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FANTASY WIRD REALITÄT! Mitten in den Schweizer Alpen bekämpfen sich Elfen und Dämonen. Einer uralten Prophezeiung nach kann nur die 16-jährige Elena die Dämonen besiegen. Sie genießt eine Ausbildung zur Elfenkriegerin – von dem attraktiven Elfen Cirdan, dessen grüne Augen sie nicht loslassen. Nur dumm, dass es weder die Elfen noch die Dämonen wirklich gibt. Der 15-jährige Liam und seine Freunde spielen Elena einen Streich: mithilfe von Elfenmasken und Dämonenstimmen erschaffen sie eine Fantasiewelt. Doch aus dem Spaß wird bitterer Ernst, als plötzlich reale Dämonen auftauchen und Elena in die Alpen entführen… Eine Fantasy-Komödie voller Witz, Spannung und überraschenden Wendungen – und eine Hommage an die großen Fantasy-Epen unserer Zeit! Empfohlen ab 12 Jahren.
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Seitenzahl: 195
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Elfenmasken und Dämonenstimmen
Roman
Von H.C. Besdziek
Coverdesign unter Verwendung der folgenden Grafiken aus der freien Bildersammlung Openverse:
Bildquelle: Openverse. Titel: Cloudy mountains in Swiss Alps. Autor: valcker. Lizenz: CC BY 2.0. Link: https://wordpress.org/openverse/photos/7aac79f9-d6dc-4b25-ac31-442fdb9dc48c.
Bearbeitet.
Bildquelle: Openverse. Titel: Eye. Mine? Yes. Autor: Kyle MacKenzie. Lizenz: CC BY 2.0. Link: https://wordpress.org/openverse/photos/073701a6-0ef7-45b1-975f-dab475e3b8f8. Bearbeitet.
Schon immer war ich begeistert von Fantasy-Geschichten. Doch nie hätte ich es für möglich gehalten, selbst in eine davon zu geraten. Schon gar nicht in einen Krieg zwischen Elfen und Dämonen – mitten in den Schweizer Alpen.
Es ist der vierte Tag meiner Ausbildung zur Elfenkriegerin. Cirdan erwartet mich bereits, als ich im Wald ankomme.
„Hallo Elena.“
Der Elf spricht mit seiner lauten, krächzenden Stimme, die von den Bäumen um die Lichtung widerhallt. Ich weiß noch, wie die Stimme mich anfangs furchtbar geängstigt hat. Doch jetzt nicht mehr. Jetzt verspüre ich ein Glücksgefühl, wenn ich den Elfenkrieger mit seinen smaragdgrünen Augen sehe und seine Stimme höre.
„Hallo Cirdan“, sage ich.
„Dann werden wir nun mit deiner Ausbildung fortfahren. Heute werde ich dir zeigen, wie du Magie benutzt.“
Er geht zu mir und reicht mir einen Zauberstab. Dann deutet er auf eine gewaltige Buche am Rand der Waldlichtung.
„Ich denke, du wirst es schaffen, diesen Baum zum Einsturz zu bringen. Nein, ich bin mir ganz sicher, dass es dir gelingen wird. Stell dir genau vor, wie der Baum in sich zusammenstürzt, und sprich dann laut die Zauberformel Cadero!“
Ich soll Magie einsetzen? Vor einer Woche noch war ich eine gewöhnliche Sechzehnjährige, die sich Gedanken über Klamotten oder Jungs gemacht hat, und nun soll ich auf einmal über Zauberkräfte verfügen? Das kann ich mir nicht vorstellen.
„Ähm… Cirdan? Bist du dir wirklich sicher, dass ich über magische Kräfte verfüge?“
Der Elfenkrieger lächelt mich an. „Du wirst es schaffen, diesen Baum zum Einsturz zu bringen. Nein, ich bin mir ganz sicher.“
„Okay…“
Langsam richte ich den Zauberstab auf die Buche. Ich komme mir dabei ziemlich dämlich vor. Wenn mir jemand vor fünf Tagen erklärt hätte, dass ich einmal zaubern werde wie Harry Potter, dann hätte ich ihn für verrückt erklärt.
„Elena, du schaffst das. Ich vertraue auf dich.“
Ich betrachte den gewaltigen Baum und stelle mir vor, dass er in sich zusammenstürzt. Dann hole ich tief Luft und rufe: „Cadero!“
Nichts geschieht. Das hätte ich mir zwar irgendwie auch denken können. Aber trotzdem fühle ich mich ziemlich enttäuscht.
„Es hätte mich auch sehr überrascht, wenn dir dein Zauber bereits beim ersten Versuch gelungen wäre“, meint Cirdan. „Probiere es noch einmal. Konzentriere dich genau auf das, was du vorhast.“
„Ich kann keinen Baum zum Einsturz bringen. Ich beherrsche keine Magie.“
„Elena Wilbert, du bist die Auserwählte. Nach der uralten Prophezeiung bist du die Einzige, die den Bund der Elfen retten und die Dämonen besiegen kann. Wenn du keine Magie beherrscht, dann beherrscht sie niemand.“
Cirdan tritt auf mich zu.
„Du musst den Zauberstab etwas höher halten“, flüstert er und schiebt meinen Arm etwas nach oben. „Richte ihn auf die Spitze des Baumes. Und jetzt… schließe deine Augen und stelle dir vor, wie du ihn zum Einsturz bringst. Und dann sprich Cadero!“
„Okay…“ Vor meinem geistigen Auge erscheint das Bild der zusammenstürzenden Buche. „Cadero!“
Und dann passiert es. Ich höre ein gewaltiges Krachen und reiße die Augen auf. Direkt vor mir bricht der Baum in sich zusammen und stürzt mit einem gigantischen Lärm auf die Lichtung.
„Hervorragend, Elena! Du bist wirklich eine Magierin!“ Cirdan strahlt mich an.
Ich selbst kann nicht fassen, was soeben geschehen ist. Ich habe wirklich einen Baum zum Einsturz gebracht – indem ich Magie eingesetzt habe. Ich kann zaubern! Oh mein Gott! Wie ist das nur möglich?
„Ich glaube, nicht einmal einer von uns Elfen ist dieser Zauber beim zweiten Mal gelungen. Du bist wahrlich die Auserwählte, Elena. Nur du kannst…“
Er bricht ab. In seinen Augen zeichnet sich Entsetzen ab. Einen Moment lang blicke ich ihn verdutzt an, doch dann höre ich es auch. Ein Donnern schallt über die Lichtung. Blitzschnell drehe ich mich um – und dann sehe ich sie.
Es ist das erste Mal, dass ich die Feinde mit eigenen Augen zu Gesicht bekomme. Doch Cirdan hat mir von ihnen erzählt, und so erkenne ich sie sofort. Drei Dämonen mit schwarzer Haut, Hörnern und blutroten Augen rennen über die Lichtung auf uns zu. Alle drei sind mit Zauberstäben bewaffnet, und alle drei brüllen irgendwelche magischen Formeln.
„Sie benutzen dunkle Magie!“ Cirdan klingt geradezu panisch.
Überall um uns herum Explosionen. Überall grelles Licht. Die Dämonen kommen immer näher.
„Eure Zeit ist abgelaufen!“, schreit ein Dämon. Seine Stimme ist laut, tief und hallt von den Bäumen wider.
Ich bekomme eine gewaltige Angst. Und doch weiß ich genau, was zu tun ist.
„Cirdan, wir müssen von hier weg!“ Ich stürze auf ihn zu und packe seine Hand. Mit schnellen Schritten rennen wir von der Lichtung weg, in den Wald hinein. Erst als wir die Schreie der Dämonen weit hinter uns gelassen haben, halten wir inne.
„Hier ist es sicher“, flüstert Cirdan.
Wir kauern uns auf den Waldboden und spähen durch die Bäume zu der Lichtung hinüber. Inzwischen ist sie leer – abgesehen von dem Baum, den ich zum Einsturz gebracht habe. Vor gerade einmal fünf Minuten, und doch kommt es mir schon wie eine Ewigkeit vor.
„Danke, Elena, dass du so schnell reagiert hast. Ich war so erschrocken, als die Dämonen uns angegriffen haben, ich…“
„Ach, keine Ursache. Ich muss doch auf gute Ideen kommen, ich bin schließlich die Auserwählte.“
Ich grinse, und der Elfenkrieger lächelt zurück.
„Ja, du bist wahrlich die Auserwählte. Mit deiner Hilfe werden wir es endlich schaffen, die Dämonen zu besiegen. Schon in wenigen Tagen werden wir die Dämonenfestung einnehmen, und dann ist dieser grausame Krieg ein für alle Male beendet.“
„Und dann? Muss ich dann wieder zurück… ich meine, in die Menschenwelt?“
Cirdan zögert einen Moment.
„Elena“, sagt er schließlich, „wie du weißt, ist es nach unseren uralten Regeln untersagt, dass Menschen dem Bund der Elfen angehören. Der Rat der Elfen wird nach dem Ende dieses Krieges daher entscheiden, dass du wieder zu den Menschen zurückkehren musst. Aber… aber…“
„Aber was?“
Diese bescheuerten Regeln! Ich will die Elfen nicht verlassen. Jahrelang habe ich Fantasy-Geschichten gelesen, und jetzt habe ich herausgefunden, dass die Fantasie Wirklichkeit ist, und das auch noch direkt vor meinem Zuhause. Das können die Elfen doch nicht ernst meinen. Ich will nicht zurück in mein langweiliges Leben von früher. Ich will hier bleiben.
„Elena, der Rat wird es nicht gestatten, dass du weiterhin dem Bund der Elfen angehörst. Aber es gäbe da eine andere Möglichkeit… aber ich meine, nur wenn du willst…“
„Welche andere Möglichkeit?“
„Nun ja… der Rat wird dir nicht zugestehen, hier zu bleiben, aber ich könnte es dir erlauben. Ich meine, ich könnte aus dem Bund austreten, und dann könntest du mich jederzeit im Wald besuchen. Wann du willst.“
„Du würdest aus dem Bund der Elfen austreten? Für mich?“
„Du bist die Auserwählte. Du bist mir wichtiger als alle meine Verbündeten. Ich würde für dich sterben, Elena. Das weiß ich, seit ich dich das erste Mal gesehen habe.“
Ein gewaltiges Glücksgefühl strömt durch meinen ganzen Körper. Ich bedeute für Cirdan etwas? Hat der junge Elfenkrieger mir gerade eine Liebeserklärung gemacht? Ganz sicher bin ich mir nicht, aber mein Herz macht einen Hüpfer.
Ich blicke in die geheimnisvollen, grünen Augen des Elfen, die mich schon immer in seinen Bann gezogen haben. Und dann umarme ich ihn – zum ersten Mal. Menschenmädchen und Elfenjunge, vielleicht werden wir noch das coolste Liebespaar aller Zeiten.
Nur dumm, dass ich gerade einen Deppen mit Elfenmaske umarme.
Acht Tage zuvor
Wenn es in dieser Welt ein Monster gegeben hätte, gegen das ich nun kämpfen könnte, so hätte ich diesen Kampf liebend gern auf mich genommen – sofern ich dafür auf die kommenden drei Wochen verzichten könnte.
Doch leider hatte ich keine Wahl. Also saß ich an diesem Sonntagabend in einem Zug in den Süden, auf dem Weg zu meinem Cousin, den ich bereits seit über sieben Jahren nicht mehr gesehen hatte.
Um genau zu sein, war das Einzige, was ich über die Familie meines Cousins Martin wusste, das alte Foto, das mir mein Vater heute Morgen mitgegeben hatte. Ich holte das Bild noch einmal aus meiner Jeanstasche, um es zu betrachten. Ein blonder Junge im Alter von rund zehn Jahren stand in der Mitte seiner Eltern und grinste in die Kamera.
Draußen regnete es in Strömen. Ich saß alleine in einem Zugabteil und blickte durch das Fenster, auf dem ich nur mein eigenes Spiegelbild erkennen konnte. Das Bild eines schmächtigen, 1,70 Meter großen Jungen mit hellbraunen Haaren und dunkelblauen Augen, in denen sich Aufregung und Zorn zugleich abbildeten. In diesem Moment hätte ich nicht einmal im Traum daran gedacht, dass gerade eben das Abenteuer meines Lebens begann.
Angefangen hatte alles drei Tage zuvor, als ich von der Schule nach Hause gekommen war. Es war der Beginn der Sommerferien, und meine Eltern saßen gut gelaunt auf dem Sofa.
„Wir haben eine kleine Überraschung für dich“, sagte mein Vater. „Deine Mutter und ich fahren für drei Wochen nach Barcelona.
„Oh, cool“, erwiderte ich. „Drei Wochen am Strand – das wird sicher genial.“
Mein Vater blickte mich verdattert an. „Liam, ähm… Mutter und ich fahren für drei Wochen nach Spanien. Dort haben wir vor siebzehn Jahren unsere Flitterwochen verbracht, und wir haben uns kurzfristig dazu entschlossen, diese wunderschönen Ferien zu wiederholen.“
„Ähm, wie bitte?“
Das konnte doch nicht wahr sein! Meine Eltern fuhren für drei Wochen in das sonnige Spanien und nahmen mich nicht mit!
„Keine Sorge, Liam“, meinte meine Mutter. „Wir haben uns überlegt, dass du die Zeit doch bei deinem Cousin Martin verbringen kannst. Ich habe gerade eben mit meiner Schwester Monika telefoniert – und sie hat nichts dagegen. Stell dir mal vor, du darfst drei Wochen lang in der Schweiz Urlaub machen!“
„Ähm… kann ich anstatt dessen auch hier in München bleiben?“
„Nein, das geht nicht!“, rief Vater. Zum ersten Mal war die Miene meiner Eltern nicht mehr freundlich, sondern bestimmend. „Du bist erst fünfzehn, wir können dich nicht allein in München lassen! Und außerdem haben wir dein Zugticket nach St. Gallen bereits gebucht! Du fährst am Sonntag um 16:20 Uhr los!“
Nun ja, und so kam es, dass ich jetzt in einem Zug saß, der mich von München in die Schweiz brachte. Um ehrlich zu sein, wusste ich über dieses Land noch weniger als über die Familie meines Cousins. Gut, die Hauptstadt war Bern, es gab über zwanzig Kantone, – wie ich damals glaubte – drei verschiedene Sprachen und jede Menge Berge.
Ich blickte auf meine Armbanduhr und stellte fest, dass es bereits kurz vor acht war. Gelangweilt griff ich zu meinem Rucksack und nahm das einzige Buch hervor, das ich eingepackt hatte. Es war furchtbar langweilig. Irgendein Unsinn über ein Mädchen, das sich in einen Drachen verwandeln kann und sich dann auch noch in einen Dämonenkrieger verliebt. Bereits nach zehn Seiten legte ich das Buch weg. Ich hasste Fantasy im Allgemeinen und fantastische Liebesgeschichten im Besonderen.
Es prasselte immer noch in Strömen, als der Zug endlich in den Bahnhof von St. Gallen eingelaufen und ich auf den Bahnsteig ausgestiegen war. Nun stand ich, wie über fünfzig andere Leute ebenfalls, unter einem kleinen Dach, um nicht platschnass zu werden, und versuchte, bei all den Menschen hier jemanden zu erkennen, der den drei Leuten auf dem alten Foto auch nur ansatzweise ähnlich sah.
Die Dämmerung war hereingezogen. Ich stand in einem fremden Land auf einem fremden Bahnhof und wartete und wartete – darauf, dass ich eine fremde Familie treffen würde, bei der ich meinen Sommerurlaub verbringen musste.
Mit jeder Minute wurde ich zorniger auf meine Eltern, die mir nicht einmal zutrauten, drei Wochen alleine zu Hause zu verbringen. Schließlich, als ich bereits am Überlegen war, ob ich mir von meinem Urlaubsgeld nicht einfach ein Zugticket zurück nach München kaufen sollte, rief eine Frauenstimme: „Liam! Liam Jansen! Hier sind wir!“
Ich schrak aus meinen Gedanken auf und blickte mich nach allen Seiten hin um. Zwei Gleise weiter sah ich einen Jungen und eine Frau mittleren Alters. Ich trat aus der Überdachung und spurtete zu ihnen herüber.
„Hallo Liam“, sagte die Frau. „Ich bin Monika Lorenz.“ Sie reichte mir ihre Hand. „Und das ist mein Sohn Martin.“
Ich blickte zu meinem Cousin. Er trug eine rote Jacke mit Kapuze und schwarze Turnschuhe. Martin schien recht muskulös gebaut zu sein, und sein Gesichtsausdruck signalisierte mir, dass er momentan auf nichts weniger Lust hatte, als auf seinen Cousin aus Bayern zu warten.
„Hallo“, sagte er versucht höflich und wandte sich dann an seine Mutter. Zwar verstand ich seinen schweizerischen Dialekt so gut wie gar nicht, doch glaubte ich, dass er sie fragte, ob wir nun endlich zum Wagen gehen könnten. Meine Tante Monika blickte ihren Sohn streng an und drehte sich dann wieder zu mir um.
„Martin und ich finden es richtig schön, dass du deinen Sommerurlaub hier bei uns verbringen willst.“
Verbringen musst, dachte ich mir und versuchte mir nicht auszumalen, wie schön es gerade im sonnigen Barcelona wäre. Anstatt dessen antwortete ich: „Ja, ich freue mich auch schon richtig.“
„Ich denke, dass wir jetzt am besten zum Auto gehen und rauf nach Hogwil fahren.“
„Wohin?“
„Dort wohnen wir“, mischte sich Martin zum ersten Mal in das Gespräch ein, allerdings mit einem ziemlich griesgrämigen Tonfall.
„Dann lasst uns jetzt gehen“, meinte ich. Wir waren die einzigen Menschen auf dem gesamten Bahnhof, die bei diesem Wetter einfach nur dastanden und sich unterhielten.
„Klasse Idee“, sagte Martin genervt, ergriff die Initiative und ging voraus.
Monika Lorenz fuhr einen kleinen, blauen Audi, der uns aus der Stadt hinaus durch die verregnete Gebirgslandschaft brachte. Um diese Uhrzeit war es zwar bereits recht dunkel, doch das verbliebene Tageslicht reichte aus, dass ich die verschiedenen Berge und Täler erkennen konnte. Ich war davon überzeugt, dass unter anderen Umständen und bei einem anderen Wetter die Landschaft durchaus malerisch hätte aussehen können.
Die kleinen Bauernhöfe auf den grünen Hügeln, zu denen nicht einmal geteerte Straßen führten, verliehen der Region das Gesamtbild einer Landschaft des siebzehnten Jahrhunderts. Zusammen mit den nicht mehr weit entfernt gelegenen Bergen, deren Gipfel trotz der Jahreszeit mit Schnee bedeckt waren, besaß die Gegend ein ziemlich eindrucksvolles Landschaftsbild. Doch für mich war es ein Tal des Schreckens.
Entgegen meiner Erwartungen hatte Martin nicht auf dem Beifahrersitz, sondern neben mir auf der Rücksitzbank Platz genommen. Er hatte seine Jacke ausgezogen, doch war er mir jetzt noch unsympathischer geworden als zuvor. Seine gute, muskulöse Figur ließ mich vor allem darauf schließen, dass er seine Zeit mit Boxen oder irgendeinem anderen kraftbetonten Sport verbrachte. Hoffentlich drohte mir solcher Mist nicht auch noch.
„Warst du schon einmal in der Schweiz?“, fragte er mich. Allem Anschein nach versuchte er, Hochdeutsch zu sprechen, konnte seinen starken schweizerischen Dialekt aber nicht verbergen.
Ich schüttelte knapp den Kopf.
„Das ist der Kanton St. Gallen“, erklärte Martin, ohne dass ich ihn um irgendeine Erläuterung gebeten hätte. „Die Kantonshauptstadt kennst du ja bereits, weil du dort aus dem Zug ausgestiegen bist, doch der Kanton reicht weit in die Alpen hinein. Wir wohnen in Hogwil. Das gehört zum Kanton St. Gallen und liegt in einem der Flusstäler zwischen den Bergen. Wir haben rund 7.000 Einwohner und eigentlich auch sonst ziemlich viel – eine Seilbahn, eine Shoppingstraße, sogar ein kleines Kino.“
Ich nickte.
„Ähm…“, machte Martin, offenbar auf der Suche nach einem anderen Thema. „Was machst du eigentlich so gerne in deiner Freizeit?“
„Nun ja… ich treffe mich gerne mit meinen Freunden zum Videospielen.“
„Hm“, meinte er nur.
„Und was hast du für Hobbys?“, fragte ich ihn.
„Klettern ist ziemlich cool. Und ich gucke gerne Filme.“
„Ach, tatsächlich? Ich auch.“
„Was ist dein Lieblingsfilm?“
Ich dachte kurz nach und erzählte dann, dass ich ein ziemlicher James-Bond-Fan war. Über zehn Minuten trug uns das Thema 007 durch die Gebirgslandschaft, denn auch Martin hatte die meisten Filme der Reihe gesehen. Schließlich, als die Straße draußen noch enger und der Regen noch stärker geworden war, meinte Martin plötzlich: „Ich hab mal einen Bond-Film selbst gedreht.“
„Ähm… was?“
„Na ja“, meinte er grinsend, „keinen richtigen Bond-Film. Aber einen dreißigminütigen Agentenfilm, in dem es um ein Komplott des britischen Geheimdienstes ging. Meine Freunde und ich haben das Drehbuch selbst geschrieben, bevor wir die Szenen gespielt haben.“
„Du hast mit deinen Freunden einen Film gedreht?“
„Ja, das war für einen Jugend-Filmwettbewerb. Wir haben aber leider nichts gewonnen.“
„Und wie seid ihr auf die Idee gekommen, selbst einen Film zu drehen?“
„Das war nicht unser einziger Film. Meine Freunde und ich drehen andauernd Filme – so haben wir in diesem Jahr schon sieben ganze Streifen produziert. Wir schreiben Drehbücher, inszenieren Szenen und suchen Schauspieler – na ja, die meisten Rollen spielen einfach wir vier, aber manchmal brauchen wir auch weibliche Rollen oder Statisten, sodass wir uns im Freundeskreis nach Leuten umsehen, die Lust haben, bei uns mitzuspielen.“
„Aber woher habt ihr denn die ganze Ausrüstung? Oder zieht ihr einfach mit einem Hand-Camcorder los?“
„Natürlich nicht. Mein Freund Chris besitzt ein Filmstudio. Das ist eine lange Geschichte – aber man kann das auch einfach so sagen: sein Vater ist vor über zehn Jahren weggezogen und hat eine Stelle bei Bavaria Film in München angenommen.
In jedem Fall kommt er immer nur einmal im Monat nach Hause, was für Chris ziemlich schlimm ist. Also hat sein Vater vor sieben Jahren angefangen, ihm jeden Monat ein Geschenk mitzubringen – in Form von alten Kameras, Studiobauten, Masken, Kulissen, Requisiten und so weiter. Eben das, was für die Profis von Bavaria Film zu alt ist, um noch gebraucht zu werden. Schließlich fand Chris das ganze Zeugs absolut cool – und so haben wir das Filmstudio aufgebaut und drehen nun jede Woche einen neuen Streifen, mit echtem Profi-Material.“
„Cool!“
„Ich werde es dir morgen zeigen, dann kannst du auch mal in einer Gastrolle mit…“
„So, wir sind da!“, rief meine Tante. Sie hatte den Wagen vor einem weiß lackierten Haus mit drei Stockwerken und einem Flachdach geparkt, das so gar nicht in dieses mittelalterliche Dorf passen wollte. „Das ist Hogwil, Distrikt 12.“
Sie stieg aus. Mein Cousin und ich zogen unsere Jacken an und folgten ihr in den Regen. Es war stockfinster, da es auf der Straße nur alle hundert Meter eine Laterne gab, die zudem nur sehr schwaches Licht spendete.
„Das ist also euer Haus“, stellte ich fest.
„Unsere Wohnung liegt ganz oben im dritten Stock“, meinte Monika. Ich folgte meiner Tante und Martin die Treppe hinauf, bis wir das zweite Obergeschoss erreicht hatten und Monika die Wohnungstür aufschloss.
Es handelte sich um eine typische Drei-Zimmer-Wohnung. Sie bestand aus einem großräumigen Wohnzimmer mit hölzernen Schränken, einem Schlafzimmer mit ebenso antik wirkenden Möbeln und Martins Zimmer. Dieses war mit den Fußball-, Eishockey- und insbesondere Filmplakaten ganz anders als die restlichen Zimmer eingerichtet. In dem ziemlich großen Raum meines Cousins gab es einen Schreibtisch, einen mit Filmbildern beklebten Kleiderschrank, ein Bett und eine Couch – aber keinen Fernseher.
„Du kannst auf der Couch schlafen, Liam“, sagte Martin höflich und deutete auf das Sofa, auf dem bereits eine Bettdecke lag. „Aber ich denke, jetzt sollten wir erst einmal zu Abend essen, oder?“
„Gerne“, sagte ich.
Der erste Abend mit meiner Tante Monika und meinem Cousin Martin war weitaus schöner, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Doch all meine Freude verflog, als ich alleine in der Dunkelheit auf der Couch lag und mir stundenlang Martins Schnarchen anhören musste. Bis in die frühen Morgenstunden gelang es mir nicht, einzuschlafen.
Ich wollte zurück nach Hause. Ich wollte raus aus dem Lande, wo die Schatten drohn.
Mit schnellen Schritten rannte ich. Ich musste rennen, immer schneller und schneller. Ich musste es rechtzeitig schaffen, dem Feind zu entfliehen. Ich merkte schon gar nicht mehr, wohin ich lief. Ich spurtete nur noch den Feldweg entlang, immer weiter durch den finsteren Wald, um der Kreatur zu entrinnen, die mich verfolgte. Voller Panik blickte ich mich um. Mein Schrecken steigerte sich noch mehr, denn das Wesen war nun keine fünfzig Meter mehr entfernt und jagte mir weiterhin nach, mit einem noch höheren Tempo.
Doch ich hatte es fast geschafft. Die Mitte des Waldes befand sich direkt vor mir. Doch obwohl ich den hellen Lichtschein der Lichtung vor mir sah, der das Paradies für mich verhieß, waren es immer noch ganze hundert Meter, die ich absolvieren musste, um zu überleben.
Ich steigerte mein Tempo noch ein wenig und noch ein wenig. Schneller konnte ich nicht mehr rennen, jetzt war ich am absoluten Limit angekommen. Doch schließlich waren es auch nur noch siebzig Meter, noch fünfzig, noch zwanzig, noch…
Und dann stolperte ich über etwas. Es war eine Wurzel auf dem Feldweg, auf die ich wegen meiner immensen Geschwindigkeit nicht geachtet hatte. Ich taumelte und fiel zu Boden, auf mein linkes Bein. Ich spürte, wie es den Sturz nicht verkraftete und brach. Ich spürte den schieren Schmerz, doch ich musste ihn unterdrücken.
Ich biss die Zähne zusammen und rappelte mich auf, doch ich schaffte nur, mich umzudrehen. Dann presste mich eine eiskalte Hand auf den Boden, mit dem Rücken auf die Wurzel. Nun sah ich die Kreatur, die mich gepackt hatte. Es war ein schwarzes Wesen, fast menschlich, doch mit roten Augenhöhlen und einem roten, teuflischen Mund.
Es schien nur das wenige Licht, das vom Paradies hierher flackerte, doch anstatt die Verheißung zu erfüllen, verstärkte das Licht des Paradieses nur die grässliche Erscheinung der Kreatur. Und dann, urplötzlich, öffnete das Wesen seinen Mund und presste ihn gegen meinen…
Der Kuss war ekelerregend, doch in den roten Augen der Kreatur stieg gelbes Licht des Feuers, der Begeisterung auf. Das Wesen genoss es, mich zu küssen.
Ich kämpfte und kämpfte, um von dem grässlichen Wesen wegzukommen, endlich frei zu sein und das Paradies zu erreichen. Ich stieß mit aller Wucht, die ich aufbringen konnte, gegen den Kopf des Wesens und sprang zur Seite. Nach rechts in den dunklen Wald hinein, um der Kreatur zu entkommen…
BUMM!
Ich öffnete die Augen. Ich war mir sicher, dass ich gegen einen harten Baumstamm gekracht sein musste, da mein Hinterkopf stark schmerzte. Trotz der schieren Angst, das Wesen könne zurückkehren, ließ ich meinen Augen die Zeit, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, und als ich endlich erkannt hatte, wo ich tatsächlich war, atmete ich voller Erleichterung auf. In der Tat war ich mit meinem Hinterkopf hart aufgestoßen, doch nicht gegen einen Baumstamm.
In Wahrheit war ich nur von der Couch auf den Boden heruntergefallen. Nach wie vor lag ich in Martins Zimmer in Hogwil. Die finstere Kreatur und die Verfolgungsjagd waren nicht real gewesen, ich hatte alles nur geträumt. Erleichtert drehte ich mich zur Seite und schlief wieder ein, und nun tauchten in meinen Träumen keine Fantasiewesen mehr auf.
Kurz vor Mittag verließen Martin und ich die Wohnung und machten uns auf den Weg ins Zentrum von Hogwil. Jetzt, bei Tageslicht, sah das Dorf weitaus weniger abstoßend, sondern mit seinen alt wirkenden, aber nicht heruntergekommenen kleinen Häusern ziemlich idyllisch aus. Was sicherlich auch daran lag, dass das Dorf inmitten der Alpen lag, die mit Tannen und an den Berggipfeln sogar mit Schnee bedeckt waren.
Wir machten an einem kleinen Kiosk halt, wo sich mein Cousin eine Schachtel Zigaretten kaufte.
„Ist das für Jugendliche nicht verboten?“, fragte ich überrascht, als er sich mit seinem Feuerzeug eine Zigarette angezündet hatte.
„Wieso? Ich bin doch schon sechzehn. Willst du auch eine?“