Familienfoto - Jürgen Alberts - E-Book

Familienfoto E-Book

Jürgen Alberts

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Beschreibung

Zum jährlichen Familienfoto hat sich die gesamte hanseatische Huneus-Familie versammelt. Alle männlichen Mitglieder und die fast hundertjährige Helene sind angesehene Anwälte in der Stadt. Auch Gabriele, die gerade volljährig geworden ist, soll Anwältin werden. Doch ihr ist nicht zum Feiern zu Mute: Sie ist verliebt in Wolfgang van Bergen, der aus einer Familie stammt, der der Huneus-Clan feindlich gegenübersteht. Und ihre Schwester Hannah wurde gerade von der Schule verwiesen und vor Gericht angeklagt »wegen Verbreitung pornografischer Kunst«. Doch die Familienidylle ist nicht nur von innen bedroht. Die Zeiten sind stürmisch, geprägt von Umbruch und Aufbruch, von Visionen, Illusionen und Enttäuschungen. Fast täglich finden auf der Straße Demonstrationen von jungen Menschen statt, die die alte Ordnung stürzen wollen, die alles in Frage stellen, was die Honoratiorenfamilie jahrzehntelang aufgebaut hat.

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Familienfoto

Eine hanseatische Justiztrilogie

I

 

 

Impressum:

Cover: Karsten Sturm-Chichili Agency

© 110th / Chichili Agency 2014

EPUB ISBN 978-3-95865-067-1

MOBI ISBN 978-3-95865-068-8

 

 

Urheberrechtshinweis:

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors oder der beteiligten Agentur „Chichili Agency“ reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

TEIL 1

Der Aufbruch

Oh well a young man

ain't nothin' in this world these days

I said a young man

ain't nothin' in this world these days

in the old days

when the young man was a strong man

all the people stand back

when the young man walked by

but now'days the old man got all the money

and the young man

ain't nothin' in the world these days

Mose Allison "Blues - Back Country Suite"

Gewidmet meiner Frau Marita,

die an meinen schwarzen Tagen

mir zur Seite steht.

- eins -

Gabriele Huneus konnte es nicht ertragen, wenn sich die Blicke anderer auf sie richteten und sie im Mittelpunkt stand. An diesem Tag jedoch würde sich dies nicht verhindern lassen.

An diesem Tag, der die große Freiheit versprach.

Helene wird bei Tisch als Erste reden, dachte Gabriele, das lässt sie sich nicht nehmen. Auf die Worte der außergewöhnlichen Frau, die in einigen Monaten hundert Jahre alt werden würde, freute sie sich. Aber wie konnte sie die anderen Reden überstehen?

Lange hatte Gabriele überlegt, ob sie das schulterfreie, grasgrüne Kleid anziehen sollte, das sie beim Abiturball getragen hatte und das ihr Großvater so gerne an ihr sah. Sie entschied sich für das schlichte Schwarze, dessen Rocksaum mit einer schmalen Goldbordüre verziert war.

Hoffentlich fiel Hannah nicht wieder aus der Rolle. Seit den Tagen der Straßenbahnbesetzung wirbelte ihre jüngste Schwester alles durcheinander. Die Hansestadt war in Aufruhr gewesen. Fast eine ganze Woche lang.

Im Spiegel überprüfte Gabriele Lidstrich und Wimperntusche, Lippenstift und Make-up. Sie bürstete ihre langen, blonden Haare und zog das Klemmerchen, mit dem sie auf der linken Seite zurück gehalten wurden, heraus.

„Bist du bereit, Gabriele?“ Die tief tönende Stimme ihres Großvaters. Leise hatte er an ihre Zimmertür geklopft.

Obwohl sie seit einer Viertelstunde nur noch aufgeregt im Zimmer hin- und hergegangen war, bat Gabriele ihn jetzt um etwas Geduld.

Von ihrem Fenster aus hatte sie beobachtet, wie Musiker Instrumente ausluden und ins Haus trugen. Wahrscheinlich würden sie das Streichquartett von Claude Debussy spielen. Ihr Lieblingsstück.

Ob Onkel Alfred rechtzeitig aus Rom eintrifft? Der war immer für eine Überraschung gut. Signore Alfredo, wie er sich gerne nennen ließ. Wenn er das Wort ergriff, gab es stets etwas zu Lachen.

Gabriele kniff sich mit Daumen und Zeigefinger in die linke Hand, um sich ein wenig zu beruhigen. Manchmal half das.

Wieder klopfte es an der Tür.

„Moment noch!“, rief Gabriele.

Ein letzter Blick in den Spiegel, schnell mit der Bürste durch die Haare fahren. Unter dem Auge war ein schwarzes Pünktchen von der Wimperntusche gelandet. Noch einmal zog sie mit dem Lippenstift die Konturen nach. Ihre Hand zitterte dabei leicht.

Wenn doch Wolfgang wenigstens an ihrer Seite wäre. Dann würde sie den Abend leichter überstehen.

„Unten warten schon alle“, rief ihr Großvater.

Gabriele warf die Haarbürste aufs Bett und öffnete die Tür.

„Wie sehe ich aus?“, fragte sie und drehte sich einmal um sich selbst.

„Perfekt!“, antwortete Thomas Huneus, „perfekt, wie immer!“

Er reichte ihr den Arm. „Darf ich es wagen, das Fräulein“, er unterbrach sich, „die junge Frau hinunter zu geleiten?“

Gabriele hakte sich bei ihm ein.

So schritten die beiden über die breit ausladende Treppe nach unten. Wie frisch Vermählte.

Der Großvater hatte einen Smoking angezogen, mit silbernem Kummerbund und silberner Fliege. Seine Lackschuhe waren so blank, dass sich die Treppenleuchten darin spiegelten.

Er drückte Gabrieles Arm fest an seinen Körper.

„Bist du aufgeregt?“

„Und wie!“, antwortete Gabriele mit einem unsicheren Lächeln.

Den ganzen Tag war sie schon aufgeregt gewesen. Am Morgen, als sie die Karten und Briefe gelesen hatte. Am Mittag, als die Blumensträuße und Präsente abgegeben wurden. Am Nachmittag, als der Mädchenchor der Gemeinde für sie sang und der alte Domprediger ein paar Worte über die eifrige Konfirmandin gesprochen hatte.

Vor der abendlichen Feier konnte sie sich zwei Stunden davon schleichen, um mit Wolfgang zusammen zu sein.

Aus der geräumigen Bibliothek der Villa Huneus war ein Festsaal geworden. Vor den Regalen standen getrimmte Buchsbäume, die Kronleuchter waren mit farbigen Girlanden geschmückt, die bis zur Stuckdecke hinauf reichten. Auf dem großen, runden Tisch in der Mitte befanden sich prächtige Blumenbouquets.

Alle erhoben sich und applaudierten, als Gabriele an der Seite ihres Großvaters den Raum betrat.

Hannah war da, Gott sei Dank. Onkel Alfred hatte es rechtzeitig geschafft, wie schön. Ihr Bruder, na ja, das ging ja wohl nicht anders. Der unvermeidliche Gerhard Gildemeister, Weinimporteur und Schwadroneur. Dessen Rede war bestimmt zum Fürchten.

Thomas Huneus führte Gabriele zu dem hohen Lehnstuhl.

„Der ist heute für dich reserviert!“

Sie hatte auf diesem gepolsterten, mit Intarsien verzierten Holzstuhl nie jemand anderen als ihre Urgroßmutter Helene sitzen sehen. Für diese Feier sollte es also ihr Platz sein. Wenn sich alle Blicke auf sie richteten...

Um ihr Gedeck war ein Kranz aus frischem Lorbeer gelegt, auf dem Teller lag eine dunkle, rote Rose.

„Die stammt von mir!“ Der Großvater ließ erst jetzt ihren Arm los.

Als Gabriele sich gesetzt hatte, klopfte ihr Vater an sein Glas.

„Verehrte Freunde, liebe Festgäste, geschätzte Sippe! Wie ihr alle wisst, ist es eine Tradition, sich jeden Sonntag im Hause Huneus zu versammeln. Wenn wir also ausnahmsweise einmal mitten in der Woche zusammen kommen, muss dies ein ganz spezieller Anlass sein. Wir wollen unser Glas erheben und gemeinsam einen Toast auf die junge Frau ausbringen, der heute unser aller Aufmerksamkeit gebührt. Auf dich, liebe Gabriele, und auf deine Zukunft!“

„Auf Gabriele und ihre Zukunft!“, riefen die Anwesenden aus.

Alle schauten sie an, prosteten ihr zu.

Gabriele spürte eine Wärme in sich aufsteigen, die wohltuend war. Sie blickte zu Hannah hinüber, die das Glas Champagner in einem Zug geleert hatte. Ihr freches Gesicht unter dem blonden Strubbelkopf reizte sie häufig zum Lachen.

„Und es gehört auch zur Tradition des Hauses“, setzte ihr Vater wieder an, „dass wir uns immer erst stärken, bevor wir reden. Plenus venter non tacet libenter!“

Nun lachten alle. Die verballhornten Zitate des Thomas Anton Huneus waren berüchtigt. Warum ein voller Bauch nicht gerne schwieg, bedurfte in dieser Sippe keiner Erklärung.

Else und Kathrine, die beiden Hausmädchen, trugen die Vorspeise auf. Klare Fischbrühe mit frischen Krabben.

„Siehst du, es ist doch gar nicht so schlimm!“, sagte ihr Großvater, der seine Serviette mit einer Spange am Revers festmachte. Er beugte sich zu Gabriele hinüber. „Du musst dich aber auch stärken, um nachher all unsere Reden zu ertragen.“

Bevor sie den Löffel eintauchte, erblickte sie im Spiegelbild des Tellers ihr Gesicht. Es war das Gesicht einer jungen Frau, die sich danach sehnte, endlich das zu tun und zu lassen, wonach ihr der Sinn stand. Allzu oft war man ihr in die Parade gefahren.

Nicht nur der Großvater, der neben ihr saß.

Helene Huneus erhob sich.

Mit ihrem Krückstock, dessen Knauf ein Adlerkopf zierte, stieß sie entschlossen auf den Boden.

Sofort verstummten alle Gespräche.

„Es ist immer das Recht des Alters gewesen, den Anfang zu machen. Und das ist mir heute eine ganz besondere Ehre. Denn die junge Frau, die es hier zu feiern gilt, hat mir das Leben gerettet. Und das ist noch gar nicht so lange her! Dafür werde ich dir ewig dankbar sein.“

Gabriele lehnte sich zurück. Ganz entspannt. Wie schön, dass Helene dieses gemeinsame Erlebnis anspricht.

Die groß gewachsene Frau, deren Haar frisch toupiert und mit einem violetten Schimmer versehen worden war, stand kerzengerade neben ihr am Tisch.

„Gabriele und ich sind über den Freimarkt gebummelt, haben Aalbrötchen und Berliner Ballen verspeist, gebackenen Camembert und gebrannte Mandeln genascht und haben dann gemeinsam das Riesenrad bestiegen. Wie wir das immer zu tun pflegen. Ich muss schon sagen, diese neumodischen Schaukeln sind ja nichts mehr für mich.“ Helene Huneus sah in die Runde, weil an dieser Stelle immer ein Lacher kam. Er blieb auch an diesem Abend nicht aus. „Und als wir ganz oben waren, stand das Riesenrad mit einem Mal still. So als hätte jemand den Hauptschalter umgelegt. Erst sacht, dann heftiger nahm uns der Wind in die Arme. Wir beide saßen dicht gedrängt nebeneinander, allein in unserer Kabine und hatten eine Mordsangst. Das Riesenrad wollte sich einfach nicht wieder in Bewegung setzen. Wir trauten uns nicht einmal aufzustehen, damit die Kabine nicht noch mehr schaukelte. Ängstlich gingen unsere Blicke über den riesigen, hell erleuchteten Freimarkt. Und plötzlich fängst du an zu singen, Gabriele.“ Helene Huneus wandte sich ihrer Urenkelin zu. „Ich kann mich noch genau erinnern: Heinrich Heine ‚Ich weiß nicht, was soll es bedeuten.’ Erst haben wir leise gesungen, dann immer lauter. Gabriele musste ja in der Schule viele Lieder auswendig lernen. Das zahlte sich jetzt aus. Es dauerte gar nicht lange, da sangen auch Leute in anderen Kabinen mit. Hoch über dem Getümmel der Menge.“ Helene Huneus nahm ihr Glas. „Ich danke dir dafür, liebe Gabriele, ich wäre gewiss da oben vor Angst gestorben. Ich bin stolz darauf, so eine mutige Urenkelin zu haben. Möge dich der Mut auch in Zukunft nicht verlassen!“

Beim Applaus, der auf Helenes Rede folgte, richteten sich alle Blicke auf Gabriele.

Sie errötete ein wenig.

Wenn sie Helene beim Frühstück manchmal die Namen der Verstorbenen aus den Todesanzeigen vorlesen musste, war stets die erste Frage ihrer Urgroßmutter: „Und wie alt ist sie geworden?“

Helene Huneus war die erste Rechtsanwältin der Hansestadt gewesen. Durch das Gesetz über die Zulassung der Frauen zu den Ämtern der Rechtspflege vom 11. Juli 1922 konnte sie, lange nach ihrem Studium, diesen Beruf ausüben. Sie eröffnete mit ihrem Sohn Thomas eine Kanzlei, Wirtschaftssachen, keine Strafprozesse, Handels- und Zivilrecht. In der männlich dominierten Juristenwelt war sie stets der misstrauischen Beobachtung durch Kollegen ausgesetzt. Sie hielt die wichtigen Kontakte zu den Ehefrauen der Mandanten. Gab wertvolle Ratschläge in Vermögensfragen und in Scheidungssachen, die einer gütlichen Einigung zugeführt werden sollten.

Ihr Sohn Thomas erhob sich.

Er fasste Gabriele an der Schulter, während er sprach.

„Es ist ja kein Geheimnis in diesem Kreise, dass Gabriele stets mein Goldstück gewesen ist und auch immer bleiben wird. Deswegen erfüllt es mich durchaus mit Wehmut, wenn wir sie hier und heute in die Volljährigkeit entlassen. Wer besser als wir Juristen, könnte dir, liebe Gabriele, erklären, was es heißt volljährig zu werden. Du bist nun voll geschäftsfähig und besitzt auch das aktive Wahlrecht. Du kannst also über dein zukünftiges Leben selbst bestimmen. Aber das heißt nicht, dass du ab sofort auf dich allein gestellt sein wirst. Deine Familie steht dir unverbrüchlich mit Rat und Tat zur Seite, dessen darfst du gewiss sein, liebe Gabriele. Die Volljährigkeit gibt dir Freiheiten und Verpflichtungen, Rechte und Aufgaben, aber in erster Linie viele neue Chancen. Mögest du sie gut nutzen“, er machte eine Pause und drückte ihre Schulter ganz fest, „und dabei niemals deinen Großvater vergessen.“

Gabriele konnte sehen, dass seine Augen feucht geworden waren. Mit einem Taschentuch wischte er sich die Tränen weg.

Wieder erhoben alle ihr Glas und prosteten ihr zu.

Der Hauptgang wurde aufgetragen. Rehbraten mit gemischtem Gemüse. Der Weinimporteur Gildemeister, ein langjähriger Geschäftspartner von Thomas Huneus, hatte ein Kistchen Bordeaux spendiert, auf das ganze spezielle Wohl des Geburtstagskindes.

Gabriele war erleichtert, dass nun eine Pause eintrat. Die Rede ihres Großvaters war anders ausgefallen, als sie erwartet hatte. Ein wenig förmlich. Sie ahnte, was der Grund dafür war.

Wieder schaute Gabriele zu Hannah hinüber. Wie gerne hätte sie neben ihr gesessen. Hauptsache, ihr Bruder fühlte sich nicht aufgerufen, auch eine Rede vom Stapel zu lassen.

„Ich habe ein paar Musiker von der Philharmonischen Gesellschaft für dich engagiert“, sagte ihr Großvater, „und rate mal, was sie spielen werden?“

Gabriele antwortete: „Ich habe keine Ahnung.“

„Dann lass dich mal überraschen!“

Nach dem Abitur, das sie vor zwei Jahren mit Bravour bestanden hatte, war sie nach Frankfurt zum Studium gegangen. Aber fast jedes Wochenende verbrachte sie in der Hansestadt. Ihr Großvater hatte sie mit einer Monatskarte für die Bahn, selbstredend Erster Klasse, ausgestattet. Immerhin gab ihr das die Möglichkeit, sich wenigstens für ein paar Stunden am Wochenende mit Wolfgang zu treffen.

Karoline Huneus war die nächste auf der Rednerliste. Sie sprach von den Sorgen, die Gabriele ihren Eltern während der ersten Jahre gemacht habe. „Wie oft mussten wir dich im Krankenhaus besuchen?“ Mumps, Röteln, Scharlach, Masern. Es habe keine Kinderkrankheit gegeben, die sich ihre Tochter nicht eingefangen habe. „Aber dann geschah ein kleines Wunder. Kaum gingst du in die Volksschule, wurdest du kräftiger und warst nicht mehr so oft krank.“ Gabriele sei stets eine aufmerksame Schülerin gewesen. Häufig Klassenprimus und das nicht nur in ihren Lieblingsfächern. „Was ich leider nicht von allen meinen Kindern sagen kann.“ Gabriele bemerkte den Seitenblick ihrer Mutter auf Hannah. Der Frechdachs verzog keine Miene. „Ich kann mich noch gut erinnern, wie du einmal das weihnachtliche Krippenspiel in unserer Gemeinde gerettet hast. Damals gingst du, glaube ich, in die vierte Klasse. Du spieltest die Maria so zauberhaft, dass alle von dir begeistert waren. Und plötzlich verstummt der Josef. Er hat seinen Text vergessen. Außer einem Stammeln bekommt er kein Wort mehr heraus. Kurzerhand springst du ein und sprichst mit verstellter Stimme seine Rolle gleich mit. Alle konnten es in der Zeitung lesen. Eine schlagfertige Jungfrau Maria, die Ehre für die Familie Huneus eingelegt hat.“ Karoline, die neben Hannah am Tisch stand, wurde ganz feierlich. „Ich brauche es dir nicht zu sagen, Gabriele, denn du weißt es schon lange, wie stolz die Sippe auf dich ist.“

Wieder gab es einen Beifall.

Und wieder richteten sich alle Blicke auf sie.

Gabriele hoffte, dass bald die Rote Grütze aufgetragen werden würde. Aber sie musste die Reden von ihrer Tante Hildegard, deren Mann Heinrich Brock und drei weiteren Freunden der Familie über sich ergehen lassen. Gerhard Gildemeister sprach über die ach so unruhigen Zeiten, in denen es für die hanseatische Kaufmannschaft gelte, Ruhe zu bewahren und die Ziele nicht aus den Augen zu verlieren. Gabriele erwähnte er nur einmal. Als er einen Toast auf sie ausbrachte.

Während der Nachtisch serviert wurde, sagte ihr Großvater, es warte noch eine ganz besondere Überraschung auf sie.

Onkel Alfred war der erste Redner nach der Roten Grütze. „In Rom begeistert man sich gegenwärtig an den schönen Frauen aus den nördlichen Ländern, dabei haben die Italiener dich doch noch gar nicht gesehen, liebe Gabriele. Deswegen, und ich verrate es gleich hier, lade ich dich ein, sobald du dein Vordiplom in der Tasche hast, machen wir beide eine Reise ins Land, in dem die Zitronen und Pomeranzen blühen! Das ist mein Geschenk zu deinem Ehrentag.“

Ihr Bruder hatte sich gerade erhoben, um das Wort zu ergreifen, da rief Gabrieles Vater aus: „Der Reden sind genug gewechselt, nun lasst uns die Geschenke sehen!“

Vor den hohen Fenstern der Bibliothek war ein Gabentisch aufgebaut, zu dem Thomas Anton seine Tochter geleitete.

„Als Grundstock zu deinem ersten, eigenen Vermögen möchte ich dir ein paar Aktien der Deutschen Bank schenken!“

„Aber das war doch meine Idee“, sagte Tante Hildegard entrüstet. Die Geschwister hielten beide einen blau-weiß karierten Umschlag in Händen.

Ihr Großvater hatte als Geschenk eine Sammlung angelegt: eine Haarlocke von Gabriele, ihren ersten Schulaufsatz, Postkarten von Reisen an die Nordsee, ein Fotoalbum, einen Notenspiegel von der Volksschule bis um Abitur, sowie eine Tabelle, in der Größe und Gewicht seines Goldstücks im Laufe der ersten zehn Jahre verzeichnet waren. Ihr Großvater schien nie etwas weg geworfen zu haben, was seine älteste Enkelin betraf.

Karoline überreichte ihrer Tochter ein gut verschnürtes Paket. „Für dich, ganz speziell für dich.“ Gabriele hoffte, dass es das Bild des Kölner Künstlers war, das ihr bei der letzten Vernissage so gefallen hatte. Eine experimentelle Komposition aus pastellfarbenen Quadraten, die den Blick des Betrachters fixierte und sich veränderte, sobald er das Bild aus einem anderen Winkel ansah.

Als Gabriele das Geschenk auspackte, stutzte sie. Es war nicht das erhoffte Bild, sondern ein Porträt von ihr. Als Zehnjähriger. Gemalt von dem geschätzten Kölner Künstler. Nach einer Fotografie, an die sie sich gut erinnern konnte. Gabriele versuchte, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.

„Obwohl du ja lieber die Beatles magst, hab ich dir die neue Scheibe von den Stones gekauft. Die musst du unbedingt hören!“, sagte Hannah, die ihre Schwester auf beide Wangen küsste.

„Aber nicht gerade heute Abend, wenn ich darum bitten darf!“ mischte sich ihr Großvater ein. „Jetzt kommt alle mal mit!“

Er fasste Gabriele am Arm und führte sie mit der Familie in den Keller.

Eine Tür war mit einer goldenen Schleife dekoriert.

„Was glaubst du, was sich dahinter verbirgt?“, fragte er. Nun selbst ein wenig aufgeregt.

Diesmal hatte Gabriele wirklich keine Ahnung.

„Dann öffne die Tür!“

Sie drückte die Klinke hinunter und blickte in einen spärlich beleuchteten Raum. Ein tiefes Rot umfing Gabriele. Auf einer Platte war ein kleines Feld weiß angestrahlt. Es roch wie im Chemie-Unterricht.

„Eine Dunkelkammer“, rief Gabriele aus, „davon habe ich immer geträumt.“

Sie fiel ihrem Großvater um den Hals. Fotografieren war ihre Leidenschaft. Schon in der Mittelstufe hatte sie damit angefangen. Erst mit einer Agfa Clack, wie sie den viereckigen Kasten nannte, später mit einer teuren amerikanischen Kamera. Schon einige Male hatte sie in einem Fotolabor zugesehen, wie ihre Bilder entwickelt wurden. Das würde ein Vergnügen werden, die eigenen Fotos nun selbst vergrößern zu können.

Als die Festgäste wieder in der Bibliothek zurück gekehrt waren und Gabriele weitere Geschenke auspackte, sprachen die Männer über Politik.

Eine Revolution war über die Hansestadt hereingebrochen, die immer noch alle in Atem hielt. Es hatte mit einer harmlosen Schienenbesetzung gegen erhöhte Straßenbahntarife begonnen. Dann kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Wasserwerfer, Chaos, Anarchie. Aber das Schlimmste für die Rechtsanwälte war, dass der Senat klein beigegeben hatte. Was für ein Desaster! Welche Schande! Überall wurden sie auf diese Schande angesprochen. Sogar in Italien hatte Alfred Huneus Rede und Antwort stehen müssen. Porca madonna. Eine Handvoll Schüler und ein paar Arbeiter hatten den ehrwürdigen Senat in die Knie gezwungen. Und alles wegen einer Erhöhung um zwanzig Pfennig für eine Straßenbahnfahrt.

„Man hätte es wissen müssen", tönte Gabrieles Vater, "wenn man Rechtsbrechern nicht sofort entgegen tritt, greifen sie sofort nach der Macht. Die Polizei hätte gleich am ersten Tag die Ausschreitungen unterbinden müssen. Dann wäre alles ruhig geblieben."

Sein Schwager nickte.

Heinrich Brock, der der Partner in der Kanzlei Huneus, Huneus, Huneus & Partner war, fügte an, dass die Sozis doch tatsächlich mal wieder mit einem Griff in die Staatskasse die Sache bereinigt hätten. „Dabei hatte der Bürgermeister noch ein paar Monate zuvor ausdrücklich betont, es gebe keine weiteren Subventionen für die Straßenbahn."

Auch die schwache Vorstellung der Ordnungskräfte erzürnte die Rechtsanwälte.

„Wenn der Polizeipräsident schon selbst seine Männer auf Trab bringen muss, weil die zu schlapp gegen diese Anarchisten vorgehen, dann ist doch etwas faul in unserem Rechtsstaat!" sagte Thomas Huneus.

Es hatte einige kritische Artikel in der überregionalen Presse gegeben, nachdem der Polizeipräsident seine Einsatzkräfte mit: Knüppel frei! Nachsetzen! Draufhauen! zum Demonstrantenjagen geschickt hatte.

„Er ist da!“, flüsterte Hannah ihrer Schwester ins Ohr.

„Wer?“

„Na, wer schon?“

„Wo?“, fragte Gabriele erstaunt.

„Er wartet draußen.“

Gabriele sah Hannahs verschwörerischen Blick. Warum hielt Wolfgang sich nicht an ihre Abmachung? Unmöglich konnte sie jetzt ihre Geburtstagfeier verlassen. Was würde das für einen Eindruck machen? In wenigen Minuten sollte das Konzert beginnen.

„Nun geh schon,“ sagte Hannah.

„Wenn sie mich suchen, ich bin mal kurz nach oben, mein Make-up auffrischen!“

„Keine Sorge, Schwesterherz. Ich halte die Stellung für dich.“

Gabriele verließ die Bibliothek, ging mit raschen Schritten durch die Eingangshalle.

Sie stellte sich auf die Terrasse, zu der breite Steintreppen hinauf führten.

Dann erblickte sie Wolfgang. Er hielt sich neben einem Rosenbusch verborgen.

„Ich musste dich noch mal sehen, Gabi, an deinem Geburtstag.“

Wolfgang van Bergen nahm seine Freundin in den Arm und zog sie zu sich heran.

„Aber wir haben doch heute Nachmittag...“

„Das ist so lange her“, unterbrach sie Wolfgang, „viel zu lange her.“

Er küsste Gabriele.

„Wie ist die Familienfeier? Kannst du sie ertragen?“

Gabriele erwiderte, sie habe sich viel zu viele Gedanken darum gemacht. „Alle sind so liebevoll zu mir. Der Herrgott hat mir doch tatsächlich eine Dunkelkammer einrichten lassen. Ist das nicht phantastisch?“

Wolfgang strich sanft über ihr langes Haar. „Ich wäre auch gerne dabei.“

„Ich weiß, Wolfgang, mir geht es genauso. Wirklich schade, dass es so gekommen ist. Aber...“ Gabriele unterbrach sich.

Wolfgang zog sie noch fester an sich.

„Sehen wir uns nachher“, sagte er, „wir können heute nacht Kunos Mansarde haben?“

„Ich weiß nicht, ob ich weg kann. Immerhin ist es meine Geburtstagsfeier!“, erwiderte Gabriele. Sie spürte, eine Kälte in sich aufsteigen. Als habe sich die ganze Zuneigung ihrer Familie, die sie in den letzten Stunden empfangen hatte, mit einem Mal verbraucht,

„Ich werde warten!“, sagte Wolfgang. „Wenn nötig die ganze Nacht!“

„Ich muss wieder rein!“

Gabriele fiel es schwer, sich von Wolfgang zu lösen.

„Bis nachher“, sagte sie, während sie die Steintreppe hoch ging, „ich will auf jeden Fall... versuchen... später... dich noch zu treffen.“

Als sie die hohe Eingangstür geschlossen hatte, musste sie einen Augenblick innehalten. Luft holen. Zu sich kommen. Sie hätte nicht nachgeben dürfen. Sich nicht verstecken. Es war ein Fehler gewesen, die Eltern zu bitten, bei ihrem Großvater ein gutes Wort für Wolfgang einzulegen. Ich hätte ausdrücklich auf seiner Einladung bestehen müssen, nicht bloß artig darum bitten. Oder den alten Herrn direkt darauf ansprechen. Aber sie wollte vor dem großen Fest keine Auseinandersetzung riskieren. Warum habe ich Wolfgang nicht zum Konzert einfach mit in die Bibliothek genommen, dachte sie? Die Gesichter hätte ich sehen mögen.

„Ach, hier bist du!“, rief ihr Vater, „die Musiker wollen beginnen und wir warten nur auf dich.“

Gabriele nahm all ihren Mut zusammen, bevor sie erwiderte, sie werde nach der Feier noch weg gehen.

„Tu uns das nicht an, Gabi. Nicht heute, ich bitte dich darum, jedes andere Mal, aber nicht heute.“

Thomas Anton legte seiner Tochter die Hand auf die Schulter.

„Versprich es mir!“

Sie spürte den Druck, den er auf sie ausübte, am ganzen Körper. Erzitterte, wie sie vor Beginn des Festes, gezittert hatte.

Eine Anspannung, die sich nicht entladen konnte.

Ohne zu antworten entzog sich Gabriele dem Griff ihres Vaters.

Hintereinander betraten sie die Bibliothek.

Alle Blicke richteten sich auf Gabriele.

Sie nahm in der ersten Reihe Platz. Auf Helenes hohem Lehnstuhl.

Die Musiker spielten das Forellenquintett von Schubert. Es war schon immer das Lieblingsstück ihres Großvaters gewesen.

- zwei -

Als Wolfgang van Bergen kurz nach fünf aufwachte, beschlich ihn das Gefühl, dass er nicht wieder einschlafen werde. Heute muss ich es ihnen mitteilen, dachte Wolfgang, während er sich im Bett von einer Seite auf die andere drehte.

Das jährliche Familientreffen stand an. Immer am letzten Sonntag im Februar. „Du willst uns doch wohl nicht im Stich lassen“, hatte Friedrich van Bergen einmal zu seinem Enkel gesagt, als Wolfgang ihm mitteilte, er müsse sich auf eine schwierige Klausur im Strafrecht vorbereiten und könne deswegen nicht heimkommen. „Mit dieser Tradition darf in meinem Hause niemals gebrochen werden!“ Wolfgang hatte sich frühmorgens in Marburg in den Zug gesetzt und war gehorsam nach Norden gereist.

Am letzten Sonntag des Februar mussten alle van Bergen für das Familienfoto posieren.

Seit 1948 gab es diese Fotos.

Jedes Jahr.

Friedrich van Bergen duldete keine Unterbrechung.

Die meisten Familienmitglieder lebten, verstreut über verschiedene Stadtteile, in der Hansestadt. Ein Zweig der Familie kam aus Chile, der Heimat von Wolfgangs Großmutter Teresa Aida. Victoriano und seine Frau Ursula richteten ihren jährlichen Besuch in Deutschland darauf ein, für das Familienfoto zur Stelle zu sein.

Wolfgang stand am Fenster und blickte auf das Hotel auf der gegenüber liegenden Straßenseite, in dem die Chilenen stets übernachteten. Die grüne Leuchtschrift wies einen Makel auf. Ein Buchstabe fehlte im Namen des Hotels. Seit Jahren schon.

Wann ist der beste Zeitpunkt, den Entschluss bekannt zu geben, dachte Wolfgang. Er wollte eine möglichst knappe Mitteilung machen, keinerlei Begründung geben, auf gar keinen Fall eine Diskussion zulassen. Auf seinen Onkel, den Arbeitsrichter Ulrich van Bergen konnte er zählen. Auch auf seine Frau. Tante Ulrike und ihre Freundin Detti, die für das Familienfoto aus Hannoversch-Münden anreisten, würden ihn wahrscheinlich auch unterstützen. Aber die anderen? Was sein Vater, sein Großvater und zwei seiner Onkel von seinem Entschluss hielten, hatte er sich schon häufiger ausgemalt. Sie würden über ihn herfallen.

Wolfgang holte seine Kladde aus dem Wäscheschrank, um sich einen Einfall zu notieren. Die unglaubliche Geschichte eines Mannes, der so lange Blumen sammelt, bis er unter der Last des Straußes auf seinem Grab zusammen bricht. Seit seiner Studienzeit schrieb Wolfgang. Juristengeschichten mit tödlichem Ausgang, harmlose Fälle mit fatalem Ende, Tötungen aus Versehen, unabsichtliche Selbstmorde. „Fälle und Todesfälle“, so nannte er die Sammlung.

Wolfgang blickte auf die linierten Seiten seiner Kladde, legte den Kugelschreiber zur Seite. Beim Aufwachen hatte er ein klares Bild von dem übereifrigen Sammler gehabt. Ein Mann sammelt die Blumen in allen Jahreszeiten und auf verschiedenen Kontinenten, überspringt Zeit und Raum, bis er endlich zu Tode kommt. Der Ablauf stand Wolfgang deutlich vor Augen. Es war der erste Satz, der ihm nicht gelingen wollte.

Am besten wird es sein, ich trete einfach nach vorne und sage es ihnen, nachdem der Fotograf sein Bild im Kasten hat. Ganz ohne Umschweife. Ich habe mich entschlossen... Gabriele hatte ihm abgeraten, seinen Entschluss vor versammelter Familie bekannt zu geben. „Warum sprichst du nicht erst mal mit deinem Großvater?“, schlug sie ihm vor, „wenn du dessen Zustimmung gewonnen hast, werden sich die anderen nicht mehr trauen, dich unter Beschuss zu nehmen.“

Vielleicht sollte ich doch bis zum Kaffeetrinken warten. Oder wenn das erste Schnäpschen gereicht wird. Auf den richtigen Zeitpunkt kommt es an, soviel war klar. Aber wann ist ein Zeitpunkt richtig? Und gibt es für diese Mitteilung überhaupt einen richtigen Zeitpunkt? In dieser Familie?

Wolfgang schrieb nur den Titel der Geschichte nieder: „Ein Blumenwunder“. Er legte die Kladde in den Wäscheschrank zurück. Zwischen die gebügelten Hemden.

Wen soll ich anschauen, wenn ich es ihnen sage? Wolfgang wurde wieder unsicher, ob der Familientag tatsächlich geeignet war, seinen Entschluss vorzubringen.

Gegen sieben Uhr zog er sich an. Er wollte seine Großmutter in den Bürgerpark begleiten. Sie liebte die morgendliche Frühe.

Das Haus, in dem einmal im Jahr der Familientag stattfand, verfügte über drei nicht allzu geräumige Etagen. Wolfgang und sein Bruder Justus wohnten im obersten Stock, der Großvater Friedrich van Bergen und seine Frau Teresa Aida belegten die Belle Etage im Hochparterre, sein Vater Eberhard und seine Mutter Mathilde lebten mit mittleren Geschoss.

An die Belle Etage schloss sich ein ausgedehnter Wintergarten an, in der Teresa Aida Montez die meiste Zeit des Tages verbrachte. Seine Großmutter saß in einem Rollstuhl, obwohl sie noch gehen konnte. Ließ sich das Essen servieren und blieb meistens stumm. Nur selten sah man ein Lächeln über ihr Gesicht huschen.

Wolfgang drückte ihr einen Kuss auf die Wange und wickelte die Wolldecke fest um ihre Beine.

Als sie die breite Allee im Bürgerpark, die an uralten Baumbeständen vorbei führte, erreicht hatten, beschleunigte Wolfgang das Tempo. Teresa Aida mochte die frische Brise und die flotte Fahrt.

Auf jeden Fall werde ich meinen Vater ansehen, wenn ich die Familie vor vollendete Tatsachen stelle. Er wird alles daran setzen, mich von meiner Entscheidung abzubringen. Von ihm wird der größte Druck ausgehen, ganz sicher. Obwohl die anderen Juristen der Familie, allesamt Richter oder Staatsanwälte, ihn ebenfalls in die Mangel nehmen würden. Sie waren in der Tradition der Familie geblieben, hatten die vorgezeichnete Spur nicht verlassen. Hoffentlich stand wenigstens sein Onkel Ulrich zur Fahne. Wolfgang hatte dem Arbeitsrichter gegenüber schon etwas angedeutet. „Das musst du ganz alleine für dich entscheiden, Wolfgang!“, hatte Ulrich van Bergen gesagt, „lass dir da von niemanden reinreden. Auch nicht von mir.“

Als Wolfgang seine Großmutter über die festgestampften Sandwege schob, dachte er wieder an seine Geschichte. Wie schafft es der Blumensammler, Zeit und Raum zu überspringen? Wenn er auf das Grab sinkt, fällt sein letzter Blick auf die Inschrift. Dort liest er seinen eigenen Namen. So könnte die Geschichte enden.

Teresa Aida hob ihre rechte Hand.

Das bedeutete, ich möchte umkehren. Genug des morgendlichen Vergnügens. Zurück in den Wintergarten.

Wolfgang wendete den Rollstuhl.

Gabriele hatte seine Bemerkung über die vollendeten Tatsachen nicht gefallen. „Das klingt kalt und abweisend.“ Es sei doch gar nicht geklärt, ob er auf bloße Ablehnung stoßen werde. In diesem Punkt hatte Wolfgang ihr heftig widersprochen.

„Das ist sehr lieb von dir, dass du mit ihr ausgefahren bist“, sagte sein Großvater, als die beiden wieder im Hause eintrafen. „In meinem Alter fällt mir das nicht mehr so leicht.“

Über Friedrichs Gesicht ging ein mildes Lächeln. Wie so oft ließ es Teresa Aida unerwidert.

„Meinst du, sie werden alle pünktlich zum Termin erscheinen?“, fragte sein Großvater.

„Wie jedes Jahr“, antwortete Wolfgang, „du kennst doch das Pflichtbewusstsein deiner Familie.“

Friedrich van Bergen war es, der so nachdrücklich auf der Tradition des Familienfotos bestand. In der Diele hatte er einen farbig ausgemalten, weit verzweigten Stammbaum der van Bergen aufgehängt. Der älteste Ahn datierte aus dem 11. Jahrhundert. Umrahmt wurde der Stammbaum von Ölgemälden, die einige der männlichen Vorfahren darstellten, allesamt in juristischen Ämtern, ernst dreinblickende Gesichter über hohen, weißen Halskrausen. Daneben die Reihe der sich jährlich wiederholenden Fotografien. Neunzehn an der Zahl.

Jetzt wäre eine gute Gelegenheit, dachte Wolfgang. Ich könnte Opa um ein kurzes Gespräch bitten.

Zögerlich verharrte er in der Diele.

Schon war die Gelegenheit verpasst.

Sein Großvater schob Teresa Aida im Rollstuhl in den Wintergarten.

Wolfgang eilte die Treppen hinauf. Er verspürte wenig Lust, an diesem Sonntag wie gewohnt mit seinen Eltern zu frühstücken.

Gegen halb neun fiel er ein leichten Schlaf.

Kurz nach Mittag trafen die ersten Familienmitglieder ein. Wolfgang stand mit seiner Mutter in der Küche und füllte Sekt in die Gläser.

„Jetzt nimm doch endlich diesen albernen Bart ab. Wie oft soll ich denn das noch sagen? So kommst du mir jedenfalls nicht aufs Bild." Sein Vater verharrte einen Augenblick. In seinem Gesicht gab es etwas, das nicht zu allem anderen passte. Ein Nasenflügel war kürzer als der andere, hatte aber wie zum Ausgleich ein größeres Nasenloch. Der Oberstaatsanwalt machte auf dem Absatz kehrt und ließ die beiden zurück.

Mathilde bat ihren Sohn, er möge seinem Vater den Gefallen tun. „Du weißt doch, er kann Bärte nicht ausstehen.“

„Mutter, ich bin achtundzwanzig Jahre alt, ich habe zwei Examina mit gut bestanden und soll mich immer noch nach seinem preußischen Geschmack richten. Das kann er nicht verlangen."

Wolfgang fing ein Sektglas geschickt auf, das seine Mutter beim Einschenken vom Tablett gestoßen hatte.

„Du weißt, dass ich immer zu dir halte, aber in diesem Falle..."

„Ich werde Opa fragen. Mal sehen, ob auch er mich vom Familienfoto verbannen will."

Mathilde stellte die leere Sektflasche in die Spüle und nahm eine neue aus dem Eisschrank.

„Das würde ich dir nicht raten, Wolfgang. Der alte Fritz verbannt ja schon Detti vom Bild." Seine Mutter sprach stets vom alten Fritz, wenn sie ihren Schwiegervater meinte. Allerdings nie in dessen Gegenwart.

Wolfgang wandte ein, Detti gehöre nicht zur Familie.

„Immerhin lebt sie mit deiner Tante Ulrike zusammen. Nun überwinde dich und tu deinem Vater den Gefallen. Dein Bart wächst schnell genug wieder nach.“

Wolfgang reichte ihr die Flasche und verließ die Küche. Er hatte keine Lust auf eine Auseinandersetzung.

Nicht in diesem Punkt.

Nicht an diesem Tag.

Es wurde Zeit, dass er endlich aus diesem Haus auszog. Beim Familienfoto würde er den ersten Schritt tun.

Er ging ins Badezimmer und stöpselte den Rasierapparat seines Vaters in die Steckdose. Lange betrachtete er sich im Spiegel. Komme ich eben nicht auf das verdammte Foto. Was liegt mir schon daran? Nur weil Opa diese dösige Tradition hoch hält. Wolfgang blickte zu dem altweiß gestrichenen Schrank hinüber. Ob dort noch immer das Buch mit den erotischen Fotos aus den zwanziger Jahren lag? Im untersten Schubfach. Er hatte mit seinem Schulfreund Peter beim Anschauen dieser Bilder die ersten sexuellen Erfahrungen gemacht. Damen in gekünstelten Posen, deren Scham nur zu erahnen war.

Ich bin doch ein Idiot, dachte Wolfgang, nachdem er die Barthaare auf der linken Seite abrasiert hatte. Es sah ganz lustig aus. Machen wir einen kleinen Kompromiss, ihr Herren Sozialdemokraten. Fast alle Mitglieder seiner Familie waren in der SPD. Spezialdemokraten, so nannte ein langjähriger Freund Wolfgangs die Regierungspartei in der Hansestadt, die seit Kriegsende das Sagen hatte.

Er verließ das Badezimmer und ging eine Etage tiefer.

In der Diele sammelten sich die Verwandten. Umarmungen, Schulterklopfen, Küsschen. Großes Hallo, aufgeregtes Wiedersehen. Selbst bei denen, die sich täglich sahen. Bei Gericht trafen Eberhard, Armin, Karl und Ulrich meistens mittags in der Kantine aufeinander.

Gerade waren Tante Ulrike und ihre Freundin Detti erschienen. Sie fuhren im offenen BMW, obwohl es im Februar eigentlich noch zu kalt dazu war. Beide trugen dunkelbraune Ledermützen, feste schwarze Kutscherjacken und identische Schals in Kirschrot.

Wolfgang freute sich, die beiden zu sehen. Durch ihr Erscheinen fühlte er sich ermutigt. Sie würden ihm beistehen, wenn er an den Pranger gestellt wurde. Juristen besaßen darin ausreichend Erfahrung.

Tante Ulrike drückte Friedrich van Bergen einen Kuss auf den Mund. "War ja ne Menge los in der Stadt, was Vati?"

Ihre Freundin Detti gab ihm höflich die Hand.

„Ist aber alles glimpflich ausgegangen“, erwiderte Wolfgangs Großvater.

„Man hatte das Gefühl, die Hansestadt wird wieder Räterepublik!" Ulrike schüttelte ihre lockige Mähne, nachdem sie die Lederkappe abgenommen hatte.

„Es lag ein revolutionärer Schwung in der Luft." Schaltete sich Onkel Ulrich ein. „Die Genossen haben ausgezeichnet reagiert. Ich fand das eine großartige Leistung, sich da mutig unter die Demonstranten zu stellen und mit ihnen zu diskutieren."

„Ach", warf Detti ein, „in unserer Zeitung stand: Der Mob sei aufgestanden und habe alles kurz und klein geschlagen."

„Du liest die falsche Zeitung", erwiderte Ulrich van Bergen. „Es gab fünf Tage Proteste und dann war die Lösung gefunden. Was will man mehr von einer funktionierenden Demokratie? Die Fahrpreise waren wirklich zu hoch für Schüler und Arbeiter."

Wolfgang stimmte seinem Onkel zu. Niemand schien bisher bemerkt zu haben, dass sein Vollbart nur auf einer Gesichtshälfte abrasiert war.

Sein Großvater sagte: „Es wäre bestimmt zu chaotischen Zuständen gekommen, wenn die Genossen nicht so überlegt reagiert hätten. Alles eine Frage des Taktgefühls."

„Aber dieser harte Polizeieinsatz war doch wirklich nicht nötig. Im Fernsehen sah es ziemlich brutal aus“, widersprach Ulrike van Bergen. Sie betrieb mit Detti einen Modeladen und war ganz aus der Art geschlagen. Niemals wäre sie auf die Idee gekommen, sich mit der Juristerei einzulassen.

„Im Fernsehen zeigen sie immer nur Krawallbilder. Das musst du nicht ernst nehmen, Ulrike", antwortete Ulrich van Bergen.

Wolfgangs Vater betrat die Diele. Erst vor wenigen Monaten hatte er eine weitere Sprosse auf der Karriereleiter erklommen.

„Redet Ihr schon wieder über Politik? Heute ist Familientag, da sollte etwas anderes im Vordergrund stehen."

„Was denn?", fragte Ulrike, nach sie ihrem ältesten Bruder die Hand gereicht hatte.

„Heute feiern wir uns, den Stamm van Bergen“, rief er überschwänglich aus, um etwas leiser fortzufahren: „Und meine Beförderung zum Oberstaatsanwalt."

Dann erblickte er seinen Sohn, stutzte. „Du bist doch nun wirklich zu alt für solche Albernheiten! Marsch, nach oben!“

Jetzt blickten alle Wolfgang an.

Die Kinder waren die ersten, die zu lachen anfingen. Sie steckten die Erwachsenen an.

Auch Wolfgang konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.

Im Bad setzte er den Rasierer an. Kurz bevor er die Haare auf der rechten Bartseite entfernt hatte, erblickte er im Spiegel seinen Vater, der im Türrahmen auftauchte.

„Danke, Wolfgang, dass du mir den Gefallen getan hast. Ich mag nun mal keine Bärte, ganz gleich, wo sie sitzen..."

„Opa hat auch einen Schnäuzer."

„Opa ist bald achtzig und darf alles. Aber du, du stehst am Anfang deiner Karriere. Was würden denn meine Kollegen bei Gericht sagen, wenn sie erfahren, dass ich noch so einen barbudo, wie deine Großmutter Teresa zu sagen pflegt, in meinem Hause dulde."

„Also sind es deine Kollegen, für die ich mich jetzt kahl rasiert habe?", fragte Wolfgang erregt. Am liebsten hätte er seinem Vater auf der Stelle seinen Entschluss mitgeteilt. Kurz und bündig. Wie die Nachricht von einem plötzlichen Todesfall.

„Lass gut sein, mein Junge, an so einem Tag streitet man nicht." Schon war Eberhard van Bergen wieder verschwunden.

Wolfgang betrachtete sein Gesicht. Die Haut sah ramponiert aus, ein paar rötliche Flecken hatten sich unter den Bartstoppeln gebildet. Er ging zum Wandschrank, um sich Talkumpuder zu holen. Automatisch fiel sein Blick auf das unterste Schubfach. Ob das Buch noch da war? Er hob die Handtücher hoch, die Pakete mit weißer Watte. Einen zerbrochenen Spiegel. Leere Nivea-Dosen, die seine Mutter aufhob. Nichts. Der Fotoband war verschwunden.

Wo war eigentlich Justus? Wahrscheinlich schlief der noch. Sein Bruder war ein Nachzügler, ganze sechzehn Jahre jünger. Ob Justus rechtzeitig für Familienfoto aufwachte?

Wolfgang ging hinunter zu seiner Mutter in die Küche. Mathilde spießte Käsestückchen und Weintrauben auf. Die farbigen Cocktailspieße waren über den ganzen Tisch verteilt. Mathilde nahm immer die roten und die weißen Spieße und arrangierte damit ein Muster auf der Vorlegeplatte.

„Großartig", sie küsste ihren Sohn, „so was nennt dein Großvater Taktgefühl."

„Ich weiß", gab Wolfgang von sich. „Die einen haben das Sagen, die anderen geben klein bei."

„Ist es denn wirklich so schlimm?", Mathilde griff zu einem gelben Spieß, um ihn in die Mitte zu platzieren.

„Und wenn Gabi mich nicht wieder erkennt?"

„Dann wäre es nicht schade um sie", scherzte seine Mutter. „Trag' das schon mal nach draußen. Wo denn nur die Chilenen bleiben? Wohnen am nächsten dran und kommen wie immer zu spät."

Die Chilenen waren längst eingetroffen. Mit ausgiebigen Umarmungsszenen, immerhin galt es mehr als zwanzig Personen an sich zu drücken, wurde in der Diele das Wiedersehen gefeiert.

Selbst in Chile hatte man von den Vorkommnissen in der Hansestadt gehört. Dort schrieben die Zeitungen, dass rote Horden die halbe Stadt verwüstet hätten.

Kurz vor dem Kaffeetrinken erschien der Fotograf.

„Endlich kommen Sie", fuhr Eberhard van Bergen ihn an.

Der Fotograf nahm es gelassen. Er kam immer zur gleichen Zeit.

„So, marsch, marsch, alles nach draußen", befahl der Oberstaatsanwalt. Er nahm das Familienfoto aus dem letzten Jahr von der Wand. „Ein bisschen Beeilung, keine Müdigkeit vorschützen.“

Jeder der Erwachsenen kannte seinen Platz. Es gehörte zur Tradition des Familienfotos im Hause van Bergen, dass sich jeder an der ihm zugewiesenen Stelle einfand. So könne man am besten sehen, wie sich die Familienmitglieder im Laufe der Jahre verändert hätten, war Friedrich van Bergens Begründung. Schon lange jedoch hatte ihn niemand mehr danach gefragt. Der Nachwuchs musste „eingenordet“ werden, wie Wolfgangs Vater diesen Vorgang nannte. Mit dem Foto in der Hand stellte er alle an die vorgeschriebenen Plätze.

„Wir sind dann wohl soweit", rief Friedrich van Bergen seinem Sohn Eberhard zu, als sich alle im Garten aufgereiht hatten. Wolfgangs Großvater stand neben der Plattenkamera und schaute auf die Häupter seiner Lieben.

„Wir holen jetzt Teresa", sagte Eberhard van Bergen zu Wolfgang.

Die beiden Männer liefen ins Haus.

Der Wintergarten, in dem Teresa Aida saß, war ein kleines Gewächshaus, auf gleichbleibend warmer Temperatur gehalten, immer ein wenig zu schwül. Wegen der Knochen, hieß es in der Familie.

„Fass mal mit an, Wolfgang." Sein Vater öffnete die Terrassentür. Sie trugen den Rollstuhl über fünf Treppenstufen in den Garten hinunter.

Teresa Aida war wie stets in schwarz gekleidet. Das Satinkleid am Hals hoch geschlossen und mit einer Rüsche eingefasst. Ihr weißes Haar schimmerte bläulich.

„Ola, suegra! Que tal?" rief ihr Schwiegersohn von seinem Platz aus. Seine drei Kinder sprangen auf die alte Dame zu und umarmten sie. Küsschen auf beide Wangen. Ursula schloss sich ihnen an.

Die anderen Familienmitglieder blieben auf ihren Plätzen stehen und nickten Teresa freundlich zu.

Eberhard und Wolfgang setzten den Rollstuhl exakt in die Mitte, so dass es den Anschein machte, alle würden sich alle um dieses familiäre Zentrum scharen.

Der Fotograf hatte genug Zeit gehabt, seine altmodische Plattenkamera in Stellung zu bringen. An diesem Februartag war sogar die Sonne heraus gekommen und beleuchtete das Familienidyll gnädig. Trotzdem würde er den Blitz in dem silbernen Schirm auslösen müssen.

„Bitte recht freundlich!", rief der Fotograf.

Die Mundwinkel verbreiterten sich, Zähne und Gebisse blitzten auf, Ohrläppchen bewegten sich, Stirnfalten glätteten sich. Strahlende Kinderaugen. Wolfgang stellte sich das zufriedene Gesicht seines Großvaters vor. Auf jedem der neunzehn Fotos war es genau gleich.

Alle standen sittsam auf ihrer Position. So glückvoll wie sie in diesem Moment nur aussehen konnten.

„Also, jetzt, alle mal herschauen."

Mit einem lauten Krach flog ein Gegenstand durch die Luft.

Die Köpfe drehten sich nach hinten.

Was war passiert?

Obwohl Wolfgang in der letzten Reihe stand, hatte er nichts mitbekommen. Glas war gesplittert.

Der Fotograf musste den Gegenstand auf die Platte gebannt haben. Aber...

Alle blickten sich verwundert an.

Hatte der Knall etwas mit dem hellen Blitz zu tun?

Auf dem Foto sind nur unsere Hinterköpfe zu sehen, dachte Wolfgang amüsiert. Bis auf das Gesicht von Teresa Aida. Er wollte sich den Einfall merken. Für eine kleine Geschichte in seiner Sammlung.

„Eine Kleiderpuppe!“ Friedolin, der jüngste Sohn des Staatsanwaltes Karl van Bergen, hatte den Gegenstand als erster entdeckt. "Jemand hat eine Kleiderpuppe aus dem Fenster geworfen."

Er hob die nackte, rosafarbene Kleiderpuppe hoch.

„Das war Justus!“ Eberhard van Bergen schlug sich gegen die Stirn. „Den habe ich doch glatt vergessen."

„Was ist denn schon wieder mit Justus?", fragte seine Frau erbost.

Niemand war aufgefallen, dass Justus nicht zum Familienfoto erschienen war. Auch nicht dem Oberkontrolleur.

Wolfgang rief über die Köpfe der anderen hinweg: „Du hast ihn mal wieder eingesperrt, oder?"

„Was schreist du mich an? Hol' ihn her, sofort", kommandierte der Oberstaatsanwalt.

„So wie du mich früher auch immer eingesperrt hast." Wolfgang dachte nicht daran, der Anordnung seines Vaters zu folgen.

„Ich hole Justus." Mathilde lief über die Treppen zum Wintergarten ins Haus hinein. Obwohl sie allen den Rücken zukehrte, bekam jeder mit, dass Mathilde weinte.

„Que pasó?", fragte Victoriano, der nicht verstanden hatte, was sich Vater und Sohn zugerufen hatten.

„Eso es normal aqui!", antwortete Teresa. Es war der erste Satz, den sie an diesem Tag gesprochen hatte.

„Du hast ihn glatt vergessen, was?“, setzte Wolfgang nach. „Dann kannst du auch mich vergessen."

Er bahnte sich einen Weg.

Mitten durch die Reihen seiner Verwandten.

Beinahe hätte er die Plattenkamera zu Boden gerissen.

Detti, die am Rande stand, versuchte ihn aufzuhalten. Vergeblich.

Erst als Wolfgang in seinem VW saß und mit den Händen auf das Lenkrad trommelte, fiel ihm ein, dass er der Familie seine Entscheidung nicht mitgeteilt hatte.

Er war seit einigen Wochen fest entschlossen, sich als Rechtsanwalt in der Hansestadt nieder zu lassen und eine eigene Kanzlei aufzumachen. Wenn seine Altvorderen, die allesamt Staatsanwälte oder Richter waren, einen Berufsstand verachteten, dann war es dieser. Er kannte alle Vorurteile, die seine Familie seit Generationen gegenüber Rechtsanwälten hatte. „Rechtsverdreher" war die häufigste Bezeichnung, aber keineswegs die bösartigste.

Das wird das erste Familienfoto, auf dem ich nicht mehr zu sehen bin, dachte Wolfgang, als er den Wagen startete.

Fast eine Stunde fuhr er in der Gegend herum. Ziellos.

Ich hätte es ihnen sagen müssen, rief er immer wieder, ich hätte es ihnen vor die Füße werfen müssen, ich hätte mich nicht so hinreißen lassen dürfen. Was bin ich doch nur für ein Idiot.

Erst am nächsten Morgen erfuhr er, warum sein Vater Justus eingesperrt hatte.

Es handelte sich um eine Geringfügigkeit.

Wie immer.

Justus war dabei erwischt worden, als er sich das Buch aus dem Badezimmerschrank angeschaut hatte.

- drei -

„Stehen Sie gefälligst auf, wenn wir mit Ihnen reden!", befahl Direktor Habermann. Wenn sein lauter Bass im Schulgebäude erklang, hatten andere eine Generalpause.

Augenblicklich änderte sich die Stimmung in der U I a. Nun blickten alle nach vorne. Gerade hatten noch die Schüler geprustet, jetzt hieß es aufgepasst. Ein Zweikampf stand an.

Hannah war ungerührt. Mal sehen, wann der Propeller dieses Mal seine Stimme verliert.

Langsam drehte sie sich nach hinten zur Klasse, blieb aber auf ihrem Stuhl sitzen.

„Sie sollen aufstehen!" Die zweite Aufforderung, eine Tonart höher. Habermann kam näher an ihr Pult. Gefolgt von Engelstein.

Hannah wiegte den Kopf auf den Schultern.

Sie wusste, was die Klasse von ihr erwartete.

Es war nicht ihr erster Tanz.

„Können Sie nicht normal mit mir reden? Ich bin doch nicht so schwerhörig wie unser Lehrkörper."

Der Direktor, den man seit Schülergenerationen den Propeller nannte, beugte sich vor.

„Als erstes stehen Sie jetzt auf." Alarmierendes Es-Dur. Überschrieen.

Was will er denn schon wieder? An der Farbe seiner Fliege konnte man den Wochentag ablesen. Grüne Fliege hieß Montag. Andacht in der Aula. Vorhin erklang sein tiefer Bass, noch ganz protestantisch.

„Hannah, ich denke, Sie sollten sich nun aber wirklich erheben", sagte der Klassenlehrer Engelstein.

„Erhebe dich du schwacher Geist und stell dich auf die Beine!“, zitierte Hannah ihren Vater.

„Unterlassen Sie das! Aufhören!“

Jetzt will er mir auch noch die geflügelten Worte verbieten, ganz schön dreist heute, dachte Hannah.

„Wird das hier ein Dienstgespräch?", fragte sie und schaute den Direktor herausfordernd an. Schon manches Mal hatte sie diesem Herrn Paroli geboten.

„Das ist ein consilium abeundi", tönte Habermann.

„Ach so, Hinrichtung." Hannah streckte beide Hände vor. „Haben Sie keine Handschellen? Es besteht Fluchtgefahr."

„Jetzt hören Sie mit diesen unbotmäßigen Äußerungen auf!", flehte der Klassenlehrer.

„Ich bin unbotmäßig. Haben Sie das nicht gewusst, Engel?"

Habermann trat einen Schritt zurück. Die kleine Stufe zum Podest, auf dem sich das Lehrerpult befand, wäre ihm beinahe zum Stolperstein geworden.

„Meine Damen und Herren" - seit der Obersekunda war diese Anrede im Kreutz-Gymnasium vorgeschrieben – „sollten Sie mit ihrer Mitschülerin sympathisieren, können Sie gleich ihre Taschen packen. Solange ich an dieser Schule Direktor bin, machen nur solche Schüler Abitur, die wissen, was sich gehört..."

„Ich gehöre mir", fuhr ihm Hannah dazwischen.

Die Klasse applaudierte.

Das fahle Licht, das durch die hohen Fenster hereinkam, gab der Szenerie ein besonderes Flair. Wie ein Abgesang auf abgedunkelter Bühne.

„Hier wird nicht applaudiert, meine Damen und Herren. Wenn Ihnen das nicht passt..."

Der Direktor riss die Klassentür auf. Mit heftigem Schwung prallte sie gegen die Garderobenhaken.

Jetzt kam Hannah hoch.

„Mir passt es schon lange nicht!“ Und marschierte los. Dann eben Abgang, sogar die Tür hat er mir schon geöffnet. Wie höflich.

Habermann auf seinem höchsten A: „Sie bleiben gefälligst hier!"

Engelstein wollte sie zurückzuhalten.

Hannah schob seine Hand weg. Nun ist Habermann fällig, gleich wird es wieder passieren. „Wo geht’s denn hier zur Schlachtbank?“, fragte sie den Direktor und machte dabei einen tiefen Katzbuckel.

Die Klasse johlte.

„Hannah, um Himmels willen, ich bitte Sie", ihr Klassenlehrer stellte sich vor Habermann, „warum veranstalten Sie so einen Zirkus?"

„Ich?" entgegnete Hannah. „Sie veranstalten diesen Zirkus! Ich weiß doch nicht mal, warum ich von der Schule fliegen soll."

Der Direktor zog ein Exemplar der Schülerzeitung aus der Jackentasche. Er schwenkte das hektographierte Blättchen in der Luft.

„Das hier ist..." weiter kam er nicht. Seine Stimme war futsch. Sieg im Sängerkrieg, K.O. in der ersten Stunde. Dem Direktor versagte der Bass. Ging stimmlos zu Boden. Welch schöner Anblick!

Engelstein nahm dem Direktor das „Spektrum“ aus der Hand. „Damit haben Sie den Bogen aber wirklich überspannt. Tut mir leid für Sie. Ich hätte Sie gerne durchs Abitur gebracht."

„Sie hätten mich gerne durchfallen lassen, Engel."

Lachsalven in Klassenstärke.

Habermann fuchtelte mit beiden Armen. Immer noch um seine verlorene Stimme bemüht.

Engelstein warf das Blättchen auf Hannahs Pult. „Das wird Sie teuer zu stehen kommen."

An diesem Montag war die neueste Ausgabe der Schülerzeitung „Spektrum" erschienen. Mit einer Grafik von Aubrey Beardsley, die einen Mann mit hoch aufgerecktem, überdimensionalen Penis darstellte. Anstelle des Kopfes hatten die Redakteure ein Foto des Englischlehrers Möller montiert.

„Dann muss ich den Gabelmann machen", antwortete Hannah.

„Was?" fragte Engelstein entsetzt.

„Den Gabelmann", sie hob drei Finger hoch, „Offenbarungseid. Ich hab' keinerlei Rücklagen."

„Raus", Habermann auf schrillster Höhe, „raus, raus, raus...“

Zwei Männer steckten ihre Köpfe durch die Tür.

„Sie können Sie abführen", krächzte der Direktor heiser, an den Klassenlehrer gewandt: „Sie setzen den Unterricht jetzt fort, Kollege Engelstein. Das ist ein dienstlicher Befehl."

„Jawoll", antwortete die Klasse im Chor. „Habermann befiehl, wir folgen!"

Der Direktor schlug die Tür laut zu. Auf dem langen Gang wurden Klassentüren geöffnet. Als die Lehrer ihren Schulleiter erblickten, zogen sie sich rasch wieder zurück.

„Wir sprechen uns noch", sagte Habermann zu Hannah und ging mit schnellen Schritten davon.

„Sie kommen mit uns", befahl einer der beiden Männer.

„Ich denke ja gar nicht daran", erwiderte Hannah. „Mein Vater hat mir verboten, mit fremden Männern zu gehen."

Der jüngere der beiden zog Handschellen aus der Innentasche seines Jacketts und ließ sie vor Hannahs Gesicht baumeln.

„Wenn Dir das lieber ist!"

„Duzen Sie mich nicht. Wir haben nicht zusammen die Schulbank gedrückt."

„Klar, ich hab ja auch nur Realschule, Fräulein."

Hannah rannte los.

Sie sprintete den Gang entlang. Hatte dieses Haberschwein doch tatsächlich die Polypen geholt. Das würde ein Tanz werden, der nach einer ganz anderen Melodie ging. Nicht so wie damals, als sie ihren ersten Schulverweis kassierte.

Hannah schaffte es bis zur Treppe. Dann spürte sie den Zugriff an ihrer Schulter.

„Also doch lieber Silber, Fräulein."

Der ältere Mann war etwas aus der Puste, als er hinzu kam.

„Man hatte uns schon gewarnt, dass du eine harte Nuss bist. Deswegen hab ich mir auch den schnellsten Kollegen von der Fahndung mitgenommen."

Während der junge Polizist Hannah die Handschellen anlegte, sagte er: „In Mathe und Deutsch bin ich immer nur knapp mit dem Bauch über die Hürden gekommen, aber in Sport hatte ich nie etwas Schlechteres als eins."

„Du Arschloch", brüllte Hannah, „du bist so ein grenzmäßiges Arschloch." Sie trat dem Polizisten gegen das Schienbein.

„Nu´ is´ aber Schluss!", griff der Ältere ein. „Wir tun hier nur unsere Pflicht. Sie kommen jetzt mit zu einer Vernehmung, ins Präsidium. Dann sehen wir weiter."

„Wie weit?", rief Hannah. Sie hatte die Hoffnung nicht aufgegeben, dass irgend jemand sie hörte. Es konnte doch nicht sein, dass die Schulsprecherin des Kreutz-Gymnasiums abgeführt wurde, und niemand bekam es mit.

„Unser Wagen steht auf dem Schulhof, Fräulein!"

„Hilfe, Hilfe", schrie Hannah. Der jüngere Polizist stieß sie die Treppe hinunter. Hannah fiel hin, rutschte über zwei, drei Stufen, sackte in sich zusammen.

„Fluchtversuch", sagte der Ältere, „werden wir gleich auf der Wache zu Protokoll geben."

Hannah wimmerte.

„Komm, komm, dir ist nix passiert, gar nix. Du markierst doch nur." Der Jüngere der beiden zog sie an der Windjacke hoch. Eine Naht riss auf.

„Wir haben den Auftrag, Sie ins Präsidium zu bringen", sagte sein Kollege, als sei die Zeit für Erklärungen gekommen.

Als sie Hannah auf den Hof geschleift hatten, gingen in einigen Klassen die Fenster auf. Erst waren es nur wenige, dann in rascher Folge immer mehr. Die Schüler schauten hinunter.

„Hannah", rief einer.

„Was woll´n die Bullen?“ Ein anderer.

Sie skandierten ihren Namen.

Han- nah, Han - nah, Han - nah.

Es war keineswegs einfach, sich mit gefesselten Händen auf die Hinterbank eines Polizeiwagens zu zwängen. Die beliebteste Methode war, den Festgenommen mit dem Kopf zuerst hinein zu stoßen. Er ruckelte sich dann schon selbst zurecht.

Bei Hannah verfuhren die beiden Fahnder anders.

Wie ein eingespieltes Team ergriff der Jüngere die Beine, brachte Hannah aus dem Gleichgewicht, der ältere Polizist fing sie an den Schultern auf. Ohne hörbares Kommando schwangen sie die Schülerin mit den Füßen zuerst auf die Rückbank.

Sofort wurde die Tür zugeschlagen.

Hannah konnte sehen, dass nun alle Fenster des backsteinernen Schulgebäudes geöffnet waren.

Exit Schulsprecherin, Beifall auf offener Szene.

„Geht es gleich in die Folterzelle oder darf ich vorher noch meine Familie verständigen?"

Der jüngere Polizist startete den Wagen.

„Ich hab' Sie was gefragt!", setzte Hannah nach.

„Das haben wir gehört." Kam es vom Beifahrersitz.

„Und warum antworten Sie nicht?"

„Uns sind die Antworten ausgegangen! Mal sehen, vielleicht gibt es morgen ja wieder welche. Kann aber auch sein, dass wir noch ein paar Tage warten müssen. Antworten sind rar geworden in diesen Tagen, Fräulein."

Noch so ein Blödian, dachte Hannah. Ihr war die Lust vergangen, noch weitere Fragen zu stellen. Ihre Familie würde schon früh genug erfahren, welches Spiel man mit ihr trieb. Das würde sich ihr Vater nicht bieten lassen, der würde sie rausboxen. Schneller als die beiden da vorne Amen sagen konnten.

Die Fahrt zum Polizeipräsidium dauerte kaum eine Viertel Stunde. In einem Punkt hat Habermann Recht, dachte Hannah. Die neueste Nummer des „Spektrum" bedeutete das Ende ihrer Schulzeit am Kreutz-Gymnasium. Immerhin war sie die Chefredakteurin und damit im presserechtlichen Sinne verantwortlich. Sie stand im Impressum, den Regeln für Schülerzeitungen gemäß.

Schon vor knapp einem Jahr wäre sie beinahe von der Schule geflogen. Nur dem Einfluss ihres Vaters war es zu verdanken gewesen, dass sie mit einem schriftlichen Verweis davon gekommen war. Sie hatte beim Schülerball eine kleine Szene aufgeführt. Ein Lehrer korrigiert Hefte. Wie mit einem Degen fuchtelt er herum und drischt auf die Schüleraufsätze ein. Hannah las am Mikrofon ihren Text vor, während ihr Freund Bernie die Bewegungen pantomimisch vorführte. Eine Nachhilfeschülerin kommt ins Zimmer des Lehrers. Er stellt ihr ein paar Aufgaben und setzt seine Korrektur fort. Am Schluss nimmt er der Nachhilfeschülerin die Aufgaben ab, korrigiert sie ebenfalls mit seinem Degen und kassiert zwanzig Mark. Davon will er sich einen blauen Smoking kaufen. Um diesen Schluss der Szene war es gegangen. Obwohl die Summe stimmte, zwanzig Mark kostete eine private Nachhilfestunde, durfte man das nicht in der Öffentlichkeit sagen. Hannah wurde zu Habermann zitiert. Der Direktor führte einen Beschluss des Lehrerkollegiums herbei. „Sie haben damit einen ganzen Berufsstand diffamiert", hatte er gesagt und dazu den Zeigestock über ihrem Kopf geschwungen. „Sie hätten sich gewiss nicht getraut, den Berufsstand ihres Vaters derart zu beleidigen." Was allerdings in der neuesten Ausgabe des „Spektrum" stand, war von ganz anderem Kaliber.

„Aussteigen, Endstation."

Der ältere der beiden Beamten zerrte Hannah von der Rückbank.

„Lassen Sie mich, ich kann alleine gehen. Ich hab genug von ihrer Behandlung. Das wird ein Nachspiel haben, das garantier’ ich Ihnen."

„Und ob das ein Nachspiel haben wird, Fräulein! Dafür sorgen wir schon selber“, sagte der junge Fahnder. „Wir sind Meister im Nachspiel... und ich gestehe, dass ich auch ein Meister im Vorspiel bin. Jedenfalls höre ich das von meinen Frauen."

„Nutten lügen immer", erwiderte Hannah.

Sie fing sich eine Ohrfeige ein.

„Die kommt auch aufs Konto", sagte Hannah.

„Auf dein Konto, Fräulein. Wir wissen, was Widerstand gegen die Staatsgewalt ist."

Im Aufzug waren ihnen die Worte ausgegangen. Was für ein Montag, dachte Hannah, erst versagt dem Propeller die Stimme, dann zwei Blödiane von der Bullerei, bin gespannt, wer sich mir als nächster in den Weg stellt.

Hannah war bei den Auseinandersetzungen um die Straßenbahntarife nicht verhaftet worden, aber sie hatte gesehen, dass die hansestädtische Polizei nicht zimperlich mit den Festgenommenen umging. Ihrem Freund Bernie hatten die Polypen einen Schädelbasisbruch verpasst. Er lag immer noch in der Klinik. Zweimal hatte Hannah sich einer Verhaftung entziehen können, weil die staatlichen Schläger gerade mit anderen Demonstranten beschäftigt waren.

„Hier rein", der Jüngere schubste Hannah gegen die Tür. Ohne sie zu öffnen.

Hannah prallte mit dem Gesicht gegen die Scheibe.

Ihre Nase blutete.

„Oh, das war nicht beabsichtigt", sagte der ältere Fahnder. „Entschuldigen Sie." Er reichte ihr ein Taschentuch.

Hannah stieß seine Hand weg.

Die Tür wurde von innen geöffnet. Ein hochgewachsener Mann trat ihr entgegen.

„Musste das wieder sein!", fuhr er seine Beamten an.

„Sie hat Widerstand geleistet, Kollege."

„Wir haben auch unsere Vorschriften", sagte der Jüngere. Er schaute zu Hannah: „Und wenn du mir das nächste Mal gegen das Schienbein trittst, dann breche ich dir alle Knochen, du Miststück."

„Kommen Sie rein", sagte der Polizist. „Und Ihr verschwindet, aber ein bisschen plötzlich, gleich wird Stiesing hier erscheinen."

Die beiden Fahnder drehten auf der Stelle ab.

„Ich muss mich für meine Kollegen entschuldigen, aber..." Er führte Hannah an das kleine Waschbecken. „Wenn Sie sich erst mal sauber machen wollen..."

Hannah besah sich im Spiegel. Soweit hast du es also gebracht, dass du per Bullenwagen aus der Schule abgeholt wirst, dachte sie. Nicht ganz ohne Stolz.

Das Nasenbluten war schnell gestoppt.

„Bis unser Polizeidirektor Stiesing kommt, können wir ja schnell mal die Personalien hinter uns bringen. Sie heißen?"

„Und wie heißen Sie?", fragte Hannah zurück.

Sie reckte das Kinn nach oben und schloss halb die Augen, tänzelte mit dem Kopf auf den Schultern, wie sie es häufiger tat, um die Reaktion ihrer Gegenüber kennen zu lernen.

„Entschuldigung, ich habe vergessen, Ihnen meinen Namen zu sagen, ich bin Oberkommissar Lindow, K 14."

K 14, Staatsschutz. Hannah hatte fast damit gerechnet.

Lindow nahm hinter seinem Schreibtisch Platz und zog ein Formular aus der rechten Schublade.

„Setzen Sie sich doch."

„Ich bleib lieber stehen. Vor der Staatsautorität sollte man entweder stehen oder buckeln."

„Wie Sie wünschen."

Lindow schob seine Brille auf die Nase.

„Name?"

„Huneus, Hannah. Hannah vorne und hinten mit H."

Lindow stockte.

„Huneus? Sind Sie verwandt mit Thomas Huneus?"

„Ja. Das ist zufällig mein Großvater."

Nach einer kurzen Unterbrechung setzte Lindow die Vernehmung fort.

„Geboren?"

„19.5.1950."

„Wohnhaft?"

„Nein."

„Wie nein?"

„Ich laufe noch frei rum. Weiß aber nicht, wie lange noch."

Oberkommissar Lindow verzog keine Miene.

„Ich meine Ihre Adresse, Fräulein Huneus."

Während Hannah sie ihm nannte, kam Polizeidirektor Stiesing herein. Ein untersetzter Vierschröter, dessen Uniform alle Rundungen seines schweren Körpers mitmachte.

„Stiesing", stellte er sich zackig vor. „Das ist ja schnell gegangen."

Er reichte Hannah die Hand. Sie war schwitzig und kalt.

„Nehmen Sie doch Platz, dann lässt sich der Sachverhalt leichter klären."

„Welcher Sachverhalt bitte?", fragte Hannah.

Die beiden Männer machten nicht gerade einen besonders hellen Eindruck. Polypen halt, dachte sie. Wer landet schon bei der Polizei? Im Hause Huneus sprach man von diesem Berufsstand stets mit einer gewissen Verachtung. Hirnlose Schlägertypen. Negative Auslese. Wie eben alle Justizbeamten.

„Ach, sind wir noch nicht so weit?", fragte der Polizeidirektor seinen Untergegebenen.

Der Oberkommissar schüttelte den Kopf.

„Ich hätte mal eine Frage", ging Hannah dazwischen, „ist es üblich, dass sich ein Polizeidirektor an einer simplen Vernehmung beteiligt?"

Stiesing räusperte sich.

„In Ihrem Falle, gewiss."

„Warum kommen wir dann nicht zur Sache", konterte Hannah und schaute Stiesing herausfordernd an. „Ich möchte eine Anzeige erstatten."

„Gegen wen?", fragte Lindow.

„Gegen die Poly...Polizisten, die mich misshandelt haben. Das ist Körperverletzung im Amt, so weit kenne ich mich aus. Die beiden haben mich die Treppe hinunter gestoßen, in den Polizeiwagen geworfen und meinen Kopf gegen die Bürotür geschmettert, wenn das keine Körperverletzung ist..."

„Frau Huneus", sagte Stiesing.

„Ach, Sie kennen sogar schon meinen Namen!", stellte Hannah fest. Zu dumm, ein Loch in den Schnee zu pinkeln, aber ausreichend, um Polizeidirektor zu werden.

„Frau Huneus, Sie sagen uns, wer ihre Hintermänner sind und wir lassen Sie laufen!" begann Stiesing erneut.

„Hintermänner?"

„Haben Sie Verbindung zu Moskau?"

Hannah versuchte, ruhig zu bleiben.

„Oder Peking?", ergänzte Lindow.

„Leider muss ich Sie da enttäuschen, wenn ich Beziehungen nach Moskau hätte, dann würde ich hier nicht sitzen!"

Das Telefon klingelte.

Der Oberkommissar nahm ab. Erhob sich von seinem Bürostuhl. Das Polster war so durchgesessen, dass eine Sprungfeder sichtbar wurde.

„Nein...", er schaute Hannah an, „nein, noch nicht. Ja, natürlich... sofort. Auf jeden Fall... da können Sie sich drauf verlassen. Ja, der Direktor ist hier ... wollen Sie ihn... nein, gut... ich melde mich umgehend!"

Lindow legte den Hörer auf, setzte sich wieder auf seinen Stuhl. Sein Schnauzbart wippte aufgeregt auf und nieder. Unter der Nase hatten sich kleine Schweißperlen gebildet, die sich bald zu einem größeren Tropfen vereinigen würden.

„Das war Meiser! Stimmt’s?", sagte Hannah. Der möchte sicher wissen, wo die undichte Stelle ist, dachte sie.

„Ja, nein, das geht Sie gar nichts an", gab Lindow zur Antwort.

„Wollte der Herr Polizeipräsident wissen, ob ich schon alles gestanden habe?"

„Das hat Sie nicht zu interessieren", fuhr Stiesing dazwischen. „Frau Huneus, wir stellen Ihnen jetzt ein paar einfache Fragen, die können Sie beantworten und dann lassen wir Sie laufen."

„Und ich dachte, ich bekomme ohne rechtliche Anhörung gleich lebenslänglich!" Hannah zog sich einen Stuhl heran.

Drei Stunden später traf Hannah mit ihrer älteren Schwester zusammen. Sie saßen bei „Kuno" und tranken Bier.

Die Kneipe war seit langem ein Treffpunkt der Schülerbewegung. Hier wurden Aktionen diskutiert und Pläne für Happenings geschmiedet, hier wurde getrunken und heimlich gekifft. Zwar gingen die Schüler davon aus, dass sich gelegentlich Mitarbeiter des K 14 unter die Gäste mischten, aber das nahmen sie hin. Es gab andere Treffpunkte, die der Staatsschutz nicht so leicht ausfindig machen konnte.