Das Implantat - Daniel H. Wilson - E-Book
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Das Implantat E-Book

Daniel H. Wilson

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Beschreibung

… Überlegenheit käuflich wäre? Mittels eines Implantats, das die geistigen und körperlichen Fähigkeiten immens steigert? Was, wenn sich diese Technologie nicht jeder leisten könnte? Daniel H. Wilson zeichnet ein erschreckend realistisches Zukunftsszenario – seit "Gattaca" hat niemand mehr die schöne neue Welt so treffend entlarvt.

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Daniel H. Wilson

Das Implantat

Roman

Aus dem Amerikanischen von Markus Bennemann

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

WidmungGebrauchsanweisungIUrteilsbegründung1. KapitelBBC News2. KapitelThe Pittsburgh Post-Gazette3. KapitelUS-Bundesbezirksgericht für den westlichen Bezirk Pennsylvanias4. KapitelCNN.com5. KapitelIIThe Washington Post6. KapitelHistorisches Dokument7. KapitelThe Pittsburgh Post-Gazette8. KapitelFlugblatt9. KapitelRückruf10. KapitelThe Wall Street Journal11. KapitelGeheimdokument12. KapitelThe Arizona Republic13. KapitelThe New York Times14. KapitelThe New York Times15. KapitelThe Oklahoman16. KapitelIIIThe Oklahoman17. KapitelChicago Tribune18. KapitelHouston Chronicle19. KapitelBüro des Pressesprechers20. KapitelVerfügung des Präsidenten 1490221. KapitelAusnahmeverwaltung22. KapitelAssociated Press23. KapitelHistorisches Dokument24. KapitelBBC News25. KapitelThe Pittsburgh Post-GazetteEpilogDanksagungÜber den Autor
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Für Genieve Wilson

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General Biologics™
Neuronaler Autofokus MK-4®

Gebrauchsanweisung (USA)

 

Das Gehirnimplantat Neuronaler Autofokus MK-4®

 

Das Gehirnimplantat Neuronaler Autofokus MK-4® dient sowohl der Übertragung elektrischer Impulse an bestimmte Hirnbereiche als auch dem Empfang der elektrischen Hirnaktivität.

Das Implantat besteht aus einem an der Hirnoberfläche angebrachten Elektrodenträger (A), einem unter der Haut plazierten Prozessor (B), einem mit Körperenergie gespeisten Kondensator (C) sowie einer oberhalb des Ohrs (in der Nähe des Schläfenlappens) austretenden Wartungsschnittstelle (D).

Der Neuronale Autofokus MK-4® soll Ihnen in erster Linie dabei helfen, sich besser auf geistige und körperliche Tätigkeiten zu konzentrieren. Zu diesem Zweck reagiert das Implantat auf Hirnwellen, die auf einen Zustand mangelnder Aufmerksamkeit hindeuten, und wandelt sie mittels gezielter Stimulation des Gehirns in Betawellen um (die einen Zustand erhöhter Konzentration erzeugen).

Benutzer, die damit ein aus medizinischen Gründen getragenes Exoskelett, eine automatische Prothese oder ein mikroelektronisches Netzhautimplantat steuern wollen, können das Gerät auch als Brain-Computer-Interface (BCI) verwenden.

In den ersten Monaten seiner Verwendung wird der Neuronale Autofokus MK-4® ein präzises Modell Ihrer Hirnfunktionen erstellen. Ihre eigenen neuronalen Schaltkreise passen sich der Tätigkeit des Geräts an, was zu einer Stärkung jener Nervenbahnen führt, die für Konzentrations- und Koordinationsfähigkeit zuständig sind. Dieser gegenseitige Verstärkungsprozess wird sich während der gesamten Lebensdauer des Implantats fortsetzen. Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass die dadurch verursachten Veränderungen nicht mehr rückgängig zu machen sind und auch dann bestehen bleiben, wenn das Gerät nicht länger verwendet wird.

Um Infektionen oder sogar eine mögliche Abstoßung des Implantats zu verhindern, denken Sie bitte daran, es einmal im Monat über den Wartungsausgang mit Bio-Gel© zu behandeln. Das von uns patentierte Bio-Gel© verringert auch das Risiko neuronaler Narbenbildung, durch die andernfalls die Leistungsfähigkeit der Elektroden beeinträchtigt werden kann.

 

Unseren Glückwunsch! Bei richtiger Pflege wird der Neuronale Autofokus MK-4® Ihnen über Jahre hinweg helfen, ein besseres Leben zu führen!

 

Hinweis: Wie jeder operative Eingriff ist auch das Einpflanzen neuronaler Implantate mit gewissen Risiken verbunden. Bitte fragen Sie Ihren Arzt zu möglichen Gegenanzeigen und Gefahren. Durch Viren oder Bakterien verursachte Infektionen können lebensbedrohlich sein. Kommt es zu Symptomen wie Nackensteife, Verwirrtheit, Fieber, lokaler Rötung, Ausfluss, Schwellungen oder Krampfanfällen, kontaktieren Sie bitte umgehend Ihren Hausarzt.

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I

Wir können uns verändern.

Denkt nur an die Möglichkeiten.

 

Carl Sagan

Urteilsbegründung
Oberster Gerichtshof der Vereinigten Staaten

 

Nr. 09–1153

 

SAMANTHABLEXgegen den BILDUNGSAUSSCHUSS

 

ZURBESTÄTIGUNGDESIMBERUFUNGSGERICHTDESNEUNTENBEZIRKSGEFÄLLTENURTEILS

 

Die Urteilsbegründung wurde durch den Obersten Richter Anfuso vorgetragen.

Die vom Gericht zu entscheidende Frage lautete in diesem Fall, ob die Benutzer von Gehirnimplantaten (wie zum Beispiel den Neuronalen-Autofokus®-Geräten) ein vom 14. Zusatzartikel der Verfassung garantiertes Recht auf Bildung genießen. Der beklagte Bildungsausschuss vertrat die Meinung, dass Schüler mit Implantaten gegenüber Schülern und Lehrern, die keine Implantate tragen, einen unfairen Vorteil besitzen, welcher der fairen Vermittlung von Bildung im Wege steht.

Im Urteil zu den Fällen Brown gegen den Schulausschuss,347 U.S. 483[1], wurde festgelegt, dass öffentliche Einrichtungen keinen Schüler aufgrund feststehender körperlicher Merkmale diskriminieren dürfen. Wir sind jedoch der Auffassung, dass der Gebrauch von Gehirnimplantaten einen freiwilligen chirurgischen Eingriff darstellt und mit solchen Implantaten ausgestattete Bürger daher nicht unter den Schutz des 14. Zusatzartikels fallen.

Deshalb entscheiden wir, dass Bürger mit Implantaten keine gesellschaftliche Gruppe bilden, die in besonderem Maße vor Diskriminierung geschützt werden muss.

Beschlossen und verkündet.

1

Der erste Schritt

Ich stehe auf dem steilen Schieferdach der Allderdice Highschool, halte mich mit einer Hand am glitschigen Metall einer schmiedeeisernen Dachverzierung fest und strecke die andere zu dem Mädchen vor mir aus.

»Nicht«, sage ich. »Bitte tu’s nicht.«

Meine Finger zittern. Die Schwingungen der Angst und der Panik, die in der Luft liegen, scheinen sich auf sie zu übertragen. Am Ende des Daches wartet etwas auf mich, das bereits vor Jahren außer Kontrolle geraten ist. Nur sollte ich nicht etwas sagen. Sollte sie unter gar keinen Umständen als Sache bezeichnen.

Jemand, meine ich natürlich.

Schuld an allem ist nur diese verdammte Technik. Man kann ihr nicht entrinnen. Wann immer man mit Menschen zu tun hat, kommt man automatisch damit in Berührung. Ausgeklügelte kleine Apparate. Listige Strategien. Wir sind die geborenen Werkzeugmacher; und wenn man auch an sonst nichts glaubt, sollte man sich das besser eingestehen. Es liegt einfach in unserer Natur.

Unsere Werkzeuge machen uns stark.

Und genau diese Werkzeuge haben dafür gesorgt, dass dieses Mädchen hier am Rand des Daches steht. Als ich gehört habe, um wen es sich handelt, habe ich alle Warnungen in den Wind geschlagen und bin sofort zu ihr hinaufgeklettert. Was ich ihr angetan habe, kann ich auch damit nicht wiedergutmachen, aber ich kann’s ja wenigstens versuchen.

Samantha ist erst fünfzehn. Der Wind weht durch ihr braunes Haar und treibt die Tränen über ihr ausdrucksloses Gesicht. Sie steht unmittelbar an der Kante des bulligen, in der industriellen Blütezeit Pittsburghs gebauten Schulgebäudes, sechs Stockwerke über dem Boden. Ein paar Sonnenstrahlen brechen durch den grauen Nachmittagshimmel, doch der Regen hat nicht aufgehört und bringt die dunklen Schindeln um uns herum zum Glänzen.

Ich kann immer noch nicht glauben, dass sie wirklich springen will. Nicht nach allem, was sie durchgemacht hat.

Werkzeuge baut man doch eigentlich, um Probleme zu lösen, oder? Aber – und darüber habe ich viel nachgedacht – es sind vielmehr unsere Grenzen, die uns ausmachen. Dicke rote Linien, die man nicht überschreiten darf: die Grenzen des Menschenmöglichen. In letzter Zeit sind diese Grenzen allerdings so oft überschritten worden, dass sie kaum noch zu erkennen sind.

Deshalb verlieren wir alle langsam die Orientierung.

Vor ziemlich genau acht Jahren hat ein kleines Mädchen namens Samantha eine Woche lang in der Schule gefehlt. Auf den Fotos, die immer am Anfang der Fernsehberichte gezeigt wurden, konnte man sehen, dass Sam ein bisschen schielte. Sie trug eine lilafarbene Brille und lächelte viel. Niedlich war sie. Eine niedliche, sabbernde Drittklässlerin mit Dauergrinsen im Gesicht und ewig schmutzigen Fingern, mit denen sie sich gerne Bauklötze in den Mund steckte.

Deshalb waren viele Eltern der anderen Kinder erschrocken, als Samantha eine Woche später wieder in die Schule kam. Oder vielleicht sollte ich besser »entsetzt« sagen. So entsetzt, dass einige nicht bereit waren, sich mit der neuen Situation abzufinden.

Als sie in ihre Klasse zurückkehrte, schielte Sam nämlich nicht mehr. Auch steckte sie sich keine Bauklötze mehr in den Mund. Tatsächlich machte Samantha Blex ziemlich schnell deutlich, dass es ab sofort eine neue Klassenbeste gab. Bei ein paar hastig durchgeführten Tests stellte sich heraus, dass ihr Intelligenzquotient höher war als bei neunundneunzig Prozent der restlichen Probanden, die im Stadtgebiet solche Tests absolviert hatten.

In der einen Woche, in der es weg gewesen war, hatte das Mädchen eine Menge erlebt.

In einem Interview sagte Samanthas Klassenlehrer mit zittriger Stimme, er sei sich nicht sicher, ob die kleine Sam nach ihrem Besuch beim Arzt und dem Einsetzen des Neuronalen Autofokus wirklich noch dieselbe sei. Das Zitat ging bestimmt hundertmal über den Äther. Später tat mir leid, was ich da zu den Reportern gesagt hatte. Ich hätte es besser wissen müssen.

So fing alles an. Die süße kleine Sam kam zurück in meine Klasse, und als sie mich ansah, war da ein neuartiges Funkeln in ihren Augen – sie strahlte plötzlich eine ganz andere Art von Energie aus.

Wo kam dieses Funkeln her? Ganz einfach. Ein Stück leitfähiges Metall von der Größe einer Aspirin-Tablette, ein sogenannter Amp, war dem Mädchen in den präfrontalen Hirnlappen eingesetzt worden. Ein metallener Mini-Tintenfisch, durch den in präzise getimten Abständen elektrische Reize pulsierten, welche Sams Hirnwellenfrequenz behutsam in Richtung Zustand Beta eins verschoben. Volle Konzentration, vierundzwanzig Stunden am Tag. Der Eingriff steigerte beziehungsweise amplifizierte die Intelligenz des Kindes und brachte sie auf ein ungeahntes Niveau, ließ dabei allerdings das nicht allzu helle, sanftmütige, zum Sabbern neigende kleine Mädchen, das ich kannte, irgendwo in den Niederungen zurück.

Von außen war nicht mehr zu sehen als eine kleine dunkle Plastikbuchse an der Schläfe, die auch als Leberfleck hätte durchgehen können. Die Wartungsschnittstelle.

Sah genau aus wie meine.

»Ich weiß, was du durchmachst, Sam«, rufe ich jetzt der schlaksigen Teenagerin zu, die vor mir auf dem Dach steht. »Ich weiß, wie es ist, wenn man von allen angestarrt wird und die anderen heimlich über einen tuscheln. Aber wir schaffen das schon, wir beide.«

Wie bei vielen Menschen ist meine Hardware nicht in Ordnung. Ist schon lange so. Epilepsie. Mein Arzt meint, in meinem Kopf herrsche ein ähnliches Durcheinander wie damals nach dem Turmbau zu Babel, und ich glaube ihm. Klar glaube ich ihm. Mein Arzt ist schließlich mein Vater.

Aber hinter der kleinen Buchse an meiner Schläfe verbirgt sich keineswegs ein so abgefahrener Wunderkasten wie der von General Biologics in die Welt gesetzte Neuronale Autofokus. Bei mir sitzt da nur ein einfacher Stimulator, der zur Behandlung von Epilepsie entwickelt wurde und der verhindern soll, dass ich an meiner Zunge ersticke. Bildlich gesprochen natürlich. Mein Dad hat mich schon früh darüber aufgeklärt, dass das mit der Zunge nicht wirklich passieren kann.

Trotzdem ist es nicht so, als könnte ich das Implantat ebenso gut wieder ausschalten. Und das ist die Krux an der Sache. All diese Werkzeuge, die wir so sehr lieben, haben sich in unseren Körpern festgesetzt wie Parasiten. Jetzt stecken sie in unseren Hirnen, unseren Gelenken, unseren Organen. Hocken hinter unseren Augäpfeln und hausen in unseren Nebenhöhlen. Machen uns schlauer, stärker – und immer mehr von ihnen abhängig.

»Sie haben keine Ahnung, was ich durchmache«, erwidert Sam. »Sie sind aus medizinischen Gründen so, nicht freiwillig. Sie haben nicht den Hauch einer Ahnung.«

Irgendwann hat ein Arzt in seinem keimfreien Untersuchungszimmer verkündet, Sam habe ein Problem. Sie hatte Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, das war eigentlich alles. Allerdings gab es eine Lösung für dieses Problem – und ihre Eltern entschieden sich, davon Gebrauch zu machen. Sie hatten ein bisschen Geld, wollten das Beste für ihre Tochter und waren bereit, das Risiko einzugehen. Viele andere Eltern hätten an ihrer Stelle vermutlich das Gleiche getan.

»Du bist nicht freiwillig so, Sam.«

»Wem sagen Sie das«, murmelt sie, den Blick auf den Boden tief unter ihren Füßen gerichtet.

Ich war damals zweiundzwanzig und unterrichtete in meinem ersten Jahr als Lehrer. Länger als ein Jahr habe ich es allerdings mit all den runden Gesichtern und ihren flinken Augen nicht ausgehalten, dann bin ich an die Highschool geflüchtet. Aber in dem Jahr war ich da und konnte zusehen, wie alles seinen Anfang nahm. Jetzt klammere ich mich an den Dachfirst und bewege mich vorsichtig vom Fenster weg – nur um möglicherweise Zeuge zu werden, wie alles endet.

»Lassen Sie das, Mr. Gray«, warnt Samantha mich. Sie klingt leicht genervt, als hätte sie mich dabei erwischt, wie ich etwas Unziemliches tue. »Kommen Sie ja nicht näher.«

Trotzdem krieche ich auf dem Dachfirst weiter vorwärts, einer neunundzwanzigjährigen Schildkröte gleich, die zitternd und ängstlich über einen rutschigen Baumstamm balanciert. Die Innenseite meiner Hose und meine Hemdbrust sind von den glitschigen Schindeln durchnässt, und auch von oben prasselt der Regen auf mich ein. Bitte, bitte, bitte, denke ich. Bitte lass mich nicht abrutschen und mit meinem nassen Hosenlatz, den albernen Bleistiften in meiner Hemdtasche und meinen moosbeschmierten Akademikerhänden vom Dach schlittern. Das verdammte Ding bietet ungefähr genauso viel Halt wie eine Wasserrutsche, aber zurück kann ich nicht, also ignoriere ich Sams genervte Warnung und arbeite mich weiter voran.

Sie gibt ihren Protest auf und wartet einfach, bis ich es zu ihr geschafft habe.

Es war der Pure Human Citizen’s Council – der »Bürgerrat für reine Menschen« –, der die Schulen des Landes dazu brachte, Kinder mit Implantaten vom Unterricht auszuschließen. Die Organisation war der Meinung, die kleine Minderheit modifizierter Kinder nehme der großen Mehrheit nicht-modifizierter Kinder wertvolle Ressourcen weg. Das stimmte, und auch an der Allderdice Highschool schloss man sich dieser Auffassung an, doch Samanthas Eltern wollten nicht klein beigeben und zogen mit ihrer Tochter bis vor den Obersten Gerichtshof. Hier sollte sie als Musterfall für eine Entwicklung dienen, die viele für unausweichlich hielten.

Die Anwälte entschieden sich für Sam, weil sie außer dem Neuronalen Autofokus keinerlei Prothesen oder sonstige technische Lebenshilfen verwendete. Das Gerät in ihrer Schläfe war weder mit einem Netzhautimplantat noch mit einem künstlichen Arm oder Ähnlichem verbunden. Sie war bloß ein ganz normales hübsches kleines Mädchen – von dem einen künstlichen Makel in ihrem Kopf abgesehen, der sich so unübersehbar in den Ergebnissen ihrer Intelligenztests niederschlug.

Schließlich fällt ein Schatten über mein Gesicht. Ich sehe einen knielangen Rock, der klatschend im Wind flattert. Samantha steht mit in die Hüfte gestemmten Händen und resigniertem Gesichtsausdruck vor mir.

Mir geht auf, dass sie nur noch nicht gesprungen ist, weil sie sich Sorgen um meine Sicherheit macht. Erleichtert gebe ich irgendetwas zwischen einem Stöhnen und einem Wimmern von mir. Auch sie hört es und schüttelt daraufhin verächtlich den Kopf.

»Mein Gott, sind Sie ein Feigling«, sagt sie. Wie die Galionsfigur eines Schiffes steht sie über mir und blickt finster auf mich herab. Zu tough, um aus Holz sein, eher aus Metall. Na ja, an gewissen Stellen wenigstens.

»Ich springe«, erklärt sie nüchtern. »Glauben Sie mir, wenn Sie an meiner Stelle wären, dann hätten Sie das schon vor Jahren getan.«

»Nein, Samantha, tu das …«

»Ach, halten Sie den Mund«, stößt sie ungeduldig hervor. »Sie wissen doch einen Dreck. Ich bin schlauer als Sie, vergessen Sie das nicht. Sie konnten mir damals nichts beibringen, warum wollen Sie mir also jetzt noch auf die Nerven gehen? Halten Sie einfach den Mund. Ich springe, und dagegen können Sie nichts tun. Der Aufprall wird dafür sorgen, dass ich sofort tot bin. Der Fall wird ungefähr zwei Sekunden dauern.«

Sofort muss ich wieder daran denken, wie sie damals mit ihrer lilafarbenen Kinderbrille aussah. Wie ein Trugbild legt sich die Erinnerung über das Gesicht der Teenagerin vor mir. Der Unterschied zwischen der alten und der neuen Samantha ist einfach zu groß für mich gewesen. In der Woche, in der sie fort war, muss irgendetwas kaputtgegangen sein. Ein Stück von ihr hat die Verwandlung wohl nicht mitmachen können.

»Der Rasen ist vom Regen ein bisschen aufgeweicht, aber sterben werde ich trotzdem«, fährt Samantha fort. »Aus dieser Höhe ist das eine sichere Sache. Auf dem Weg nach unten wird sich meine Fallgeschwindigkeit auf etwa vierzig Meilen pro Stunde beschleunigen. Ich bin trotzdem froh, dass ich auf Rasen aufkomme. Dann besteht eine echte Chance, dass mir nicht die Eingeweide aus sämtlichen Körperöffnungen spritzen.«

Als Antwort kann ich nur benommen blinzeln. Ihre Worte sind wie eine steinharte Wand, an der mein pädagogischer Idealismus zerplatzt wie eine Seifenblase. Bisher hatte ich das Glück, hauptsächlich brave und gelehrige Kinder unterrichten zu dürfen, trotzdem weiß ich natürlich, dass sie nach Verlassen meines Klassenraums nicht unbedingt so brav bleiben. Dass sie dann so reden wie Samantha jetzt, ist mir jedoch nicht in den Sinn gekommen. Davon ist in meinen Stunden nie etwas zu erkennen gewesen. Da wagte sich diese Art zu reden zwischen Büchern und Tischen nicht hervor, wurde von irgendetwas zurückgehalten. Von der Angst vor dem Nachsitzen wahrscheinlich.

Große Angst vor dem Nachsitzen scheint Samantha allerdings nicht mehr zu haben.

»Und glauben Sie bloß nicht, die Buchse an Ihrer Schläfe mache Sie zu irgendetwas anderem als einem ganz normalen Spasti, Mr. Gray. Entschuldigen Sie, ich meine natürlich, zu jemandem mit autosomal-dominanter Frontalhirnepilepsie. Ja, wir wissen es alle.«

Sie tippt mit dem Finger auf den kleinen Plastik-Leberfleck, den sie an der rechten Schläfe hat, und ein vom nassen Dach zurückgeworfener Sonnenstrahl bringt kurz ihre braunen Augen zum Leuchten.

»Das hingegen, was ich hier habe, Mr. Gray, das ist echt der Knaller. Soll ich Ihnen was sagen? Nachdem man mir das Ding eingesetzt hatte, habe ich mich richtig darauf gefreut, wieder in die Klasse zurückzukommen. Damals hatte ich vieles noch nicht begriffen.«

»Du darfst nicht auf die anderen Kinder hören«, entgegne ich. »Sie sind nur neidisch.«

»Die Kinder?«, fragt sie. »Sie glauben, das ist wie in dieser Kurzgeschichte über den Hausmeister, dessen Intelligenzquotient künstlich erhöht wird? Dass die dumme kleine Samantha aufgewacht ist und kapiert hat, wie gemein die anderen Kinder immer zu ihr waren? Über andere Kinder habe ich mir seit der dritten Klasse keine Gedanken mehr gemacht, Mr. Gray. Mir geht es um den Rest der Welt. Allderdice ist ein Mikrokosmos. Und die Welt da draußen hasst uns. Um den ehrenwerten Richter Anfuso zu zitieren: ›Die Existenz einer Schicht von Bürgern mit künstlich gesteigerten Fähigkeiten gefährdet den Zusammenhalt der Gesellschaft.‹ Hier gibt es keinen Platz für mich. Und woanders auch nicht.«

»Das meinen die Leute heute. Aber was werden sie morgen sagen? Was ist mit der Free Body Liberty Group? Wir wissen doch noch gar nicht, wie das alles ausgehen wird«, flehe ich.

»Die Welt hat sich verändert, Mr. Gray. Die Leute haben im Grunde bloß auf die offizielle Erlaubnis gewartet, uns endlich hassen zu dürfen. Jetzt werden sie es auch tun. Und es gibt viel zu viele von ihnen und zu wenige von uns. Das war alles schon mal da, und es wird genauso enden. Mit Arbeitslagern und Massengräbern.« Sie wirft mir einen mitleidigen Blick zu. »Sie sind längst ein toter Mann. Wie armselig eigentlich, dass Sie es nicht mal wissen.«

Irgendwie finde ich den Mut, mich in die Hocke zu erheben. Erneut strecke ich zitternd die Hand aus, spüre den warmen Regen, der darauf niedergeht.

»Bitte, Samantha«, sage ich.

»Sie hatten recht«, erwidert sie.

»Womit?«, frage ich.

»Mit dem, was Sie diesen Reportern erzählt haben. Sie haben gesagt, Sie hätten mich nicht wiedererkannt, als ich zurückgekommen bin. Es stimmt. Ich bin nicht mehr dieselbe.«

»Tu das nicht. Wir werden uns gegen die anderen zur Wehr setzen. Ich verspreche es dir, Sam.«

»Sam gibt es nicht mehr. Ich bin jemand anders. Jemand, der nie hätte existieren dürfen.«

Laut schreiend richte ich mich auf und vergesse meine Angst. Kurz sehe ich noch Sams tränenüberströmtes Gesicht hinter meinen ausgestreckten Fingern. Dann macht sie mit weit aufgerissenen Augen einen Schritt nach hinten.

Vor acht Jahren hat ein kleines Mädchen namens Samantha Blex eine Woche lang in der Schule gefehlt. Als sie zurückkam, hat sie die Welt verändert. Und heute Morgen hat sie sie verlassen.

BBC News
USA & Kanada

 

Washington: Sprengstoffanschlag auf Pure Human Citizen’s Council

 

Drei Tote und elf Verletzte bei heftiger Explosion in einem Gebäude der US-Hauptstadt

 

Laut CNN gab es noch keine Verhaftungen. Auch habe sich noch keine Gruppierung zu dem Anschlag bekannt.

 

In den Berichten der lokalen Fernsehsender war ein halb eingestürztes zweistöckiges Bürogebäude zu sehen, von dem eine große Rauchwolke aufstieg. Noch während die Feuerwehr die durch die Explosion verursachten Brände bekämpfte, wurde die vor dem Gebäude verlaufende Straße zum Zwecke polizeilicher Untersuchungen abgesperrt.

 

Dem Radiosender NPR zufolge sind auch alle Zufahrtsstraßen zur Innenstadt gesperrt worden, gleichzeitig wird das Gebiet wegen möglicher weiterer Anschläge weiträumig evakuiert. Die Überlebenden des Anschlags, die zum Teil schwere Verletzungen davongetragen haben, werden laut einem Sprecher des Krankenhauses im Washington Hospital Center behandelt.

 

In einem Telefongespräch mit einem Washingtoner Fernsehsender erklärte Eric Vale, stellvertretender Leiter der örtlichen Polizei, bei dem Anschlag seien keine Vorstandsmitglieder des Pure Human Citizen’s Council verletzt worden. Auch Joseph Vaughn, dem Vorsitzenden des PHCC, sei nichts passiert. Wie Mr. Vale sagte, befindet sich die Untersuchung des Attentats in vollem Gange. »Ich möchte die Menschen bitten, auf niemanden mit dem Finger zu zeigen, bevor nicht alle Fakten auf dem Tisch sind. Unsere Experten sind vor Ort und lassen keinen Stein auf dem anderen, um Hinweise auf die Täter zu finden.«

 

Die Namen der Todesopfer wurden bisher noch nicht bekanntgegeben.

2

Keine heulenden Sirenen, kein Blaulicht

Bumm.

Ich sehe nicht, wie Samantha auf den Boden aufschlägt. Aber ich höre das Geräusch, das ihr Körper dabei macht. Der dumpfe Laut hallt in meinem Kopf wie ein Echo, während ich zurück zum Fenster krieche, finstere Blicke von den zu spät gekommenen Polizisten zugeworfen bekomme und im Gang von meinen Schülern mit Fragen überschüttet werde. Ich kann kaum sprechen, klar antworten noch weniger. Direktor Stratton mustert mich kurz und sagt mir dann, ich solle den Rest des Tages freinehmen.

Also laufe ich zügig und ziellos durch die Innenstadt. Mein vager Plan lautet, irgendwann bei der Praxis meines Vaters zu landen. Der Regen hat nachgelassen, und auf den glänzenden Straßen suche ich verzweifelt nach etwas, woran ich mich festhalten kann. Nach irgendeinem Anblick oder Gedanken, der halbwegs Sinn ergibt. Doch ich finde nichts.

Die Stadt Pittsburgh steckt mitten in einer tiefgreifenden politischen Umwälzung. Wie der Rest der Nation auch. Das Urteil des Obersten Gerichtshofs kam für etwa eine halbe Million Menschen wie ein Schlag ins Gesicht. Jeder, der einen Amp im Kopf trägt, ist heute morgen aufgestanden und hat sich gefragt, was die neue Zeit wohl bringen mag, die da gerade angebrochen ist.

Ich glaube, ich weiß ungefähr, worum es bei der Sache geht.

Gesetzlich erlaubte Diskriminierung. Ungefähr hunderttausend Amp-tragende Kids werden nach dem Urteil von ihren Lehrern nach Hause geschickt. Knapp eine halbe Million Amp-tragende Erwachsene fragen sich, ob sie immer noch einen Job haben. Und ein paar hundert Millionen normale Menschen begrüßen die Entscheidung oder feiern sie sogar.

Sirenen heulen auf, und eine Kolonne von dunklen Geländewagen rast mit wackelnden Antennen die mit Schlaglöchern übersäte Straße entlang. Kurz darauf kommt mir ein dicker Mann mittleren Alters entgegen, der barfuß mit seinem künstlichen Bein aus Plastik und Metall an mir vorbeirennt. Erst setzt sein echter Fuß auf dem Bürgersteig auf, dann sein unechter.

Klatsch, klirr. Klatsch, klirr. Klatsch, klirr.

Ich bleibe stehen und sehe dem Mann hinterher, bis er verschwunden ist. Der Schock, den ich bei der Sache heute Morgen abgekriegt habe, scheint allmählich etwas zu verblassen. Dafür spüre ich ein schmerzhaftes Gemisch aus Wut und Trauer, das mir immer wieder sauer in die Kehle steigt.

Irgendwo in der Nähe erschallen die skandierenden Rufe einer Demo.

»Pure Pride!«, rufen die Leute. »Stolz, ein reiner Mensch zu sein!«

Der Pure Human Citizen’s Council feiert das Urteil. Die Organisation hat sich im Laufe der letzten zehn Jahre gebildet – wie eine natürliche Abwehrreaktion auf einen Amp, den der Körper nicht verträgt. Erst war der PHCC nur ein gemeinnütziger Verein mit religiösem Hintergrund. »Der Körper ist ein Heiligtum, pfuscht nicht an der Schöpfung herum« – so in dem Stil. Dann fand der Klub jedoch plötzlich im ganzen Land begeisterte Unterstützer. Familien aus der Mittelschicht, die Angst um die Zukunftschancen ihrer Kinder hatten. Gewerkschaften, die die Arbeitsplätze ihrer Mitglieder bedroht sahen. Und Politiker, die eine publicityträchtige Kampagne witterten, auf die sie aufspringen konnten.

»Pure Pride! Pure Pride!«

Ich folge den Rufen bis zur Cathedral of Learning, dem hochhausartigen Hauptgebäude der Universität von Pittsburgh, die aus dem grünen Campusgelände aufragt wie ein neogotisches Märchenschloss. Vor dem Eingang steht eine hastig errichtete Bühne mit einem massiv wirkenden Podium in der Mitte. Praktisch jedes Gesicht, in das ich sehe, trägt ein aufgekratztes, siegestrunkenes Lächeln. Kaum eine Meile von hier spritzt jemand gerade den Rasen einer Highschool ab, um das darüber verteilte Blut zu entfernen.

Überall, wohin ich schaue, sehe ich blanke Schläfen.

Ich laufe in den Park hinüber, verstecke mich halb hinter einem Baum und sehe ein Mädchen mit kurzem Rock und einer Sonnenbrille auf dem Kopf, deren Bügel extra so geschwungen sind, dass jeder ihre glatten, buchsenlosen Schläfen erkennen kann. Frisuren, Sonnenbrillen, Kopfbedeckungen – alle so designt, dass ein wichtiges Stück Haut garantiert sichtbar bleibt. Zum Beweis, dass man noch ein Mensch ist.

Ich kann mich nicht genau erinnern, wann es mit dieser Mode losging. Vor einem Jahr? Vor zwei? Vielleicht, als die Leute anfingen, Läden von Amp-Trägern zu boykottieren. Oder als der erste Behindertensportler einen olympischen Rekord brach. Es war ein allmählicher Erosionsprozess. Die Anlässe waren nie so bedeutend, dass man sich wirklich darüber aufregen musste. Außerdem geht mich das alles ja eigentlich sowieso nichts an. Schließlich habe ich keinen Amp wie Samantha.

Das neuronale Implantat in meinem Kopf ist bloß dazu da, Anfälle zu verhindern. Das ist alles. Harmloser geht’s nicht. Keine amplifizierte Intelligenz, keine künstlichen Erinnerungen, keine automatischen Körperdiagnosen – nur ein ganz gewöhnliches, aus medizinischen Gründen eingesetztes Implantat. Für sich selbst gesehen natürlich auch ein tolle Erfindung, deren Glanz durch den allgemeinen Gebrauch jedoch recht schnell verblasst ist.

Ich bin ein normaler Typ. Ich war auch ein normales Kind. So normal wie alle anderen. Jedenfalls lautete in all den Jahren so meine Antwort, wenn mir jemand unangenehme Fragen stellte. Eine Litanei, die ich so oft wiederholt habe, dass ich schließlich selbst dran glaubte. Bis heute Morgen.

Jetzt beginnt mir zu dämmern, dass ich mich verhalten habe wie jemand, der mitten in einem Wirbelsturm steht, ohne es wahrhaben zu wollen. Ich habe mir eingeredet, alles sei in Ordnung, selbst als schon Autos und Hausdächer an mir vorbeizufliegen begannen und die ganze Welt vom Wind in Trümmer gelegt zu werden drohte.

Wenn ich mit dem Finger darüberfahre, fühlt sich die kleine Buchse an meiner Schläfe an wie ein zu groß geratener Pickel. Ich trage die Haare so, dass sie die Buchse verdecken, auch wenn ich damit natürlich niemandem etwas vormachen kann. Auch nicht den drei gutgekleideten Typen mit Funkstöpseln im Ohr, die sich durch die Menge bewegen. Niemand trägt seine Haare so, wenn es nicht einen guten Grund dafür gibt. Wenn er nicht etwas zu verbergen hat.

Irgendeine Schwäche. Irgendeine Fehlbildung.

Meinen ersten Anfall hatte ich mit dreizehn. Damals hing ich öfter mit ein paar älteren Leuten von meiner Schule herum. Wir schlichen uns vom Schulgelände, um irgendwo einen Burger zu futtern, und ich fuhr auf der Ladefläche eines echten handgesteuerten Pick-up-Trucks mit. Was Teenager eben so machen. Ich weiß noch, wie ich aufgestanden bin, um den Fahrtwind auf dem Gesicht zu spüren. Wie meine Haare mir gegen die Stirn peitschten. Der alte Klapperkasten hatte ganz schön Speed drauf.

Und dann war da diese Bodenwelle.

Ich habe den Aufprall nicht gespürt. Nur kalte unsichtbare Finger, die mir über den Nacken strichen. Ich sah Bäume vorbeiflitzen. Rollte über den Asphalt und blieb reglos liegen wie eine Marionette, der man die Fäden durchgeschnitten hatte. Es roch nach Gras und verbranntem Gummi, nachdem meine Turnschuhe über den Straßenbelag geschrammt waren. Dann fingen meine Arme und Beine an zu zucken. Aus meiner Kehle kam ein seltsames Stöhnen. Ich kann mich an den verwirrten, ängstlichen und schuldbewussten Ausdruck in den Augen meiner Freunde erinnern, als sie sich über mich beugten.

Auch als ich aus dem Krankenhaus wiederkam, sahen sie mich mit demselben Ausdruck an. Ich trug jetzt einen Amp. Mein eigener Dad, Dr. Gray, hatte mir das Ding eingesetzt. Er hat immer darauf bestanden, dass er alles genau richtig gemacht habe. Ich wurde durch den Eingriff weder schlauer noch konnte ich mich schneller bewegen. Hatte immer noch alle Finger und Zehen. Ließ einfach nur die Anfälle und das Hirntrauma hinter mir.

Ich dachte, ich sei derselbe geblieben wie vor dem Unfall. Dachte, ich könnte so tun, als sei nichts weiter passiert.

Doch die Wartungsbuchse eines Implantats, das aus medizinischen Gründen eingesetzt wird, sieht genauso aus wie bei jemandem, der einen Neuronalen Autofokus im Kopf trägt. Man kann sich einreden, was man will: Die Blicke der Leute sind dieselben. Die Technik ist in deinen Körper eingedrungen und hat dich irgendwie verunreinigt. Außenseiter, sagen die Augen, die in meine Richtung sehen. Du gehörst hier nicht hin.

Als jetzt plötzlich Applaus ertönt, zucke ich zusammen.

»Ich fühle mich außerordentlich geehrt, den ehrenwerten Vorsitzenden und Gründer des Pure Human Citizen’s Council vorstellen zu dürfen, der direkt hier in Pittsburgh seinen Sitz hat … unseren allseits beliebten Senator Joseph Vaughn«, verkündet eine Frau mit näselnder Stimme vom Podium. Die Menge applaudiert begeistert.

Vaughn. Selbsternannter Wächter der menschlichen Rasse. Der von der Bevölkerung Pennsylvanias bereits in seine zweite Amtszeit gewählte Senator und Medienprofi gibt zwar vor, keine Volksverhetzung zu betreiben, bezeichnet den Konflikt zwischen Amp-Trägern und »reinen Menschen« aber trotzdem als Krieg. Ist offiziell gegen Gewalt, aber hält Selbstverteidigung für legitim, wenn die eigene Lebensweise bedroht ist. Behauptet, es nur auf extremistische Amp-Träger abgesehen zu haben, sagt aber gleichzeitig, dass unter Amp-Trägern Extremismus praktisch eine Mainstream-Haltung sei.

Vaughn ist der Mann, der dafür verantwortlich ist, dass Samanthas Fall bis vor den Obersten Gerichtshof gepusht wurde.

Vaughns strahlendes Lächeln lässt die Menge förmlich dahinschmelzen. Überall schüttelt der Politiker Hände und sieht seinem jeweiligen Gegenüber kurz in die Augen. Wohin er auch schaut, wird sein Lächeln von begeisterten Anhängern erwidert. Während ich beobachte, wie er sich durch die Menge bewegt, muss ich unwillkürlich an ein sich ausbreitendes Feuer denken.

Als der Chef des PHCC schließlich mit einem schwungvollen Hopser auf die Bühne springt, ist die Menge schon ganz aus dem Häuschen. Schilder werden in die Höhe gereckt: Pure Pride! Gleiche Chancen für alle! Menschen zuerst!

»Der Oberste Gerichtshof des Landes hat gesprochen … ein Hoch auf den ersten Tag der Zukunft der Vereinigten Staaten!«, ruft Vaughn und hebt dabei zum frenetischen Applaus der Menge kämpferisch die Faust.

Ein Schatten fällt auf mich, und auf einmal habe ich einen roten Schlips vor der Nase. Er ist um den Hals eines großen, freundlich aussehenden Mannes gebunden. Sein Anzug ist blitzsauber und frisch gestärkt, doch wie mir auffällt, hat er ziemlich schmutzige Fingernägel. Zwischen Daumen und Zeigefinger trägt er eine winzige Tätowierung auf der Hand: EM.

Ich runzle die Stirn, und er legt beiläufig die Hände zusammen, um die Tätowierung zu verdecken.

»Wollen Sie nicht lieber weitergehen?«, fragt der Security-Mann und lächelt mich dabei an, als sei er der Vater meines besten Freundes.

Nein, schon gut, denke ich. Ich glaube, ich bleibe lieber hier und sehe mir auch noch den Rest der Veranstaltung an. Seine Feinde sollte man ja möglichst gut kennen.

Also lächle ich zurück, setze mich aber gleichzeitig im Schneidersitz ins Gras. Er zieht genervt die Luft ein und brabbelt etwas in seinen Kragen. Dann setzt er wieder sein breites Lächeln auf, geht um mich herum und stellt sich hinter mich. Ich spüre, wie er mir die Hand auf den Kopf legt. Mit seinen fleischigen Fingern trommelt er mir kurz auf den Kopf.

»Ist in Ordnung«, sagt er. »Sei nur schön brav, kleiner Amp.«

Ich stütze das Kinn in die Hand und höre dem Senator zu.

»Heute hat das Oberste Gericht bestätigt, was wir alle längst wussten: In diesem Land müssen die gleichen Chancen für alle gelten!«, brüllt er. Wieder applaudiert die Menge begeistert.

»Doch auch wenn dieses Urteil zu unseren Gunsten ausgefallen ist«, fährt Vaughn fort, »ist der Kampf noch nicht zu Ende. Erst heute Morgen wurde ein Bombenanschlag auf unser Büro in Washington verübt. Ich weiß, dass wir alle für unsere Brüder und Schwestern beten, die bei dem feigen Attentat ermordet wurden, und wir werden nicht ruhen, bis die Schuldigen bestraft worden sind!«

Die Luft knistert vor Energie. Hier und da stößt jemand einen Ruf des Beifalls aus.

»Und Schuldige gibt es reichlich. In diesem Moment sind Ärzte, die an dieser Universität studiert haben, damit beschäftigt, noch mehr Menschen in Amps zu verwandeln. Vom Staat geförderten Forschern genügt es nicht mehr, Krankheiten zu heilen, sie wollen mehr – und stehlen so normalen Menschen ihre Menschlichkeit. Unseren Soldaten. Unseren Eltern. Unseren Kindern.«

Vaughn machte eine kurze Pause, um seine Worte wirken zu lassen.

»Als das staatliche Uplift-Programm eingeführt wurde, hat man uns versprochen, dank der Implantate könnten benachteiligte Kinder und Jugendliche wie mit einem Zauberstab geheilt werden«, fuhr der Senator dann fort. »Uns wurde versprochen, sie könnten schneller rennen, besser sehen, klarer denken. Der Nachwuchs ganzer Gemeinden wurde von den Ärzten praktisch über Nacht in eine Generation von Amp-Trägern verwandelt.«

Von einer Entwicklung über Nacht zu sprechen war übertrieben. Die Veränderungen hatten ganz langsam um sich gegriffen, wie Schimmel, der sich über ein Stück Brot ausbreitet. Erst wurden nur Behinderungen und ernste gesundheitliche Probleme behandelt, bald ging man allerdings dazu über, mit der neuen Technologie auch gegen andere Formen der Benachteiligung vorzugehen.

Mit Kindern fing es an. Blinde Kinder, verkrüppelte Kinder, Kinder mit extrem niedrigen Intelligenzquotienten. Kinder, die so stark unter ADS litten, dass sie nicht mal lange genug stillsitzen konnten, um sich den Arsch abzuwischen.

Ich kann mich erinnern, wie diese Kinder nach der Schule von einem röchelnden Bus abgeholt wurden, auf dem groß UPLIFT-PROGRAMM stand. Auf den Fenstern war mit Folie die Silhouette eines kleinen Jungen aufgeklebt, der voller Hoffnung die Hand zum Himmel streckte. Für Diagnose und Behandlung reichte ein einziger Nachmittag. Am nächsten Morgen kamen die Kinder mit einer Plastikbuchse an der Schläfe und einem beängstigend stark verbesserten Durchblick in die Schule zurück.

Vom Schicksal benachteiligte Kinder hatten plötzlich ein ganz anderes Leben vor sich. Bis eines Tages eins von ihnen jemanden so hart mit dem Football traf, dass ein paar Rippen zu Bruch gingen. Ein Debattierwettbewerb unter Highschool-Schülern wurde abgeblasen, als die Mitglieder der Jury merkten, dass zwei Drittel der Teilnehmer Amps trugen. Die neue Generation von Kindern, die da entstand, war so schlau, schnell und stark, dass einem normalen Menschen angst und bange werden konnte.

»Aber was, wenn man das alles gar nicht will?«, fragt Vaughn in die Menge. »Was, wenn einem die Risiken zu hoch sind, die Folgen zu schwerwiegend, oder wenn man mit der Erkenntnis einfach zufrieden ist, dass das eigene Kind in Gottes Augen perfekt ist – so, wie es alle Kinder sind? Was glauben Sie, wie lange Sie sich dieser parasitenartigen Technologie entziehen können? Erst bekommt das eine Kind ein Upgrade und wechselt zur Amp-Schule, dann das nächste, dann noch eins. Bald wird Ihr eigenes Kind das einzige normale Kind sein, das übrig ist. Es kommt nicht mehr mit. Und selbst wenn in Ihrer Stadt oder Gemeinde niemand seine Kinder upgradet: Woanders ist man da nicht so zimperlich. Wer nicht an einem hippen Ort wie New York oder Los Angeles lebt, kann zusehen, wie seine gesamte Stadt nicht mehr hinterherkommt. Und wie soll man seine Kinder dann noch schützen?«

Vaughns Stimme bebt vor Emotionen. Er wischt sich sogar ein paar Krokodilstränen aus den Augen. Sehr überzeugend.

»Die Amps werden gemeinsame Sache machen. Sie werden sich zusammenschließen. Und wenn wir sie nicht sofort stoppen, werden sich die Amp-Gemeinden ausbreiten wie ein Krebsgeschwür, welches das Herz dieser großartigen Nation zerfrisst.«

Wieder legt der Senator eine kurze rhetorische Pause ein.

»Wir stehen an einem Abgrund, Freunde. Wenn wir noch einen Schritt vorwärts machen, wird die Welt nie wieder dieselbe sein. Es gibt bereits knapp fünfhunderttausend Menschen in diesem Land, die Amps tragen. Breitet sich das Tragen solcher Implantate weiter aus, wird sich die Entwicklung dieser Technologie noch beschleunigen und uns in kürzester Zeit in eine Zukunft katapultieren, die nicht mehr zu beherrschen ist. Dann wird unsere Gesellschaft – für die unsere Vorväter so hart gekämpft haben – von ihrer Geschichte abgeschnitten und aus dem natürlichen Lauf der menschlichen Zivilisation, der Tausende von Jahre zurückreicht, mit einem Schlag herausgerissen. Und das dürfen wir nicht zulassen.«

Mit nüchterner Miene lässt Vaughn seinen Blick über die Menge schweifen. Dann senkt er ihn auf seine Notizen und wartet, bis der Beifall verebbt ist.

»Was können wir tun? Wie können wir die Zerstörung unserer Nation, unserer Gesellschaft und der Zukunft unserer Kinder verhindern? Nun, ich werde Ihnen sagen, wie. Wir müssen die Amps separieren und regulieren. Und wir müssen die gefährliche Technologie vernichten, die aus Menschen Maschinen macht. Wir stehen hier als die letzte Generation rein menschlicher Bürger. Daher dürfen wir nicht mehr nur an uns selbst denken, sondern müssen als Kollektiv handeln. Statt bloß für uns selbst müssen wir für unsere Nation kämpfen. Und wir müssen gewinnen. Denn wenn wir verlieren, meine Damen und Herren, wird es mit der Welt der Menschen – mit unserer Welt – zu Ende sein.«

Der tosende Applaus scheint zu beweisen, dass Samantha recht mit dem hatte, was sie heute Morgen zu mir gesagt hat. Ab heute ist alles anders. Besonders beängstigend daran ist, dass Sam klüger war als ich. Ihre Augen waren am Schluss weit offen – waren schon lange offen, während ich sie mit aller Kraft geschlossen gehalten habe. Sie hat das hier kommen sehen und sich entschieden, einen Schritt zur Seite zu machen. Zog es vor, dass ihr toter Körper auf eine Bahre verfrachtet und in den Krankenwagen geschoben wurde, der schon mit abgestelltem Motor auf dem Parkplatz wartete.

Keine heulenden Sirenen, kein Blaulicht.

Nach dem frenetischen Schlussapplaus zieht der Demonstrationszug weiter. Singend marschieren die Menschen mit ihren lächelnden Gesichtern und makellosen Schläfen aus dem Park und in Richtung Innenstadt, wo der nächste Halt der Protestkundgebung liegt. Zurück bleiben zertretener Rasen, zerknitterte Flyer und kleine Sternenbanner.

Der Müll von Patrioten.

Ich bleibe im feuchten Gras sitzen und lasse noch eine Viertelstunde die betäubende Stille auf mich wirken. Bald hat auch der letzte Zuschauer den Rasen vor dem Universitätseingang geräumt. Selbst mein freundlicher Leibwächter mit dem seltsamen kleinen Tattoo auf der Hand ist davonspaziert. Jetzt steht da nur noch die Bühne, von der das Podium aufragt wie ein Grabstein.

Neugierig steige ich auf die brusthohe Plattform und stelle mich ans Podium. Während ich den Blick über das im Schatten des Universitätsgebäudes liegende Grün schweifen lasse, versuche ich, das Gefühl der Macht nachzuempfinden, das Vaughn in sich spürte, als er hier gestanden hat.

Doch ich spüre kein Gefühl der Macht, sondern nur eins der Leere.

Es ist nur ein paar Minuten her, da hat mein Feind hiergestanden und Menschen wie mir den Krieg erklärt. Er scheint eine sehr genaue Vorstellung davon zu haben, wie die Welt aussehen sollte. Und jetzt, mit der Unterstützung der Nation im Rücken, werden er und seine Anhänger es wohl kaum bei reinen Worten belassen.

Auf dem Podium liegt noch ein einzelnes Blatt Papier. Wohl die letzte, leere Seite der Rede, die der Senator gehalten hat. Ich lege die Hand darauf, damit der Wind sie nicht fortweht.

Der Briefkopf trägt ein offiziell aussehendes Siegel mit dem Bild eines kleinen Mädchens in der Mitte, das mit seinen blanken Schläfen fröhlich den Betrachter anlächelt. Um das reliefartige Porträt windet sich ein Banner mit den Worten Pure Human Citizen’s Council, und auch unmittelbar unter dem Gesicht des Kindes ist ein Wort eingestanzt. Elysium lese ich und sehe, dass der erste und der letzte Buchstabe des Wortes jeweils größer gedruckt ist, was mir irgendwie vertraut vorkommt.

Natürlich, ich habe gerade erst ein Tattoo gesehen, das aus diesen zwei Buchstaben bestand: EM.

The Pittsburgh Post-Gazette

 

Bundesagenten beschlagnahmen Forschungsausrüstungen

 

*** Eilmeldung ***

 

PITTSBURGH – Die Implantatträger des Landes mussten heute Morgen einen weiteren Rückschlag hinnehmen, als das FBI damit beauftragt wurde, in Pittsburgh wie auch im Rest des Landes die Forschungsausrüstung und wissenschaftlichen Dokumente staatlich finanzierter Labors zu beschlagnahmen.

 

Die Beschlagnahmungen sind Teil einer laufenden Untersuchung zu Ethikfragen, die durch die Ankündigung der Regierung, Bürger mit Implantaten nicht als besonders gegen Diskriminierung geschützte Gruppe einzustufen, neue Dringlichkeit erhalten hat. In der Folge hat der Bundesforschungsausschuss sämtliche staatlich geförderten Forschungsprojekte, die mit neuronalen Implantaten in Zusammenhang stehen, mit einem Moratorium belegt und angekündigt, mit staatlichen Geldern finanziertes Forschungsgerät einzuziehen.

 

Das FBI geht davon aus, dass die erste Reihe von Beschlagnahmungen reibungslos verlaufen wird. Bereits seit vergangenem Juli erhalten nur noch solche Forschungsprojekte staatliche Förderung, die der Heilung ernsthafter neurologischer Erkrankungen wie refraktärer Epilepsie oder Parkinson dienen.

 

»Normalerweise planen wir die Dinge lieber etwas genauer, aber unsere Anweisung lautet, umgehend zur Tat zu schreiten«, sagte Tanner Blanton, Leiter des im Pittsburgher Viertel South Side gelegenen FBI-Büros. »Eine strafrechtliche Ermittlung wurde bisher nicht eingeleitet, doch eine genaue Untersuchung des beschlagnahmten Materials wird zeigen, ob die öffentlichen Mittel in Übereinstimmung mit den vorgegebenen Richtlinien verwendet wurden oder nicht.«

3

Ein kleines Extra

Auf irgendeiner Ebene meines Bewusstseins hatte ich den weißen Lieferwagen bestimmt bemerkt, der vor der Praxis meines Vaters stand. Aber was er zu bedeuten hatte, geht mir erst ungefähr eine halbe Stunde später auf – unmittelbar nach der Explosion.

Ich stehe vor der Praxis meines Vaters in der Sonne. Die Praxis ist ein Ableger der zwei Blocks entfernt liegenden Medizinischen Fakultät der Universität von Pittsburgh, wo der Neuronale Autofokus erfunden wurde. Vaughns Rede ist vorbei, aber ich kann immer noch die begeisterten Rufe seiner Anhänger hören, die sich nicht weit von hier vor dem Eingang des Fakultätsgebäudes versammelt haben.

Mein Vater öffnet die Tür. Ich setze an, um ihm von den Geschehnissen des Morgens zu erzählen, komme aber nicht dazu. Sofort packt er mich, nimmt mich in die Arme und drückt mich fest an sich.

»Ich habe es in den Nachrichten gesehen, Owen. Tut mir leid«, sagt er.

Dann sieht er sich auf seltsame Weise auf der Straße um. Schließlich zieht er mich ins Wartezimmer und schließt die Tür ab. Ich blicke ihn verwirrt an, woraufhin er etwas sagt, das mir den kalten Schweiß auf die Stirn treibt: »Die Polizei sucht nach dir. Du sollst nur ein paar Fragen beantworten. Aber es gibt gewisse Dinge, die du wissen musst.«

Wir laufen an den vertrauten Fotos vorbei, auf denen die glücklichen Patienten meines Vaters abgebildet sind: ein Kleinkind, das seiner Mutter eine aus Kohlefaser gefertigte Armprothese um den Hals legt, Zehn- und Zwölfjährige mit Wartungsbuchsen in bunten Farben, die sie sich aus dem dicken Ordner ausgesucht haben, den mein Vater extra dafür bereithält, und ein älterer Mann in khakifarbenen Shorts, der in stolzer Haltung auf dem skelettartigen Grundgerüst aus Metall steht, das seinen rechten Fuß und Unterschenkel ersetzt.

Körper und Geist lassen sich nicht trennen. In den letzten zehn Jahren konnte man bei jedem Upgrade immer auch einen Neuronalen Autofokus dazuwählen – egal, ob man nun eine einfache Prothese, ein medizinisch indiziertes Exoskelett oder ein Netzhautimplantat erhalten sollte. Das Gerät verbessert die Kommunikation zwischen Geist und Körper. Möbelt einen ein bisschen auf, heißt es. Jedes Gesicht an der Wand hat dieses unterschwellige Funkeln in den Augen, das auf eine gesteigerte Intelligenz hinweist. Übertaktete Hirne und glänzende neue Glieder.

Mein Dad führt mich durch das leere Wartezimmer und über einen nach Desinfektionsmittel riechenden Gang zu den Hinterräumen.

Fast überall ist das Licht aus. An einem Fenster ist die Scheibe kaputt. Auf dem Boden liegen Papiere verstreut, auf denen schmutzige Stiefelabdrücke prangen.

»Hier gab es heute Morgen eine Razzia«, erklärt mein Vater. »Die Behörden haben alles beschlagnahmt.«

»Wegen der Gerichtsentscheidung?«

Er nickt. »Ein Forschungsmoratorium. Vaughn macht mit seinen Kundgebungen alle verrückt.«

Mein Vater legt den Kopf schief und horcht in die gespenstische Stille hinein, die auf dem Gang herrscht. Dann öffnet er die Tür zu seinem kleinen Büro. Eine billige Jalousie klappert, als die Tür aufschwingt. Mein Vater zwängt sich in seinen quietschenden Bürostuhl. Wo sein Computer stand, zeichnet sich nur noch ein blankes Rechteck auf dem Schreibtisch ab. Auch die Aktenordner, die in den Regalen standen, sind nicht mehr da.

Ich setze mich ihm gegenüber.

Als Kind habe ich immer mit meinen Spielzeugautos unter diesem Schreibtisch gespielt. Nach dem Tod meiner Mutter habe ich hier unzählige Stunden verbracht, sobald die Schule aus war. Im Schein dieser Leuchtstoffröhren bin ich aufgewachsen, doch jetzt wirkt das Büro verwüstet und fremd.

»Was passiert hier?«, frage ich.

Mein Vater schüttelt nur den Kopf. »Ich muss dir so viel erzählen und habe viel zu lange gewartet. Es tut mir leid.«

»Es tut dir leid?«

Er räuspert sich, wendet den Blick ab und blinzelt unsicher. Mir fällt auf, wie viel älter er plötzlich aussieht.

»Was tut dir leid?«, will ich wissen.

»Du musst verstehen, wie enthusiastisch wir waren, als wir damals mit dieser Forschung angefangen haben, Owen. So viel Gutes schien sich damit tun zu lassen. Plötzlich konnten wir Krankheiten heilen, Menschen ein besseres Leben ermöglichen. Aber als du dann diesen Unfall hattest …« Er holt tief Luft. »Es tut mir leid, dass ich es dir nie gesagt habe.«

»Was hast du mir nie gesagt?«, frage ich mit hohler Stimme.

Dunkel ahne ich die Antwort bereits. Wieder erinnere ich mich daran, wie ich in diesen Räumen gespielt, meine Hausaufgaben erledigt und manchmal sogar hier geschlafen habe, wenn mein Vater länger arbeitete. Und ab und zu, sobald die Schwestern Feierabend gemacht hatten und die Vordertür verschlossen war, rief mein Vater mich in den Operationssaal, um sich mein Implantat anzusehen. Er wolle sichergehen, dass ich keine Anfälle mehr haben würde, sagte er. Während ich das Anatomie-Poster an der Wand anstarrte, legte er Mundschutz und Augenlupe an. Als er das letzte Mal an meinem Implantat herumgebastelt hatte, ging ich noch zur Highschool und war ungefähr so alt wie Samantha. So alt, wie sie ab jetzt immer sein wird.

Stirnlappen. Schläfenlappen. Motorcortex. Sensorischer Cortex.

»Du bist ein Amp«, sagt er.

Mein Vater beobachtet, wie ich die Worte aufnehme, und fleht mit den Augen um Vergebung. Aber diese neue Wahrheit schockiert mich viel zu sehr, als dass ich sie einfach so schlucken könnte. Ich habe das Gefühl, der Boden wankt unter meinem Stuhl.

»Ich bin kein medizinischer Fall?«, frage ich.

Die Lippen meines Vaters zucken unkontrolliert, und mir wird klar, dass er den Tränen nahe ist. »Du warst so schwer verletzt, Owen«, erwidert er leise. »Mein lieber Junge. Bei dem Sturz von dem Truck wurdest du viel schwerer verletzt, als du ahnst. Schwerer, als ich je habe durchscheinen lassen.«

»Aber du hast gesagt, du hättest mir einen simplen Hirnstimulator eingesetzt. Dass ich nicht wie die Kinder bin, die sich so einer Operation freiwillig unterziehen. Dass ich kein Amp bin.« Ich murmle die Worte wie ein Beschwörung. Wie ein Gebet. »Du hast mir gesagt, ich sei normal.«

»Um die Verletzung zu heilen, habe ich schlichtweg jedes Mittel benutzt, das mir zur Verfügung stand, bitte versteh das. Du musstest nichts davon wissen. So ein Stigma ist schrecklich für Kinder. Du hast die Leute doch gehört, die da draußen demonstrieren. Ich wollte, dass du normal aufwächst.«

»Also hast du mich angelogen.«

»Erst wenn du mal eigene Kinder hast, wirst du begreifen können, wie sehr ich dich liebe«, entgegnet er tonlos.

»Bin ich überhaupt Epileptiker?«

»Ja, das bist du. Aber die Hardware, die ich dir eingesetzt habe, ist etwas Besonderes. Sie tut viel mehr, als bloß Anfälle zu verhindern. Die Verletzungen an deinem Gehirn waren … enorm. Das musste das Implantat während des Heilungsprozesses ausgleichen. Es ist ein Teil von dir geworden, Owen.«

Da ist noch etwas anderes. Etwas noch Schlimmeres. Das erkenne ich an dem schuldbewussten Zucken, das durch die Schultern meines Vaters fährt. »Aber ein Neuronaler Autofokus ist dazu gar nicht in der Lage«, werfe ich ein.

Er sieht mir in die Augen und antwortet, ohne zu zögern. »Ich habe dir ein kleines Extra eingebaut.«

Ich presse meine Handballen so fest gegen meine Augen, dass ich bunte Flecken sehe. Mein ganzes Leben lang bin ich mit einem Kopf voller Lügen herumgelaufen. Dieses Ding, das mir mein Vater ins Hirn gepflanzt hat, hält nicht nur meine Epilepsie in Schach. Es beschleunigt auch mein Denken, schärft meinen Intellekt, schmuggelt sich in jeden Gedanken, den ich habe.

In jeden Gedanken, den ich jemals hatte.

Für einen kurzen Moment beneide ich Samantha Blex. Wenigstens hat sie sich immer so gesehen, wie sie war. Hat mein Vater mit dem Implantat, das er mir in meinen jungen Schädel gesetzt hat, den Menschen, der ich in Wahrheit bin oder hätte sein können, nicht ausgelöscht?

»Alles ist so schnell außer Kontrolle geraten«, fährt mein Vater fort. »Wie aus dem Nichts ist plötzlich Joe Vaughn mit seinem komischen Bürgerrat aufgetaucht. Man darf nie unterschätzen, wie viel Angst die Menschen vor dem Neuen haben.«

»Ich muss nachdenken«, sage ich.

»Du hast keine Zeit zum Nachdenken«, erwidert er. »Die Behörden haben jetzt meine Unterlagen. Gewisse Dinge ließen sich nicht verschleiern. Die Anforderung von Bauteilen, die Benutzung des Labors. Sobald sie herausfinden, was ich getan habe, werden sie mich festnehmen. Und danach werden sie zu dir kommen. Wegen dem, was du da in deinem Kopf hast. Wahrscheinlich sind sie schon auf dem Weg.«

Ich berühre die Buchse an meiner Schläfe und stupse wie zwanghaft mit meiner Fingerspitze dagegen. »Was hast du mit mir gemacht?«

»Die Hardware, die ich dir eingesetzt habe, war gestohlen«, erklärt er. »Zu jener Zeit blieb mir keine andere Wahl. Keins der üblichen Geräte wäre stark genug gewesen, um den Schaden auszugleichen.«

»Das ist doch Wahnsinn …«

»Du musst sofort gehen. Zum Seiteneingang hinaus. Die Polizei sucht wegen des Todes deiner Schülerin nach dir. Lass dich auf keinen Fall auf ein Gespräch mit den Beamten ein. Versuch, dein Bankkonto aufzulösen.«