Das Kameradenschwein - Jürgen Alberts - E-Book

Das Kameradenschwein E-Book

Jürgen Alberts

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Beschreibung

Lindow las die Aufschrift auf dem Sockel des Reiterstandbildes: »Heute beginnt der Rest des Lebens.« Die grüne Farbe war noch frisch. Wir sind doch nichts weiter als Hilfssheriffs, dachte er. Wenn die Staatsanwaltschaft übernimmt, hat die das Sagen. Bei einer Weihnachtsfeier hatte Lindow sich diesen Gedanken mal erlaubt. »Ich trinke auf alle Hilfssheriffs des ersten Kommissariats! Immer wenn’s ernst wird, müssen wir den Fall abgeben. Prost, Kollegen, lasst euch dadurch nicht stören.« Die beliebte Bremen-Krimi-Reihe von Jürgen Alberts erschien in den 1980er- und 1990er-Jahren im Heyne-Verlag und wird nun komplett überarbeitet neu herausgegeben.

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KAMERADEN

SCHWEIN

Ein Bremer Kriminalroman

Jürgen Alberts

Dieses Buch ist bei der Deutschen Nationalbibliothek registriert. Die bibliografischen Daten können online angesehen werden: http://dnb.d-nb.de

JÜRGEN ALBERTS, geboren 1946 in Kirchen/Sieg. Studium in Tübingen und Bremen, promovierte mit einer Arbeit über die BILD-Zeitung. Seit 1969 veröffentlicht er Prosa und war als freier Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen tätig. 1971 erhielt er das Stipendium der Villa Massimo. Er verfasste eine zehnbändigen Romanserie, die in seiner Heimatstadt Bremen spielt und im Heyne-Verlag erschien. Sie wird nun im KellnerVerlag neu aufgelegt.

Außerdem verfasste Jürgen Alberts historische Romane, darunter Landru, die Geschichte eines französischen Massenmörders aus den 20er-Jahren, wofür er 1988 den SYNDIKATSPREIS für den besten deutschsprachigen Krimi erhielt.

1

Schon zum dritten Mal ging Wolfgang Lindow an seiner Dienststelle vorbei. Er drehte Runden, eine, noch eine und wieder eine.

Ein warmer Januartag und alles war durcheinander, sein Kreislauf und seine Welt. Das Thermometer an der Apotheke zeigte 11 Grad, trotzdem war es nicht Frühling, sondern nur der Übergang von trockenem zu feuchtem Schmuddelwetter. Lindow hasste diese unentschiedenen Tage und dieses graue Einerlei, die Sonne war nicht mal für wenige Stunden zu sehen.

Die Beweise gegen den Bauarbeiter waren so dünn wie Seidenpapier. Und er hatte sie geliefert. »Denkt ein Unschuldiger überhaupt über seinen Aufenthalt zum Zeitpunkt eines Mordes nach?« fragte der Verteidiger. Ein Satz, der in Lindows Kopf kreiste.

Den Wall hinunter, Bischofsnadel zum Domshof. Der Bankenplatz, ein großer Platz umstellt von Banken, nur der Dom am oberen Ende, der ihm seinen Namen gab, machte eine Ausnahme. Aber wer wusste schon, ob es nicht ein Tempel der Händler war? Dann wandte er sich nach links, Violenstraße. Vorbei am Pfandhaus.

Ich habe die Beweise geliefert, aus denen der Staatsanwalt jetzt eine Täterschaft konstruiert. Die Beweise waren ein paar Widersprüche in den Aussagen des Bauarbeiters, ein paar widersprüchliche Zeugenaussagen und eine Konstruktion aus unbewiesenen Behauptungen. Aber der Bauarbeiter konnte sich nicht verteidigen. Er war stumm, blass, eingeschüchtert gewesen.

Wolfgang Lindow machte sein Übergewicht zu schaffen. Die kleinen Schweißperlen auf der Oberlippe wischte er mit dem Handrücken weg. Er zog den festen Mantel aus, den er am Morgen, nach einem Blick aus dem Fenster, für die richtige Bekleidung gehalten hatte. Sein gelichtetes Haar, kurz geschoren, nach Vorschrift, bedurfte bei dem leichten Wind einer ordnenden Hand. Er merkte, wie schwer der Wollmantel war.

Dann stand er wieder vor dem Gerichtsgebäude. Die steinernen Justiz-Skulpturen an der Außenfassade waren noch geschwärzt, obwohl der Krieg seit dreißig Jahren vorüber war. Die Frau mit den verbundenen Augen, ihre Waage niemals im Gleichgewicht.

Ich habe mich geirrt.

Lindow war sich jetzt ganz sicher.

Ich hätte keine Beweise gegen den Bauarbeiter liefern sollen, sondern solche, die ihn entlasten. Aber dafür war es jetzt zu spät. Einmal hatte der Bauarbeiter angefangen, leise zu schluchzen. Keiner der Herren in schwarzer Robe registrierte es, sie schauten weg, wenn sich einer gehen ließ. Emotionen störte die starren Regeln der Prozessordnung, dagegen hatte man noch keinen Paragraphen erfunden. Erst spät begriff der Bauarbeiter, dass es tatsächlich ernst wurde. Zu spät.

Lindow setzte sich wieder in Bewegung. Am liebsten hätte er seinen Wollmantel an das Gebäude gehängt. Ein Zeichen. Am liebsten wäre er zum Vorsitzenden Richter gegangen und hätte ihm noch mal den Fall aus seiner Perspektive erläutert. Aber damit überschritt er seine Kompetenzen. Kriminaldirektor Matthies, der mit seinen fünfundfünfzig Jahren nur vier Jahre älter als Lindow war, hatte ihn bereits mehrfach dazu ermahnt, sich nicht weiter um diesen Mordfall zu kümmern. Sie waren miteinander befreundet, hatten gemeinsam kriminalpolizeiliche Lehrgänge besucht, aber Matthies war die Treppe höher hinaufgefallen und spielte gerne den Vorgesetzten. Dennoch ließ Lindow sich nicht abhalten, wenigstens alle Prozesstage zu beobachten. Es waren ohnehin nicht sehr viele.

Die Tatsache, dass der Angeklagte vielleicht ein Homosexueller war, der niemals Frauen vergewaltigen würde, war eine Tatsache, die einer der beiden Gutachter als gegeben annahm, wurde aber vom Staatsanwalt mit der Bemerkung abgetan: »Sexuell verirrte Menschen sind im Moment des Affektes in der Lage, die Grenzen ihres sexuellen Handelns zu überspringen.« Die Plädoyers waren gesprochen. Und Wolfgang Lindow hatte einen Kloß im Hals, der immer größer wurde.

Diesmal wechselte er an den Wallanlagen die Richtung, er wollte durch den Park zurückgehen, auch wenn er keine Lust verspürte, sich an seinen Schreibtisch zu setzen. Der Fall Merthen, der seit einem Monat ungelöst vor sich hin dümpelte, interessierte ihn nicht mehr. Die Spurenakte war so dünn, dass man damit gerade einmal Fliegen jagen konnte.

Am Reiterstandbild, seit Jahren mit Graffitis übersät, musste sich Lindow entscheiden. Entweder machte er einen großen Bogen durch die Contrescarpe, am Theater vorbei, oder er stieg den Wall wieder hoch und stünde erneut vor dem Polizeipräsidium. Heute beginnt der Rest des Lebens, die grüne Farbe auf dem Sockel war noch frisch. Der Reiter, der sein Pferd führte, ließ sich von dieser Aufforderung wenig beeindrucken.

Wir sind doch nichts anderes als Hilfssheriffs. Wenn die Staatsanwaltschaft übernimmt, haben die das Sagen. Bei einer Weihnachtsfeier hatte Lindow sich diesen Gedanken mal erlaubt, er war den Kollegen sauer aufgestoßen. »Ich trinke auf alle Hilfssheriffs des ersten Kommissariats. Immer wenn’s ernst wird, müssen wir den Fall abgeben. Prost Kollegen, lasst euch dadurch nicht stören.«

Lindow war ein Einzelkämpfer in diesem Kommissariat, ein Mann, dem Matthies die Fälle übertrug, mit denen er auf Pressekonferenzen zu glänzen gedachte: Fälle, die nicht innerhalb einer Woche gelöst wurden, keine leichten Kreuzworträtsel. Aber es waren auch die Fälle, an denen sich einer die Zähne ausbeißen konnte oder zumindest solange darauf herumkauen musste, bis sie die Staatsanwaltschaft verdauen würde. Dabei hielt Matthies große Stücke auf seinen Kriminalhauptkommissar.

Doch dass er ihn bei seinen Reden unterbrach, die er gelegentlich im Kollegenkreis hielt, dass er selbständig dachte, redete, ohne gefragt zu werden, dass er sich nicht abbringen ließ von seiner Meinung, auch wenn sie wieder mal völlig quer lag, das störte Matthies gewaltig. Obwohl im Mordkommissariat mindestens zwei Leute einen Fall zu behandeln hatten, im Einzelfall waren es oft zehnmal so viele, mit Lindow wollte niemand arbeiten. Es ging einfach nicht. Wie oft hatte Matthies Klagen gehört, Versetzungswünsche, »bitte nicht mit dem Lindow«, sie waren alle gleich. Mit Lindow zu arbeiten, das war etwa so, als müsse man nachsitzen oder Strafarbeiten machen. Natürlich kam es vor, dass Lindow in einer schwierigen Sache hinzugezogen wurde, aber dann musste man ihn schnell mit einer Spezialaufgabe betrauen, sonst konnte es sein, dass es in kürzester Zeit Krach gab.

Als er die schwere, geschnitzte Holztür des Polizeipräsidiums aufdrückte, kam ihm Ritter, der Kollege vom Raubdezernat, mit dem er jeden Donnerstag Skat spielte, entgegen. »Tag, Lindow, e bissi spät zum Dienscht, gell.«

»Allzeit bereit, Raubritter.«

Lindow sah auf seine Uhr und stellte nicht ohne Befriedigung fest, dass bereits in einer halben Stunde Feierabend war.

Im zweiten Stock ging er hocherhobenen Hauptes an der offenen Tür von Matthies vorbei. Sein Chef sah aus dem Fenster und rauchte. Schade, dass er keine Stempeluhr für seine Untergebenen einführen durfte. Matthies wäre dann sicher glücklicher.

Sein Büro stank. Montags war es die frische Bohnerwachspolitur, die ihm die Putzfrauen antaten, dienstags war der Geruch trotz ständigen Lüftens noch nicht vergangen, mittwochs bis freitags rochen die Akten. Lindows Frau hatte früher die Angewohnheit gehabt, ihm einen Blumenstrauß ins Büro zu bringen. Damit war wenigstens für kurze Zeit die schlechte Büroluft überdeckt gewesen. Aber seit es in ihrer Beziehung kriselte, war es aus mit den Blumen. Es war Montag. Und das Bohnerwachs tat seine Pflicht.

Kaum hatte er sich an seinen Schreibtisch gesetzt, wurde die Tür aufgestoßen, und zwei Uniformierte schoben einen hageren Mann hinein.

»Was soll das?!« schrie Lindow, »das ist hier keine Asylanlaufstelle. Bringt den Mann raus.«

»Moment, Moment«, erwiderte der ältere der Beamten. »Das ist eine Vorführung. Sie wollten doch Herrn Kandel vernehmen.« Er machte Meldung. Wie beim Militär.

»Ach so.« Lindow erinnerte sich. Es war der Vertreter, der zur Tatzeit im Wohnblock der Frau Merthen gesehen worden war.

»Was hat er?« fragte er den älteren Beamten.

»Ihm ist nicht gut«, der Polizist blieb wortkarg.

»Setzen Sie ihn mal ab.«

Lindow half, Franz Kandel auf einen Plastikstuhl zu hieven.

»Krank?«

Der hagere Mann schwieg.

»Was ist los, Kollege … wie heißen Sie überhaupt?« Lindow wurde böse. »So kurz vor Feierabend. Können Sie ihn nicht morgen vorführen?«

»Wir gehen«, sagte der ältere Beamte nur und schob den jungen Polizisten vor sich her.

»Das ist doch die Höhe. Ich habe Sie gefragt, wie Sie heißen.« Mit einer Hand hielt Lindow den hageren Kandel auf seinem Stuhl, die andere griff an die Uniformjacke.

Durch einen kräftigen Schlag wurde dieser Griff gelöst. »Wir haben einen Mann zur Vorführung gebracht. Auftrag erledigt.«

Lindow verlor beinahe das Gleichgewicht.

Nacheinander verließen die Streifenbeamten das Büro.

»Können Sie nicht reden, Herr Kandel?« Lindow schüttelte ihn vorsichtig.

An seinem verzerrten Gesicht stellte er fest, dass Kandel starke Schmerzen haben musste. Vielleicht war er deswegen nicht früher erschienen. Mehrfach war Lindow in der Absteige gewesen, die sich als »Pension« ausgab. Kandel hatte dort ein Zimmer gemietet. Dreimal hatte er dem schmuddeligen Besitzer seine Karte gegeben und gebeten, dass Kandel ihn anrufen solle. Er werde als Zeuge dringend gebraucht. Aber er war nicht erschienen. Vielleicht war er krank gewesen.

»Herr Kandel, sagen Sie bitte, was mit Ihnen ist, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.«

Von dem hageren Mann war nur ein Stöhnen zu vernehmen.

»Brauchen Sie einen Arzt?«

Kandel schüttelte den Kopf.

Auch die schriftliche Vorladung hatte Kandel nicht beachtet. »Was ist mit Ihnen?«

Er war doch nicht zu krank, um den Mund aufzumachen. Vielleicht war er verstockt. Ein Vertreter, der nicht reden kann, ein seltenes Exemplar seiner Zunft. Der Hinweis auf ihn lag mindestens drei Wochen zurück. Ja, dieser Mann hatte Klinken geputzt, im ganzen Viertel, auch im Wohnblock der Frau Merthen.

Lindow traute sich nicht, den Mann loszulassen. Der würde glatt vom Stuhl fallen. Die graublauen Augen waren getrübt. Das Kinn schief.

»Soll ich Sie einsperren lassen, bis Sie reden?« Langsam war seine Geduld zu Ende. Auf jeden Fall ein guter Schauspieler, dachte Lindow.

Er rückte den Stuhl mitsamt der halben Portion durch das Büro und lehnte ihn an einen Aktenschrank. Unsanft drückte er Kandel gegen das Holz.

»Au«, zischte der Mann.

»Herr Kandel, wo waren Sie am 14. Dezember, zwischen achtzehn und vierundzwanzig Uhr?«

Keine Reaktion.

»Haben Sie meine Frage verstanden?«

Der hagere Mann nickte. Langsam.

»Können Sie nicht sprechen? Wie heißen Sie?«

Die Fragen wurden sinnlos. Hat keinen Zweck, aus dem krieg ich nichts raus. Er griff zum Telefon, um den Polizeiarzt zu rufen. Sollte der doch feststellen, was mit seinem Zeugen los war. Er hatte die Nummer noch nicht zu Ende gewählt, als Kandel sagte: »Die haben mich geschlagen, Herr Kommissar.«

Lindow hielt inne.

»Was ist?«

»Geschlagen.«

»Wer?«

»Die beiden.«

Lindow legte den Hörer auf die Gabel. »Welche beiden? Sie sprechen in Rätseln.«

Kandel blieb stumm. Er rutschte vom Stuhl.

Mit einem Sprung war Lindow bei ihm, aber er konnte nicht verhindern, dass der hagere Mann auf dem Boden aufschlug. Er schrie vor Schmerz.

Behutsam hob Lindow ihn wieder auf den Sitz.

Das passte zum Mordfall Merthen. Ein Zeuge, der nichts sagte. Außer der toten Frau war kein Beweis für einen Mord vorhanden. Natürlich keine Fingerabdrücke. Wenn ein Mörder Fingerabdrücke am Tatort hinterließ, dann musste man ihn allein schon wegen Dummheit einsperren. Eine Spurenakte dünner als Seidenpapier. Und jetzt dieser Schweigende. Ein so guter Schauspieler kann er nicht sein, dass er die Schmerzen nur simuliert. Die sind echt.

»Können Sie sich aufrecht halten, Herr Kandel?«

Lindow versuchte, das Gespräch wieder in Gang zu setzen.

»Ja.« Sein schiefes Kinn bewegte sich.

»Wer hat Sie geschlagen?«

»Die beiden Bullen.«

»Reden Sie keinen Quatsch, Mann«, entfuhr es Lindow, »das ist doch bloß vorgetäuscht.«

Während er das sagte, fiel ihm der Bauarbeiter ein. Sie hatten beinah die gleiche Statur, beide waren ziemlich hager. Der Bauarbeiter trug einen Schnurrbart, während Kandels Gesicht glattrasiert war. Das schiefe Kinn.

»Ich sage Ihnen, die beiden Bullen haben mich verprügelt!« Franz Kandel lehnte zusammengesunken an seinem Aktenschrank, der hellgraue Anzug, unpassend für diese Jahreszeit, war an zwei Stellen aufgerissen.

»Warum?«

Lindow nahm wieder seinen Platz hinter dem Schreibtisch ein.

Kandel zuckte mit den Schultern. Seine Miene war angespannt. »Wie ist es passiert?«

Keine Reaktion.

Lindow konnte sich zwar vorstellen, dass Streifenbeamte ab und zu auch ihre Befugnisse überschritten, das wäre nicht das erste Mal, aber dass sie einen Zeugen krankenhausreif schlugen, das glaubte er nicht.

Wenn er auch nicht simulierte, so übertrieb er doch ganz gewaltig, dieser Herr Kandel.

Der Kriminalhauptkommissar ging mit raschen Schritten aus seinem Büro, um den Polizeiarzt zu holen. Mit einem Blick stellte er fest, dass Matthies bereits nach Hause gegangen war. Ihm fiel ein, dass an diesem Abend der Betriebsausflug der Mordkommission stattfand. Da durfte er nicht fehlen. Aber wie wurde er diesen Mann wieder los?

Auch der Polizeiarzt war nicht in seiner Dienststelle. Die Sekretärin wusste, dass er schon seine Stammkneipe aufgesucht hatte und gab Lindow die Nummer. Er versprach, gleich zu kommen.

Lindow kehrte in sein Büro zurück. Hatte Kandel sich überhaupt bewegt?

»Jetzt reden Sie mal keinen Stuss, Herr Kandel. Bis der Polizeiarzt kommt, will ich genau von Ihnen wissen, was vorgefallen ist. Vergessen wir erstmal die Aussage zum Mordfall Merthen ...« Kandel schreckte hoch. Als wäre er kurz weggedämmert und nun wieder wach.

»Ich bin verprügelt worden. Glauben Sie’s mir. Die beiden Bullen haben zugeschlagen.«

»Wann?«

»Vorhin.«

»Wo ist das passiert?«

»Vor der Pension.«

»Haben Sie Zeugen dafür?«

Kandel versuchte ein Lächeln, aber sein Gesicht spielte nicht mit.

»Sie können Fragen stellen, Herr Kommissar.«

Wenigstens redete der Mann.

Eine halbe Stunde später war der Polizeiarzt da. Mürrisch, weil er schon Feierabend hatte. »Und ich, was glaubst du denn, was ich mache, bezahlte Überstunden?«

Lindow fürchtete um seine Geduld.

Bei jeder Berührung des Arztes hatte Kandel aufgestöhnt.

»Der ist ganz schön alle«, sagte der Polizeiarzt, »wird in den nächsten Tagen mit blauen Flecken zu kämpfen haben.«

Lindow nahm ihn zur Seite. »Er behauptet, das sind Kollegen gewesen.« Er flüsterte, aber bemerkte im gleichen Moment, dass Kandel ihn gehört hatte.

»Den flick ich dir schon wieder zusammen, Wolfgang. Behalt ihn zwei Tage hier. Das wird schon wieder.«

Lindow sah Kandel an.

Der Polizeiarzt wollte gehen.

»Nein, ich denke, wir lassen ihn in ein Krankenhaus schaffen«, sagte Lindow mit lauter Stimme, »damit nachher keine Klagen kommen.«

Der Polizeiarzt zeigte ihm den Vogel. Aber Lindow bestand darauf.

Mit Kandel konnte er in der nächsten Zeit nicht rechnen. Er bestellte zwei Kollegen aus der Bereitschaft und eine Trage. So konnte er in Ruhe zum Betriebsausflug gehen, anstatt hier, unter sehr erschwerten Bedingungen, eine Zeugeneinvernahme durchzuführen.

Bevor er das Präsidium verließ, erfragte er die Namen der Streifenwagenbesatzung. Die wollte er sich zur Brust nehmen.

2

Helga Lindow kannte ihren Mann. Immer wenn er mit diesem Gesicht in der Haustür erschien, wusste sie, dass er nicht angesprochen werden wollte. Seitdem die beiden Kinder sich selbständig versorgten, arbeitete sie wieder bei der Post, Schichtdienst bei der Auskunft. So kam es vor, dass sie sich tagelang nur für Stunden in der Wohnung begegneten, dafür an anderen Tagen ständig auf der Pelle hockten. Wenn Wolfgang Lindow müde aus dem Dienst kam und ihn irgendetwas plagte, saß er manchmal stundenlang im dunklen Wohnzimmer, ohne ein Wort zu sagen. Helga hatte ein paar Mal versucht, ihn aus dieser Starre herauszulocken, aber sie hatte keinen Erfolg. Er war wie versteinert, verkrampft, in sich zurückgezogen.

Lindow hatte seinen Mantel noch nicht abgelegt, als er schon nach dem Telefon griff.

»Willst du was essen?« Helgas erster Versuch einer Kontaktaufnahme.

Lindow wählte.

»Ich hab dich was gefragt.« Seine Sturheit konnte sie ziemlich aufregen. »Hier Lindow, Mordkommission. Kann ich bitte Herrn Rapka sprechen? Ja, es ist dienstlich!«

Helga platzte der Kragen.

»Kannst du deinen Dienst nicht im Büro lassen? Ich hab’ dir schon einige Male gesagt, dass das hier meine Wohnung ist.« Sie blieb neben ihm stehen.

»Herr Rapka, Lindow hier. Sie haben mir vorhin den Zeugen Kandel vorgeführt. Was war mit dem Mann?

»Was soll mit ihm gewesen sein?«

»Kollege Rapka, ich will eine anständige Auskunft. Sie müssen doch was bemerkt haben. Der war ja kaum noch bei sich.«

Lindow wollte sich nicht abwimmeln lassen, aber er dachte bereits daran, die Sache auf sich beruhen zu lassen, wenn ihm sein Kollege wenigstens eine plausible Erklärung geben würde. Vielleicht war Kandel gestürzt. »Widerstand gegen die Polizeigewalt.«

»Wie bitte?«

»Ganz klarer Fall. Widerstand gegen die Staatsgewalt.«

Helga schlug mit der Hand auf die Gabel.

»Bist du denn verrückt geworden? Das ist ein Dienstgespräch, verdammt noch mal. Ich muss das wissen.«

»Ob du was essen willst, hab ich dich gefragt. Und darauf will ich jetzt eine Antwort.«

Sie drückte immer noch die Gabel runter.

»Heute ist unser Betriebsausflug. Ich hab dir das vorgestern gesagt. Du wolltest mitkommen. Es gibt wieder Ochsenbraten und Kartoffelsalat.«

Sie gab das Telefon frei.

»Na gut, aber ohne mich, Wolfgang. Darauf kann ich verzichten.«

Helga Lindow ließ ihn in der Diele stehen.

»Auch noch Dienst nach Feierabend.« Sie verschwand im Wohnzimmer.

Lindow sah ihr nach. Es würde wieder einen neuen Krach geben, wenn er betrunken nach Hause käme. Er nahm sich vor, nichts zu trinken. Aber er wusste auch, dass er sich an diesen Vorsatz kaum halten würde.

»Wir sind vorhin unterbrochen worden«, sagte Lindow, als er Rapka wieder erreicht hatte, »mein Enkelkind hat das Telefon runtergeworfen. Was war denn nun los mit diesem Herrn Kandel?«

»Kollege Lindow, Sie wollten ihn vorgeführt haben. Wir haben den Auftrag ausgeführt. Mehr ist dazu nicht zu sagen. Soll froh sein, wenn er nicht noch eine Anzeige von uns kriegt.«

»Hat er sich gewehrt?« fragte Lindow leise. Er wurde langsam wütend.

»Mehr ist dazu nicht zu sagen.«

»Kollege Rapka. Was soll dieser Ton?«

»Wir machen die Drecksarbeit und hinterher werden wir noch dumm angemacht.«

»Ich wollte nur wissen, warum er sich gewehrt hat.«

Lindow bekam das Gefühl, dass die beiden Streifenbeamten erheblich über die Stränge geschlagen hatten.

»Ich möchte das Gespräch jetzt beenden.« Rapka hängte ein.

»Helga«, schrie Lindow, »kommst du jetzt mit?«

Er stieß die Wohnzimmertür auf.

Helga saß auf dem Sofa und studierte das Fernsehprogramm.

»Ich kann dir gern sagen, warum ich so sauer bin. Wenn es dich interessiert?«

Sie sah zu ihm auf und schob die Illustrierte weg.

»Kurz vor Feierabend bekomme ich einen Zeugen vorgeführt, der stumm gemacht wurde. Es sieht sehr danach aus, als ob die beiden Beamten, die ihn vorzuführen hatten, ihn verprügelt haben. Der Mann hat solche Schmerzen, dass er nicht reden konnte. Er ist ein wichtiger Zeuge im Mordfall Merthen.«

Helga war erstaunt, selten hatte sie ihren Mann so erlebt. Er konnte plötzlich aussprechen, was ihn bewegte.

»Was willst du tun?«

»Keine Ahnung. Mal sehen.«

»Aber du kannst sie nicht einfach so davonkommen lassen. Ich meine, das dürfen die doch nicht.«

»Dürfen, dürfen. Das kann die beiden ihre Stelle kosten. Körperverletzung im Amt. Wo denkst du hin?«

Lindow stand unentschlossen in der Tür.

Der Betriebsausflug.

Es war kurz nach neun.

Der Kriminalhauptkommissar ging wieder ans Telefon und wählte die Nummer des zweiten Beamten.

»Ja, ich weiß schon Bescheid. Sie wollen uns da was anhängen, Herr Kollege. Aber das lassen wir uns nicht gefallen. Damit Sie da ganz klarsehen. Dieser Kandel hat uns angegriffen, ohne dass wir ihm dazu Anlass geboten haben. Wir mussten körperliche Zwangsmaßnahmen anwenden. Das ist Vorschrift. Wir lassen uns nicht von Ihnen belehren, auch wenn Sie ein paar Dienstjahre mehr auf dem Buckel haben.«

Lindow fragte: »Haben Sie den Film gesehen: ›Ein Mann sieht rot‹?«

»Ja, sicher, toller Streifen.«

»Dachte ich mir.« Lindow legte auf.

Zwei gegen einen, Kandel wird keine Chance haben. Lindow nahm seinen Hut von der Garderobe.

»Willst du wirklich nicht mit?«

Helga hatte den Fernseher eingeschaltet. »Nein. Hab die Schnauze noch voll vom letzten Jahr. Und wenn du wieder besoffen bist, dann schlaf wenigstens in Karins Zimmer.« Und sei leise, ergänzte Lindow in Gedanken.

Er drehte sich um.

»Und sei leise, Wolfgang«, kam Helgas Echo.

Der jährliche Betriebsausflug zum Sechstagerennen, den die Mordkommission traditionell unternahm, war fester Bestandteil ihres Arbeitsjahres, daran durfte nicht mal Matthies rühren.

Sie hatten zwei Tische im Innenraum, umlagert von den vorbeiziehenden Besuchern, die sehnlichst nach einem Sitzplatz Ausschau hielten. Die Runden kamen in schneller Folge. Anfangs waren es kleine Biere, dann kam ein Korn dazu, anschließend wurde Ochsenbraten bestellt, dazwischen die Werbesprüche des Hallensprechers und das »Prosit-auf-die-Gemütlichkeit«, süddeutsches Schunkeln auf norddeutschen Bänken. Am unwichtigsten waren die Radfahrer. Mal trat ein Gaststernchen auf und trällerte einen Schlager, dann wieder der Sechstage-Gassenhauer aus Berliner Tagen, den alle mitpfiffen. »Hast du schon gesehen, in Halle 2, die dänische Oben-ohne-Band. Mann, das sind mal Titten.«

Lindow hatte sich standhaft geweigert, auch nur ein Bier anzurühren. Anfangs trank er Tee, später stieg er auf Mineralwasser um. Erst als Klaus Grünenberg sich neben ihn zwängte, musste er um seinen Vorsatz fürchten. Lindow hatte sich vorgenommen, Matthies in einem günstigen Moment zu erwischen und ihm zwischen zwei Runden von Kandel zu berichten.

»Du sitzt trocken, Wolfgang.« Grünenberg drückte ihm grinsend seinen Halbliterhumpen in die Hand.

Lindow schob ihn zurück.

»Macht er schon den ganzen Abend, unser Mönch, so kennen wir ihn gar nicht.«

»Bei dem weiß man ja nie.« Mettmann brüllte über den Tisch. Lindow mochte diese Art der Konversation, entweder man musste brüllen, um sich verständlich zu machen, oder man durfte schweigen.

»Hast du schon gesehen, wie gut Sercu fährt?« Grünenberg drängelte sich weiter auf die Bank.

»Wer ist Sercu?« fragte Lindow.

»Komm, Wolfgang, stell dich nicht dümmer als du bist. Sercu und Pijnen führen das Rennen an.«

»Ach so«, Lindow hatte begriffen, dass die Rennfahrer gemeint waren.

Die Halle tobte. Offensichtlich sahen diejenigen auf den billigen Plätzen tatsächlich etwas vom Rennen und interessierten sich auch dafür.

Dann bemerkte Lindow, wie Matthies sich von seinem Platz wegbewegte. Die schmallippige Blondine, die neben ihm auftauchte, war nicht seine Tochter.

»Moment«, er stützte sich fest auf Grünenbergs Rücken.

»Hans«, schrie Lindow.

Matthies reagierte nicht.

Lindow folgte ihm mühsam.

Sie wurden beide durch den langen Gang unter der Rennbahn geschoben.

Erst in der Schlange vor dem Pissoir gelang es Lindow, seinen Chef einzuholen. »Schade, dass du vorhin schon weg warst, Hans.«

»Musste mich noch umziehen. Wollte nicht im Anzug zu unserer Feier erscheinen.«

Matthies streckte die Brust raus, sein Smoking nahm Haltung an.

Lindow berichtete, was kurz vor Feierabend vorgefallen war.

»Ach, hier bist du«, Grünenberg war den beiden gefolgt.

»Hau ab, hier gibts nichts zu lauschen.«

Grünenberg, der bereits hochgradig angetrunken war, ließ sich nicht wegschieben.

Matthies erwiderte, dass er jetzt nicht im Dienst sei. Schnaps sei Schnaps und Arbeit Arbeit. Morgen könne man ja ganz in Ruhe darüber reden, und außerdem müsse er jetzt pinkeln.

Da kein Becken frei war, drückte sich der Kriminaldirektor durch die schwitzenden Männermassen zu den hinteren Toiletten.

»Wen haben sie zusammengeschlagen?« fragte Grünenberg.

»Das geht dich gar nichts an, Klaus.«

Lindow versuchte ihn abzuschütteln, aber es gelang ihm nicht. Er ärgerte sich, wie sein Chef ihn hatte abblitzen lassen, und er wusste auch schon, was Matthies ihm morgen sagen würde. Erst mal abwarten, das war immer so. Wenn er nicht genau wusste, was er tun sollte, dann riet er sich selbst, aber auch allen anderen, das beste sei, abzuwarten. Leider hatte er in vielen Fällen sogar recht damit, was Lindow besonders bedauerte, denn dann hielt ihm Matthies vor, er habe nicht genügend Geduld gehabt. Grünenberg zog Lindow nach hinten.

»Du musst auf mich aufpassen«, sagte der blonde Dreißigjährige, »ich darf mich nicht so volllaufen lassen.«

»Das denke ich auch«, gab Lindow ihm zu verstehen. »Warte hier.«

Mit einem Sprung gelang es ihm, eine freiwerdende Kabine zu erreichen. Endlich konnte er den Tee und die vier Mineralwasser loswerden.

Dann hakte er Grünenberg unter, und sie gingen zur Halle 3. An der kleinen Bar holte Lindow innerhalb einer halben Stunde alles nach, was er zuvor unterlassen hatte. Er entschied sich für Tequila, weil man davon schnell betrunken wurde. Mit Salz und Zitrone genossen, kam man gar nicht auf den Gedanken, dass es sich um Schnaps handelte. Während er sich genüsslich betrank, wurde Grünenberg wieder nüchtern.

»Der saß da wie ein nasser Sack. Ich hab ja schon viel gesehen, aber so was? Ne.«

»Wie hieß er denn?« fragte Grünenberg.

»Du sollst mich nicht ausfragen«, lallte Lindow, »dann sag ich gar nichts mehr.«

»Wolfgang, das ist unsere Berufskrankheit. Du fragst einem doch auch Löcher in den Bauch. Ich kann halt auch nicht anders.«

»Haben den einfach zusammengeschlagen. So als wäre das ganz normal. Na, die werden mich kennenlernen.«

Lindow füllte etwas Salz in die Vertiefung zwischen Zeigefinger und Daumen, leckte es mit der Zunge ab und spülte mit einem doppelten Tequila nach.

Grünenberg hatte das Zeug einmal probiert, aber danach war ihm übel geworden.

»Ich muss zurück zu den Kollegen, Klaus. Ist unser Betriebsausflug. Und die sehen es nicht gerne, wenn ich zu lange mit dir quatsche.« Schwerfällig erhob sich Lindow von dem Barhocker und zahlte die nicht unerhebliche Rechnung. »Klappe halten. Sonst werde ich ungemütlich.«

Diese Warnung hatte durchaus ihren Grund, denn Grünenberg war bei der lokalen Zeitung. Wenn der genauer erfuhr, was sich am Nachmittag bei der Mordkommission abgespielt hatte und es veröffentlichte, dann konnten nicht nur die beiden Beamten Schwierigkeiten bekommen, auch Lindow war dann in der Schusslinie. Als er es endlich geschafft hatte, wieder den Tisch im Innenraum zu erreichen, stellte er fest, dass er nicht der einzige betrunkene Polizist war. Matthies kümmerte sich jetzt noch intensiver um die schmallippige Blondine. Sie hatte ihr Seidencape abgelegt.

»Na, Hilfssheriffs«, Lindow ließ sich auf die Bank fallen, die stark schwankte.

Matthies war in seinem Element. Er hatte Vertreter aller Kommissariate einberufen, um ihnen wichtige Dinge mitzuteilen. Das war seine große Stunde.

Auch wenn er noch mit einem gewaltigen Kater zu kämpfen hatte.

»Meine Herren, liebe Kollegen. Es sind einige Dinge vorgefallen in der letzten Zeit, die ein, wenn auch nicht vollständiges, aber doch wesentliches Revirement erforderlich scheinen lassen.«

Lindow kratzte sich am Kinn. Es war ihm nicht gelungen, sich unfallfrei zu rasieren. Nach dem dritten Schnitt hatte er den Plan aufgegeben und sich damit begnügt, ein paar einfache Stellen zu schaben. Jetzt aber störte ihn der übrige Bewuchs, allerdings noch mehr die wichtigtuerischen Sätze seines Chefs. Da konnte nur ein Ukas von Mantz vorliegen, dem Obersten aller Polizisten.

»Nach den beiden letzten Bombenattentaten, am Bahnhof und in der Neustadt, müssen wir davon ausgehen, dass unsere Stadt ein Zentrum anarchistischer Gewalttäter ist.«

Matthies machte eine Pause. Sein kurzgeschnittenes, graues Haar mit der eckigen Brille wirkte wie maschinengefertigt, ein Dutzendgesicht.

Lindow war schon klar, woher der Wind wehte. Die Polizeiführung reagierte auf die Kritik aus dem Bundesinnenministerium, die an der Aufklärungsquote herumgemäkelt hatte. In der Zeitung war ein langer Artikel erschienen: Bericht aus Bonn.

»Deswegen sehen wir uns gezwungen, das 10. Kommissariat weiter zu verstärken. Politische Straftaten müssen ab sofort mit absoluter Priorität verfolgt werden.«

»Aber die treten sich doch jetzt schon gegenseitig auf die Füße«, kam es aus den Reihen des Raubdezernates.

»Erschte Priorität, ha noi, des goat fei nedde, gell«, der Kollege Ritter empörte sich, »unsere Quote isch au ganz schwach, net wohr.«

Matthies rückte irritiert sein Brillengestell zurecht.

»Warum fangt ihr denn nicht einfach mehr Einbrecher, vielleicht sind ja auch ein paar politische drunter? Raubritter, nicht lange überlegen, zugreifen«, kam es vom Wirtschaftsdezernat.

Lindow wusste, dass man die Mordkommission nicht antasten würde. Sie waren und blieben die ersten. Immerhin wollte sich Matthies nicht nachsagen lassen, dass man in dieser Stadt ungestraft einen umbringen konnte. Stehlen, Geld entwenden, Steuer bescheißen, da konnte er sich immer rausreden, dass er zu wenig Kräfte zur Verfügung hatte. Das war ihm sogar manchmal ganz recht, weil er dann neue Planstellen fordern konnte. Aber Morde mussten aufgeklärt werden. Das war von öffentlichem Interesse.

Nachdem Matthies die Zahlen bekanntgegeben hatte, wie viele Leute aus welchen Kommissariaten abzukommandieren seien, beendete er die Sitzung mit seinem traditionellen: »Gut Holz.« Wann er sich das angewöhnt hatte, konnte selbst Lindow nicht mehr genau sagen, obwohl er in diesem Jahr sein 25. Dienstjubiläum haben würde.

»Kann ich nachher mal bei dir reinschauen?« fragte Lindow seinen Chef, als die anderen Kollegen gegangen waren. »Ist es wichtig?« gab Matthies zurück, der mit langsamen Handgriffen seine Papiere ordnete. »Ist gestern doch wieder ziemlich spät geworden.«

»Es geht um diesen Zeugen, Hans.«

»Ach, diese Geschichte. Da komme ich heute nicht zu. Wirklich, Wolfgang, ich habe nachher eine Sitzung beim Chef, auf die muss ich mich vorbereiten. Morgen, ganz bestimmt.«

»Aber ich will doch nur einen Rat von dir.«

Lindow beschäftigte diese Geschichte so sehr, dass er auf eine schnelle Klärung drängte.

»Morgen sehen wir uns, dann reden wir drüber. Heute habe ich keine freie Minute.«

Lindow überlegte, ob er noch einen weiteren Versuch starten sollte, denn es konnte sein, dass Matthies mit diesem Vorfall einfach nichts zu tun haben wollte und deswegen die wichtige Sitzung mit Mantz vorschob.

»Es dauert nicht lange, Hans, bitte.«

»Du wirst schon wissen, was du tun musst. Fragst mich doch sonst auch nicht. Kein weiterer Kommentar. Gut Holz.« Matthies nahm seinen Hefter und drehte sich um.