Das Sissi Geheimnis - H.C. Besdziek - E-Book

Das Sissi Geheimnis E-Book

H.C. Besdziek

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Beschreibung

ENTDECKE DEN GEHEIMPLAN DES HOCHADELS! Isabella Wagner schreibt an ihrer Abschlussarbeit in Geschichte. Sie beschäftigt sich mit einem Mythos, der in Verbindung steht sowohl mit der Nibelungensage als auch mit der österreichischen Kaiserin Sissi. Im Auftrag des belgischen Königs fliegt Isabella nach Brüssel. Sie soll eine Gefahr für das Königshaus abwenden, die mit dem Mythos zusammenhängt. Doch Isabella kommt zu spät. Die belgische Königsfamilie wird Opfer eines feigen Attentats, das von langer Hand geplant ist. Prinz Cyrill, der skandalumwitterte Bad Boy des Königshauses, schafft es, dem Anschlag auf sein Leben zu entrinnen. Isabella soll ihm dabei helfen, den Drahtzieher des Attentats zu finden. Doch kann sie ihm wirklich vertrauen? Denn die Polizei glaubt, dass der Prinz den Mord an seiner Familie selbst in Auftrag gegeben hat. Schon bald erkennt Isabella, dass der Schlüssel zur Wahrheit tief in der Vergangenheit liegt. Alles scheint miteinander verwoben: das Attentat, ein bis heute ungeklärter Todesfall aus Sissis Familie und schließlich der wahre Ursprung der Nibelungensage… Ein packender Mix aus Märchen, Thriller und historischem True Crime – randvoll mit Action, Romantik und jeder Menge verblüffender Fakten! Denn der gesamte historische Hintergrund ist wahr!

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Seitenzahl: 766

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Faktenbasierte Thriller von H.C. Besdziek

DIE GALILEO VERSCHWÖRUNG

DAS HOLLYWOOD PUZZLE

DAS SISSI GEHEIMNIS

Fakten und Fantasie

»Deutschland wird es niemals verstehen, welch ungemeine Bedeutsamkeit und Weisheit es ist, die Deutsche, Slawen, Ungarn, Polen um die Krone gruppiert. Der Staat der Habsburger hat längst, wenn auch in Miniaturform, Victor Hugos Traum der Vereinigten Staaten von Europa verwirklicht. Österreich ist ein Staatenblock verschiedenster Nationen und verschiedenster Rassen unter einheitlicher Führung. Jedenfalls ist das die grundlegende Idee eines Österreich, und es ist eine Idee von ungeheuerster Wichtigkeit für die Weltzivilisation.«

Diese Worte sprach Rudolf, Kronprinz von Österreich-Ungarn und Sohn von Kaiserin Sissi, im Dezember 1886. Keine drei Jahre später fand der junge Mann den Tod, in Begleitung seiner neuen Geliebten Mary Vetsera. Die genauen Umstände seines Todes sind ungeklärt – bis heute.

Der gesamte historische Hintergrund dieses Romans ist wahr beziehungsweise beruht – dort, wo die Faktenlage uneindeutig ist – auf begründeter Spekulation.

Die Handlung und sämtliche Charaktere sind dagegen frei erfunden.

PS: Dies ist viel mehr als nur ein Thriller. In diesem Buch sind unzählige Codes und Anspielungen versteckt.

+++ #1 +++

Am Ufer des Rheins wuchs eine junge Dame heran, so klug und so schön wie kaum eine andere aus ihrer Stadt. Ihr Haar war blond und hell wie das Licht der Sonne, ihre Augen blau und klar wie die See. Isabella wurde sie geheißen, und ihretwegen mussten viele tapfere Männer und Frauen ihr Leben verlieren.

Es trug sich zu, dass sich Isabella an diesem Freitagnachmittag im August auf eine Reise begab, die sie fernab von ihrer Heimat führte, bis ins österreichische Bad Ischl. Isabella war voller Erschöpfung, als sie nach über vier Stunden Fahrzeit endlich an ihrem Ziel ankam. Die Fahrt von München nach Bad Ischl hatte sich angefühlt wie eine Ewigkeit, nahezu die gesamte Autobahn A8 war ein einziger Stau.

Isabella war ohnehin überrascht, dass sie es noch rechtzeitig geschafft hatte – wenn auch nur um drei Minuten. Sie stoppte den orangefarbenen Škoda Fabia ihrer Mitbewohnerin vor der Schranke, welche die Villa von der Außenwelt abschirmte, und ließ das Fenster herunter.

Es dauerte einen Moment, doch dann meldete sich die Sprechanlage. „Wer sind Sie?“ Ihr Gegenüber war männlich, und in seiner tiefen Stimme lag ein starker österreichischer Dialekt.

„Mein Name ist Isabella Wagner“, sagte sie, „ich bin mit Clara von Klettgau verabredet.“

„Können Sie sich ausweisen?“

Isabella war verwundert. „Ist das wirklich nötig?“

„Na, es könnte ja jeder kommen.“ Der Mann lachte laut auf. „Über der Sprechanlage befindet sich eine Kamera. Halten Sie einfach Ihren Personalausweis dagegen, dann mache ich Ihnen auf.“

„Von mir aus“, meinte Isabella, wobei sie bemerkte, wie genervt sie klang. Diese Adeligen übertreiben es aber auch wirklich. Doch sie griff ins Handschuhfach und kramte ihre Papiere hervor, die sie unzweifelhaft als Isabella Ildiko Wagner, geboren am 03.04.2001, auswiesen.

„Okay, gut, alles in Ordnung.“

Einen Augenblick später klappte die Schranke hoch, und Isabella hatte nun Zutritt zu dem riesigen Park, in dessen Mitte sich die Villa befand. Der Park war im englischen Stil eingerichtet, was bedeutete, dass die Landschaftsplaner weniger Wert auf Formen und Symmetrien denn auf Abwechslung und Natürlichkeit setzten. In der Tat, mit den unterschiedlichen Baumgruppen – eine Gruppe von Fichten, eine Gruppe von Pappeln, eine Gruppe von Kastanienbäumen und so weiter – und den manchmal großen, ein anderes Mal dagegen kleinen Wiesenabschnitten dazwischen wirkte der Park wie ein begehbares Gemälde. Oder eher ein befahrbares, denn Isabella manövrierte den Škoda über die geteerte Straße bis zu dem Parkplatz, der sich direkt vor der Villa befand und Platz für zwölf Autos bot.

Isabella hielt an und vergewisserte sich, dass sie auch wirklich all die Unterlagen dabei hatte, mit denen sie die Unternehmerin konfrontieren würde. Sonst wäre die Fahrt nach Österreich schließlich umsonst gewesen. Doch sie brauchte sich keine Sorgen zu machen, sie trug all ihre Forschungsergebnisse bei sich. Erleichtert schloss sie ihre Handtasche aus beigefarbenem Leder und warf sie sich über die Schulter. Dann klappte sie den Schminkspiegel herunter und betrachtete sich darin.

Zufrieden stellte sie fest, dass man ihr die Erschöpfung kaum ansah; ganz im Gegenteil, sie sah wirklich gut aus. Ihre langen, hellblonden Haare waren zu einem kunstvollen Schopf zusammengebunden, ihre klaren, blauen Augen strahlten Selbstsicherheit aus, und die Kette mit dem silbernen Falken, die sie um ihren Hals trug, harmonierte perfekt mit ihrem hellblauen Kleid. Isabella war sehr schlank und 1,72 Meter groß, und sie wusste, dass sie ziemlich attraktiv war.

Sie klappte den Schminkspiegel zu und stieg aus dem Auto. Als Erstes ging sie zum Kofferraum und tauschte die zum Autofahren praktischen Sneakers durch die hellblauen Ballerinas, die besser zu ihrem Kleid passten. Dann machte sie sich auf den Weg zu dem Wohnsitz der Unternehmerin, mit der sie verabredet war. Dabei handelte es sich um eine imposante Villa mit drei Stockwerken und gewaltigen Fenstern, die im Stil der Neoklassik errichtet war. Wäre sie nur noch etwas größer, sie ließe sich problemlos als Schloss bezeichnen.

Isabella hatte zwar bereits etliche Fotos von der Villa gesehen, doch nun direkt davor zu stehen, das war wirklich beeindruckend. Sie hielt einen Moment inne und ließ die Atmosphäre auf sich wirken. Die gewaltige Villa, inmitten eines wunderschönen Gartens, am Fuße des Jainzenberg, in dem der österreichische Kaiser Franz Joseph I. und seine Gemahlin Kaiserin Elisabeth so häufig spazieren gegangen waren.

Isabella fragte sich, ob die 15-jährige Sissi genauso beeindruckt von Ischl gewesen war wie sie heute, über 150 Jahre später. Nur zwei Kilometer von hier, im Seeauer-Haus, hatte Sissi am 16. August 1853 ihren Cousin Franz Joseph getroffen. Eigentlich hatte sie nur ihre Schwester, die 18-jährige Helene, ins österreichische Salzkammergut begleiten sollen, denn ihre Mutter Ludovika hatte vorgehabt, Helene mit dem Kaiser zu verkuppeln. Doch wie spätestens seit den drei Filmen von Ernst Marischka jeder im deutschsprachigen Raum wusste, war es die jüngere der beiden Schwestern, in die sich der Kaiser unsterblich verliebte. Es dauerte kein Jahr, bis die beiden heirateten und Sissi zur Kaiserin von Österreich wurde.

Und nicht nur das, dachte Isabella. Wenn der Mythos der Wahrheit entspricht, dann wurden Sissi und ihre Kinder damit auch Teil der Thronfolge. Der einzigen Thronfolge, auf die es heute noch ankommt.

Isabella riss sich aus ihren Gedanken und stieg die Stufen hinauf, die zu dem großen, hölzernen Eingangsportal der Villa führten. Noch bevor sie oben angekommen war, schwang das Portal auf, und ein Mann in schwarzer Uniform trat auf sie zu.

„Folgen Sie mir, bitte.“

Es war derselbe Mann, der mit ihr über die Sprechanlage kommuniziert hatte. Der Uniformierte war in den späten Dreißigern oder den frühen Vierzigern, hatte schwarze Haare und ein markantes Gesicht und war so kräftig gebaut, dass Isabella schwer davon ausging, dass er wohl kein Butler, sondern ein Leibwächter war.

Der Mann führte Isabella einen langen Korridor entlang, der von einem Teppich gesäumt war und dessen Wände mit Mosaiken verziert waren. Schließlich ging es durch eine Tür, deren Rahmen aus offenbar echten Gold bestand, in einen rund 20 mal 20 Quadratmeter großen Saal, der noch um einiges edler eingerichtet war als der Korridor. Nicht nur, dass zwischen den Fenstern, durch die man auf den Park hinausblicken konnte, impressionistische Gemälde angebracht waren, von der Decke hing zudem ein goldener Kronleuchter mit über dreißig Lampen. In dem Saal selbst gab es mehrere Holztische mit Sesseln darum herum, und auf einem dieser Sessel saß eine Frau mit hellbraunen Haaren, die ein langes, schwarzes Kleid und gleichfarbige Pumps trug.

Clara von Klettgau war groß, noch um einiges größer als Isabella, und obwohl sie in der Tat bereits 64 Jahre alt war, so wirkte sie doch um einiges jünger. Vermutlich aufgrund von kosmetischen Eingriffen fand sich keine einzige Falte in ihrem Gesicht. Doch obwohl Isabella und der Leibwächter gerade den Raum betreten hatten, blickte sie noch immer stur zum Fenster hinaus. Erst als Isabella auf sie zu trat, sah sie auf.

„Ach, Sie sind diese Studentin, die wegen des Interviews hier ist?“

Isabella nickte und streckte die Hand aus. „Isabella Wagner.“

„Schön.“ Clara von Klettgau machte keinerlei Anstalten, Isabella ihre Hand zu geben oder gar von ihrem Sessel aufzustehen. „Setzen Sie sich.“ Sie deutete auf den Sessel, der sich auf der gegenüberliegenden Seite des Holztisches befand.

Isabella bemerkte, dass sie ihre Hand immer noch ausgestreckt hielt, und benutzte diese rasch, um ihre Handtasche auf den Tisch zu legen. Dann nahm sie der Unternehmerin gegenüber Platz.

„Um es gleich vorweg zu sagen“, begann Clara von Klettgau und klang dabei ziemlich barsch, „ich bin um halb sechs mit jemandem verabredet, ich habe also nicht viel Zeit.“

Die imposante Uhr über der Eingangstür, die der Leibwächter in diesem Moment schloss, verriet Isabella, dass es inzwischen fünf Minuten nach fünf war. Sie sollte sich also besser beeilen.

„Sie sind von der Universität Wien?“, fragte Clara von Klettgau, klang dabei aber immer noch vollkommen desinteressiert.

„Nein, ich bin aus München, von der Ludwigs-Maximilians-Universität. Ich arbeite für die Studentenzeitung, und wir schreiben dort gerade an einer Reihe über berühmte Unternehmerinnen. Obwohl so viel für Geschlechtergerechtigkeit getan wird, sind das ja immer noch nur sehr wenige.“

Clara von Klettgau nickte, und ihre Miene hellte sich ein wenig auf. Isabella wusste, dass Feminismus und Frauenförderung für die Unternehmerin von großer Bedeutung waren, und genau das war auch der einzige Grund, weshalb sie sich diese Geschichte ausgedacht hatte. In Wirklichkeit hatte Isabella noch nicht einmal eine Studentenzeitung aufgeschlagen, geschweige denn daran mitgearbeitet.

„Sie leiten den Drogeriekonzern AustriaHealth nun schon seit zwölf Jahren“, sagte Isabella und nahm einen Block sowie einen Kugelschreiber aus ihrer Handtasche, um sich Notizen zu machen. „In dieser Zeit hat sich der Absatzmarkt Ihres Unternehmens komplett geändert – von der realen Welt hin zum Internet. Mit dem neuen Konzept, über zwei Drittel der Filialen zu schließen, dafür jedoch auf den Online-Verkauf zu setzen, ging eine gewaltige Gewinnsteigerung einher. Waren Sie es, die auf diese Idee gekommen ist?“

Clara von Klettgau nickte erneut. „Kaum, dass ich die Leitung von AustriaHealth übernommen hatte, habe ich erkannt, dass sich etwas ändern musste. Nahezu jeder unserer Märkte schrieb rote Zahlen. Also habe ich beschlossen, eine radikale Kehrtwende einzuleiten.“

„Und das war der Wechsel ins Internet?“

„Ganz genau. Wir waren nahezu die Ersten, die auf das aufkommende Onlinegeschäft gesetzt haben. Es hat mich viel Überwindung gekostet, all diese Märkte zu schließen, und selbst heute noch frage ich mich manchmal, ob es wirklich richtig war, den Mitarbeitenden das zuzumuten…“

„… doch der Erfolg hat Ihnen Recht gegeben.“

Isabella kitzelte irgendetwas auf den Block, damit es so wirkte, als würde sie mitschreiben. Die nächsten zwölf Minuten stellte sie noch weitere Fragen zu dem Drogeriekonzern und Clara von Klettgaus Rolle als Vorstandsvorsitzende. Schließlich, als es bereits viertel nach fünf vorbei war, entschied Isabella, dass sie nun endlich das Thema wechseln musste. Ansonsten ist das Gespräch noch zu Ende, und ich bekomme nie die Informationen, derentwegen ich hier bin.

„War es für Ihre Karriere hilfreich, dass Sie Nachfahrin des Hauses Klettgau sind?“, fragte sie daher, als die Unternehmerin gerade einen Monolog über die von ihr intensivierte Frauenförderung beendet hatte.

Clara von Klettgau blickte sie an, und in ihren braunen Augen lag ein Hauch Verärgerung. „Nein, ich wüsste nicht, inwiefern meine Herkunft etwas mit meiner Karriere zu tun haben sollte. Also, wie gesagt, seit nunmehr vier Jahren ist der Vorstand von AustriaHealth paritätisch besetzt, also zu gleichen Teilen von Frauen als von Männern.“

Isabella ärgerte sich, dass die Überleitung zu dem wichtigeren Thema nicht so funktioniert hatte, wie sie sich das während ihrer Planung des Interviews vorgestellt hatte. Sie dachte einen Moment lang darüber nach, wie sie nun fortfahren sollte, doch dann fiel ihr ein, dass Clara von Klettgau ihr ein passendes Stichwort geliefert hatte.

„In der Berufswelt setzt nun endlich ein Umdenken ein, und in Ihrem Adelsgeschlecht ist es bereits geschehen. Mit Ihnen hat das Haus Klettgau ein weibliches Oberhaupt, und das zum ersten Mal in seiner Geschichte.“

Clara von Klettgau nickte. „Mit dem Tod meines Vaters wurde ich das neue Familienoberhaupt. Und ja, Sie haben Recht, zu früheren Zeiten wäre es undenkbar gewesen, dass eine Frau das Oberhaupt wird, auch dann, wenn sie – so wie ich – die Erstgeborene ist.“

Auch Isabella nickte. In den vergangenen Jahrhunderten hatte es nahezu keine Rolle gespielt, wer die Erstgeborene eines Königs oder Kaisers war, solange es sich dabei um ein Mädchen gehandelt hatte. Thronfolger war immer der erstgeborene Sohn geworden, und das in nahezu allen Monarchien Europas. In Großbritannien beispielsweise hatte es bis ins Jahr 2011 gedauert, bis im Rahmen des so genannten Perth Agreement wirklich die Geburtsreihenfolge ausschlaggebend wurde und weibliche Nachkommen nicht länger hinter später geborene, männliche Nachfahren gereiht wurden. Und diese Neuerung galt ausschließlich für Königskinder, die nach diesem Zeitpunkt auf die Welt kamen, für alle bis 2011 geborenen Nachkommen war nach wie vor die alte Regel ausschlaggebend.

In den drei Jahren, in denen Isabella nun für ihre Doktorarbeit geforscht hatte, war es dieser Widerspruch, der ihr besonders ins Auge gesprungen war. Auf der einen Seite besagte der Mythos, dass die Erstgeborenen die stärkste Linie bildeten, auf der anderen Seite jedoch verlief die Rekonstruktion so gut wie immer nur über die männliche Linie.

„Aber heutzutage ist das ohnehin nur noch eine familieninterne Sache“, sagte Clara von Klettgau gerade und riss Isabella damit aus ihren Gedanken. „Es sind ja schließlich keine Herrschaftsansprüche mehr damit verbunden, Oberhaupt des Hauses Klettgau zu sein.“

„Das nicht…“ Isabella beschloss, nun endlich zum Punkt zu kommen. Ich habe nicht mehr viel Zeit. „Doch vielleicht sind Sie ja auch nicht nur Oberhaupt des Hauses Klettgau. Wenn meine Recherchen zutreffen, sind Sie noch so viel mehr.“

Clara von Klettgau blickte sie mit verdutzter Miene an. „Wovon sprechen Sie?“

Isabella griff in ihre Handtasche und nahm ein gewaltiges Stück Papier heraus. Ein Blatt im DIN-A3-Format, das sie sorgsam auseinanderfaltete und dann auf dem Holztisch ausbreitete. Der Inhalt dieses Blattes war einer der wichtigsten Teile ihrer Doktorarbeit, die bislang zwar nur auf ihrem Laptop existierte, die sie jedoch sehr bald fertigstellen wollte. Wenn ich endlich die Bestätigung dafür habe, dass ich richtig liege.

„Vielleicht war ich nicht ganz ehrlich zu Ihnen, Frau von Klettgau“, sagte sie. „Ich arbeite nicht nur für die Studentenzeitung, sondern promoviere zudem im Fach Geschichte. Seit drei Jahren schon beschäftige ich mich nun mit einem Mythos und versuche herauszufinden, wie viel davon wahr ist. Anfangs war ich überaus skeptisch, doch inzwischen habe ich immer mehr Indizien gefunden, die alle in die gleiche Richtung deuten – und zwar zu Ihnen.“

Clara von Klettgau wirkte noch eine Spur verdutzter, doch langsam kehrte auch wieder ein Anflug von Verärgerung in ihren Gesichtsausdruck zurück. Sie deutete auf das DIN-A3-Blatt in der Tischmitte. „Was ist das?“

„Eine Rekonstruktion“, sagte Isabella ruhig. „Dieses Blatt Papier stellt eine Thronfolge dar, von etwa dem Jahr 500 bis heute. Wie Sie sehen können, ist nicht jede Verwandtschaft eindeutig. Ein paar kleine Teile des Stammbaums lassen sich nicht mehr unzweifelhaft rekonstruieren.“ Isabella deutete auf einen Abschnitt nahe dem Anfang der Thronfolge, der im Gegensatz zum restlichen Papier nicht in roter, sondern in blauer Farbe gedruckt war. „Leider sind es gerade diese Stellen des Stammbaums, die besonders entscheidend sind. Deshalb bestehen durchaus Zweifel an der Validität dieser Rekonstruktion. Dennoch – wenn wir die Thronfolge bis zum heutigen Tag verfolgen, landen wir…“, Isabella zeichnete den Stammbaum mit der Hand nach, bis sie ganz unten angekommen war, „… bei Ihnen.“

Clara von Klettgau blickte nun ebenfalls auf das Blatt Papier. Ganz am Ende der Thronfolge befanden sich mehrere Namen, die in einer bestimmten Reihenfolge angeordnet waren. Dort stand:

Clara Aurelia von Klettgau (* 1961)

Valerie von Klettgau (* 1986)

Adriano von Klettgau (* 1991)

Louis Sebastian, König der Belgier (* 1982)

Kronprinz Raphaël Maurice von Belgien, Herzog von Brabant (* 2001)

Prinz Cyrill Armand von Belgien (* 2002)

Prinzessin Léa Giulia von Belgien (* 2013)

„In jüngster Vergangenheit habe ich mir die Freiheit erlaubt, die Rekonstruktion nach dem Geburtsrecht zu gestalten“, sagte Isabella und deutete auf die Rangliste. „Ich glaube, dass es heutzutage keine Rolle mehr spielen sollte, wenn die Erstgeborene ein Mädchen ist. Würden wir dagegen auch hier einen traditionellen Ansatz anlegen, so läge Ihr verstorbener Bruder Alexander vor Ihnen, und somit wäre natürlich Ihr Neffe Louis auf Position eins der Thronfolge.“

Clara von Klettgau warf einen letzten Blick auf das Blatt mit ihrem Namen darauf. Dann stand sie auf und blickte Isabella an, und ihre Augen funkelten vor Zorn. „Was zur Hölle soll das?“

Isabella ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

„Frau von Klettgau, mir geht es nur darum, einem Mythos auf die Spur zu gehen. Ich will herausfinden, wie viel Wahrheit in der Legende liegt, das ist alles. Doch schon bald werden Sie dasselbe von anderen Leuten hören – Personen, die wirklich glauben, dass Sie das Königshaus reaktivieren möchten.“

„Das Königshaus reaktivieren?“, schnaubte Clara von Klettgau. „Das brauche ich mir nicht länger anzuhören. Unser Gespräch ist beendet.“ Sie wandte sich zur Tür.

Isabella zögerte einen Moment. Eine so heftige Reaktion hatte sie nicht erwartet, und auch wenn sie bislang nicht die geringste Bestätigung für ihre Theorie hatte, so sagte ihr Gefühl, dass sie einen wunden Punkt angesprochen hatte. Sie faltete das Blatt mit der Thronfolge darauf zusammen, steckte es in ihre Handtasche und nahm dafür ein weiteres Papier hervor. Dann stand sie ebenfalls auf und trat auf die Unternehmerin zu.

„Laut der offiziellen Website der Bilderberg-Konferenzen waren Sie Teilnehmerin an vier dieser Treffen, und zwar von 2018 bis 2021. Seither sind Sie offiziell nicht mehr gelistet, doch gemäß diesem geleakten Report“, sie deutete auf das Papier, „hatten Sie auch in den letzten Jahren einen Bezug zu den Bilderbergern. Doch dieser Report verrät noch viel mehr: Sie sind eine derjenigen, die den Kurs vorgibt.“

„Und selbst wenn dem so wäre?“, erwiderte Clara von Klettgau, ohne auch nur einen Blick auf das Papier zu werfen. „Ich leite eines der größten Unternehmen Österreichs, da ist es nur naheliegend, dass ich an diesen Wirtschaftstreffen teilnehme.“

„Wirtschaftstreffen? Bei den Bilderberg-Treffen geht es doch wirklich nur am Rande um Wirtschaft. Von Anfang an haben die Bilderberger auf ein Ziel hingearbeitet – ein Ziel, das nun kurz vor der Vollendung steht. In diesem geleakten Dokument heißt es“, sie las von dem Papier ab, „Clara von Klettgau, Mitglied des übergeordneten „Advisory Committee“, legte es den Entscheidungsträgern nahe, die Einigung noch vor dem Jahr 2030 zu vollenden. Warum machen Sie einen solchen Druck? Weil Sie den Thron noch zu Ihren Lebzeiten möchten?“

„RAUS!“ Clara von Klettgau stieß die Tür auf und wies auf den Korridor. „Verschwinden Sie, sofort!“

Wieder zögerte Isabella. Noch immer hatte sie keinerlei Bestätigung dafür, dass sich die Erstgeborene des Hauses Klettgau wirklich für die Auserwählte hielt. Auf der anderen Seite… wieso sollte sie so drastisch reagieren, wenn das alles nur ein absurder Mythos ist? Isabellas Blick fiel auf die impressionistischen Gemälde, die an den Wänden zwischen den Fenstern aufgehängt waren. Erst jetzt erkannte sie, dass die Motive allesamt aus dem gleichen Themenbereich stammten: der Nibelungensage.

Eines der Bilder zeigte, wie Siegfried im Blut des Drachen Fafnir badete, wodurch er nahezu unverletzlich wurde. Ein anderes Gemälde stellte dar, wie Siegfried die Tarnkappe des Zwergen Alberich erbeutete und diesen dazu zwang, ihm von nun an als Knecht zu dienen. Das letzte Motiv schließlich zeigte, wie Siegfried hinterrücks während der Jagd ermordet wurde – durch einen Speer, den Hagen von Tronje durch die einzige Stelle bohrte, an der Siegfried verwundbar war und die dessen Gemahlin Kriemhild gekennzeichnet hatte. Mit einem Kreuz. Ist es wirklich Zufall, dass all diese Bilder hier hängen? Wo die Nibelungensage doch in so direkter Verbindung zu der Thronfolge steht?

Clara von Klettgau packte Isabella am Arm. „Jetzt verschwinden Sie endlich! Oder muss ich den Leibwächter holen, um Sie nach draußen zu eskortieren?“

„Ich gehe ja schon“, murmelte Isabella, steckte die Papiere in ihre Handtasche und machte sich auf den Weg zur Tür.

Sie hatte den Raum schon fast verlassen, da vernahm sie das Geräusch quietschender Reifen vom Vorplatz. Mitten in der Türschwelle drehte sie sich um und bemerkte durch die Fenster, wie zwei schwarze Limousinen auf dem Parkplatz vor der Villa zum Stehen kamen. Dem einen Wagen entstiegen zwei Personen in braunen Uniformen, dem anderen ein weiterer Mann in Uniform sowie ein anderer, deutlich jüngerer Mann, der in einen schwarzen Anzug gekleidet war. Der junge Mann war groß und hatte schwarze Haare. Besser konnte Isabella ihn von hier aus nicht erkennen, doch sie wusste sogleich, dass er ihr bekannt vorkam. Aber woher?

„Raus hier!“ Clara von Klettgau zerrte Isabella aus dem Saal hinaus auf den Korridor. „Armin! Bitte kommen!“

Isabella wusste, dass damit der Leibwächter gemeint war, und da sie überhaupt keine Lust darauf hatte, von dem Bodyguard nach draußen geschickt zu werden, machte sie sich schleunigst auf den Weg zum Ausgang.

Kurz bevor sie das Portal erreicht hatte, schwang es auf, und eine Gruppe von Personen betrat die Villa. Angeführt wurde der Trupp von dem Leibwächter, und auf ihn folgten die anderen drei Uniformierten, die sie bereits durch das Fenster gesehen hatte. Die vier Personen bildeten eine Art Raute, in deren Mitte sich der junge Mann im Anzug befand.

Der Mann war hochgewachsen – noch ein gutes Stück größer als sie selbst – und recht muskulös. Der schwarze Anzug mit dem weißen Hemd darunter und der dunkelblauen Krawatte darüber passte hervorragend zu seinen perfekt gestylten, schwarzen Haaren. Der Mann schritt aufrecht und sehr zielstrebig den Korridor entlang, den Blick nach vorne gerichtet. Jetzt wurde Isabella auch klar, wer dieser Mann war. Erst vor zwölf Minuten hatte sie seinen Namen gelesen.

In diesem Augenblick hielt der Mann inne. Und dann, auf einmal, sah er zu Isabella, und für einen Moment lang trafen sich ihre Blicke. Als sie in die grünen Augen des Prinzen blickte, fühlte Isabella, wie sich plötzlich ein Feuer in ihr entfachte. Hitze stieg in ihr auf, als ob ein Drache in ihr toben würde, und ihr Herzschlag begann, zu rasen. Der Prinz lächelte – auf eine Weise, die zugleich charmant als auch verführerisch war. Isabella spürte, wie sie rot anlief, und instinktiv schaute sie weg. Als sie sich das nächste Mal umwandte, waren der Prinz und sein Gefolge bereits an ihr vorbei.

Isabellas Puls schlug unglaublich schnell, als sie das Portal durchquerte und die Stufen zum Parkplatz hinuntereilte. Was war denn das? Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals solche Empfindungen verspürt zu haben. Ihr Gesicht glühte noch immer, als sie in den orangefarbenen Škoda einstieg, der nun neben den beiden schwarzen Mercedes S-Klasse Limousinen geparkt war, mit denen der Prinz angekommen war.

Isabella warf ihre Handtasche auf den Beifahrersitz, startete den Motor und schoss los. Im nächsten Moment räumte der Škoda eine Reihe von Sträuchern ab. Verdammt! Sie hatte glatt vergessen, den Rückwärtsgang einzulegen. Was um alles in der Welt ist nur mit mir los?

Isabella atmete tief ein und wieder aus, versuchte, sich zu beruhigen. Langsam gelang es ihr, ihren Puls unter Kontrolle zu bringen. Schließlich, als das Feuer endlich aus ihrem Körper verschwunden war, legte sie den Rückwärtsgang ein und durchquerte den englischen Park bis zu der Schranke, die sich vollautomatisch öffnete.

Wenig später ließ sie Bad Ischl hinter sich – den Ort, an dem sich vor über 150 Jahren Herzogin Sissi und Kaiser Franz Joseph I. ineinander verliebten.

+++ #2 +++

Im Inneren der Villa reichte Clara von Klettgau ihrem Großneffen die Hand. Es war eine Ewigkeit her, dass sie sich das letzte Mal getroffen hatten, und an dieser Tatsache hatte auch sie einen beträchtlichen Anteil.

„Schön, dass du dich auch wieder mal blicken lässt“, sagte sie und musterte ihren Großneffen.

Seitdem sie Prinz Cyrill Armand von Belgien das letzte Mal gesehen hatte, war er noch attraktiver geworden. Es verwunderte sie kaum, dass ihn so viele Frauen anhimmelten. Doch wenn man seinen Status bedenkt, könnte er auch ruhig etwas wählerischer sein. Es gehört sich nicht für einen Prinzen, jede Woche eine neue Freundin zu haben.

„Ja, ich weiß, ich hatte viel zu tun.“ Cyrill küsste sie auf die Wange. „Also, was willst du mit mir besprechen?“

Erst bei diesen Worten fiel Clara wieder ein, dass sie es gewesen war, die das Treffen vor drei Wochen veranlasst hatte. Damals war es ihr wichtig gewesen, sich mit ihrem Großneffen unter vier Augen zu unterhalten, doch jetzt hatte sie kaum noch Interesse daran. Was heute geschehen ist, hat alles verändert.

„Setz dich doch schon mal“, sagte sie daher und wies in den Saal, in dem sie sich erst vor wenigen Minuten mit der aufdringlichen Studentin aus Deutschland unterhalten hatte. „Wir reden gleich, ich muss nur vorher noch was erledigen.“

„Ach ja? Und was denn?“

„Ich wüsste nicht, was dich das angeht, Cyrill.“

Noch einmal deutete sie in den Saal, dann stieg sie die Treppe aus feudalem Eichenholz ins erste Stockwerk hinauf. Sie betrat den erstbesten Raum, schloss die Tür hinter sich und nahm ihr Smartphone hervor. Das Gespräch, das nun folgen würde, war nicht für Cyrills Ohren bestimmt.

Es dauerte einen Augenblick, bis der Mann ans Telefon ging.

„Was gibt es, Clara?“, fragte er schließlich. In seiner Stimme lag eine Spur Gereiztheit. Offenbar glaubte er, Besseres zu tun zu haben, als sich mit ihr zu unterhalten. Doch dieses Gespräch lässt sich nicht aufschieben.

„Hör zu, wir haben ein Problem.“

„Ein Problem? Was ist denn schon wieder los, Clara? Wieso machst du aus jeder winzigen Sache so ein Riesending?“

„Das ist keine winzige Sache. Ich hatte gerade eben ein Gespräch mit einer deutschen Studentin – ein Gespräch, von dem ich dir unbedingt erzählen muss.“ In wenigen Worten berichtete Clara von dem Stammbaum, der um das Jahr 500 begann und bei ihr endete, und von dem Verdacht, den die Studentin ihr gegenüber geäußert hatte. „Wenn diese Frau eins und eins zusammenzählen kann, dann können es andere auch. Wir müssen uns unbedingt eine Strategie überlegen, wie wir auf solche Anschuldigungen reagieren werden.“

Einen Moment lang war die Leitung still. Als ihr Gesprächspartner wieder das Wort ergriff, hatte sich sein Tonfall völlig verändert. Nun klang er nicht mehr genervt, sondern er klang ängstlich, geradezu panisch.

„Du hast Recht, Clara. Wir haben ein großes Problem. Wir müssen sofort handeln.“

„Ja, genau das habe…“

„Wie heißt diese deutsche Studentin?“, unterbrach er sie.

„Ähm… wieso willst du das wissen?“

„Weil es von größter Wichtigkeit ist, Clara.“

„Na schön…“ Clara verstand zwar nicht, weshalb die Identität der Studentin so relevant war, dennoch öffnete sie ihren Terminkalender und suchte nach der Eintragung, die Armin für sie verfasst hatte. „Die Frau heißt… ähm… Isabella Ildiko Wagner“, las sie vom Terminkalender ab.

„Gut, danke.“ Mit diesen Worten legte ihr Gesprächspartner auf.

Clara fühlte sich völlig verdattert. Was sollte denn das? In der Tat hatte sie erwartet, dass auch ihr Gesprächspartner die prekäre Lage erkennen würde, in der sich das Haus Klettgau befand. Dennoch hatte sie damit gerechnet, dass er eine Strategie vorschlagen würde oder aber – was weitaus wahrscheinlicher war – erst einmal sagen würde, dass er ein wenig Zeit brauchen würde, um eine Strategie auszuarbeiten. Mit der Reaktion, die er tatsächlich an den Tag legte, hatte sie jedoch ganz und gar nicht gerechnet.

Was um alles in der Welt hat er nur vor?

+++ #3 +++

Am anderen Ende der Leitung, rund 1.000 Kilometer westlich von Bad Ischl. Der Mann legte das Telefon zur Seite und versuchte, seine Anspannung in den Griff zu bekommen. Das Telefonat mit Clara von Klettgau hatte ihm Schweißperlen ins Gesicht getrieben. Denn jetzt endlich wusste er, was der Ursprung des Plans war. Was auch immer hier geschieht, ich habe die Lage völlig unterschätzt. Die Gefahr ist noch größer geworden.

Der Mann beschloss, sofort zu handeln. Bevor es zu spät ist.

+++ #4 +++

Die Fahrt zurück nach München verlief deutlich schneller als die Hinfahrt. Isabella Wagner brauchte keine drei Stunden, bis sie den Škoda Fabia vor einem Wohnblock im Stadtteil Schwabing abstellte und mit dem Aufzug ins vierte Stockwerk hinauffuhr, wo sie zusammen mit ihrer Schulfreundin Elenia Gernot wohnte.

Elenia war ein Jahr älter als sie und hatte dennoch gerade erst den Bachelor abgeschlossen, während Isabella bereits an der Promotion arbeitete. Doch obwohl Isabella in der Ausbildung viel schneller vorangekommen war, zeigte Elenia keinerlei Neid; das Geschichtsstudium war für sie, die aus einem vermögenden Elternhaus stammte, ohnehin mehr ein Anlass, um das Münchner Nachtleben zu genießen. Während Isabella vor sieben Jahren von Worms nach München gezogen war, weil die hiesige historische Fakultät auf sie den besten Eindruck gemacht hatte, hatte sich Elenia ihr wohl nur deshalb angeschlossen, da sie nicht so recht gewusst hatte, was sie mit ihrem Leben anfangen sollte. So hatten sich die beiden dazu entschieden, gemeinsam diese 3-1/2-Zimmer-Wohnung im Münchner Norden zu finanzieren, und auch wenn sie so unterschiedlich waren, hätten beide diese gemeinsame Zeit nicht missen wollen. Elenia war einen Kopf kleiner als sie, und mit ihren langen, schwarzen Haaren, den türkisfarbenen Augen und der schlanken Figur war sie unzweifelhaft attraktiv.

Kaum, dass Isabella die Tür aufgeschlossen hatte, sah sie, dass Elenia nicht alleine zu Hause war. Neben ihr auf der Couch saß Finn Schwarzenberg, einer von Elenias Kommilitonen, und die beiden zockten gerade ein Videospiel, in dem irgendwelche Leute mit Umhängen vorkamen. Es war nicht das erste Mal, dass Finn hier war, seit geraumer Zeit schon hing er öfters bei ihnen herum. Isabella mutmaßte, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis sich zwischen Elenia und Finn etwas Intimeres entwickeln würde. Als die beiden Isabella bemerkten, unterbrachen sie das Spiel, und Elenia umarmte sie.

„Wie war’s in Österreich?“, fragte sie. „Hast du deine… also was eigentlich, ich hab schon wieder vergessen, woran du arbeitest…“

„Ich weiß nicht“, erwiderte Isabella, was ganz und gar der Wahrheit entsprach.

Eigentlich war die Reise nach Bad Ischl ein absoluter Reinfall gewesen – nach wie vor konnte sie nicht mit Sicherheit sagen, ob Clara von Klettgau wirklich an die Thronfolge glaubte oder gar tatsächlich vorhatte, den Thron zu erobern. Dennoch hatte die übertriebene Reaktion der Unternehmerin sie in dem Glauben bestärkt, dass sie mit ihrer Theorie richtig lag.

„Aber ja“, sagte sie, „wahrscheinlich ist wirklich etwas dran an dem Mythos.“

„Der Mythos?“, wiederholte Finn und grinste dabei. „Du sprichst aber auch wirklich immer in Rätseln.“

Isabella, die sich inzwischen noch erschöpfter fühlte als heute Nachmittag, hegte keinerlei Interesse daran, einen langen Vortrag über das Geheimnis um die Thronfolge zu halten, und so antwortete sie nicht darauf, obwohl Finn sie fragend anblickte. Sie konnte sich ohnehin kaum vorstellen, dass sich Finn wirklich für ihre Forschungsarbeit interessierte. Schließlich war er zwar für seine dauerhaft gute Laune und für seine Ausdauer beim Feiern bekannt, nicht aber gerade für Erfolge im Geschichtsstudium. Finn Schwarzenberg war ein gutaussehender 22-Jähriger mit dunkelbraunen Augen, gleichfarbigen Haaren und Dreitagebart, der eigentlich immer in Jeans und T-Shirt gekleidet war.

„Wir spielen gerade Assassin’s Creed“, sagte Elenia und deutete zur Couch. „Wollen wir zusammen die Tempelritter jagen?“

Darauf hatte Isabella sogar noch weniger Lust als darauf, Finn in die möglichen Pläne des Hauses Klettgau einzuweihen. Doch zum Glück brauchte sie gar nicht dankend abzulehnen, da sich Finn einmischte.

„Jetzt lass sie doch mal in Ruhe, Elenia, du weißt doch genau, dass sie keine Videospiele mag.“ Er schaltete das Spiel aus, dann wandte er sich erneut an Isabella. „Setz dich doch erst einmal, du musst sicher richtig erledigt sein.“

Isabella nickte und ließ sich in die Couch sinken.

Finn griff zu einer Tüte Chips, die Elenia und er offenbar während des Videospiels aufgemacht hatten. „Hunger?“

Isabella zuckte die Achseln und gönnte sich ein paar Chips. Finn setzte sich neben sie und blickte sie an.

„Du sieht wirklich hübsch aus in deinem hellblauen Kleid, hast du das extra für mich angezogen?“

Isabella rollte mit den Augen. „Na klar, was denn sonst?“

Finn grinste erneut und legte ihr dann einen Arm um die Schulter. Aus dem Augenwinkel sah Isabella, wie Elenia die beiden mit Argwohn beobachtete. Isabella verstand zunächst nicht wirklich, weshalb, bis Finn plötzlich noch etwas näher rutschte.

„Hey, Isabella, ich wollte dir das schon länger mal sagen“, meinte er, und Isabella bemerkte, dass er dabei überhaupt nicht so locker klang wie üblich, sondern vielmehr nervös. „Seit ich dich das erste Mal gesehen habe, muss ich ständig an dich denken. Du bist so wunderschön, ich bin total hin und weg von dir.“

Oh nein. Nicht das. Isabella erkannte den sehnsüchtigen Blick in seinen braunen Augen, und jetzt verstand sie auch, weshalb Finn so häufig bei ihnen abhing. Er war überhaupt nicht an Elenia interessiert. Unverzüglich riss sie sich von ihm los und stand von der Couch auf.

„Ich bin echt fix und fertig“, sagte sie an Elenia gewandt. „Ich glaub, ich werde mich gleich hinlegen.“

Doch Elenia hörte ihr kaum zu. Sie blickte voller Verärgerung zu Finn, dem nun die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben stand. „Ich finde, du solltest jetzt gehen“, sagte sie und deutete zur Wohnungstür.

Finn blickte sie verdutzt an. „Wollten wir nicht Assassin’s Creed weiterspielen?“

„Nö, das wollen wir nicht. Und jetzt raus mit dir.“

Belustigt sah Isabella zu, wie Finn von ihrer Mitbewohnerin genauso unwirsch herauskommandiert wurde wie sie mehrere Stunden zuvor von Clara von Klettgau. Er konnte gerade noch „Tschüss“ murmeln, dann schlug sie die Tür hinter ihm zu.

„Sag mir jetzt nicht, dass du auf diesen Kerl standest“, meinte Isabella.

Doch bereits in Elenias Miene konnte sie erkennen, dass sie richtig lag. „Das gibt’s doch nicht. Auf dich fahren all die süßen Jungs ab, und du gibst ihnen allen einen Korb.“ Nun hatte sie doch den Eindruck, dass in Elenias Stimme etwas Neid mitklang. Gut bei Männern anzukommen, schien ihr deutlich wichtiger zu sein als Erfolg im Studium.

„Ähm…“ Isabella wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. „Ich würde gerne mit dir tauschen. Dieser Finn interessiert mich nicht.“

„Ja, das weiß ich, dich interessieren all diese Kerle nicht!“ Elenia klang nun ziemlich gereizt. „Du interessierst dich nur für diese Prinzen, die schon seit Hunderten von Jahren tot sind. Aber ich habe echt gedacht, dass Finn meinetwegen die ganze Zeit hier ist – und nicht wegen dir!“

Isabella bemerkte, wie traurig Elenia plötzlich wirkte. Sie trat auf ihre Mitbewohnerin zu und legte ihr einen Arm um die Schulter. „Komm schon, vergiss diesen Kerl.“

Doch Elenia riss sich von ihr los. „Wolltest du dich nicht hinlegen? Ich habe gerade wirklich keine Lust, mich mit dir zu unterhalten. Ich brauche jetzt ein wenig Zeit für mich.“

Die Worte ihrer Mitbewohnerin klangen in Isabellas Kopf nach. Ich habe gerade wirklich keine Lust, mich mit dir zu unterhalten. Das war alles andere als freundlich. Isabella wollte schon zu einer wütenden Erwiderung ansetzen, da bemerkte sie eine Träne, die aus Elenias Auge kullerte. Sie meint es nicht so, sagte sie sich und bedachte ihre Mitbewohnerin daher mit einem mitfühlenden Blick. Elenia sah sie nicht einmal mehr an. Na schön. Isabella wandte sich von ihr ab und machte sich dann auf den Weg in ihr Zimmer.

Liebe führt nur zu Leid, dachte sie bei sich. Wenn du die Liebe vermeidest, bleibst du auch vom Leid verschont.

Elenia hatte mit ihren Worten schon ziemlich ins Schwarze getroffen. Die paar Mal, als ihre Mitbewohnerin sie dazu überreden konnte, sie in einen ihrer Lieblingsclubs zu begleiten, war Isabella jedes Mal von einer ganzen Reihe von fremden Männern angesprochen oder angetanzt worden – was übrigens auch einer der Gründe dafür war, weshalb sie Elenia irgendwann lieber ohne sie losziehen ließ. Auch an der Uni hatten sie zahlreiche Kommilitonen nach einer Verabredung gefragt, doch Isabella hatte sie genauso abblitzen lassen wie die Kerle im Nachtleben. Isabella machte sich kaum etwas daraus, wie die Typen auf sie reagierten, und doch hatte sie nie auch nur eine Sekunde daran gezweifelt, dass sie heterosexuell war.

Manchmal, wenn sie sich mit ihrer Arbeit beschäftigte, ertappte sie sich dabei, wie sie in Träumereien abdriftete, in denen es nicht junge Frauen aus der Geschichte waren, die eine Verbindung mit einem mächtigen Prinzen eingingen – sondern sie selbst. Jedes Mal riss sie sich dann aus diesen Überlegungen und schalt sich selbst: was denkst du nur für einen Unsinn zusammen? Doch in der wirklichen Welt hatte Isabella noch nicht einmal einen Mann getroffen, zu dem sie sich auch nur irgendwie hingezogen fühlte. Bis heute Nachmittag.

Ihre Gedanken wanderten zu Prinz Cyrill Armand von Belgien. Das Bild des Prinzen erschien vor ihrem geistigen Auge. Seine große, kräftige Statur, seine schönen, schwarzen Haare, sein elegantes und zugleich so souveränes Auftreten. Er war so souverän, und ich habe plötzlich all meine Selbstsicherheit verloren. In der Gegenwart des Prinzen hatte sie eine Aufregung gespürt, die ihr zuvor völlig fremd gewesen war. Und nicht nur das. Sie dachte daran, wie sie in seine grünen Augen geblickt hatte und auf einmal ein Feuer in ihr aufgelodert hatte. Sie hatte Empfindungen verspürt, die sie so noch nie zuvor erlebt hatte. War das Liebe?

Isabella stieß die Zimmertür hinter sich zu, zog die Schuhe aus und warf sich aufs Bett. Noch immer schwirrte der Prinz durch ihre Gedanken. Sie schloss die Augen, und vor ihrem geistigen Auge erschien plötzlich ein Bild, wie der Prinz auf ihr lag, hier, in ihrem Bett, wie er sich eng an sie presste, wie er seine starken Hände über ihren Körper gleiten ließ… Jetzt reiß dich mal zusammen.

Sie öffnete die Augen und zwang sich, nicht mehr an den Prinzen zu denken. Du hast Elenia geraten, Finn zu vergessen, und genauso solltest du auch Prinz Cyrill Armand vergessen. Außerdem wirst du ihn eh nie wiedersehen. Und ganz nebenbei, er ist ein Prinz, schon vergessen? Bei so jemandem hast du doch ohnehin keine Chance.

Um sich abzulenken, griff Isabella zu ihrem Smartphone. Eine Weile verbrachte sie damit, all die Chatnachrichten durchzulesen, für die sie während der Autofahrt keine Zeit gehabt hatte. Als sie damit fertig war, beschloss sie, dass sie jetzt nicht auch noch Lust auf die über sechzig ungelesenen E-Mails hatte, und öffnete anstatt dessen ein Nachrichtenportal. Die oberste Meldung lautete:

UMFRAGE ZUR BUNDESTAGSWAHL: KANZLER KANN ZWEITE AMTSZEIT PLANEN

Der Bundeskanzler will im Laufe der nächsten vier Jahre die europäische Integration weiter vertiefen / Sein erklärtes Wunschziel ist die Schaffung der „Vereinigten Staaten von Europa“ bis zum Jahr 2035

Isabella legte das weiße Smartphone weg. Sie interessierte sich nicht wirklich für die aktuelle Politik. Überhaupt hatte sie erst vor rund einem Jahr damit angefangen, sich mit Politik zu beschäftigen, und das auch nur, weil sie erkannt hatte, dass es einen Zusammenhang gab zwischen der Welt der Sagen und den Beschlüssen aktueller Entscheidungsträger. Doch wirklich fasziniert war sie nur von der Welt der Sagen.

Und auf einmal fühlte sich Isabella wieder als kleines Mädchen. Stundenlang lag sie wach in ihrem Bett und lauschte ihrer Mutter Adeline, wie sie ihr die Sagen der Germanen vorlas. Das Nibelungenlied, die Edda, die Legende von Beowulf, das Epos von Parzival.

Adeline war selbst fast noch ein Mädchen, als sie Isabella bekommen hatte – sie war gerade einmal 21 Jahre alt gewesen. Über ihren Vater wusste Isabella so gut wie nichts, Adeline sprach nur äußerst ungern über ihn. Anfangs löcherte sie Adeline noch mit Fragen über ihren Vater, doch irgendwann erkannte sie, dass dieser Mann ihre Mutter verletzt hatte, und so gab sie es schließlich auf, nach ihm zu fragen. Sie wollte Adeline nicht missmutig stimmen, und vor allem wollte sie nicht, dass ihre Mutter aufhörte, ihr die Sagen vorzulesen.

Wenn Adeline mit diesen bezweckt hatte, dass die kleine Isabella endlich einschlief, so hatte sie das genaue Gegenteil erreicht, denn die Geschichten von tapferen Rittern und unbesiegbaren Göttern faszinierten sie so sehr, dass sie sogar extra versuchte, wach zu bleiben, um nicht bis zum nächsten Tag auf die Fortsetzung zu warten. Während sie jedes Wort ihrer Mutter in sich aufsog, tauchte sie in Gedanken ab in die Welt des Mittelalters, und tief in ihrem Inneren träumte sie davon, selbst ein Teil davon zu sein. Nicht nur einmal spürte sie ein wenig Wermut darüber, dass sie im 21. Jahrhundert geboren worden war.

Doch jedes Mal, wenn sie sich vorstellte, selbst wie Kriemhild dem Schurken Hagen von Tronje den Kopf abzuschlagen, erinnerte sie sich daran, dass die Sagenwelt mit dem wahren Mittelalter nicht allzu viel zu tun hatte. Das wirkliche Mittelalter war nicht gerade die angenehmste Zeit, um als Mädchen heranzuwachsen. Im Frühmittelalter, also der Zeit bis etwa der Jahrtausendwende, waren Mädchen mit dem 13. Lebensjahr heiratsfähig, was heutzutage unvorstellbar wäre. Dieser Gedanke ließ Isabella jedes Mal zu dem Schluss kommen, dass die moderne Welt wohl doch die bessere Option war.

Inzwischen verspürte Isabella keinerlei Traurigkeit mehr, dass sie nicht selbst im Mittelalter lebte. Denn das brauchte sie auch gar nicht. Seit drei Jahren war sie nun dem Mythos auf der Spur, und je länger sie nachforschte, umso deutlicher wurde für sie, dass die Welt der Sagen keine Welt der Vergangenheit war. Seit geraumer Zeit glaubte sie, zu wissen, wovon die Legenden, die ihre Mutter Adeline ihr als kleines Mädchen vorgelesen hatte, wirklich handelten.

Ein Geheimnis, das Mittelalter und Moderne miteinander verbindet. Ein Plan, der vor langer Zeit entwickelt worden ist und nun kurz vor der Vollendung steht.

+++ #5 +++

Irgendwo in Europa machte sich jemand daran, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Dieser Jemand verfügte über großen Einfluss und wichtige Kontakte in der Welt der Mächtigen. Kontakte, von denen er jetzt Gebrauch machen würde. Zwölf Monate lang hatte die Person darauf hingearbeitet, ihr Ziel zu erreichen. Und nun würde sie endlich handeln. Noch ein Tag, sagte sie sich. Dann ist der Feind endlich ausgelöscht.

Die Person, die sich der Assassine nannte, dachte an das Geheimnis, das der Welt schon bald offenbart werden sollte. Das Geheimnis der Nibelungen, das Geheimnis von Kaiserin Sissi, das Geheimnis der Thronfolge. Wie eine rote Schlange zieht es sich durch die Jahrhunderte, und doch ist es vor der Welt verborgen geblieben.

Doch jetzt nicht mehr. Schon bald würden alle Menschen in Europa das Geheimnis kennenlernen. Doch dann ist es zu spät, sinnierte der Assassine. Ich muss dem zuvorkommen. Ich werde den Coup verhindern, genau wie damals.

Für einen Moment dachte der Assassine an die Ereignisse im Jahr 1889. Damals, vor fast 150 Jahren, war ein brutaler Mord geschehen. Ein Mord, der in direkter Verbindung zu dem Geheimnis steht. Auf einen Schlag war das geplante Vorhaben zunichte gemacht worden, der Thron war niemals geschaffen worden. Und was einmal gelungen ist, das wird auch wieder gelingen, sagte er sich. Töte sie, genauso wie damals.

Der Assassine griff zu seinem Smartphone. Bei dem Gerät handelte es sich um kein gewöhnliches Telefon, sondern um ein so genanntes Blackphone, das sämtliche Gespräche und Nachrichten verschlüsselt sendete und nicht zurückverfolgt werden konnte. Der Assassine warf einen letzten Blick auf die Nachricht, die er vor wenigen Minuten getippt hatte. In dem Moment, in dem er die Nachricht abschicken würde, würde diese gleichzeitig an fünf verschiedene seiner Kontakte gesendet werden.

Die fünf Empfänger befanden sich allesamt an unterschiedlichen Orten in Europa, und dennoch hatten sie eine Gemeinsamkeit. Sie alle waren eiskalte Killer, und einen jeden von ihnen hatte der Assassine auf eine bestimmte Person angesetzt. Eine Person aus Adelskreisen. Sieben Morde, und dann ist der Feind endlich besiegt. Dann beginnt ein neues Zeitalter.

Mit vor Aufregung zitternden Fingern drückte der Assassine auf Senden. Die Nachricht, die seine Killer erhielten, lautete:

Die Zeit ist gekommen. Wir schlagen zu – morgen.

+++ #6 +++

Sie stand inmitten einer Wiese, die von einer Gruppe von Fichten auf der einen Seite und einer Gruppe von Pappeln auf der anderen Seite gesäumt wurde. Isabella brauchte einen Moment, um zu erkennen, wo sie sich befand. Sie war in Bad Ischl, in der Parkanlage, die zu der Villa von Clara von Klettgau gehörte. Kaum, dass sie das erkannt hatte, begriff sie noch etwas anderes. Sie war nicht alleine hier. Direkt vor ihr stand ein junger Mann. Groß, muskulös, elegant gekleidet. Isabella spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte, wie das Feuer in ihrem Inneren zurückkehrte. Es war Prinz Cyrill Armand von Belgien.

Der Prinz lächelte und trat auf sie zu. Er berührte ihre Hände, und Isabella fühlte, wie ihr noch heißer wurde. Er schaute sie an, und als sie erneut in seine grünen Augen blickte, da wusste sie, dass sie nie mehr wegsehen wollte. Sie konnte keinen Schritt mehr tun, sie stand wie angewurzelt da, ihm gegenüber.

Der Prinz machte noch einen Schritt auf sie zu, und als er ihr ganz nahe war, fuhr er mit seinen Fingern über ihr hellblaues Kleid. Ihr Puls fing an, zu rasen, immer schneller. Dann legte er seine Hände auf ihre Brüste, begann, sie zu massieren. Isabella keuchte, sie spürte, wie sehr sie ihn wollte. Noch immer blickte er sie an, und in seinen Augen lag Begierde. Dann zog er sie an sich heran und küsste sie voller Leidenschaft. Isabella erwiderte den Kuss, noch heftiger als er. Schließlich ließ er sie los, nur um kurz darauf wieder seine Hand auszustrecken, doch dieses Mal nicht nach ihrem Körper, sondern nach dem Anhänger, den sie um ihren Hals trug. Der silberne Falke.

In diesem Moment flog etwas auf den Prinzen zu. Eine gewaltige Kreatur, viel größer als er und sie zusammen. Isabella brauchte einen Moment, um zu begreifen, was gerade vor sich ging. Dann, als sie verstanden hatte, verschwand das Feuer in ihrem Inneren, wurde ersetzt durch schiere Panik. Das Wesen, das den Prinzen angriff, war ein gigantischer Vogel, mit einer Spannweite von vielen Metern. Ein riesiger Adler.

Aus den Augen des Prinzen war sämtliche Begierde entschwunden, nun zeichnete sich in ihnen nichts weiter ab als Angst. Angst vor dem sicheren Tod. Noch immer stand Isabella wie angewurzelt da, doch dieses Mal war es das Entsetzen, das sie keinen Schritt tun ließ. Der Prinz schrie auf, und Isabella konnte nichts anderes tun, als vor ihm zu stehen und zuzusehen, wie sich der Adler auf ihn stürzte. Der Riesenvogel presste den Prinzen zu Boden und hieb die Klauen in seine Haut. Ein letztes Mal blickte Isabella den Prinzen an, und obwohl er solche Qualen litt, erwiderte er ihren Blick. Und für einen kurzen Augenblick glaubte Isabella, ein Lächeln zu erkennen. Dann zerfleischte der Adler sein Gesicht.

In dem Moment, als sein wunderschönes Antlitz einer Lache aus Blut wich, erklang von irgendwoher Musik. Die Musik wurde lauter und lauter, bis sie schließlich die gesamte Szenerie ausfüllte. Der ganze Park war voller Musik, und Isabella wusste, dass sie die Musik kannte. Es hat etwas mit Fantasy zu tun, dachte sie. Es ist eine Fernsehserie.

Dann schrak sie auf, und plötzlich war sie ganz woanders. Ein helles Licht brannte über ihr, und die Musik lief nach wie vor. Sie fühlte sich schweißgebadet, und sie zitterte am ganzen Körper. Wieder brauchte sie einen Moment, um zu erkennen, wo sie war. Dann, als sie endlich begriffen hatte, verschwand das Entsetzen aus ihrem Körper, und sie atmete tief durch. Sie lag zu Hause in ihrem Bett, in ihrer Wohnung in München, und die Zimmerlampe brannte von oben auf sie herab. Alles war nur ein Traum gewesen.

Nur die Titelmelodie von Game of Thrones, der Klingelton ihres Smartphones, lief immer noch. Isabella blickte zum Fenster und sah, dass es draußen noch dunkel war. Es ist mitten in der Nacht. Sie warf einen Blick auf die Wanduhr, die rechts neben ihrem Bett hing. Es war viertel nach sechs Uhr morgens. Welcher Idiot ruft mich denn um diese Uhrzeit an? Ihr erster Gedanke war, dass es Finn sein musste, der ihre Abfuhr noch immer nicht verkraftet hatte. Doch als sie auf ihr Smartphone blickte, stellte sie fest, dass der Anrufer unbekannt war.

„Ja?“, sagte sie.

„Spreche ich mit Isabella Wagner?“ Der Anrufer war männlich und sprach Deutsch mit einem Akzent, den sie nicht sofort zuordnen konnte. Isabella kam die Stimme von irgendwoher bekannt vor, doch sie wusste nicht, woher.

„Ja, wer sind Sie denn?“

„Mein Name ist Louis, ich denke, Sie sollten mich kennen.“

Isabella richtete sich im Bett auf. Dann starrte sie auf das Display des Smartphones. Die Nummer begann tatsächlich mit +32, der Vorwahl des Königreichs Belgien. Wer auch immer sich diesen Scherz erlaubte, er hatte ganze Arbeit geleistet.

„Echt witzig“, meinte sie. „Aber hey, musst du mich wirklich wegen so was aufwecken? Das hättest du ja auch wirklich zur Mittagszeit machen können.“

„Das ist kein Scherz, Frau Wagner.“ Der Anrufer klang sehr energisch. „Haben Sie meine E-Mails etwa nicht gelesen?“

„Ähm…“ Der Spaßvogel musste das wirklich gründlich geplant haben. Inzwischen fiel Isabella wieder ein, dass sie die Stimme am anderen Ende der Leitung tatsächlich an den König der Belgier erinnert hatte.

„Ja, haben Sie die Mails gelesen oder nicht?“

„Ich…“

Erst jetzt wurde Isabella klar, dass ihr der Mann ja eine Frage gestellt hatte. Sie dachte an die über sechzig E-Mails im Posteingang, die sie gestern Abend keines Blickes gewürdigt hatte, und war froh, dass sie keine Sekunde investiert hatte, um sich mit der Nachricht eines Komikers zu beschäftigen.

„Ihrer Reaktion nach Nein“, fuhr der Anrufer fort. „Na gut, dann fange ich von vorne an. Sie haben gestern Nachmittag meine Tante Clara besucht und dabei von einer Thronfolge gesprochen, die etwa um das Jahr 500 begonnen hat und beim Haus Klettgau endet.“ Es war keine Frage, viel eher eine Feststellung. Der Anrufer wartete auch gar nicht, bis Isabella etwas darauf sagen konnte, sondern sprach gleich weiter. „Ich gehe richtig in der Annahme, dass Sie sich wirklich mit der Thronfolge auskennen?“

„Ähm…“ Der Scherz wurde immer merkwürdiger.

„Hören Sie, ich muss mit Ihnen sprechen – persönlich und so bald wie möglich. Ich habe Ihnen ein Flugticket von München nach Brüssel gebucht, Ihr Flug geht um 9 Uhr. Ich schicke jemanden, der Sie am Flughafen Brüssel-Zavantem abholt und zum Königlichen Palast bringt. Wir treffen uns dort um Punkt 12 Uhr.“

Ziemlich verwirrt öffnete Isabella ihr E-Mail-Postfach. Darin entdeckte sie drei Nachrichten, die allesamt mit wichtig markiert waren und – viel interessanter noch – von einer offiziellen Adresse des belgischen Königshauses gesendet waren. Zwei dieser Nachrichten stammten von gestern Abend, und ihr Inhalt ähnelte stark dem, was der angebliche König eben ausgeführt hatte. Sie habe sich gestern mit seiner Tante Clara über das Geheimnis der Thronfolge unterhalten, er müsse sie dringend persönlich sprechen, und sie solle ihn unter der Nummer anrufen, die sie gerade eben auf dem Display ihres Handys gelesen hatte. Die dritte Nachricht stammte von heute Morgen, 5:34 Uhr, und beinhielt die Buchung eines Tickets für einen Lufthansa-Flug von München nach Brüssel, der um 9:00 Uhr starten würde.

„Der Mann wird am Flughafen auf Sie warten, auf dem Parkplatz Parking P30“, sagte der vermeintliche König gerade. „Keine Sorge, Sie werden ihn gleich erkennen. Er ist Soldat und trägt die Uniform des belgischen Militärs. Er ist Teil der Ehrengarde, die das Königshaus beschützt. Wir sehen uns dann um Punkt 12 Uhr. Bis dann, Frau…“

„Wenn das wirklich kein Scherz ist“, unterbrach ihn Isabella, und er unterbrach auch gleich sie.

„Natürlich ist das kein Scherz. Frau Wagner, die Lage ist todernst. Ich muss Sie sehr dringend sprechen, Sie müssen dem Königshaus helfen.“

Langsam glaubte Isabella wirklich, dass der Anrufer am anderen Ende der Leitung derjenige war, der er zu sein behauptete. Dennoch – dass der König der Belgier ihre Hilfe benötigte, war um ein Vielfaches mysteriöser als ein Spaßvogel, der sie am frühen Samstagmorgen auf den Arm nehmen wollte.

„Ich soll dem Königshaus helfen? Ich wüsste nicht, wie…“

„Keine Details am Telefon“, sagte der König rasch. „Es besteht Grund zu der Annahme, dass diese Leitung abgehört wird. Ich kann Ihnen nur so viel sagen: ich glaube, dass das Königshaus in Gefahr ist, und ich bin mir sicher, dass Sie wissen, wie sich diese Gefahr abwenden lässt.“

Jetzt war Isabella noch verwirrter als zuvor.

„Ähm…“, sie brauchte einen Moment, um die richtige Anrede für einen König zu finden, „Eure Majestät, wenn Ihr wirklich mit Eurer Tante gesprochen habt, dann wüsstet Ihr, dass ich nur Geschichte studiere und nicht…“

„Wenn Sie sich mit der Thronfolge auskennen, dann können Sie mir helfen – davon bin ich überzeugt. Wir treffen uns dann heute Mittag am…“

„Ich werde ganz bestimmt nicht irgendwohin fliegen, ohne zu wissen, worum es hier geht.“

„Ich kann am Telefon nicht deutlicher werden, ich werde Ihnen alles persönlich erklären. Frau Wagner, die königliche Familie ist in Gefahr, und ich brauche Ihre Hilfe.“

„Ich werde jetzt auflegen“, erwiderte Isabella. Noch immer hegte sie Zweifel, ob sie wirklich mit dem König der Belgier sprach, und selbst wenn dem so wäre, konnte sie sich nach wie vor nicht vorstellen, inwiefern sie diesem helfen könnte.

„Ich kann nur so viel sagen“, sagte der König mit eindringlichem Tonfall, „es geht um Mayerling.“

Mit einem Schlag war Isabella hellwach. Sie stand vom Bett auf und blickte nach draußen, auf die Kulisse der Stadt München, wo gerade die Morgendämmerung anbrach. Sie konnte nicht fassen, was der Anrufer da gesagt hatte, und jetzt endlich war sie sicher, dass sie sich wirklich mit dem König der Belgier unterhielt. Nun war es vollkommen ausgeschlossen, dass sie gerade einem Scherz aufsaß. Denn außer einem sehr kleinen Kreis wusste niemand von der Verbindung zwischen dem Geheimnis der Thronfolge und dem Ort Mayerling.

Mayerling ist eine winzige Ortschaft im österreichischen Wienerwald. Doch trotz ihrer gerade einmal 269 Einwohner reisen jedes Jahr 100.000 Touristen in diesen Ort. Der Grund dafür ist ein schreckliches Ereignis, das sich in dem dortigen Schloss ereignet hat. Vor fast 150 Jahren, in der Nacht vom 29. auf den 30. Januar 1889, kam Rudolf, der Kronprinz von Österreich-Ungarn, im Schloss Mayerling um. Die genauen Umstände seines Todes sind bis heute ungeklärt.

Nichtsdestotrotz konnte sich Isabella vorstellen, was im Januar 1889 tatsächlich vorgefallen war. Doch bis gerade eben war es nichts weiter als eine Theorie gewesen, die sie nicht beweisen konnte. Dass der König der Belgier nun jedoch dieses Thema von alleine angesprochen hatte, ließ für Isabella nur einen Schluss zu. Mein Verdacht trifft zu. Doch wenn das stimmte, dann bedeutete das auch…

Isabella schlug die Hände vor dem Mund zusammen, und um ein Haar wäre ihr das Smartphone aus der Hand gefallen. „Sie glauben, dass jemand die belgische Königsfamilie umbringen will?“

„Nicht am Telefon!“ Der König schrie beinahe. „Fliegen Sie nach Brüssel“, fuhr er dann mit gesenkter Stimme fort, „ich erkläre Ihnen alles.“ Mit diesen Worten legte er auf.

Noch immer blickte Isabella nach draußen, ohne ihre Umgebung wirklich wahrzunehmen. Sie konnte beinahe hören, wie ihr Herz schnell schlug. Ein Bild tauchte vor ihrem geistigen Auge auf. Rudolf, der 30-jährige Thronfolger von Österreich-Ungarn, wie er am Morgen des 30. Januar 1889 bewegungslos auf einer Seite des Bettes saß, leicht nach vorne gebeugt und aus dem Mund blutend. Neben ihm auf dem Bett lag die 17-jährige Mary Vetsera. Die Leichenstarre hatte bereits eingesetzt, und ihre Augen waren weit aufgerissen. So hatte der Kammerdiener den Kronprinzen gefunden. Nach dem Tod ihres Sohnes standen Kaiser Franz Joseph I. und Kaiserin Sissi ohne einen direkten Erben auf den Thron der Österreichisch-Ungarischen Monarchie da. Das Geheimnis der Thronfolge… und der Mythos von Mayerling…

Isabella bemerkte, wie sie immer aufgeregter wurde. Und auf einmal war sie wieder mitten in ihren Traum. Sie dachte an den Riesenvogel, der Prinz Cyrill Armand von Belgien zerfleischte, und auf einmal spürte sie, wie ihr speiübel wurde. Das kann nicht sein, das kann doch keine Vorahnung gewesen sein.

Entsetzt ließ sie sich zurück aufs Bett fallen, und erst da bemerkte sie, dass sie das Smartphone immer noch ans Ohr gepresst hielt, obwohl der König schon längst aufgelegt hatte. Doch Isabella brauchte keine Sekunde zu überlegen, ob sie den Auftrag wirklich annehmen sollte. Drei Jahre lang hatte sie sich mit dem Geheimnis der Thronfolge auseinandergesetzt, und nun hatte sie nicht nur die Bestätigung dafür, dass sie mit ihrer Theorie richtig lag, sondern zudem schien es auch noch glatt so, als stecke noch viel mehr hinter der Sache, als sie bislang angenommen hatte.

Mit vor Aufregung zitternden Fingern legte Isabella das Smartphone auf die Kommode neben ihrem Bett. Noch einmal warf sie einen Blick auf die Wanduhr – es war inzwischen viertel vor sieben –, dann ging sie ins Badezimmer. Erst als das warme Wasser der Dusche auf ihre nackte Haut tropfte, fing sie an, sich wieder zu beruhigen. Sie zog sich ein Handtuch über, dann öffnete sie die Tür von Elenias Zimmer, um ihrer Mitbewohnerin Bescheid zu geben, dass sie nach Brüssel aufbrechen würde.

Kaum, dass sie auch nur einen Blick in das Zimmer geworfen hatte, bemerkte sie, dass Elenia nicht alleine war. Ein junger Mann, ziemlich dick und weitaus weniger attraktiv als ihre Mitbewohnerin, hatte den Arm um sie gelegt und schlief neben ihr. Beide waren völlig nackt. Isabella schaute schnell weg und schloss die Tür wieder. Offenbar hatte Elenia, nachdem Finn keinerlei Interesse an ihr gezeigt hatte, die ganze Nacht in irgendeinem Club oder irgendeiner Bar verbracht, bis sie schließlich einen Kerl gefunden hatte, der von ihr abgeschleppt werden wollte. Isabella schüttelte den Kopf. Sie konnte einfach nicht verstehen, warum Sex für Elenia so wichtig war.

Während sie in ihr Zimmer zurückging, schweiften ihre Gedanken zu Prinz Cyrill Armand von Belgien. Wieder einmal glaubte sie, ihn vor sich zu sehen. So groß, so kräftig, so elegant, so selbstsicher. Gestern noch war sie sich sicher gewesen, dass sie den Prinzen nie wiedersehen würde. Doch jetzt… Jetzt würde sie nach Brüssel fliegen, um dem belgischen Königshaus zu helfen, im Auftrag von König Louis Sebastian, dem Vater von Prinz Cyrill Armand. Isabella spürte, wie ihr Herz wieder schneller pochte. Die Chancen standen gar nicht so schlecht, dass sie dem Prinzen noch einmal begegnen würde. Und dieses Mal musst du unbedingt einen besseren Eindruck machen als beim letzten Mal.

Isabella öffnete ihren Kleiderschrank und überlegte, worin sie am besten aussah. Als sie sich endlich für ein weinrotes Kleid entschieden hatte, bemerkte sie mit Schrecken, dass es bereits viertel nach sieben war. Sie musste sich beeilen, wenn sie den Flug nicht verpassen wollte. Schnell trug sie noch etwas Lippenstift und Mascara auf – dezent und mit Bedacht, übertriebene Schminke lehnte sie entschieden ab – und hängte sich die Kette mit dem silbernen Falken um den Hals. Dann zog sie ihre weißen Sneakers an, warf sich die beigefarbene Handtasche über die Schulter und machte sich auf den Weg.

+++ #7 +++

Die Person, die sich der Assassine nannte, dachte darüber nach, was gerade eben geschehen war. Die Dinge entwickeln sich anders, als sie sollen. Was der König hier getan hat, gefährdet mein Vorhaben. Der Assassine überlegte einen letzten Moment, was zu tun war, dann entschied er sich. Ich kann nicht zulassen, dass mir jemand in die Quere kommt.

Er nahm sein Blackphone hervor und wählte die Nummer eines Vertrauten.

+++ #8 +++

In Brüssel legte ein Mann sein Telefon zur Seite. Der Mann konnte nicht fassen, was ihm soeben mitgeteilt worden war. Alles hat sich geändert. Bis gerade eben war er davon ausgegangen, dass er den Tag in der Nähe der Königsfamilie verbringen würde, und nun sollte er plötzlich zum Flughafen fahren und einen Mord begehen. Der Mann konnte kaum glauben, dass diese junge Frau eine solch große Gefahr darstellte, und dennoch beschloss er, nicht weiter darüber nachzudenken. Befehl ist Befehl. Handele so, wie du es immer tust.

Ein letztes Mal dachte der Mann an den Beschluss des Königs. Louis Sebastian, König der Belgier, hatte die junge Deutsche dazu gebracht, sich in ein Flugzeug nach Brüssel zu setzen – in dem Glauben, dass sie sich mit dem König unterhalten würde. Doch das würde nie geschehen.

Der Mann öffnete seinen Schrank und nahm die Soldatenuniform hervor. In ein paar Stunden würde er die junge Frau am Flughafen abpassen. Sie würde in sein Auto steigen – in der Erwartung, dass er sie zum König chauffieren würde. Doch in Wirklichkeit wird sie aus dem Auto nicht mehr lebend herauskommen.

+++ #9 +++

Der Airbus A320 erhob sich in die Lüfte, und die Lichter der Stadt München wurden kleiner und kleiner, bis sie schließlich gänzlich aus dem Blickfeld der Passagiere verschwanden. Isabella Wagner wandte den Blick vom Fenster, setzte Ohrstöpsel auf und spielte irgendwelche Musik aus den Charts ab, die sie zwar nicht wirklich interessierte, aber dennoch deutlich spannender war als der nervige Dialog zwischen ihren beiden Sitznachbarn. Sie ärgerte sich über den König, dass er ihr ausgerechnet einen Platz neben diesen Europaabgeordneten reserviert hatte, die sich schon seit dem Start ununterbrochen über irgendwelche Sitzungen im Brüsseler Europaparlament unterhielten. Leider sprachen die beiden Männer so laut, dass selbst die Musik sie nicht übertönen konnte.

„Vor allem die Zwischenrufe von den Nationalisten gehen mir so auf die Nerven“, sagte einer der beiden gerade.

„Ja, du hast völlig Recht“, kommentierte der andere. „Die beteiligen sich kein bisschen an vernünftiger Parlamentsarbeit.“

„Ganz deiner Meinung. Überhaupt, es ist eine Frechheit, dass die sich in ein Parlament wählen lassen, das sie eigentlich abschaffen wollen. Und wie viel Geld die kassieren – fürs Nichtstun…“