Das Kassandramal - Tschingis Aitmatow - E-Book

Das Kassandramal E-Book

Tschingis Aitmatow

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Beschreibung

Eine rätselhafte Erscheinung bringt die Menschen rund um den Erdball in Aufruhr: Auf der Stirn schwangerer Frauen taucht ein Zeichen auf - ein Zeichen des Kindes, das auf verstörende Weise mitteilt, es wolle in diese Welt voller Grauen nicht geboren werden. Ratlosigkeit, ja Panik ergreift die Menschen angesichts des unbeherrschbaren Phänomens. Schon immer hat Aitmatow mit seinen Romanen Erwartungen durchkreuzt, neue Grenzen gesucht. Das Kassandramal ist seine schonungslose Ansicht über die Zustände der Welt in der jüngsten Epoche. Die Antwort auf die bedrängende Frage nach der Gefährung aller Gattungen und Lebensgrundlagen wird hier in uns selbst, in der Tiefe der ureigensten Verantwortung gesucht.

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Seitenzahl: 569

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Über dieses Buch

Eine rätselhafte Erscheinung bringt die Menschen rund um den Erdball in Aufruhr: Auf der Stirn schwangerer Frauen taucht ein Zeichen auf - ein Zeichen des Kindes, das auf verstörende Weise mitteilt, es wolle in diese Welt voller Grauen nicht geboren werden. Ratlosigkeit, ja Panik ergreift die Menschen angesichts des unbeherrschbaren Phänomens.

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Tschingis Aitmatow (1928-2008) erlangte mit Dshamilja Weltruhm. Sein Werk fußt auf den Erzähltraditionen Kirgisiens und verarbeitet die Grundfragen der Zeit.

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Friedrich Hitzer (1935–2007) war freischaffender Autor, Übersetzer und Redakteur und engagierte sich als Kulturvermittler zwischen Europa, Russland und Mittelasien. 2006 wurde er mit der Puschkin-Medaille für sein Lebenswerk als Brückenbauer geehrt.

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Tschingis Aitmatow

Das Kassandramal

Roman

Aus dem Russischen von Friedrich Hitzer

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 2 Dokumente

Diese Ausgabe wurde nach dem russischen Manuskript mit dem Titel Tavro Kassandry übersetzt.

Originaltitel: Tavro Kassandry

© by Tschingis Aitmatow 1994

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Nora Napaljarri Nelson (Ausschnitt)

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30746-9

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Version vom 13.06.2022, 16:32h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

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Inhaltsverzeichnis

DAS KASSANDRAMAL

1 – Auch dieses Mal war im Anfang das Wort …2 – An den Papst von Rom3 – Er schwamm lange im Ozean. Inmitten der Wale …4 – Ich blicke mich im Raumschiff um, schwebe schwerkraftlos …5 – Sehr geruhsam sollte der Abend nicht werden …6 – Nachdem er den Hörer endlich auflegen konnte …7 – Dieser Tag erstrahlte in einem Licht, wie dazu …8 – Zeitweise trug es die Klänge des Cellos aus …9 – Der größte Teil des Artikels für die Tribune …10 – Robert Bork saß neben dem Schreibtisch inmitten eines …11 – Die kurzfristig angesetzte Direktübertragung aus dem Weltall fand …12 – Die letzten Wale, die sich ans Ufer geworfen …Epilog1 – Lieber Anthony, meine Zeit brennt jetzt ab wie …2 – Filofejs Texte an Bord der Orbitalstation FX …3 – Dieser Lebensweg brachte mich schließlich in den Weltraum …4 – Zu jener Zeit kannte man mich in den …5 – Umgehend fand man für unsere Arbeit ein kleines …6 – Später habe ich mir immer wieder die eher …7 – An dieser Stelle brach die Beichte ab …

Mehr über dieses Buch

Über Tschingis Aitmatow

Tschingis Aitmatow: Über mein Leben

Kasat Akmatow: Tschingis Aitmatow bei sich zu Hause

Über Friedrich Hitzer

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Zum Thema Asien

Als Kassandra die Liebe Apolls zurückwies, bestrafte er sie. Niemand sollte mehr ihren Vorhersagen glauben, obgleich sie sich stets erfüllten … Und daraufhin wurde die Prophetin von der Königin Klytämnestra in Mykene getötet.

Aus der griechischen Mythologie

Da lobte ich die Toten, die schon gestorben waren, mehr denn die Lebendigen, die noch das Leben haben; und besser denn alle beiden ist, der noch nicht ist und des Bösen nicht innewird, das unter der Sonne geschieht.

Prediger, 4. Kapitel

1

Auch dieses Mal war im Anfang das Wort. Wie damals, in der bekannten Geschichte. Und obwohl Es nicht Gott verkörperte, war doch alles, was danach geschah, nur die Folge des Gesagten.

Jene, die als Erste, ganz unvorbereitet, mit der so unerwarteten Erscheinung konfrontiert wurden, wären nie auf den Gedanken gekommen, dass sie später diese Geschichte, um die Wette schreibend, in Memoiren und Bestsellern als größte Erschütterung ihres Jahrhunderts darstellen würden. Und sie konnten ihr Zeugnis nicht anders beginnen als mit dem banalen Satz: »An jenem Tag begann alles wie in einem Kriminalroman.«

Aber so war es, als plötzlich die gesamte Redaktion zu einer außerordentlichen Sitzung in die Chefetage zusammengerufen wurde und die Anweisung erging, die Konferenz bis auf Weiteres streng abzuschotten. Es durfte aus der Redaktion weder angerufen noch auf Anrufe oder Faxe geantwortet und kein Besucher, wer er auch sein mochte, ins Gebäude der Tribune eingelassen werden.

Mit diesem Ausnahmezustand begann alles.

Wer hätte es sich träumen lassen, dass eine solche Erklärung auf den Frontseiten der Weltpresse veröffentlicht würde! Aber man musste sich entscheiden, hier gab es nur ein Entweder-oder. Und die Tribune, die schon lange heimlich, aber energisch an ihrem Image einer »weltweiten Meinungsmacherin« arbeitete, konnte der Versuchung nicht widerstehen (einer teuflischen, versteht sich, wie ihre Opponenten später ausführten). Eine globale Sensation, exklusiv veröffentlicht – die Zeitung hatte ohne Übertreibung sehr viel riskiert, ja va banque gespielt und auf eine blitzartige Publikation dieses in der Menschheitsgeschichte unerhörten Dokuments gesetzt.

In der Hitze der sich überschlagenden Ereignisse hatte einer der Leitartikler die prophetischen Worte, die sich vielen einprägten, fallen lassen: »Nun denn, Freunde«, sagte er und hielt die frisch gedruckte Seite demonstrativ vor sich hin, »das Undenkbare ist geschehen, die Weltgeschichte ist aus den Fugen! Und wir haben es gewagt, unsere Tribune! Diese Latte überspringt keiner, der Rest ist unwichtig! Wie es ausgeht, werden wir ja sehen!« Dann schüttelte er den Kopf und fügte vielsagend hinzu: »Kollegen, Verzeihung bitte! Jetzt rette sich, wer kann!«

Die Warnung war begründet, wenn man genauer nachdachte. Jeder hatte das begriffen. Die Stimmungen in der Redaktion wechselten an jenem Tag von Stunde zu Stunde, alle – vom Chefredakteur bis zu den Volontären von der journalistischen Fakultät – waren entweder restlos verzweifelt, schlossen sich ein und verließen ihren Schreibtisch nicht mehr, um nicht miteinander reden zu müssen, oder sie rannten in heller Aufregung durch Korridore und Arbeitszimmer mit aufgerissenen und irrlichternden Augen. Dabei war es an der Zeit, an etwas anderes zu denken, nämlich Türen und Fenster des Gebäudes zu verbarrikadieren, um einem Ansturm der Menge standhalten zu können. Vermutlich ließ der nicht mehr allzu lange auf sich warten, alle Zeichen sprachen dafür, dass ein tobender Menschenstrom (keine Polizei in der Welt hätte ihn aufhalten können!) die Scheiben in Stücke schlagen, die Telefonapparate am Boden zerschmettern, die Möbel und die gesamte Organisationstechnik zertrümmern würde, ja man würde die Zeitungsleute bei laufenden Fernsehkameras für Reality-Shows am Kragen packen und wütend durchschütteln, weil sie es gewagt hatten, die gesamte Weltöffentlichkeit von einer Stunde zur andern in Panik zu versetzen, kurzum – die Redaktion hatte etwas ausgelöst, was noch nie da gewesen war und woran sich kein Mensch, womöglich seit Anbeginn der Tage, erinnern konnte. Doch vorerst wussten die Menschen von nichts.

Es trieb sie wie an jedem anderen Tag in lärmenden Mengen durch die Straßen der großen amerikanischen Stadt, wie lebende Flüsse um gläserne Wolkenkratzer, und daneben strömten unablässig glitzernde Automobile über den Fahrdamm, hoch über den Köpfen schwebten blendend durchsichtige Helikopter. Vorerst nahm alles seinen gewohnten Gang auf Erden, mit dem Wechsel von Tag und Nacht, mit Geburt und Tod der Geschöpfe. Vorerst war noch niemand außer sich geraten oder hatte mitten auf einem Platz aufgeschrien, erschüttert von der rücksichtslosen Zeitung, die hemmungslos in die geheimsten Sphären, in die fraglosen Gesetze der ewigen Weltordnung eingedrungen war. Vorerst hatte noch niemand den Brandsatz geworfen, der alle so aufwühlte, dass sie sich auf die Teufelsbrut stürzten …

Aber all das konnte jeden Augenblick eintreten. Die Tribune traf ihre Vorbereitungen im Geheimen, um jeder Konkurrenz zuvorzukommen. Die Ausgabe musste buchstäblich aus dem Stand gemacht werden; hätte sie sich auch nur um eine halbe Stunde verzögert, wäre das Material, das aus dem Weltraum gesendet worden war, von allen anderen Zeitungen rund um den Globus veröffentlicht worden, wer weiß, wie die Sache dann geendet hätte. Um nichts auf der Welt hätte die Tribune solch eine Chance ausgelassen, und wenn am nächsten Tag eine allgemeine Sintflut alles Leben auf Erden ausgelöscht hätte und niemand mehr, versteht sich, eine Zeitung gebraucht hätte.

Und der Ozean, jener Urspeicher einer möglichen, ja eines Tages unvermeidlichen, universalen Sintflut, war an diesem Tag mächtig aufgewühlt, er schlug gegen die Kontinente des Planeten, wiegelte mit seiner gesamten, unverrückbaren Masse den Erdball auf dessen Umlaufbahn, spielte in den Tiefen und aus den Tiefen mit gewaltigen Strömungen, ja der Ozean erregte sich selbst in plötzlich aufbrandenden Wallungen der Wellen, drehte unaufhörlich die Wasser, er glitzerte und glänzte zu der Stunde über dem ganzen atlantischen Raum.

Der Futurologe blickte aus großer Höhe auf das kochende Magma und ergötzte sich daran am Fenster des Flugzeugs über dem Atlantik. Und was er betrachtete, begeisterte ihn an jenem sonnigen Tag ganz besonders, obgleich daran nichts Besonderes war – der Ozean in der Tiefe, Wasser und Wellen, ein eintöniger, wüstenhafter Horizont. Das winzige menschliche Auge, dachte er, kann die unfassliche Weite des Weltraums überblicken. Nicht einmal dem Adler über den Wolken war solch eine Panoramasicht gegeben. Ja, dank der technischen Leistungen schafft der Mensch eine zweite Realität, entdeckt immer neue Mittel für seine universale Anpassungsfähigkeit und baut sich von eigener Hand die Glückseligkeit einer Himmelsbehausung. Früher konnte nur Gott die Erde im Ganzen überblicken und über der Welt wie ein unsichtbarer Wirbel in unsichtbarer Höhe dahinjagen. Im beharrlich gleichmäßigen Dröhnen des Flugzeugs ließ sich der Futurologe von solchen Gedanken in eine Stimmung der Muße versetzen. Genau das war es, was er sich zu der Stunde wünschte, während er noch am Himmel weilte: sich entfernen, völlig allein sein … Leicht berauscht vom Whisky, der am Grund des großen Glases mit den Eiswürfeln golden schimmerte, setzte er der angenehmen Erregung des Blutes keinen Widerstand entgegen, ganz im Gegenteil – er wollte das seltene Gefühl, da er sich befreit fühlte und nur sich gehörte, möglichst lange erhalten. So ausgezeichnet hatten sich doch die Götter nach einem Glas Wein fühlen müssen, dachte der Futurologe nicht ohne Selbstironie in dem Moment; und dass die Sitze neben ihm leer waren, also niemand neben ihm saß, der ihn durch seine Gespräche hätte ablenken können, war ebenfalls ein Glück des Augenblicks.

Der Futurologe kehrte von einem seiner gewohnten Aufenthalte in Europa zurück: wieder so eine internationale Konferenz, eine Tagung von Intellektuellen, erfüllt von den endlosen Diskussionen, die zu einer Art Lebensweise für dieses kosmopolitische Milieu geworden waren, nichts als Debatten, die sich in den Kreislauf von Meinungen und Prognosen ergossen. Die Perspektiven der Weltzivilisation … Die Gefahren des monopolaren Entwicklungsmodells … All jene stets aktuellen Probleme, bei deren Reflexion die Tage und Jahre, das ganze Leben eines Harvardgelehrten zerfloss. Und je länger er sich in diese Wissenschaft der Orakel vertiefte, desto deutlicher entdeckte er ein unergründliches, schwarzes Loch in dem vom Menschen geschaffenen Leben auf Erden; hier spürte er, dass das, was man so beharrlich zu erforschen sich bemühte, verschlüsselt blieb – nämlich die Ziele, Handlungen und das alltägliche Verhalten des gegenwärtigen Menschengeschlechts. Mitunter dünkte es ihn, der Mensch trage eine zwanghafte Unruhe in sich – immer will er das Schicksal im Voraus ausloten, sich unablässig mit dem Sinn des Lebens abquälen, eben mit all dem Kram, der sich ohnehin niemandem erschließt, nicht heute oder morgen, auch nicht in tausend Jahren. Versuch es doch einmal, sagte er sich, und verweigere dich diesem unaufhörlichen Wettlauf in der Zeit; wozu überhaupt solch ein Leben, warum nicht vor Erschöpfung und Verzweiflung abbrechen, statt stets in vollem Lauf jeden Schimmer am Horizont einschätzen zu wollen; aber dann wäre das Leben unnütz. Wird das Schicksal denn nicht unfruchtbar ohne ein Bild der Zukunft? Wie schwierig war es doch zeitweise, wissenschaftlich gelassen zu bleiben und über den Händeln der Parteien, über den Widersprüchen zu stehen und objektiv zu prognostizieren, zu welchen Abgründen sich das sogenannte Rad der Geschichte hindrehe; vielleicht war es gar kein Rad, sondern ein Ding, das sich überhaupt nicht drehen konnte, also eher eine Radfelge, die durch einen schrecklichen Schlag plattgedrückt war und in der alle Speichen auseinandergeborsten waren. Diese Form der Bewegung hatte in der Wissenschaft noch niemand genau definiert.

All seine ewiggleichen Weggefährten auf dem Feld der empirischen und zugleich dramatischen Futurologie boten ja nur Annäherungen, Deklarationen und Skizzen, nichtsdestoweniger stürzten sie sich auf alles, wollten alles deuten und vorhersagen. Vor manchen Prognosen aus jenem hohen, aber wackligen Glockenturm wollte man schlicht davonlaufen wie vor einer schwarzen Regenwolke, die eigenen, analytischen Schlüsse jagten einem einen Schrecken ein, du spürst allenthalben die gleiche Richtung in den schicksalhaften Windungen der Geschichte – die Offensive der unbezähmbaren Kräfte, die überall und offen zur Machtübernahme streben und dabei an der Stelle des alten Übels das Böse neu hervorbringen; denn jegliche Macht, wie sie ihre Motive auch darstellen mag, ist ein Kreislauf von Anordnen. Bei all ihrem sehnsüchtigen Wahrheitsstreben, mit all ihren unerreichbaren Idealen war die Futurologie letztlich eine einzige Seelenqual. Und doch war es schwierig, auf sie zu verzichten, auf diesen urtümlichen Hang zur Vorwegnahme, denn schon der Urmensch neigte dazu. Selbst der Mensch ohne Wort suchte spontan-intuitiv und zugleich tief-analytisch im chaotischen Zusammenleben die Wege einer möglichst optimalen Entwicklung; das gehört zum Menschen, auch wenn er glaubt, er suche danach aus völlig uneigennützigen, ja messianischen Impulsen. Darauf zu verzichten wäre Verleugnung des eigenen Wesens, so ist Schicksal. Was soll geschehen – wie viele Jahre hat Bork dieser Frage geopfert. Schon seit Studienzeiten! In der Meinung der Gesellschaft zu überleben, war für die prognostizierenden Wahrsager nicht einfach, die Gesellschaft verlangte stets etwas unverzüglich Pragmatisches, und da gab es ja auch noch die exakten Wissenschaften. Die legendären, antiken Zeiten waren längst vergangen; damals genügten ja dem Orakel von Delphi die Innereien der Opfertiere, die vor aller Augen erstochen und ausgenommen wurden, um die Vorzeichen des Schicksals – ob Untergang oder Triumph – zu bestimmen. Und damit glichen die Orakel den Beratern der Götter. Doch das 20. Jahrhundert hatte vor solchen Dingen wenig Ehrfurcht.

Aber auch das war nicht weiter schlimm. Die beruflichen Interessen überwogen ja zumeist, und Bork hatte seine eigene Sphäre im Umgang mit geistig nahe stehenden Menschen. Dieses Mal zum Beispiel fiel die Reise des Futurologen nach Europa mit der Präsentation seines in Frankfurt am Main herausgegebenen Buches zusammen. Beim Empfang hatte jemand scherzhaft mit einem deutschen Doppellaut gespielt. »In der großen Stadt am Maine«, sagte einer, »erscheint das große Buch Meine Herausforderung, mit dem der Autor vor allem sich selbst widerlegt.« Dieses Buch war tatsächlich eine Herausforderung seiner selbst. Der Linksradikalismus und die einstigen Leidenschaften seiner Jugend mussten abgeschüttelt werden wie Kletten. Man musste bei sich selbst beginnen, wollte man die bittere Erfahrung der extremistischen Jahrhundertmode überwinden.

Danach fand eine Pressekonferenz statt, und er hatte Bücher signiert. Auf dem Ausflugsdampfer – die Fahrt im Rheingau dauerte nicht lange – kam das Interview für den Spiegel zu Stande. Der ergraute Apostel der Futurologie wurde vor dem Hintergrund des felsigen Ufers fotografiert, während er gemächlich an den steilen Hängen entlangtrieb. Und da ließ jemand wieder so einen liebenswürdigen Scherz fallen. Die verwitterten Felsen, wurde gesagt, passen so gut zu dieser Erscheinung, die ja nun einmal so bedeutsam sei wie ein alter Felsen. Und er erwiderte darauf etwas spöttisch: »Vielleicht wollen Sie dem Interview die Überschrift verpassen – Altfelsen sinniert.« Und der »Altfelsen« hatte laut nachgedacht. Was heißt denn, sich selbst herauszufordern? In der Wissenschaft, also auch im Leben? Geht es um eine Revision der eigenen Erfahrung und eigenen Überzeugungen? Glaubt der Apostel, dass das Fazit des Lebens im fatalen Pessimismus endet? Stellt solch ein Wagnis die Futurologie nicht überhaupt infrage? Natürlich wurde auch nach dem Wohlbefinden gefragt. Wie schmeckt dieser Rheingau-Riesling? Wunderbar! Diese Amerikaner lassen sich so leicht begeistern, besonders wenn sie deutscher Abstammung sind.

Und nun fühlte sich Bork wie der Sportler, der in der Pause nach einem anstrengenden Spiel in die Umkleideräume flieht, um von allem abzuschalten, die Spannung und den Stress abzubauen; hier im Flugzeug wollte der Futurologe einfach nicht an das denken, was ihn ständig umtrieb. Zu all diesen Fragen wäre so viel zu sagen, womöglich in einer großen Monographie. Um Bilanz zu ziehen und abzuschließen, was nie zu beenden ist, sein Lied der Lieder …

Ob ihm das gelänge – zu überzeugen und das Denken an die Schwelle neuer wissenschaftlicher Einsichten heranzuführen – zu den womöglich letzten Verallgemeinerungen seiner langjährigen Forschungen? Robert Bork war der Ansicht, dass die Menschheit ganz neue Erkenntnisse verarbeiten, ja gewaltige Prüfungen bestehen müsse, etwa im Zusammenhang mit der Abkühlung oder auch der Erhöhung der Sonnentemperatur. Und wenn die Menschheit die tragische Möglichkeit ihres eigenen Untergangs einsähe, würde diese Einsicht – eben das wäre äußerst wichtig – zur Quelle und zum Impuls bei der Entdeckung neuer Überlebensmethoden, neuer Wege und Formen der Entwicklung, was wiederum zu einem neuen Typus des Denkens führen müsste. Und genau das war sein, Robert Borks, Lied der Lieder, darüber wollte er schreiben, er hatte vor, ein solches Bild des künftigen Daseins vorwegzunehmen und vorherzusagen. Aber würde er es schaffen? Eine gewaltige Arbeit … Und die Zeit drängte unerbittlich …

Unter den Tragflächen wogte der Ozean nach wie vor grenzenlos, auf den Wellen trieben Lichtflecken ihr blitzendes Spiel. Seine Reisen fielen selten auf so einen Tag. Sonne, wolkenlose Höhe, die Weite und der zielstrebige Flug in einer Bewegung, die über dem Ozean für immer und ewig erstarrt schien … In rund anderthalb Stunden musste sich das Ufer des Festlands abzeichnen, und danach würde die Landung beginnen, dann wäre auch diese Himmelspause zu Ende, und schon die ersten Schritte würden ihn wieder in das Menschengewühl des lärmenden Flughafens stürzen.

Indessen ereignete sich aber noch während des Fluges etwas Ungewöhnliches und in einem Leben wohl Einmaliges. Bork war ein leidlicher Hobbyfotograf, er trug den Apparat stets bei sich und knipste wahllos alles, was ihm auffiel. Er missbrauchte ihn besonders für verschiedenartige Himmelslandschaften, das heißt – für Wolken. Seine Frau Jessie verzweifelte angesichts der Fülle unnützer Fotografien, die ihr Haus im Vorort verstopften. Wenn sie gereizt war, schalt sie ihn einen »Fotorologen«, einen »Fotomüllmann« und drohte mit einem ordentlichen Feuerchen für diesen Abfall, aber auch das konnte seinen Eifer für das zwanghafte Hobby nicht abkühlen. Er meinte dann zumeist selbstironisch: »Ich bin nun mal Stratosphäriker, bei der Wissenschaft schwebe ich in Abstraktionen, beim Fotohandwerk in den Wolken.«

Auch dieses Mal hatte er Lust, unterwegs etwas zu knipsen, um ein bizarres Wölkchen, das wie ein Kind bei gutem Wetter am Firmament spazieren geht, seiner Kollektion hinzufügen zu können.

Er schmiegte sich ans Fenster und richtete den Fotoapparat her. Leider war kein würdiges Wölkchen zu entdecken, der Himmel war rundum klar, sah man von den paar Bällchen ab, die tief unter dem Flugzeug umhertrieben. Und plötzlich erblickte er aus der Schräglage – das Flugzeug zog gerade eine Kurve – die große Herde rasch schwimmender Wale im Ozean. Das Bild bot sich dermaßen scharf dar, war räumlich und zeitlich in einem Blick zu erfassen, so überwältigend, dass ihm der Atem stockte. Und gerade von ihnen, den Walen, träumte er doch so häufig. Mitunter erschienen sie ihm wie dunkle Visionen, die im Meer dahinziehen und ihn zu sich rufen. Und da waren nun die Wale in der Wirklichkeit. Und welch unwahrscheinlicher Anblick! Die Wale schwammen im Keil, wie die Kraniche am Himmel. Etwa zwanzig Stück. Das Flugzeug lag zwar wieder auf geradem Kurs, aber die Wale waren noch zu sehen. Machtvoll zerpflügten sie die auflaufenden Wellen und sprühten über den Köpfen ganze Fontänen aus, dann verschwanden sie in Schlünden und tauchten wieder wie Gebirgswände auf, sie zogen in einheitlicher Zielstrebigkeit dahin, ohne vom eingeschlagenen Kurs abzuweichen. Robert Bork hatte, fasziniert von der Kraft und dem Willen in der Bewegung der Walherde, alles vergessen und stellte sich sogar vor, dass er selbst in diesem gigantischen Zug zwischen den Walen mitschwimme, ja dass er ein Walmensch sei und dass Wasser in glitzernden Strömen von seinem Rücken abfließe wie Gewitterregen von einem Hügel. Und er schwimmt mit einem betäubend pochenden Herzen in der Brust, wie er in dem brandenden Ozean inmitten der Wale zu sich kommt, ein plötzlich erwachter Instinkt lässt ihn begreifen, dass er von nun an mit den Walen bis ans Ende seiner Tage verbunden bleibt, und das Geheimnisvolle dieser Begegnung öffnet seine Seele – was die Wale heimsucht, ereilt auch ihn, was ihm widerfährt, stößt auch den Walen zu … Er hat also nicht zufällig von ihnen geträumt. Nein, das ist kein Zufall. Aber wohin schwimmen sie so zügig zu dieser Stunde? Ist vielleicht irgendwo etwas geschehen? Wohin wollen sie ihn locken? Und mit welcher Absicht?

Ganz und gar unsicher, ob es aus dieser Entfernung funktionierte, knipste der Futurologe dennoch rasch ein Bild von den Walen. Gleich darauf holte er sich den Hörer des Flugtelefons aus der Halterung des Sitzes. Es drängte ihn, sofort zu Hause anzurufen. Er wählte rasch und gab dem Telefeld das Bankkonto, die Vorwahl und die Privatnummer ein, er verwählte sich einmal und begann von Neuem, die Ziffern einzugeben, und dachte nur noch an diese eine, in diesem Augenblick außerordentlich wichtige Sache. Er war in dem Zustand, in dem ein Mensch sich durch nichts beirren lässt. Und bereit ist, alles lautstark zu verkünden, was ihn bewegt, ja sogar jeden Unsinn. Die paar Fluggäste der ersten Klasse dösten in einiger Entfernung vor sich hin, und es war auch keine Stewardess in der Nähe. Bork dachte nur noch daran, dass sein Anruf durchkam: Wo ist sie nur, warum nimmt sie den Hörer nicht sofort ab? Wo bist du, Jessie? Vielleicht schon unterwegs, um mich abzuholen? Warum so früh? Ich muss sie im Auto anwählen! Gerade seiner Frau wollte er über dieses Ereignis berichten und erzählen, wie er die Wale gesehen hatte, als ob er die Ankunft nicht mehr abwarten könnte. Nahe Freunde verlachten ihn nicht von ungefähr – ein Ehetrottel, er bleibt ihr sogar treu, wenn er träumt.

Aber die Wale im Ozean hatten sich bereits verborgen, sie waren seinem Blickfeld entschwunden …

»Jessie!«, rief er aus, als sie in der Muschel zu hören war. »Weißt du noch, wie ich dir von meinen Träumen über Wale erzählt habe?«

»Hallo, was ist denn los? Bist dus, Robert? Wo bist du?«

»Soeben habe ich sie gesehen! Ich bin den Walen im Ozean begegnet!«

»Aber wo bist du? Wie konntest du sie sehen? Du bist doch in der Luft?«

»Verzeih! Ja, wir fliegen überm Ozean und werden bald landen. Verstehst du, das war, ja das war etwas … Grandioses, ich habe das noch nie gesehen.«

»Langsam, langsam, warum verhaspelst du dich? Wale? Um Gottes willen, so beruhige dich doch! Erzähl es mir später, wenn du daheim bist. Aber hör doch nur, hier geschieht etwas, ich weiß gar nicht, wie ichs dir sagen soll. Alle stehen unter Schock. Sie lesen die Tribune, alle, ja alle. Habt ihr keine Zeitungen von heute an Bord? Was frage ich nur – es ist ja eine Extraausgabe der Tribune, soeben über Funk und Fernsehen bekannt gegeben … Wohin man kommt, alle stürzen sich darauf …«

»Was soll das denn sein? Eine politische Sensation? Ein Misstrauensvotum an die Regierung?«

»Wenns nur das wäre! Ich weiß nicht, wie ichs dir erklären soll. Ich bin noch beim Lesen. Etwas Außerirdisches.«

»… Aber worum gehts? Was ist es denn?«

»Das Sendschreiben eines kosmischen Mönches an den römischen Papst! Eigentlich an alle, ja an alle Menschen …«

»Wie bitte? Gibt es seit Neuestem einen Orden mit Weltraumklöstern? Was redest du da … «

»Ich kanns dir nicht sagen. Eine Menge Text. Alle lesen.»

»Was ist der springende Punkt?«

»Der Absender behauptet, er habe eine wissenschaftliche Entdeckung gemacht. Verzeih mir, es sieht so aus, dass die Menschen jetzt anscheinend selbst entscheiden können, ob sie auf die Welt kommen wollen oder nicht.«

»Was soll denn das, Jessie?« Der Futurologe verstummte, er fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen und wunderte sich – aber es stimmt, ja, er befindet sich wahrhaftig in einem Flugzeug, das fliegt. Und dann kam er wieder zur Sache. »Ich verstehe gar nichts mehr! Orientalische Mystik oder irgend so eine Häresie! Wie kann man so etwas behaupten? Das wäre ja ein schrecklicher Gedanke. Das heißt, die Wale …«

»Was hat das mit den Walen zu tun? Wenn du da bist, wirst dus lesen und dir selbst ein Bild davon machen … Alle rufen sich gegenseitig an … Viele sind verwirrt und ebenso viele dermaßen empört, dass sie bereit sind, die Tribune zur Hölle zu schicken. Unsere Freunde meinen, du solltest Stellung nehmen, was nun geschehen soll …«

»Jessie, ich versteh dich schon. Sag mir nur noch eines – wer ist dieser rätselhafte Mönch im Weltraum? Ein Astronaut oder Kosmonaut, der auf seiner Umlaufbahn übergeschnappt ist?«

»Er nennt sich Mönch Filofej.«

»Filofej? Merkwürdig!«

»Ja, Filofej!«

»Filofej, Filofej. Seltsam. Ist er etwa Russe?«

»Ich weiß es nicht. Ist schon möglich.«

»Die Russen hatten schon mal einen Filofej in ihrer Geschichte. Der ist bestimmt Russe. Von denen kannst du alles Mögliche erwarten. Die haben in unserem Jahrhundert allerhand durchgemacht … Ein Eremit, sagst du? Er hat sich also in seine Weltraumklause zurückgezogen und schleudert uns von dort seine Ideen her, viel reiner als die revolutionären … Das ist tatsächlich etwas Neues.«

2

An den Papst von Rom!

Eure Heiligkeit, bevor ich mich für die Beunruhigung entschuldige, die Euch aus dem fernen Weltraum zugefügt wird, und zwar unmittelbar von der Orbitalstation FX, wo ich mich nun schon im dritten Jahr einer Expedition für die Erforschung der Genetik aufhalte, neige ich in Gedanken mein Haupt, knie vor Euch nieder und küsse inbrünstig Eure Hand. Verzeiht meiner sündhaften Seele und hört, wenn Ihr es für möglich erachtet, meine auf den ersten Blick scheinbar völlig absurden, geradezu verderblichen Ideen und Schlüsse an – ja, sie stiften Schaden, wenn sie nach der herrschenden moralisch-historischen Erfahrung beurteilt werden. Ich leite sie zwar von praktischen Beobachtungen ab, habe sie aber trotzdem hautnah durchlitten und – ich erkühne mich, das anzunehmen! – verdanke sie womöglich dem Willen und der Eingebung durch die Vorsehung. Andernfalls würde ich Euch nicht beunruhigen, Heiliger Vater, da ich sehr wohl begreife, wie unerwartet und hemmungslos mein Aufruf an Euch aussehen muss. Allerdings hege ich die Hoffnung, dass die Motive meines Appells im Kontext des Briefes einleuchten.

Ich beginne damit, dass das Schicksal mich unbedeutenden Forscher dazu auserkoren hat, ein zuvor unbekanntes Bewusstseinsphänomen zu erkennen, nämlich den geistigen Reflex des entstehenden Embryos. Mir ist es gelungen, diese Tatsache des werdenden Bewusstseins experimentell nachzuweisen, und ich betrachte diesen Umstand als eine neue Chance, unsere Evolution auf Erden zu vervollkommnen. Ich habe mein Leben der Forschung gewidmet, welche Faktoren der Umwelt auf die Entstehung und Entwicklung des Lebens im Mutterleib einwirken. In komplexen wissenschaftlichen Versuchen untersuchte ich die Möglichkeit äußerer Einwirkungen auf innere Lebensvorgänge.

Und nun bitte ich ergebenst, mich bis zum Schluss geduldig anzuhören.

Es sei wiederholt, dass diese umwälzende Entdeckung zweifellos die künftige Lebensweise der Menschheit prägen wird. Ich sehe mich zur Wahl solcher Worte gezwungen, weil bisher niemand imstande ist, diese Entdeckung, für die es keine Analogien gibt, zu bewerten, da auch niemand von ihrem Wesen eine Vorstellung hat.

Konkret handelt es sich darum, dass es nun eine Methode gibt, mit der eine negative Reaktion des Embryos auf dessen potentielles Schicksal festzustellen ist, oder anders gesagt – auf die Außenwelt, die den Embryo erwartet. Wenn sich bei einem keimenden Wesen solch ein Widerstand zeigt, dann wird ihm von nun an, dank der von mir erarbeiteten Methoden, die Möglichkeit verliehen, sich durch Impulse vernehmen zu lassen. Die Impulse gehen von ihm selbst aus, und zwar mittels eines Zeichensignals, das ich »Kassandramal« nenne. Die werdende Persönlichkeit ist nämlich schon in den ersten Wochen ihrer Entwicklung fähig, ihr Verhältnis zu den bevorstehenden Gegebenheiten in der Außenwelt vorwegzuahnen und zu bestimmen. Ich interpretiere diese staunenswerte Eigenschaft der Leibesfrucht als verborgenen Widerstand gegen die Geschichte, als den Instinkt eines apokalyptischen Vorgefühls und in diesem Zusammenhang als eine Urform von Willensbekundung und Protest. In den folgenden Lebenswochen im Mutterleib wird die Reaktion allmählich erlöschen und abgelöst durch eine Gewöhnung und Versöhnung der Frucht mit der sie erwartenden Zwangsläufigkeit. Tatsache bleibt aber: Dass der Kassandra-Embryo die Welt, die ihm bevorsteht, schon im Voraus ablehnt, hat es zweifellos immer gegeben, seit Menschen entstanden sind, aber die Wissenschaft konnte erst jetzt die Bedeutung des Kassandramals als Reaktion auf ein sensorisches Anfragesignal herausfinden.

Übersetzt in die uns geläufige Sprache, könnte das etwa so umschrieben werden: »Wenn es nach meinem Willen ginge, würde ich lieber nicht geboren werden. Zur Antwort auf eure Anfrage sende ich euch meine Zeichen, die ihr als mein Vorgefühl des Verhängnisses bewerten könnt, das mich und alle, die mit mir sind, erwartet. Und wenn ihr das so deutet, dann wisst ihr, dass ich, ein Kassandra-Embryo, vorziehen würde, den Weg des künftigen Lebens zu verlassen, und somit niemandem zur Last falle. Ihr fragt an, und ich antworte: Ich erwarte die Befreiung, ich sehne mich nicht nach dem Leben. Wenn man mich, ohne Rücksicht auf meinen Willen, zwingt, auf die Welt zu kommen, nehme ich mein Schicksal an, so wie es alle zu allen Zeiten getan haben. Aber in meinem Fall könnte das auch unterbleiben. Das ist alles. Den Rest müsst ihr entscheiden, vor allem die Mutter, die mich empfangen hat. Aber zuerst macht euch kundig. Ich bin ein Kassandra-Embryo! Solange es noch nicht zu spät ist, sich von mir zu verabschieden, bin ich dazu bereit. Ich, der Kassandra-Embryo, werde mich einige Tage zu erkennen geben und euch meine Signale senden. Ich, der Kassandra-Embryo, sehne mich nicht nach der Geburt, ich will sie nicht, ich will sie nicht, ich will sie nicht … Ich, der Kassandra-Embryo.«

Selbstverständlich ist niemand verpflichtet – das gilt für jeden einzelnen Fall –, die Signale eines embryonalen Lebensboykotts ernst zu nehmen. Wenn eine Leibesfrucht eine negative Reaktion anzeigt, wenn also das Kassandramal als flimmernder Punkt auf der Stirn einer schwangeren Frau aufleuchtet – ein Pigment, so winzig wie ein Senfkorn mitten auf der Stirn –, wird es alsbald wieder erlöschen und spurlos verschwinden. Und alles ist vergessen, niemand muss darüber etwas erfahren, wenn man es vergessen will. Ja, mit den Schultern zucken und nicht mehr daran denken … Aber die Wissenschaft kann nicht zur Tagesordnung übergehen. Ich habe hinter diesem Phänomen eine Gegenwelt entdeckt, ein verzerrtes Spiegelbild menschlichen Lebens, das sich über Jahrhunderte herausgebildet hat. Hat etwa Salvador Dalí seine unheimliche Vision einer Welt geschmolzener Uhren von daher bezogen? Sollten wir nicht ein embryonales Unterbewusstsein, das unerklärliche, katastrophale Vorgefühle äußert, anerkennen und ernst nehmen? Ist es sinnvoll, Lehren aus diesem mystischen Vorgang jenseits unseres irdischen Erfahrungshorizonts zu ziehen? Wäre es nicht legitim, die embryonale Angst aus dem Inneren des werdenden Lebens auf das reale Leben zu beziehen, auf die Erscheinungen, die vielleicht die Hauptursache für dieses apokalyptische Selbstgefühl sind? Die Mutter ist der Abguss der Welt. Deutet das auf einen rein physiologischen Charakter des Problems hin? Ist etwa die Mutter der unwillkürliche Leiter der Einflüsse aus der sie umgebenden Wirklichkeit?

Wie anders, frage ich mich, lässt sich ein solcher Ausbruch an unsichtbarer Not erklären? Dass die Embryonen in vielen Fällen den Strom des Lebens und den Kreislauf des Lebens verlassen wollen, im Nichts verschwinden und den Lebenskampf nicht aufnehmen? Woher kommen die Kassandra-Embryonen? Aus welcher Unterwelt? Und was haben sie uns und sich selbst mitzuteilen? Die Daten der Computerstatistik auf der Orbitalstation FX weisen auf eine wachsende Verbreitung des Kassandramals unter den Schwangeren hin. Vorerst misst dem aber niemand die nötige Bedeutung bei; es wird vielmehr vermutet, dass es sich nur um eine Art Pigmentstörung handelt. Was verbirgt sich tatsächlich dahinter?

Um diese Fragen zu beantworten, möchte ich, mit Eurer Erlaubnis, Heiliger Vater, die Geschichte so darlegen, wie sie war …

Doch zuvor suche ich zu erklären, warum das, meines Erachtens, gerade Euch interessieren muss und weshalb ich mich in dieser Situation ausgerechnet an Eure Heiligkeit als dem Oberhaupt der Katholischen Kirche wende. Als Stellvertreter des Heiligen Petrus und römischer Papst verkörpert Ihr eine Weltautorität; vor allem vereinigt Eure Persönlichkeit moralische Überzeugungen und geistige Werte einer Riesenzahl von Menschen auf dieser Erde. Massen von Gläubigen – bei Weitem nicht nur Katholiken! – folgen Eurer Gestalt. Indem ich mich an Euch wende, richte ich meine Worte gleichsam an alle meine Zeitgenossen und – wer weiß – womöglich an unsere Nachkommen.

Selbstverständlich habt Ihr das Recht, meinen Appell an Euch, den Heiligen Vater, für unangebracht zu halten, ja für unerwünscht und dergleichen mehr, aber in jedem Fall berührt diese Frage unwillkürlich das sensible Thema, wie der Katholizismus das Wunder des Göttlichen Willens im Geheimnis der Geburt sieht.

Ich bin kein Katholik, aber dieser Umstand schmälert mitnichten meinen aufrichtigen Respekt für den katholischen Glauben.

In meiner Vorstellung kann jede Religion, die nicht im allein selig machenden Anspruch erstarrt, als Resonanzboden für viele Nebenstimmen dienen, so wie der Himmel Raum für den Flug verschiedenster Vögel bietet … Sollte ich mich in diesem Sinn als ein Zugvogel unter dem katholischen Firmament erweisen, wäre ich glücklich …

Ja, ich teile jetzt die katholischen Lehren über Moral und Sittlichkeit, finde ich doch darin einen Kern, welcher der Logik des Lebens am ehesten entspricht und kraft dessen eine göttliche Universalität besitzt. Im Besonderen gilt das für unsere Zweifel und Gewissensqualen über das Problem der Abtreibung. Verwandelt sich dieser radikale Eingriff (in technischer Hinsicht so banal wie das Öffnen einer Konservendose!) nicht jedes Mal in einen qualvoll anschaulichen Schicksalsentscheid? Wie unkompliziert und einfach ist demnach die Entscheidung, Mensch oder nicht Mensch zu sein! Geboren oder nicht geboren zu werden! Das hängt ja nur von allerlei Nebensächlichkeiten ab, auch von Ausflüchten, die mitunter rein alltäglicher Natur sind. Was hat hier überhaupt Gott zu suchen? Er hat den Ursprung einer gesegneten Lebensmagie gestiftet, aber der Rest liegt an uns selbst – an Menschen, die eine Leibesfrucht bewahren oder vernichten können. Auf diesem Markt der Meinungen, der nicht zur Ruhe kommt, erscheint mir die katholische Haltung, die Abtreibung aus Prinzip zu verbieten, die einzig richtige zu sein. Sie entspricht der ursprünglichen Bewegung des Lebens vom Anbeginn der Schöpfung, denn jedem winzigen Keimling, jeder sich erneuernden Variante des Lebens ist eine unwiederholbare Chiffre beigegeben. Diese ewige Bewegung findet ihren Ausdruck im göttlichen Postulat vom Geheimnis der Geburt …

Deshalb möchte ich, den Katholiken folgend, daran erinnern, dass ein Abort, von manchen nebensächlichen, im menschlichen Dasein mitunter unvermeidlichen Momenten abgesehen – das wäre gesondert zu behandeln! –, das göttliche Vorhaben, das heißt die Investition an Ewigkeit, unmittelbar zerstört. Steckt doch in jedem keimenden Wesen, durch den Wandel aller Zeiten, der Code für die nachfolgende Erneuerung seines Ebenbildes, und der Schöpfer hat all das bei der Schaffung des Weltalls angelegt.

Doch was sollen die hohen Abstraktionen, wenn ohnehin klar ist und schon viele Male gesagt wurde, dass Abtreibung ein Gewaltakt ist, der einem bewussten Mord, ja Genozid gleichkommt. Abtreibung steht in unmittelbarem Gegensatz zum Gebot du sollst nicht töten!, zum biblischen Auftrag Gehet hin und vermehret euch!

Das ist so klar wie das Amen in der Kirche. Aber vernehmen wir nicht überall die Stimmen der Gegner? Sie wollen uns von einer anderen Lösung überzeugen. Sie verfügen selbstherrlich über das herankeimende Schicksal und rufen dazu auf, sich nicht in die Angelegenheiten der schwangeren Frauen einzumischen, sie propagieren die Freiheit der Abtreibung, den straflosen Schwangerschaftsabbruch im Namen der Persönlichkeit und der Gesellschaft … Es fällt wahrlich schwer, ihnen zu widersprechen, bedenken wir das bittere Los des durch eine Empfängnis angekündigten Wesens und all die Leiden, die es in der Welt zu erwarten hat – hoffnungsloses Elend, Slums, Krankheiten, Gewalt, Verbrechen und Erniedrigungen. Und wer hat die ganze Hoffnungslosigkeit auszutragen? Vor allem die Frauen, die sich von den Männern zumeist alleingelassen sehen, wenn sie sich unter körperlichen und seelischen Schmerzen für den Abbruch einer Schwangerschaft entscheiden. Muss man da nicht die Transparente über den Köpfen erzürnt demonstrierender Frauen verstehen, mit kategorischen Losungen wie »Mein Bauch gehört mir!« …?

Und ich, der ich einst Frauen hochmütig behandelt und missbraucht habe, und das noch im Namen des Fortschritts, kann ich mich da noch wundern, wenn ich höre: Was soll ich mit eurer heuchelnden Sünde, euer Gott kann mir gestohlen bleiben, ihr widert mich an, ihr haltet mich sowieso für den letzten Dreck! Und dann sogar die zynische Äußerung: Das Kind kann mir gestohlen bleiben.

Die Welt ist ebenso klein und schrecklich wie unübersehbar und unermesslich. Und das gilt auch in vollem Maß für den menschlichen Keimling. Der Keim befindet sich noch im Stadium des Wachstums, ein Keim ist niemand und nichts, er entwickelt sich erst in der Kette von Individuen eines Geschlechts. Aber wie finster ist sein Los in den Tagen, die ihn erwarten. Wiederum ist der Schritt vom Großen zum Nichtigen so klein, es kostet ja nichts, auf einen potentiellen Träger des Geistes, auf eine unvergleichliche Individualität zu verzichten und sie zu verschmähen. Einige Sekunden nur, und der künftige Mensch wird in einem Augenblick wie Abfall weggeworfen … Und wie viele Rechtfertigungen, allemal vorgetragen mit rigidester Logik, finden sich dafür!

Wird etwa nicht der Wunsch laut, sich von der Fähigkeit zur Fortpflanzung, zur Nachkommenschaft befreien zu lassen? Führt uns das nicht in die Sackgasse des Lebens? Scheitert an diesem Punkt die Evolution?

Und zugleich tritt das erschreckende Los der schwangeren Frauen zu Tage, die überall der Willkür des Schicksals ausgesetzt sind. Wer braucht die Kinder, die sie austragen? So und nicht anders denken doch viele, ja sehr viele, ob in den Wüsten Afrikas oder auf den Trottoirs der glitzernden Städte. Der soziale Abgrund zwischen dem Nötigen und dem Möglichen wird immer tiefer. Und zu gleicher Zeit … Ja, zugleich wollen die Zweifel und Qualen in uns nicht verstummen, wie wir leben müssen, damit das Menschengeschlecht nicht aufhört zu bestehen.

Und hier halte ich es für meine Pflicht, Eure Heiligkeit, etwas Persönliches zu verdeutlichen. Obwohl ein überzeugter Anhänger des katholischen Abtreibungsverbots, finde ich es trotzdem nicht völlig verwerflich, wenn diejenigen, die das Kassandramal zeichnet, eine Abtreibung vorziehen; im Übrigen schiene dieser Ausweg doch auch eher wünschenswert zu sein, da er ja den eigenen Impulsen der Kassandra-Embryonen entspräche.

Und doch stoßen wir hier mit einem außerordentlich komplizierten Widerspruch im Kreislauf des Lebens zusammen. Eine scheinbar so radikale Handlung wie die Abtreibung wegen des Kassandrazeichens löst keines der Schlüsselprobleme, ja solche Entscheidungen dürften sie eher noch erschweren, denn die Ursachen bleiben davon unberührt.

Wie oft wenden wir uns, gequält von bedrückenden Gedanken, an Gott, um uns zu beschweren und hilflos zu fragen, ob wir uns denn selbst auslöschen und auf Nachkommen verzichten sollen, da wir auf Erden kein Glück finden. Würden wir uns nicht lieber auf einem anderen Planeten niederlassen? Wie ausweglos ist doch alles geworden! Wie oft wurde darüber schon hitzig polemisiert! Alle wissen, worum es geht, sind angewidert von dieser Selbstzerstörung, aber ich sehe mich gezwungen, von Neuem davon zu sprechen, als käme ich vom Mond. Und so wende ich mich über Euch an möglichst viele Menschen. Nun kommt noch eine weitere Not hinzu, die früher unbekannt war.

Es ist schwer zu sagen, Eure Heiligkeit, ob es hier um ein Unheil im üblichen Sinn des Wortes geht. Da dem Menschen als einzigem Wesen das Erschaffende wie das Zerstörende eingegeben sind, sehe ich im unerwarteten Erscheinen der Kassandra-Embryonen auch die Verpflichtung, die verschlungenen Daseinsfragen zu begreifen.

Vielleicht ist es gar kein Unheil, sondern vielmehr eine neue Prüfung des Geistes, die uns auferlegt wurde – wir selbst sollen voraussehen lernen, wie unser Geschlecht verbessert werden kann. Aber wohin geraten wir? Auf ein völlig unerforschtes Gebiet? Was erwartet uns künftig? Wo enden wir, wenn sich die Kassandra-Embryonen vernehmen lassen und in uns über uns zu sprechen anfangen? Streben wir nicht nach Vervollkommnung unserer inneren Welt? Vollkommener zu werden, ist doch stets die Frucht von Erkenntnis und Leiden. Da tut sich ein Abgrund auf, von dem wir nichts ahnten. Eine Weltenwende ist angebrochen … Wollen wir denn weiterhin außerhalb der Wahrheit leben?

Eben darum wende ich mich an Euch, Heiliger Vater, mit einer so langen Botschaft, damit Ihr mit aller Bestimmtheit dieses geheimnisvolle Phänomen der Erbmasse beurteilt. Das liegt natürlich in Eurem Ermessen, aber es geht hier um eine Erscheinung, die uns völlig unvermutet trifft, als tauchte aus den Tiefen des Universums am Horizont plötzlich eine zweite Sonne neben der ersten auf. Es wäre furchtbar, wenn das geschähe, doch verzeiht den Vergleich, ich habe das lediglich erwähnt, damit Ihr all das beachten mögt, was in unsere Seele unumkehrbar eindringen und das Leben der Gesellschaft erschüttern wird. Die Folgen reichen weit, weit über unsere Generationen hinaus.

Fern von der Erde sehe ich mich selbst verwirrt. Durch die optoelektronischen Geräte der Station sehe ich den Planeten wie aus nächster Nähe. Sein Bild scheint mir so genau und vertraut, als ob die Entfernung keine Rolle spielte, wenn ich die irdische Wirklichkeit über den Äther wahrnehme. Dank der hochauflösenden Bildschirme an Bord des Raumschiffs bin ich mit den Augen auf der Welt und physisch zugleich im Weltraum. Wie gerne wäre ich auf unserer unvollkommenen Erde zu diesem Zeitpunkt, da die Menschheit plötzlich die wahre Lage der Dinge einsehen kann. Wie gerne würde ich gerade in solch einem Augenblick der Wahrheit unter den Menschen sein und zu meiner Verantwortung stehen, unter all denen, die so oder so durch meine Schuld betroffen werden. Aber meine Pflicht hält mich hier oben fest. Ich fühle mich dazu bestimmt, auf der Umlaufbahn dieser Forschungsstation meiner Arbeit pünktlich und beständig nachzugehen. Ich, der kosmische Mönch Filofej, trage doch eine globale, stille Verantwortung für alle meine Handlungen. Unbeirrt und systematisch sende ich aus dem All den Strahlenschirm um die Erdkugel, dessen Fluidum die Kassandra-Embryonen bei schwangeren Frauen sichtbar macht. Ich bin ein Forscher, und meine Weltraummission dient der Entdeckung der genetischen Chiffrierung. Ich, Filofej, trage die volle Verantwortung für diese Methode der Kontrollbestrahlung, die ich selbst entwickelt habe.

Dieser Strahlenschirm bleibt in der Atmosphäre unsichtbar, etwa wie Röntgenstrahlen, aber anders als diese sind meine Strahlen für den menschlichen Organismus ungefährlich, andernfalls hätte ich nicht gewagt, derlei Experimente anzustellen. Diese Strahlen wirken im Grunde wie eine Fernabfrage. Nebenwirkungen auf die Physis sind völlig ausgeschlossen, sie rufen nur eine einzige Reaktion im Körper hervor – das Signal aus dem Innersten der Kassandra-Embryonen. Der so befragte Embryo wird antworten, ob er bereit ist oder wünscht, auf die Welt zu kommen, oder ob er dazu keine Neigung hat, sich ängstigt und sich entziehen möchte. Das ist das konkrete Ziel des wissenschaftlichen Experiments.

Die sinnliche, alogische und intuitive Wahrnehmung der Mitwelt ist in der Natur die primäre Form der Wahrnehmung. Am Ursprung der Evolution alles Lebenden steht gerade dieses alogische Wissen. Eigentlich ist das Kassandramal eine Forderung – die Verweigerungsparole des Embryos, der schon zu Beginn seines Wegs seinen spontanen Widerwillen gegen die Wirklichkeit ausdrückt.

Aber das ist kein Ultimatum. Die Menschen können den Hinweis bemerken oder übersehen, sie können ihn berücksichtigen oder übergehen.

Dennoch mache ich mir wegen der Reaktionen der Erdbewohner große Sorgen. Die Menschen dürften demnächst überall in helle Aufregung geraten. Sie sind in ihrer Geschichte noch nie mit einer dermaßen kategorischen Herausforderung konfrontiert worden. Das führt zu einem Zusammenstoß der Menschen mit sich selbst, in ihrem tiefsten Inneren.

Der psychische Zustand der Menschen ängstigt mich. Wenn sie erfahren, was dieser winzige Punkt bedeutet, der auf der Stirn werdender Mütter zeitweise aufleuchtet, wenn sie dann herausfinden, dass diese Frauen die Trägerinnen einer potenziell unglücklichen Empfängnis sind, also einer Frucht, die bereits von den ersten Tagen an Angst und Entfremdung im Mutterleib empfindet, so wird das für alle ein riesiger Schock sein. Niemand wird sich davon fern halten können, viele werden Gegenmittel suchen, aber vergeblich, da künftig keine Frau auf der Welt davor sicher sein kann, ob sie das öffentlich erkennbare Zeichen tragen wird, wenn sie ein Kind empfangen hat.

Ich mache Schreckliches durch und flehe zu Gott, beklage mich und weine, weshalb ausgerechnet ich als Erster dazu verurteilt war, dem Kassandramal zu begegnen, dieses verfluchte Zeichen des Unheils zu erkennen und sichtbar zu machen, jenes Zeichen, das verschlüsselt in unseren Genen schlummerte, seit es den Menschen gibt. Welcher wahnwitzige Eifer und welche Überheblichkeit haben mich nur in das Netz dieser alptraumhaften Erkenntnisse verstrickt? Sogar Doktor Faustus, der ausgesuchter Teufelei ins Auge blickte und mit Mephisto verkehrte, dürfte mich darum nicht beneiden! Nun bezichtige ich mich selbst, der ich auf dieser Orbitalstation allein zurückgeblieben bin, und flehe hier, in kosmischer Ferne, um Hilfe! Scheinbar verfüge ich zwar über alle technologischen Errungenschaften des Jahrhunderts und bin wohl in dieser Hinsicht fast wie eine Gottheit, die frei in Raum und Zeit schalten und walten kann, man könnte sagen, wie ein an den Weltraum angepasster Prophet, aber hier flehe ich um die Gnade dessen, der die ewige Bewegung der Schöpfung, unseren Verstand als kollektives Universum miteingeschlossen, bestimmt. Ich bitte nicht um Erbarmen, auch nicht darum, mich abzuschalten und von meiner Bürde, die eines schwachen Menschen Kräfte übersteigt, zu befreien. Aber so ein Los hat noch niemanden getroffen. Warum ausgerechnet mich? …

Furchtbare Zweifel befallen mich. Hätte ich nicht lieber schweigen und das Geheimnis dieser genetischen Anlage im Menschen mit mir ins Grab nehmen sollen? Ein Geheimnis, das wie unter einer Brücke über dem Fluss verborgen und bis dahin von keinem Sterblichen entdeckt worden war? Wer hätte dann je etwas erfahren? Niemand könnte mir als Gelehrtem etwas vorwerfen, ja mich beschuldigen. Niemand, absolut kein Mensch. Als Wissenschaftler bin ich Schritt für Schritt in das Geheimnis eingedrungen. Und hätte ruhig der einzige Interpret des Rätsels um das Kassandramal bleiben können. Niemand und nichts hat mich dazu gezwungen, was ich jetzt in meinem Aufruf an Euch, Eure Heiligkeit, vollende.

Weshalb bringe ich also dieses unerhörte Unheil, diese Häresie unter die Menschheit? Um einen sinnlosen Aufruhr in den Köpfen zu erzeugen, Anarchie und Geistesverwirrung zu stiften? Um Familien zu verkrüppeln, in jedem Einzelnen schwerste Zweifel zu säen, wenn er erschrickt und nachdenkt: Hat denn die Fortsetzung des Daseins in den Nachkommen überhaupt noch einen Sinn? Wie soll es weitergehen? Wie lässt sich das Versiegen des Lebensstroms, der uns seit den ersten Menschen vererbt wird, kompensieren? Ist das überhaupt möglich?

Ich habe mich viele Male gefragt und mir viele Male geantwortet …

Und auch jetzt sage ich mir die Worte, die nicht mehr zurückzunehmen sind, immer wieder und wieder.

Unter keinen Umständen und Bedenken darf ich verschweigen, was sich mir offenbart hat. Die abgestrahlten Signale der Kassandra-Embryonen sind, wissenschaftlich gesprochen, mit wachsender Häufigkeit festzustellen. Dieser Vorgang korreliert mit dem wachsenden Vorgefühl des globalen Unterbewusstseins, wonach die menschlichen Lebensbedingungen sich verschlechtern. Sie werden von Generation zu Generation extremer. Die Rückkopplung auf das menschliche Selbstgefühl und die Harmonie der Welt zeitigt verheerende Folgen. Das Kassandramal ist wie die Stimme einer eschatologischen Warnung aus verborgener Tiefe. Angespannt und verzweifelt erwartet der Embryo schon das nahende Ende der Welt, das bereits in der Lebensweise der vorausgegangenen Generationen angelegt war. Der Selbsterhaltungstrieb mahnt ihn zur Vorsicht und vermindert in ihm den Drang zum Leben. So nimmt er Stellung zur Gattung.

Darf man eine so schicksalsträchtige Erkenntnis, gerade in unseren Tagen, verschweigen?

Nein und nochmals nein. Das wäre zweifellos ein Verbrechen gegen die Menschheit und mich selbst.

Paradox daran ist jedoch, dass man mich der Verbrechen gegen die Menschheit bezichtigen wird, weil ich das Kassandramal öffentlich mache und den weltweiten, embryonalen Todesdrang aufdecke. Und die Beschuldigung wird demagogisch vorgetragen, sie soll allen verständlich sein, viele werden in Wut ausbrechen, protestieren, sie werden außer sich geraten, brüllen, toben und mich steinigen wollen. Ich bin bereit, mein Kreuz auf Seinen Spuren zu tragen, den unvergänglichen Spuren, die weder Regen noch Wind, weder Schmähungen noch hohle Lobhudelei verwischen konnten.

Seit Langem ist bekannt, wie schwer es ist, diesen Weg zu gehen. Der Preis ist der Tod. Mir stehen schwere Tage bevor. Ich sehe das voraus. Geistige Wahrheiten werden durch Qualen und Opfer, durch Leiden und Selbsterkenntnis bekräftigt. Einen anderen Weg gibt es nicht …

Meine große Prüfung steht noch bevor. Ich sehe sie deutlich vor mir, und wer mich mit Steinen bewirft, dem habe ich schon jetzt verziehen.

Es geht aber nicht um mich, sondern darum, dass wir an der Schwelle zu neuer Selbsterkenntnis stehen. Von nun an sollten wir davon ausgehen – verzeiht den Formalismus –, ja, wir sollten von der Tatsache ausgehen, dass sich der Embryo nicht teilnahmslos gegenüber der Umwelt verhält, in der es als künftige Persönlichkeit herankeimt. Mitunter scheint es mir, als würde er, wie von einem Unterseeboot aus, voller Unruhe durch das Periskop seines Schicksals blicken und vom stürmischen Meer hinter dem Spiegel getragen. Lohnt es sich nicht, dass wir einen aufmerksamen Blick durch dieses Periskop werfen? Sind wir nicht selbst die Ursache der Stürme, die uns in den Abgrund schleudern?

Und dann frage ich mich erschreckt, ob sich im Kassandra-Embryo nicht jene innere Selbstverleugnung ausdrückt, mit der wir über unsere ureigenste Bestimmung hinweggehen? Wie konnten wir uns nur – der Idee nach gottgleiche Wesen – so sehr erniedrigen? Wie viel an »Fortschritten« mussten die Menschen über Generationen, wie viel an Gedanken und Handlungen mussten sie zusammenkommen lassen, um die Evolution der Gattung so weit zu treiben, dass sie bereits in der Frucht und im Mutterschoß zu solchen apokalyptischen Regungen fähig wurde?

Womöglich äußert sich hier die sublimierte Erfahrung von Jahrtausenden, eben all das, was sich über Jahre und Jahrhunderte zunehmend verschärfte, anhäufte und schließlich in den Genen wie in einem Speichermedium akkumulierte und summierte. Heute können wir uns im Spiegel dieses Reflexes erkennen. Und so stehe ich, auf Geheiß des Schicksals, im Weltraumlabor, am Steuerpult der Strahlensonden, die durch ihren Impuls die Signale des embryonalen Hilferufs provozieren.

Nur deshalb habe ich heute, gezwungen durch die Logik der Ereignisse, das Wort ergriffen. So möchte ich, der kosmische Mönch Filofej, alles aussprechen, was Herz und Verstand mir auftragen. Das ist meine Pflicht.

Und nun in aller Kürze ein paar Worte über mich selbst. Natürlich hat mich niemand zum kosmischen Mönch geweiht. Ich habe mir den Titel angemaßt, den Namen Filofej habe ich mir selbst gegeben und der russischen Kirchengeschichte entnommen. Das Eremitendasein in der Weltraumklause habe ich mir selbst erwählt.

Die Einsamkeit in der Orbitalstation hat sich für mich von daher ergeben, dass unsere internationale Equipe – ein Amerikaner, ein Japaner und ich als Forschungsleiter des Weltraumlabors – ihr Programm abgeschlossen hatte und planmäßig auf die Erde zurückkehren sollte. Und als die Stunde der Heimkehr angebrochen war, weigerte ich mich kategorisch, die Orbitalstation zu verlassen und in die Raumschiffähre, die uns für den Rückflug zur Erde abholen kam, umzusteigen.

Schließlich hielt ich mir ein scharfes Rasiermesser an meine eigene Kehle und zwang damit die Kollegen, mich in Ruhe zu lassen. So konnte ich mein sorgfältig geplantes Ziel durchsetzen. Es ist nun bereits der fünfte Monat, den ich allein bin: Seit hundertundsiebenunddreißig Tagen befinde ich mich auf meiner Orbitalstation in völliger Abgeschiedenheit und führe dabei meine Untersuchungen durch. Die Lebensmittelvorräte an Bord gestatten mir hier noch einen ziemlich langen Aufenthalt. Und wenn jeder Nachteil auch seinen Vorteil hat, dann trifft das gerade in meinem Fall zu. Der Zerfall des sowjetischen Imperiums, der die ganze Welt schmerzhaft erschüttert hat, ist mir zustatten gekommen. Im Chaos der Ereignisse werden die ehemaligen sowjetischen Dienststellen auf der Erde mich und die Orbitalstation mit dem einstigen Namen WOSCHOD°27 bald vergessen haben. Ich nehme auch an, dass ich ihnen sowieso gleichgültig bin, sie werden sich vielmehr wohl noch lange Zeit um die unsinnige Aufteilung des kosmischen Eigentums unter den neuen Staaten befassen, sie wollen erst die Orbitalstation, auf der ich mich niedergelassen habe, am Ende sogar den Weltraum unter sich aufteilen.

Aber das soll ihre Sache sein. Und je länger mir die Möglichkeit gegeben ist, für mich allein auf der Umlaufbahn zu sein, desto besser ist das für die Arbeit … Ich werde bis zu meiner letzten Stunde den Signalen der Kassandra-Embryonen nachgehen.

Dies in Kürze über mich …

Erlaubt mir, Eure Heiligkeit, für die geraubte Zeit um Vergebung zu bitten. Das Einzige, was ich möchte, indem ich mich über Euch an die Menschen wende, ist, dass sie die Wahrheit, die ich ihnen hier von meiner Umlaufbahn aus offenbare, erfahren.

Filofej, der kosmische Mönch. Mit weltlichem Namen: Andrej Krylzow.

Dem Text der Botschaft, der vom Bordcomputer übermittelt wurde, war eine Begleitnotiz an die Redaktion beigefügt:

Geehrter Herr Chefredakteur,in Fortsetzung unseres Gedankenaustauschs wende ich mich an Sie mit einer für mich wichtigen Bitte. Ich verstehe sehr wohl, welche schwere Bürde die Tribune auf sich nimmt, wenn sie dieses Material veröffentlicht. Ich weiß Ihren Mut zu schätzen.

In diesem Zusammenhang wäre ich Ihnen dankbar, wenn mir die Redaktion, unter Berücksichtigung meines ziemlich entfernten Aufenthaltsortes, über unseren bestehenden Weltraumkanal die aktuellsten Reaktionen auf meine Botschaft an den römischen Papst zukommen ließe. Ich muss mir unbedingt ein authentisches Bild davon machen, wie die Erdbewohner auf mein Sendschreiben reagieren. Da genügt mir die Fernsehübertragung nicht mehr.

In Dankbarkeit IhrFilofej, Weltraummönch, Orbitalstation FX.

3

Er schwamm lange im Ozean. Inmitten der Wale. Und es wurde heiß im Wasser. Wieder waren ihm die Wale im Traum erschienen, und zwar so glaubwürdig, dass er ihnen in die Augen blickte. Er begriff, was die wellenüberspielten Walaugen ausdrückten. Er war ja auch ein Wal. Sie schwammen im Keil, wie damals, als er aus dem Flugzeug blickte. Eine unerklärliche Kraft zog sie vorwärts ans Ende des Horizonts, als erwartete sie dort etwas, wenn sie auftauchten. Der Horizont entfernte sich, und sie alle schwammen dahin, und ihre mächtigen Körper zerteilten die Wogen. Das Wasser im Ozean wurde immer heißer. Die heranrollenden Wellen verbrühten sie. Und je weiter sie sich fortbewegten, desto schwieriger und schrecklicher war es, in den siedenden Brechern zu schwimmen. Da entdeckte er sie und begriff plötzlich, warum der Ozean so unerträglich zu kochen begann. Über dem Ozean erschienen zwei Sonnen auf einmal. Zwei feurige purpurbraune Kugeln lohten wie ein Paar Scheinwerfer brüllend heiß vom Himmel über dem Horizont. Aber welche Sonne war nun die echte und ewige, welche dagegen die zweite, mutierte, von irgendwoher verirrte oder konkurrierende Sonne? Das konnte er nicht unterscheiden und erschrak furchtbar. Und er schrie den Walen, die neben ihm schwammen, zu: »Seht doch, seht, ihr Wale, meine Brüder! Zwei Sonnen sind am Himmel! Zwei Sonnen gleichzeitig! Was hat das zu bedeuten? Hört ihr mich? Das ist furchtbar! Der Ozean wird kochen, und wir kommen darin um! Zwei Sonnen – wie schrecklich!« Robert Bork schrie noch lange in dem tosenden Ozean unter den Walen, die sich hin und her warfen – und erwachte schweißgebadet; sein Herz klopfte heftig und war in den Ohren als Echo zu hören. Bis er zu sich kam, glaubte er nicht, dass es tatsächlich ein Traum gewesen war. Zwei Sonnen, die über dem Ozean betäubend glühten, wollten sein Vorstellungsvermögen nicht mehr verlassen und prägten sich ihm so stark ein, als hätte er sie tatsächlich in der Welt gesehen. Die Wale waren ihm des Öfteren im Traum erschienen, aber dass zwei Sonnen von oben flammten! Die Vorstellung war ungeheuerlich, geradezu unheimlich.

Und da fiel ihm ein, woher die zweite Sonne – die Mutante! – im Traum herrührte. Es dämmerte ihm unruhig, aber deutlich. Er wunderte sich sogar, warum ihm das nicht sofort in den Sinn gekommen war. Jetzt war alles wieder im Lot. »Musste das sein?« Der Futurologe schmunzelte vor sich hin, blickte auf die Uhr neben dem Spiegel, es war bereits sieben. Ein Freitag im Spätsommer.

Seine Frau schlief im Zimmer nebenan, und auch ihre Schwester, die aus Arkansas zu Besuch gekommen war, schlief noch.

Bork ging auf die offene Veranda des Hauses hinaus, wo er seine kleine Morgengymnastik zu machen pflegte. Aber dieses Mal lenkten Sorgen seine Gedanken ab. Auch alles andere rund um ihr Vororthaus interessierte ihn nicht wie sonst. Nicht einmal der Steingarten neben dem Schwimmbassin, der auf liebevolle Weise nach japanischem Muster (wie ein Sternbild, glaubte er) angelegt worden war und wo Bork, wie die von Jessie verbreiteten Gerüchte besagten, in komisch-schrecklichem Flüsterton gern Schwarze Magie trieb. Demnach legte er dort eine rituelle Ordnung an und zeichnete dabei wunderliche Symbole neben den rätselhaften Steinen in den Sand, aber dieses Mal vergaß er auch das. Ihm stand überhaupt nicht der Sinn nach Spielereien.

Die Ereignisse bedrängten ihn seit dem frühen Morgen. Er spürte das physisch, sein Herz zog sich krampfhaft zusammen. Er musste die ganze Presse durchsehen, einen Berg von Zeitungen und Zeitschriften, und alle gierten nach einer Aussage von ihm. Er musste verschiedene Leute anrufen, Auskünfte einholen und sich schnell Klarheit verschaffen. Absolut unaufschiebbar war der Artikel über das Kassandramal, den er fertigzuschreiben hatte. Und das stellte sich als eine ungeheuer schwierige Aufgabe heraus. Die Leidenschaften um die Kassandra-Embryonen waren aber bereits überall entbrannt. In manchen Zeitungen tauchten Schlagzeilen auf wie: »Die größte Erschütterung des Jahrhunderts«. Bork hatte keinerlei Zweifel daran, was man davon erwarten musste. Es war, als sei ein Wind aufgekommen, der alle plötzlich von ihren Plätzen riss, durcheinander wirbelte und dem Unfasslichen nachjagen ließ. Der Futurologe verspürte darin die Flut von Energie wie in jenen vergangenen, jungen Jahren, als die Diskussionen in Universitätskreisen so stürmisch verliefen, ja als es auch wirklich den Anschein hatte, dass die Zukunft der Menschheit nach Modellen des seinerzeit so populären Club of Rome zu konstruieren sei, davon müsste man nur noch die konservativen Opponenten überzeugen. Die Geschehnisse um das Kassandramal rissen Bork erneut in den Mittelpunkt. Sie packten ihn wie der Wind über den Stoppeln und entfachten in ihm noch einmal die schon abgeflaute Leidenschaftlichkeit, die Bereitschaft zum Risiko und zur offenen Konfrontation wegen einer Idee.

Schon im Flughafen hatte es begonnen. Jessie erwartete ihn in der Menge am Ausgang, sie hielt eine dicke Zeitung in der Hand und winkte wie mit einem Blumenstrauß. Dabei lächelte sie merkwürdig und hatte einen ebenso schuldbewussten wie leicht beunruhigten Gesichtsausdruck. Aber das ließ sie sogar jugendlicher aussehen, als sei sie soeben einem Gewitter aus heiterem Himmel entkommen. Obwohl Jessie neun Jahre jünger war als er, schmerzte es sie doch, wenn sie sich der Jahre des Verwelkens bewusst wurde und sich damit quälte, aber zu dieser Stunde im Flughafen kam sie ihrem Mann wie elektrisiert, unternehmungslustig und so gut aussehend vor wie in jenen fernen, jungen Jahren. Oh, wie hatte er sie daran gehindert, eine große Musikerin zu werden! Spielte sie doch ausgezeichnet Cello. Und wäre er, Robert Bork, nicht so meschugge dahergekommen und hätte sich nicht fast bis zum Ersticken an sie geklammert, wäre Jessies Karriere womöglich nicht auf den Orchestergraben beschränkt geblieben.