Das Ideal des Kaputten - Jessica Jurassica - E-Book

Das Ideal des Kaputten E-Book

Jessica Jurassica

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Beschreibung

Rios de dolor und cascadas de amor, "Flüsse des Schmerzes" und "Wasserfälle der Liebe". Diese Worte sind auf der Hängematte eingestickt, in welcher die namenlose Protagonistin in einem seltsam riechenden Sommer viel Zeit verbringt. Von diesem Punkt aus erzählt sie, wechselnd zwischen Erinnerungen und dem Jetzt, von zwei bewegten Jahren: vom Abhauen und Ankommen, von Sex und Drogen, vom Verhältnis zwischen Frau und Mann, von Melancholie, Zorn und der Suche nach sich selbst. Und von einem psychedelischen Trip als Kulminationspunkt. "Das Ideal des Kaputten" unterläuft dabei geschickt das Bild, das Jurassica mit ihren Tweets und Posts fein säuberlich aufgebaut hat. Dort ihr "low life", gespickt mit großen Sprüchen, Drogen, nächtlichen Exzessen und rohem Humor. Hier im Roman das Bild einer reflektierten, feministischen und feinfühligen Erzählerin auf der Suche nach ihrer Rolle, ihrem Platz und nach Liebe außerhalb von gängigen Abhängigkeitsverhältnissen. Jessica Jurassica erweist sich in ihrem Roman als sorgfältige und präzise Autorin. Das Spiel mit den Metaebenen und den Alter Egos beherrscht sie dazu perfekt: Ist Jessica Jurassica ein Pseudonym oder eine Fiktion? Ist die Erzählerin im Roman die Person hinter Jessica Jurassica oder erfunden? Und wer erschafft hier eigentlich wen? Jessica Jurassica wurde spätestens mit ihrer erotischen Fan-Fiction "Die verbotenste Frucht im Bundeshaus" mit dem Schweizer Bundesrat Alain Berset in der Hauptrolle zum geheimen Star, nicht nur in den sozialen Netzwerken. Ihr erster Roman ist nun eine überraschende, kaum mehr für möglich gehaltene Lektüre.

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Seitenzahl: 136

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Jessica Jurassica

Das Idealdes Kaputten

Roman

Verlag und Autorin danken dem ça ira-Verlag (www.ca-ira.net) für die Erlaubnis, den Titel des Buches »Das Ideal des Kaputten« von Alfred Sohn-Rethel zu verwenden.

Die Autorin und der Verlag danken für die Unterstützung durch den Kanton Appenzell Ausserrhoden, die Stadt Bern und den Kanton Bern.

Jessica Jurassica

Das Ideal des Kaputten

Roman

lectorbooks GmbH, Zürich

[email protected]

www.lectorbooks.com

Umschlagbild: Jessica Jurassica

Umschlaggestaltung: André Gstettenhofer

Satz: Peter Löffelholz

Lektorat: Patrick Schär

Korrektorat: Gertrud Germann

Gesamtherstellung: CPI Books GmbH, Leck

1. Auflage 2021

© 2021, lectorbooks GmbH

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-906913-27-8

eISBN 978-3-906913-28-5

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Zitatnachweis

Zur Autorin

1

Den ganzen Sommer über roch es irgendwie seltsam. Die Stadt roch seltsam und meine Wohnung, meine Mitbewohner, die Männer, mit denen ich schlief – mein ganzes Leben roch seltsam. Und auf meine Haut hatte sich ein glänzender Film gelegt, den ich einfach nicht wegbekam und der seltsam roch.

Ich verbrachte diesen seltsam riechenden Sommer fast durchgehend in meiner Hängematte, die ich damals in Kolumbien für die Ayahuasca-Zeremonie gekauft hatte, und während ich in dieser kolumbianischen Hängematte lag, wehte der Wind durch die Wohnung, alle Fenster offen, 34 Grad im Schatten.

In den grob gewebten Stoff der Hängematte hatte ich von Hand ein paar Worte gestickt, damals im Flash der Tage nach dem Ayahuasca-Trip, als ich gedacht hatte, dass ich wohl für immer hängen geblieben sei. rios de dolor, cascadas de amor stand da in naiver Schrift, Flüsse des Schmerzes und Wasserfälle der Liebe. Ich war damals wirklich ziemlich hängen geblieben, aber das war immer noch besser als jetzt. Ich bildete mir ein, alt und abgeklärt geworden zu sein oder erwachsen vielleicht, aber in Wirklichkeit war ich einfach nur depressiv. Mein Leben bestand aus einer Aneinanderreihung von Regelmäßigkeiten, ich bezahlte fast jeden Monat meine Miete, ich aß regelmäßig tagelang nichts und meine Menstruation ließ regelmäßig auf sich warten, um dann doch noch im ungünstigsten Moment einzutreten. Gleichzeitig wurde meine Arbeit plötzlich ernst genommen von arrivierten, einflussreichen Menschen, meist Männern, die mich nach Zürich zum Kaffee einluden. Sie sahen in mir das Nachwuchstalent, das dieses Land brauchte in Zeiten der Medienkrise, so kam es mir jedenfalls vor, vielleicht wollten sie auch nur ficken, aber das war mir eigentlich ziemlich egal. Es widerte mich alles an, was von Zürich her durch das Display in meine Wohnung schwappte.

Zürich war für mich nie mehr gewesen als ein Verkehrsknotenpunkt zwischen dem Appenzeller Hinterland und der Bundeshauptstadt, in die ich vor ein paar Jahren gezogen war, um irgendwas mit Geisteswissenschaften zu studieren, das mich meistens nur so mittel interessierte und das ich nach meinem nicht sehr erfolgreichen Bachelorabschluss bald komplett vergessen hatte. Manchmal kam mir das Diplom wieder in den Sinn, und dann fragte ich mich, wo ich es wohl hingelegt hatte.

Ich spülte alles runter mit sauer gespritztem Weißwein, die Hitze, den Nihilismus, die Medienkrise. Gegen Abend ließ ich mich manchmal die Aare runtertreiben, immer den Gedanken im Hinterkopf, einfach weiterzutreiben. Wenn man sich weit genug treiben lässt, dann ist man irgendwann tot, so hatte man mir das jedenfalls erklärt, als ich herzog. Ich stieg trotzdem jeweils bei der drittletzten Möglichkeit aus dem Wasser, weil es dort neuerdings eine hippe kleine Pop-up-Bar gab, wo man sauer gespritzten Weißwein trinken konnte, dafür nicht mehr kiffen wegen der vielen Menschen, und alle hatten noch ein Kind mit dabei. Manchmal kamen Lokaljournalistinnen und fragten, was man denn so halte von diesem Pop-up-Ding und ob es okay sei, wenn man auch auf dem Foto drauf sei für den Sommerloch-Artikel in der nächsten Ausgabe, und dann fragte ich mich, weshalb ich mich nicht doch weiter hatte runtertreiben lassen.

Ich hasste die Journalisten und Journalistinnen, sie hatten mir den Sommer versaut. Ich war da reingerutscht und schaute im Internet den Debatten zu, die mit komplett irrer Geschwindigkeit geführt wurden. Jede Woche gab es einen anderen Shitstorm oder Hype, einen Artikel, einen Facebook-Post von irgendeinem SVP-Arschloch, alle stürzten sich drauf, und ganz egal, ob sie jemanden zerrissen oder feierten, sie konnten dich innerhalb weniger Stunden zerfetzen. Sie meinten es nur gut, aber am Ende lagst du da unter der Last dieser ekligen Blase, die sich auf dich gedrückt hatte. Danach ließen sie dich wieder fallen und irgendwo liegen, sie vergaßen dich sofort, wie ein komplett gestörter Fuckboy, der dich manisch fickt und dir tausend euphorische Komplimente macht, und dann zieht er sich an, drückt dir einen Kuss auf die Stirn, geht lächelnd raus, lässt die Tür hinter sich zufallen und ghostet dich einfach. Und wenn du Glück hast, wenn du dir Mühe gibst, bist du irgendwann mal wieder interessant genug für einen One-Night-Stand. Nein, es gibt keine Liebe in Zeiten der Medienkrise.

Einmal war mir alles so langweilig, dass ich mir das Tamedia-Logo in die Leistengegend tätowierte. Ich tat es nicht gern, aber es musste sein. Wenigstens ein bisschen Punk in meinem trägen Alltag, der bereits nach Bürgerlichkeit zu stinken begann, als könnte ich überhaupt jemals bürgerlich werden oder irgendwas in diese Richtung. Das lag mir gar nicht, und doch hatte ich panische Angst davor. Na ja, und deshalb halt diese Tätowierung in der Leistengegend. Wenn man mich fickte, konnte man runterschauen und sich denken: Ich fick Tamedia. Ich fick Pietro Supino. Ich fick all die devoten Scheiß-Journos.

Ich hasste die Journalisten und Journalistinnen auch, weil ich den Eindruck hatte, dass sie sich an den Meistbietenden verkauften und nichts dagegen unternähmen, dass alles so beschissen läuft. Die meisten trauten sich nicht einmal zu klagen, manche schon, und die klagten dann jämmerlich vor sich hin, meist in einem kindlich-trotzigen Tonfall, und alle waren unzufrieden, aber niemand wollte irgendwas tun, weil sie viel zu bequem waren oder einfach nur paranoid. Und wenn dann doch mal wer was unternahm gegen die Medienkrise, gegen die Aktionäre und die Entlassungen, dann machten sie einen auf Französische Revolution. Aber ein Scheiß war das Französische Revolution. Es war nur Ausverkauf, eine berechnende Vermarktung aufgeblasener demokratischer Ideen.

Die Journalisten aus Zürich sagten mir, ich stünde am Anfang einer großen Karriere. Also konzentrierte ich mich auf diese Karriere, die noch keine war, sondern nur eine Häufung von Einladungen zum Kaffee auf Zürcher Redaktionen, während mich noch immer niemand fürs Schreiben bezahlte. Ich wusste die ganze Zeit über nicht, was es mit diesem verdammten Kaffeetrinken auf sich hatte, ob es jetzt da doch wieder ums Ficken ging, und obwohl ich überhaupt keine Lust hatte, nach Zürich zu fahren, nahm ich irgendwann die vielversprechendste Einladung an. Eigentlich hatte ich vorgeschlagen, dass man sich in Olten treffen solle, weil das genau zwischen Zürich und der Bundeshauptstadt liegt, aber diese Zürcher Edelfeder war zu beschäftigt damit, Französische Revolution zu spielen, um nach Olten zu fahren, also sollte es doch Zürich sein.

Ich fuhr dann nicht hin, weil ich in der Nacht zuvor zu viel Amphetamin gezogen und zu viel Alkohol getrunken hatte und den ganzen Tag im Bett lag oder über der Kloschüssel hing. Die Edelfeder war sowieso nicht zu erreichen, als es darum ging, einen Treffpunkt zu vereinbaren. Er antwortete einfach nicht auf meine Nachrichten und meldete sich auch später nicht mehr. Aber es war mir egal, es kam mir sogar gelegen, ich hatte echt keine Lust, mich aus dieser Stadt rauszubewegen. Diese Stadt, die, wenn man ein paar Jahre hier lebte, an einem zu haften begann, als wären die Sandsteinmauern mit Klebstoff überzogen, und trotzdem traf man, sobald es warm wurde, in der Spitalgasse und im Rosengarten nur Touristen, und wie jeden Sommer verschwanden ein, zwei von ihnen in der Aare und wurden dann irgendwo unten Richtung Bremgarten tot aus dem Wasser gefischt.

Irgendwann in diesem Scheiß-Sommer, während ich in meiner kolumbianischen Hängematte lag, wurde ich fünfundzwanzig und ich hörte Lil Uzi Vert, der darüber rappte, dass alle seine Freunde tot waren, obwohl er erst fünfundzwanzig war.

Vor einem Vierteljahrhundert wurde ich also geboren, crazy, dachte ich. Ich kam auf einem Bauernhof fast ganz unten in einem Tal im Appenzeller Hinterland auf die Welt. Es war morgens kurz vor acht, mein Vater stand mit den Stallstiefeln in der Stube, während mich meine Mutter aus sich rauspresste und vor dem Haus die Esel schrien.

Es gab kaum elektrisches Licht in diesem Tal, keine Straßenlaternen, und nachts schien der Mond rot auf die Hügel drauf und in die Täler rein. Nur ganz unten im Tal, da schien nicht einmal die Sonne hin, dort war es immer ganz dunkel und alles ständig von einer modrigen Nässe überzogen. Im Winter schichtete sich das Eis und schloss alles in sich ein und dann wurde es jeweils ganz still – für ein paar Wochen oder Monate.

Inzwischen war ich natürlich schon lange aus diesem Tal geflüchtet, wie alle anderen auch, die nicht schwanger geworden waren als Teenager oder sich und andere gegen einen Baum und totgefahren hatten mit ihren übermotorisierten und tiefergelegten Subarus. Ich lebte nun also in Bern und hier wurde ich fünfundzwanzig, und während ich fünfundzwanzig wurde, lag ich in dieser kolumbianischen Hängematte und Lil Uzi Vert rappte in Endlosschlaufe:

All my friends are dead

All my friends are dead

All my friends are dead

Meine Freunde waren noch nicht tot, höchstens Freunde von Freunden waren tot. Jemand hatte sich mal auf Ecstasy eine Kugel in den Kopf gejagt, weiß der Teufel warum, jemand hing eines Tages im idyllischen WG-Garten am einzigen Baum, der da stand, und die von früher, also die von damals, als ich noch in diesem Tal bei meinen Eltern gewohnt hatte, die hatten sich eben totgefahren. Und meine erste große Liebe, die war auch tot.

Ich ging jedenfalls davon aus, dass meine erste große Liebe tot sein musste. M. hatte mir gesagt, dass er krank sei und wohl sterben werde und dass er ein Schmetterling sei oder irgend so ein Scheiß. Er sagte das, als wir eines Nachmittags auf MDMA in seiner Wohnung rumlagen und Portishead hörten.

Wild, white horses

They will take me away

And my tenderness I feel

Will send the dark underneath

Will I follow?

Ich lag in seinem Schoß, schaute mit großen Pupillen zu ihm hoch und weinte.

Kurz nach diesem Nachmittag, den wir verballert auf seiner Couch verbracht hatten und an dem ich, soweit ich mich erinnern konnte, zuletzt überhaupt geweint hatte, brach unser Kontakt ab. Ich war schon lange in eine andere Stadt gezogen und er hatte schon lange sein Facebook-Profil gelöscht. Und weil auch auf sonst keinem Kanal ein Lebenszeichen von ihm kam, dachte ich, dass er wohl wirklich tot sein musste, das hätte irgendwie zu ihm gepasst. Aber nach einem Jahr oder so kam dann doch wieder eine SMS: Sorry, war mal wieder Psychiatrie, haha, hast du mir die Nummer von … Ich hatte keine Ahnung, wessen Nummer er wollte, und er schrieb dann auch nicht mehr zurück, ich glaube, er war schon wieder voll in der Psychose.

Ich fand das immer ziemlich attraktiv an ihm, dass der so psychotisch war. Als wir das erste Mal miteinander sprachen, saßen wir irgendwann unter der Woche am frühen Abend in der Südostbahn. Die Südostbahn fuhr von Rapperswil her Richtung St. Gallen quer durchs Toggenburg und streifte dazwischen irgendwo noch kurz das Appenzeller Hinterland. M. war aus dem Toggenburg und ich aus dem Appenzeller Hinterland, also aus dem hintersten Hinterland, wo praktisch nur noch auf Acid hängen gebliebene Aussteiger-Hippies lebten und Kleinbauern in der zehnten Generation und alle hatten Alkohol- und Aggressionsprobleme. Die Bauern im Tal ertränkten im Frühling die in unkontrolliertem Ausmaße geworfenen Katzen kurz nach ihrer Geburt in den Brunnen vor den Häusern und im Sommer prügelten sie ihre Kinder auf die Heuwiesen.

Die nächste Kleinstadt lag unerreichbar weit weg, und die Kinder aus dem Dorf und von unten im Tal hingen im Winter in der einzigen Telefonzelle ab, direkt neben dem Friedhof und der Kirche, weil es sonst keinen Ort gab, an dem man hätte sein können. Der letzte Bus war schon längst gefahren und würde auch so bald nicht mehr wiederkommen. Doch die Kinder von ganz unten im Tal waren froh, wenigstens ein wenig Sonnenlicht zu haben oder den Säntis zu sehen und den Sternenhimmel. Aber nach ein paar Jahren schauten auch sie kaum mehr hin. Manchmal riefen sie aus der Telefonzelle beim Sorgentelefon an, aus Neugierde oder Langeweile. Vielleicht auch, weil sie tatsächlich Sorgen hatten. Und einmal im Jahr gab es ein großes Fest, alle waren da und betranken sich, die Kinder durften Zigaretten oder andere Rauchwaren konsumieren und übergaben sich dann in die Büsche, weil sie das Nikotin nicht vertrugen.

Ich traf also M. zwischen diesem Tal im Appenzeller Hinterland und dem Toggenburg in der Südostbahn, es war Sommer und für mich war es ein ziemlich beschissener Sommer, ich hatte soeben die Schule fertig und befand mich in einem sehr unangenehmen postpubertären Vakuum. Ich fuhr jeden Abend mit der Südostbahn nach St. Gallen, setzte mich in eine Bar an der Metzgergasse und trank ein paar Bier mit den Stammgästen da, von denen die meisten männlich, arbeitslos und gegen die vierzig waren, oder jedenfalls sahen sie so aus. Hin und wieder war einer für eine Weile weg, und wenn er wiederkam, behauptete er, in den Ferien gewesen zu sein, in Spanien oder so, manchmal sagte er auch gleich, dass er im Knast gewesen war.

M. und ich verkehrten beide in dieser Bar, von da kannten wir uns flüchtig, deshalb setzte ich mich damals in der Südostbahn zu ihm. Er erzählte, dass er soeben bei seinem im Sterben liegenden Großvater gewesen sei, er hatte gerötete Augen, er hatte geweint, und ich war nervös, weil ich ihn mit den verweinten Augen attraktiv fand. Am Bahnhof nahm er den Bus und ich ging zu Fuß, obwohl wir beide in die Metzgergasse wollten und es vom Bahnhof bis dahin nur knapp fünf Minuten sind, aber er wollte nicht zu Fuß gehen mit seiner Tasche, in der sein gesamter Besitz drin war, wie er sagte.

Ich wusste das erste halbe Jahr nicht, wo M. wohnte, ich glaube, er wohnte damals überhaupt nirgends, denn er hatte diese Tasche ständig bei sich, und wenn wir zusammen waren, schliefen wir immer in irgendwelchen Bruchbuden, bei einsamen Dealern oder im Keller der Bar an der Metzgergasse. Oder wir schliefen überhaupt nicht.

Irgendwann hatte er sich dann doch eine Wohnung gemietet, sah jedoch weitgehend davon ab, sich Möbel anzuschaffen. Ein Bett besaß er nicht. Anfangs schliefen wir in einer Hängematte, die er im Wohnzimmer der kleinen Dachwohnung zwischen den Dachbalken montiert hatte, später kamen zwei Sofas dazu, und irgendwann besorgte er sich eine Luftmatratze, die er in seinem winzigen Schlafzimmer unter das Dachfenster legte und regelmäßig mit einer automatischen Pumpe aufpumpte. Dieses Zimmer war ihm heilig. Wenn er rausging, drehte er den Schlüssel im Schloss und nahm ihn mit. Bald begann sich dort alles Mögliche zu schichten: haufenweise Kleider, leere Bierdosen, Kisten mit Antennen und Geräten, von denen er vage sagte, dass sie etwas mit dem Darknet, einer Höhle im Tessin und einem Verstorbenen zu tun hätten, und fein säuberlich aufgehäuft eine beeindruckende Menge an Schalen von Sonnenblumenkernen am Fußende der Luftmatratze. Irgendwann war eine der leeren Dosen unter die Luftmatratze geraten und hatte ein Loch verursacht. Von da an lagen wir auf den Schafsfellen und der unbrauchbar gewordenen Luftmatratze und er sagte Dinge wie dass ich zu jung und zu unschuldig sei, um mit jemandem wie ihm zu sein.