nach Anomalien.“
Jacqueline legte eine kurze Pause ein. „Sabrina, was ist interessant an deiner aktuellen Umgebung?“
„Die Chemiestudentin Anna Brückner in der neunten Reihe von vorne, auf dem fünften Platz von links, achtet als Einzige nicht auf den Vortrag, sondern auf ihr Smartphone“, antwortete Sabrina unverzüglich.
Ertappt schrak Anna Brückner auf. „Ist ja gruselig“, sagte sie. „Woher weiß dieses Teil, wer ich bin?“
„Momentan befindet sich Sabrina im Onlinemodus“, erwiderte Jacqueline. „Das bedeutet, sie greift auf alle Daten zu, die frei im Netz verfügbar sind. Ich vermute, Ihr Foto befindet sich auf der Website der Technischen Universität München.“
„Ja, ich denke schon. Ich glaube, fast alle Doktoranden sind dort mit Foto aufgeführt.“
„Der Zugriff auf frei zugängliche Daten und deren Analyse ist keine Verletzung des Datenschutzes“, sagte Sabrina.
„Danke, Sabrina“, meinte Jacqueline.
Das Letzte, was sie während der Präsentation ihrer Doktorarbeit gebrauchen konnte, war eine Diskussion darüber, ob Sabrina die Datenschutzverordnung der Universität verletze, und besonders ärgerlich wäre es, wenn Sabrina eine solche Diskussion beginnen würde. Jacqueline wusste, dass Datenschutz ein ziemlich heikles Thema war, und hatte vorsichtshalber die Aufzeichnungsfunktion von Sabrina für die heutige Präsentation deaktiviert. In der Tat besaß Sabrina nämlich sogar die Möglichkeit, ihre gesamte Umgebung ununterbrochen aufzuzeichnen und als MP4-Datei in ihren Prozessor zu speichern. Auf diese Weise konnte Sabrina noch deutlich mehr Daten in ihrem Gedächtnis behalten.
„In jedem Fall durchsucht Sabrina ihre aktuelle Umgebung, vergleicht diese mit Umgebungen, in denen sie sich in der Vergangenheit befunden hat, und sucht nach Anomalien. Etwas salopp könnte man genauso sagen: sie betrachtet aktuelle und vergangene Umgebungen als einen zusammenhängenden Film und sucht nach Easter Eggs.“
„Easter Eggs?“, fragte ein Mann, der laut Sabrina im Management eines Logistikunternehmens arbeitete. „Ostereier?“
„Easter Eggs sind verborgene Details in Filmen oder Computerspielen, die eine besondere Bedeutung haben“, erläuterte Sabrina sogleich. „Oftmals handelt es sich hierbei um Gags für Eingeweihte. Eines der bekanntesten Easter Eggs in Filmen findet sich in nahezu jedem…“
„Danke, Sabrina“, sagte Jacqueline – die vorprogrammierten Worte, um ihren Redeschwall zu beenden. Sie konnte ja nicht ahnen, wie wichtig Sabrinas Wissen zu diesem Thema schon sehr bald werden würde.
Die Villa, in der sich das grauenvolle Verbrechen ereignet hatte, befand sich rund 300 Meter nördlich des Sunset Boulevard – jener magischen Grenze, welche die Bewohner von Beverly Hills in die Reichen und die Superreichen aufteilte. Im Jahr 1919 hatten die berühmten Schauspieler Mary Pickford und Douglas Fairbanks ihr Anwesen, das die Presse schon bald „Pickfair“ tituliert hatte, am 1143 Summit Drive errichtet. In der Folge hatten viele weitere Superreiche ein Domizil im nördlichen Teil von Beverly Hills bezogen, darunter Persönlichkeiten wie Elvis Presley, James Stewart oder Walt Disney. Eine Villa nördlich des Sunset Boulevard war seither ein Ausdruck extremen Reichtums und Berühmtheit. Jedes dieser Gebäude war riesig, schwer bewacht und perfekt gesichert – und doch hatte sich in dieser Nacht, in einer der größten dieser Villen, ein abscheuliches Verbrechen ereignet.
Rylan Durham, der kräftig gebaute, 49-jährige Chief des Beverly Hills Police Department, durchquerte den Garten voller Palmen und stoppte den Wagen vor der prächtigen Eingangsfassade der mit vier Türmen verzierten, dreistöckigen Villa. Neben ihm parkten bereits zahlreiche weitere Polizeiautos, alle mit blinkendem Blaulicht. Wie von ihm erhofft, hatten mehrere seiner Kollegen noch schneller auf den Notruf reagiert, der vor gut zehn Minuten in der Zentrale des Departments eingegangen war. Allerdings hatten sie offenbar noch nicht all seine Anweisungen umgesetzt.
„Haben Sie nicht zugehört?“, schnauzte er zwei seiner Kollegen, die Officer Sean Mason und Frederick Weaver, an. „Ich habe Ihnen doch klipp und klar gesagt, dass Sie den gesamten Tatort abriegeln sollen.“
„Aber das haben wir doch getan“, erwiderte Officer Sean Mason und deutete auf das gelbe Absperrband mit der Aufschrift POLICE LINE DO NOT CROSS, das vor dem Haupteingang zu der Villa befestigt worden war.
„Verflucht nochmal, genau das meine ich ja.“ Chief Rylan Durham trat über das Absperrband. „Sie sollten nicht das Gebäude abriegeln, sondern den gesamten Garten. Ansonsten ist die verdammte Presse im Nu auf dem Gelände.“
„Sorry, Chief“, sagte Officer Frederick Weaver kleinlaut. „Ich kümmere mich gleich darum.“
Rylan betrachtete die geöffnete Holztür aus massivem Eichenholz. Unverzüglich stellte er fest, dass sie kein Schlüsselloch besaß. Anstatt dessen befand sich, in gut 1,50 Meter Höhe, ein kleiner, oval-förmiger Sensor. Ein Retinascanner.
„Auf den ersten Blick sind keine Einbruchspuren zu sehen“, meinte Officer Sean Mason, der neben ihn getreten war. „Aber wir werden das natürlich noch genauer überprüfen.“
„Der Notruf kam von einer Haushaltsangestellten?“ Rylan betrat das Gebäude und wandte sich zu dem Salon, aus dem er einen Mann laut sprechen hörte.
„So ist es. Eine gewisse Ximena Valentina Ramírez González, 34 Jahre alt, mexikanische Staatsbürgerin. Sie ist vorne, im Salon, falls Sie mit ihr sprechen möchten.“
Rylan nickte. Er durchquerte den langen Korridor, bis er den Salon vor ihm erreicht hatte. Wie im gesamten Gebäude war auch hier nahezu alles aus edlem Holz gefertigt – Tische, Stühle und Schränke. Zusammen mit den gewaltigen Kronleuchtern an der Decke ergab sich der Eindruck, man befände sich in dem Anwesen eines Wohlhabenden aus dem 19. Jahrhundert. Myers war also ein Freund des klassischen Ambiente.
An einem der Tische befand sich eine junge Frau südländischen Aussehens, der die Erschütterung ins Gesicht geschrieben war. Sie kauerte mehr auf ihrem Stuhl, als dass sie darauf saß, und ihre Augen waren rot angelaufen, als hätte sie eben noch stark geweint. Ihr gegenüber saß ein weiterer Polizist. Dieser versuchte offenbar gerade, die junge Frau auszufragen, doch war diese so durcheinander, dass sie kaum zum Beantworten der Fragen imstande war.
„Lassen Sie die Frau in Ruhe, wir befragen sie später“, befahl Rylan. Dann wandte er sich wieder an Officer Mason. „Zeigen Sie mir den Toten.“
Der Officer führte ihn ins erste Obergeschoss und dann zum Schlafzimmer. Rylan war schon an vielen Tatorten eines Mordes gewesen, doch dieser Anblick ließ selbst ihn erschaudern. Der Kehlkopf des Opfers war nur noch eine tiefe, scharlachrote Höhle, und das Blut aus dem Einschussloch hatte sich überall über den mit einem Pyjama bekleideten Mann verteilt. Von dem berühmten Filmproduzenten Gregory Myers war nicht mehr übrig als ein zerschmetterter Leichnam.
Es war offensichtlich, dass diese Art des Mordens eine unnötige gewesen war. Myers hatte geschlafen, und es hätte daher mit absoluter Sicherheit ausgereicht, aus einer gewissen Entfernung seine Brust zu durchbohren oder einen gezielten Schuss zwischen seine Schläfen abzufeuern. Anstatt dessen war der Mörder nahe an sein Opfer herangetreten, hatte ihm die Waffe direkt an den Hals gehalten und dann seine Haut regelrecht zum Zerbersten gebracht. Auf welches Motiv lässt eine solche Tat deuten? Rylan brauchte nicht lange, um eine Antwort zu finden.
„Chief!“, rief Officer Frederick Weaver, der offenbar mit dem Absperren des Geländes fertig war und nun ebenfalls den eigentlichen Schauplatz des Verbrechens betreten hatte. „Sehen Sie, was ich gefunden habe. Ich denke, wir können ein potentielles Motiv schon mit Gewissheit ausschließen.“
„Frederick, ich denke, wir können alle bis auf das tatsächliche Motiv bereits ausschließen. Es ist offensichtlich, warum der Täter so gehandelt hat.“
„Sie meinen… wegen der Geschichten aus den Medien? Aus Rache für das, was Myers getan hat?“
„Was Myers angeblich getan hat“, erwiderte Rylan.
Der Filmproduzent Gregory Myers war in jüngster Vergangenheit weniger durch seine Werke als vielmehr durch etwas anderes in die Schlagzeilen geraten. Chief Rylan Durham hatte die gesamte Kampagne bereits seit ihren Anfängen im Oktober 2017 kritisch beäugt. Die ganze Zeit über konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es sich in vielen Fällen, die durch die Medien gegangen waren, um nichts weiter gehandelt hatte als um Rufmord. Viele renommierte Persönlichkeiten dieser Region sind in den Dreck gezogen worden – nur durch Lügen und falsche Anschuldigungen. Und genauso war es auch mit Gregory Myers.
Rylan blickte wieder zum Leichnam des berühmten Filmproduzenten. Er hatte eine ziemlich genaue Ahnung davon, was hier vorgefallen war. Die linksextremistische Szene war in den vergangenen Jahren sowohl stark gewachsen als auch deutlich radikaler geworden. Im Frühjahr 2020 hatten linksradikale Demonstranten nicht sofort zurückgeschreckt, Polizisten tätlich zu attackieren und ganze Städte zu verwüsten. Nun also waren sie noch weiter gegangen und hatten einen Filmproduzenten – nach ihrer Diktion einen chauvinistischen angry white man, der angeblich vor 20 Jahren junge Schauspielerinnen zum Oralsex gezwungen hatte – brutal hingerichtet. Das Einzige, was zu dieser Geschichte leider noch nicht passte, war, dass sich die Linksextremen allem Anschein nach nicht gewaltsam Zutritt zu dem Anwesen verschafft hatten. Hat Myers sie etwa freiwillig ins Haus gelassen? Rylan wusste, dass er sich unbedingt die Videoaufzeichnungen ansehen musste.
„Chief“, drängte Officer Frederick Weaver, „ich finde, Sie sollten sich das wirklich ansehen.“
„Na schön.“
Rylan warf noch einen letzten Blick auf den Leichnam, dann folgte er seinem Kollegen ins Kellergeschoss, das ebenfalls rundum in Eichenholz gehalten war.
Officer Frederick Weaver deutete auf eine große Stahltür. „Ich hab mir die mal ein bisschen genauer angeschaut. Sehen Sie diesen Sensor hier?“ Der Officer zeigte auf ein kleines, fünf mal fünf Zentimeter messendes Display, das sich etwa in Augenhöhe befand. „Hierbei handelt es sich um einen weiteren Retinascanner. Hier drin muss sich also eine Art Safe befinden.“
„Und zumindest vom bloßen Auge her sind auch hier keine Kratzer, die auf einen Einbruch deuten würden.“
„Ja, Chief. Wir können also das Motiv Diebstahl mit sehr großer Wahrscheinlichkeit ausschließen.“
„Gut gemacht, Frederick. Lassen Sie das trotzdem noch von der Spurensicherung überprüfen. Ich…“
Rylan brach ab. Sein Blick war auf das impressionistische Gemälde gefallen, das der Officer wenig achtsam zur Seite gelegt hatte, um zu dem Safezimmer dahinter zu gelangen. Es zeigte einen bekannten Berghügel zu später Stunde, genau im Augenblick des Sonnenuntergangs. Am unteren, rechten Rand des Gemäldes stand ein junges Liebespaar, das voller Sehnsucht in den Augen zum anderen Ende des Bildes blickte. Dort, weit über dem Paar auf dem Hügel, befand sich der berühmte Schriftzug von Hollywood.
„Ein tolles Gemälde, nicht wahr?“
Rylan nickte. „Doch es ist nicht das, was mich irritiert. Das weitaus Spannendere ist, wer es gezeichnet hat.“
Officer Frederick Weaver bückte sich, um nach der Signatur des Künstlers zu suchen. Als er sie gefunden hatte, sah er den Chief verwundert an. „Brendan Morgan? Tatsächlich?“
„Mr. Morgan ist nicht der einzige berühmte Schauspieler, der nebenbei Künstler ist. Lucy Liu, eine der drei ursprünglichen Engel von Charlie, hat lange Zeit unter einem Pseudonym abstrakte Gemälde gezeichnet. Inzwischen stellt sie auch auf Kunstausstellungen aus. Pierce Brosnan, der James-Bond-Darsteller, hat als Jugendlicher als Maler gearbeitet und zeichnet viele Gemälde für Wohltätigkeitsauktionen. Sylvester Stallone hat seine Gemälde sogar bereits auf einer Ausstellung in Frankreich präsentiert.“
„Sylvester Stallone?“ Officer Frederick Weaver blickte noch ungläubiger als zuvor. „Sie machen Scherze? Rocky ist Künstler?“
„Ja, allerdings. Eines seiner berühmtesten zeichnerischen Werke zeigt auch tatsächlich Rocky, mit Schlagzeilen von Boxkämpfen im Hintergrund. Es…“
Doch Rylan kam nicht mehr dazu, seinem Kollegen noch mehr Details über die Nebenberufe von Hollywood-Stars zu eröffnen. Denn in genau diesem Augenblick traten mehrere Personen in schwarzen Uniformen zu ihnen.
„Wer von Ihnen ist der Chief des Beverly Hills Police Department?“, fragte einer von ihnen mit dunkler, barscher Stimme.
„Das bin ich.“ Rylan drehte sich zu dem Neuankömmling um.
Der Mann hielt ihm ein Ausweis unter die Nase. „FBI. Wir übernehmen ab hier.“
Nun war Rylan genauso verwundert wie zuvor sein Kollege, als dieser den Schriftzug von Brendan Morgan auf dem Gemälde entdeckt hatte. Das FBI? Was wollen die denn hier? Das Federal Bureau of Investigation, abgekürzt FBI, kümmerte sich ausschließlich um Verstöße gegen Bundesgesetze der Vereinigten Staaten oder aber um Verbrechen, bei denen Staatsgrenzen innerhalb der USA überschritten wurden. Der Mord an einem Filmproduzenten aus Hollywood fiel definitiv nicht in den Zuständigkeitsbereich des FBI. Das konnte nur bedeuten… Dass meine Vermutung zutrifft. Es handelt sich hier also tatsächlich um linksextremen Terror.
„Nehmen Sie Ihre Leute mit.“ Der FBI-Agent bedeutete Officer Frederick Weaver und ihm, die Treppe nach oben zu nehmen. Rylan wusste, dass es keinen Sinn hatte, Nachfragen zu stellen. Die beiden Polizisten machten sich auf den Weg.
Rylan hatte gerade die oberste Stufe der Kellertreppe erreicht, da hörte er, wie eine der FBI-Agenten einem anderen eine Frage stellte.
„Und Sie sind sich ganz sicher, dass er der Täter ist?“
Rylan hielt inne. Das FBI verfügte also bereits über geheime Informationen. Nun werde ich erfahren, ob ich mit meiner Vermutung richtig liege. Stecken wirklich Linksextreme hinter dem Mord?
„Ja, absolut sicher“, vernahm er die dunkle, barsche Stimme von vorhin. In dem nächsten Satz, der eigentlich nicht für Rylans Ohren bestimmt war, verriet der FBI-Agent den Namen des mutmaßlichen Mörders. Chief Rylan Durham zuckte zusammen. Das… ist vollkommen unmöglich…
Genau zur gleichen Zeit blickte ein junger Mann auf eine Nachricht, die er am vorigen Abend über einen verschlüsselten Messagingdienst erhalten hatte.
Wenn Du das liest, ist das Schlimmste eingetreten. Hiermit überreiche ich Dir den Schlüssel zu einem der größten Geheimnisse der jüngeren Geschichte. Du erhältst ihn, weil Du der Einzige bist, dem ich vertrauen kann. Entscheide selbst, wie Du mit ihm umgehst. Ich weiß, dass Du die richtige Entscheidung treffen wirst.
Auf diesen ohnehin schon sonderbaren Text folgte etwas, das noch weitaus sonderbarer war. Eine Datei, die mit einem Passwort verschlüsselt worden war – versehen mit einem Passworthinweis, der sich nur als kryptisch bezeichnen ließ. Natürlich hatte der junge Mann schon mehrere Male versucht, den Absender dieser Nachricht anzurufen. Doch jedes Mal hatte niemand abgenommen.
Der junge Mann wusste nicht, das wievielte Mal es nun war, dass er den Passworthinweis las. Aber es ging ihm wie beim ersten Mal. Er wurde einfach nicht schlau daraus. Was um alles in der Welt soll das?
In diesem Moment pingte das Smartphone. Eine neue Nachricht war eingegangen. Der junge Mann las sie, und augenblicklich überkam ihn Entsetzen. Jetzt verstand er. Das Schlimmste ist eingetreten.
Der Los Angeles International Airport liegt nahe der Pazifikküste, etwa 30 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Mit seinen neun Terminals und fast 90 Millionen Passagieren pro Jahr ist er nach dem Flughafen von Atlanta der zweitgrößte der Vereinigten Staaten. Aus Deutschland wird er derzeit ausschließlich von Frankfurt und München aus angeflogen.
Jacqueline Widmer befragte Sabrina nach den Wetteraussichten für heute, während sie auf ihr Gepäck wartete. Es sollte ein sonniger Tag werden, mit derzeit 16 und später bis zu 27 Grad. Mit ihrem dunkelblauen Top und dem schwarzen Pullover darüber, der Bluejeans und den Sneakers hatte sie sich also für die richtige Kleidung für den Vormittag entschieden; für das Treffen mit Jim Stone würde sie sich natürlich etwas Edleres anziehen.
„Du hast während des Flugs vier Anrufe von Luca Rabien verpasst“, meldete Sabrina gerade.
Jacqueline ignorierte die Mitteilung. Meine Güte, Luca, wann kapierst du es endlich? Jacqueline hatte Luca kürzlich über Tinder kennengelernt. Für sie war es nichts weiter als ein kurzes, erotisches Abenteuer gewesen, das keine Fortsetzung benötigte, und genau das hatte sie ihm auch gesagt. Dies hinderte Luca jedoch nicht daran, sie ständig anzurufen. Vielleicht sollte Sabrina einfach die Nummer blockieren.
„Außerdem sind da zwei verpasste Anrufe von Philippe Arnaud“, fuhr Sabrina fort.
Also wirklich, Sabrina, wieso meldest du mir das nicht zuerst? Dass der Algorithmus vier Anrufe von Luca als wichtiger als zwei von ihrem Doktorvater einschätzte, bedeutete, dass er noch immer nicht ganz perfekt war. Was hat Philippe mir denn jetzt noch zu sagen? Unsere gemeinsame Arbeit ist doch beendet.
„Rufe ihn an“, wies sie Sabrina an.
Philippe ging sogleich ans Telefon. „Hallo, Jacqueline. Bist du gut gelandet? Bei dir muss es ja gerade Mittag sein.“
„Kurz nach zehn“, meinte Jacqueline. In München war es inzwischen Abend.
„Ich hab gerade diese Geschichte in den News gesehen. Ausgerechnet an dem Tag, an dem du nach LA fliegst, passiert sowas.“
Einen Moment lang hatte Jacqueline keine Ahnung, worüber er sprach, doch dann erhielt sie die aktuellen Nachrichten von Sabrina. „Du meinst… dieser Mord an dem Filmproduzenten?“ Jacqueline überflog die Schlagzeilen, welche die Datenbrille soeben einblendete.
+++ Berühmter Filmproduzent Gregory Myers tot aufgefunden +++
+++ Brutaler Mord an Hollywood-Produzenten +++
+++ Mord-Serie in Hollywood? Nach Regisseur Gilbertson jetzt Produzent Myers tot +++
+++ Produzent Gregory Myers – erst beschuldigt im Rahmen der #metoo-Affäre, jetzt grauenvoll ermordet +++
„Das gesamte Internet diskutiert derzeit über kaum ein anderes Thema“, schrieb Sabrina dazu. „Gregory Myers, in den letzten Jahren besonders bekannt durch eine Filmreihe an der Grenze zwischen Romantik und Psychothriller, kam in den vergangenen Wochen kaum aus den Schlagzeilen. Seine mutmaßlichen sexuellen Übergriffe, die sich allesamt Ende des letzten Jahrtausends abgespielt haben sollen, waren eines der meistdiskutiertesten Themen überhaupt. Heute Morgen ist Myers von seiner Haushaltsangestellten tot in seiner Villa in Beverly Hills aufgefunden worden. Er muss heute Nacht auf brutale Weise umgebracht worden sein, mit einem gezielten Schuss direkt auf seinen Kehlkopf.“
„Ich glaube nicht, dass mich das tangiert“, meinte Jacqueline. Um ehrlich zu sein, war ihr der Name Gregory Myers bislang überhaupt kein Begriff gewesen. „Du hast mich doch nicht ernsthaft deswegen angerufen?“
„Selbstverständlich nicht“, mischte sich Sabrina ein. „Philippe Arnauds erster Anruf erfolgte vor über drei Stunden. Zu diesem Zeitpunkt war dies noch gar kein Thema in den Nachrichten.“
Wieder einmal hatte Sabrina Recht.
„Nein, nein, es geht um etwas anderes. Paul hat sich bei mir gemeldet. Du weißt ja, vom Institut für Computerwissenschaften von Cambridge. Ich weiß auch nicht, warum er mich anruft und nicht gleich dich, aber auf jeden Fall bieten sie dir eine Postdoktorandenstelle an. Das Angebot gilt ab sofort, aber es wäre auch okay für ihn, wenn du den Job erst in ein paar Monaten antrittst. Ich weiß ja, dass du dir jetzt erst einmal einen Urlaub gönnen willst.“ Philippe schmunzelte.
„Ich weiß nicht so recht…“
„Ja, ich verstehe, das MIT ist natürlich auch nicht gerade die schlechteste Adresse.“
„Nein, du verstehst das falsch.“ Jacqueline zögerte. „Philippe… ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt für eine akademische Laufbahn geschaffen bin…“
„Ach, so ist das.“ Der Franzose schmunzelte erneut und wirkte zugleich etwas enttäuscht. „Ich verstehe natürlich, wenn du lieber mit Jim Stone weiterarbeiten möchtest. Ich wette, der zahlt vorzüglich. Trotzdem denke ich, dass dies eine Verschwendung deines Talents wäre. Nach dem, was du bereits für deine Doktorarbeit entwickelt hast, kann ich mir kaum vorstellen, was du sonst noch herausfinden wirst. Jacqueline, du bist eine der besten Wissenschaftlerinnen auf dem Gebiet der Computerwissenschaften überhaupt.“
„Ach, Philippe, jetzt übertreibst du aber… und nein, ich habe mich auch noch gar nicht dazu entschieden, für Stone Xtreme zu arbeiten. Aber…“
Sie brach ab, denn in diesem Moment rollte ihr kleiner silberner Samsonite-Koffer auf dem Band zu ihr. Nur in Gedanken vervollständigte sie den Satz. Aber ich möchte mein Leben einer Sache widmen, die mich wirklich interessiert. Und das sind weder mathematische Formeln noch die Entwicklung von Technologie.
Genau in diesem Augenblick hielt ein schwarzer Audi A8 auf einem der Parkplätze des Los Angeles International Airport. Desmond Thompson blickte schon wieder auf die Uhranzeige seines iPhones, als er vom Fahrersitz aufsprang. Der 47-Jährige nahm viele Dinge mit Gelassenheit, die nahezu jedem anderen Mann Schweißperlen auf die Stirn treiben würden. Schon unzählige Male während seines beruflichen Lebens hatte Desmond sich in einer Lage befunden, in der – aus Sicht gewöhnlicher Menschen – kein positives Ende denkbar gewesen wäre. Und doch hatte Desmond jede, aber auch wirklich jede, dieser Situationen zu seinen Gunsten entschieden.
An diesem Morgen jedoch sah sich Desmond einer Entwicklung ausgesetzt, die selbst für ihn vollkommen neuartig war und seinen Puls schneller schlagen ließ. Vor rund einer Stunde hatte ein junger Mann, für den Desmond vor nicht allzu langer Zeit bereits gearbeitet hatte, sich bei ihm gemeldet und ihm eine Geschichte erzählt, die sich mit keinem anderen Adjektiv beschreiben ließ als mit unglaublich.
„Keine Details am Telefon“, hatte Desmond sogleich gesagt. „Wenn das, was Sie mir da berichtet haben, tatsächlich der Wahrheit entspricht, dann müssen wir davon ausgehen, dass wir abgehört werden. Ich fahre am besten gleich zu Ihnen.“
„Was soll dieser Mist?“ Der junge Mann klang wütend. „Natürlich entspricht das der Wahrheit! Und ja, kommen Sie sofort und sagen Sie mir, was ich denen erzählen soll! Ich brauche eine Geschichte!“
„Ganz ruhig. Keine Sorge. Wir setzen uns zusammen und finden eine Lösung.“
„Nein, ganz bestimmt nicht! Sie setzen sich hin und finden eine Lösung! Sorgen Sie dafür, dass ich aus dieser verdammten Sache wieder herauskomme – und zwar so schnell wie möglich!“
„Ich arbeite bereits daran.“