Das Kind der Lügen - Helga Glaesener - E-Book
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Helga Glaesener

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Beschreibung

Ein vermisstes Kind, eine blutige Rache und ein Labyrinth aus Lügen - ein neuer Fall für Paula Haydorn und Hamburgs erste Weibliche Kriminalpolizei. Hamburg 1929: Ein Kind ist verschwunden. Verzweifelt bittet die wohlhabende Signe von Arnsberg die Polizei um Hilfe bei der Suche nach ihrer Tochter, die nach einem Spaziergang mit ihrer Kinderfrau nicht ins Hotel Atlantic zurückgekehrt ist. Doch die Männer der Kripo nehmen sie nicht für voll – denn es ist nicht das erste Mal, dass Signe hysterisch bei der Hamburger Kriminalpolizei auftaucht.  Nur Paula Haydorn glaubt der Frau. Seit einem Jahr ist sie als eine der ersten weiblichen Beamtinnen im Polizeidienst. Und sie hat sich dort mit ihrem klaren Blick und klugen Gespür einen Namen gemacht, entgegen aller Vorurteile. Auch diesmal beweist sie Spürsinn. Denn als von dem verschwundenen Mädchen blutige Spuren gefunden werden, nimmt der Fall eine dramatische Wendung. Und noch ahnt niemand, welche Abgründe sich an der Alster auftun werden …

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Seitenzahl: 411

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Helga Glaesener

Das Kind der Lügen

Kriminalroman

 

 

 

Über dieses Buch

Hamburg, 1929: Ein Kind ist verschwunden. Verzweifelt bittet die wohlhabende Signe von Arnsberg die Polizei um Hilfe bei der Suche nach ihrer Tochter, die nach einem Spaziergang mit ihrer Kinderfrau nicht ins Hotel Atlantic zurückgekehrt ist. Doch die Männer der Kripo nehmen sie nicht für voll – denn es ist nicht das erste Mal, dass Signe hysterisch bei der Hamburger Kriminalpolizei auftaucht.

Nur Paula Haydorn glaubt der Frau. Seit einem Jahr ist sie als eine der ersten weiblichen Beamtinnen im Polizeidienst. Und sie hat sich dort mit ihrem klaren Blick und klugen Gespür einen Namen gemacht, entgegen aller Vorurteile. Auch diesmal beweist sie Spürsinn. Denn als von dem verschwundenen Mädchen blutige Spuren gefunden werden, nimmt der Fall eine dramatische Wendung. Und noch ahnt niemand, welche Abgründe sich an der Alster auftun werden …

 

Die Presse über «Die stumme Tänzerin»:

 

«Helga Glaesener gelingt es, die Leser nicht nur durch den spannenden Krimi zu führen, sondern auch in die Welt der späten 20er-Jahre des letzten Jahrhunderts, in denen Frauen immer noch Probleme haben, beruflich selbstständig zu sein. (…) Ein besonderer Krimi, der das Lesen lohnt.» Ruhr Nachrichten

 

«Dieser Krimi ist ein echtes Mach-es-dir-auf-dem-Sofa-gemütlich-Buch. Bei aller Gemütlichkeit geht es allerdings auch um Gleichberechtigung und gleichgeschlechtliche Liebe, um Rassismus, um den aufkeimenden Faschismus.» Nordkurier

 

«Spannend, klug und mit Witz.» Die Presse

Vita

Helga Glaesener wurde in Niedersachsen geboren und studierte in Hannover Mathematik. Heute lebt sie in Oldenburg. 1990 begann die Mutter von fünf Kindern mit dem Schreiben historischer Romane, von denen gleich das Debüt, «Die Safranhändlerin», zum Bestseller avancierte. Seitdem hat sie zahlreiche weitere erfolgreiche Romane geschrieben, darunter auch diverse Krimis sowie zuletzt «Das Erbe der Päpstin». Im Rowohlt Verlag erschienen ist bereits der historische Roman «Das Seehospital». Für den hier vorliegenden Hamburg-Krimi aus der Weimarer Zeit hat Helga Glaesener intensiv zu dem spannenden historischen Hintergrund recherchiert: In Hamburg entstand in den 1920er-Jahren eine der ersten weiblichen Kriminalpolizei-Einheiten in Deutschland, die Verbrechen an Frauen aufklären sollte. Nach «Die stumme Tänzerin» ist dies der zweite Band um Hamburgs erste Kommissarinnen.

Impressum

Die Arbeit an diesem Buch wurde gefördert im Rahmen von NEUSTART KULTUR der VG Wort.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2022

Copyright © 2022 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Redaktion Silke Jellinghaus

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg

Coverabbildung Richard Jenkins; Bruce Yuanyue Bi/Getty Images

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-00838-0

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

1. Kapitel

Montag, 5. August 1929

«Ein schöner Tag», meinte der bullige Mann mit den breiten Schultern. Sein Blick hob sich zur Sonne, die in den Innenhof schien und den Efeu an den hohen, roten Backsteinmauern zum Leuchten brachte. Als ihm auffiel, dass sich niemand rührte, räusperte er sich verlegen. «Also … vom Wetter her, meine ich, so allgemein.»

Und damit hatte er recht: Die laue Luft streichelte als leichte Brise die Haut, die Baumkronen erbebten in vielstimmigen Vogelkonzerten, draußen in den Straßen krakeelten Kinder … Ja, es war ein wunderbar heiterer Tag.

Für alle, die nicht gleich sterben müssen.

Der Vorname des Mannes, dem das Wetter so gut gefiel, lautete Carl, den Nachnamen hatte Paula Haydorn vergessen. Er hieß Kröpel oder Gröpel oder etwas in dieser Art. Seine Augen blickten verschmitzt, den rötlichen Schnurrbart hatte er mit viel Pomade in Form gebracht. Er wirkte wie der nette Nachbar, der zur Stelle war, wenn eine helfende Hand gebraucht wurde. Bei seiner Ankunft hatte er ihnen verraten, dass er früher einmal als Musiker gearbeitet habe. Vor allem Salonmusik. Damals sei er noch ein Träumer gewesen. Später hatte er in einer Dampfwäscherei ausgeholfen und war dann zu einem Pferdemetzger gewechselt. Dort sei es gut gewesen, aber als man ihm vor Jahren eine sichere Stellung bei Vater Staat anbot, hatte er natürlich dankbar zugegriffen. Man musste sehen, wo man blieb, so war es doch. Und nun wartete er mit dem Beil in der Hand darauf, dass er mit der Arbeit beginnen konnte.

Sein Gehilfe, ein ältlicher Mann mit Schmerbauch, rollte einen Holzklotz in die Mitte des Hofs. Er kippte ihn am oberen Ende einer Bank, die ebenfalls dort stand, auf die Seite. Mit abschätzendem Blick begutachtete er beides, dann ging er zu einem dunkelbraunen Ledersack neben der Tür, zog eine etwa zwei Zentimeter dicke Holzplatte heraus und schob sie unter den Holzklotz, sodass dessen Oberfläche sich auf einer Ebene mit der Oberfläche der Bank befand. Auch er: ein Mann, der sein Handwerk verstand und saubere Arbeit verrichten wollte.

«Du solltest verschwinden», sagte Martin Broder, der Leiter der Hamburger Mordkommission, der neben Paula stand.

Sie rührte sich nicht. Ihr Blick hing an Carl. Auf der breiten Schneide seines Beils spiegelte sich die Sonne.

«Wirklich», sagte Martin. «Hau ab.»

Als sie den Kopf wandte, sah sie, dass seine Gesichtszüge wie eingefroren waren, als wollte er verbergen, wie es in ihm aussah, aber sie wusste es trotzdem. Er hasste Gewalt, er hasste Blut und Verletzungen, und vor allem hasste er den Tod. Nur deshalb hatte sie ja darauf bestanden, mit ihm in den Innenhof des Holstentor-Untersuchungsgefängnisses zu gehen, um als weitere Zeugin der Hinrichtung zu fungieren. Weil sie nicht wollte, dass er sich dem Entsetzlichen allein aussetzen musste.

Sie zuckte zusammen, als aus einem der Fenster in ihrem Rücken plötzlich eine kreischende Frauenstimme drang. War sie das? Mette Gerdes, die Verurteilte, die hier gleich zu Tode kommen sollte? Paula hatte die zierliche Frau mit der warmen Stimme in den vergangenen Monaten gut kennengelernt. Mette hatte ein Heim für die körperlich und seelisch Verkrüppelten geführt, die nach Kriegsende in die Heimat zurückgespült worden waren und von den meisten Menschen ignoriert oder verachtet wurden, weil sie ihnen zu deutlich vor Augen führten, was der Krieg den Menschen antat.

Mette hatte keine Verachtung empfunden. Sie hatte ihre Gäste mit sorgfältiger Pflege und gutem Essen verwöhnt und sie mit launigen Gesprächen aufgeheitert. Eine großartige Frau – da waren sich alle einig gewesen. Der Arzt, der die Heimbewohner medizinisch betreute, hatte sich gar nicht lobend genug über die psychischen Fortschritte äußern können, die die Kranken in ihrem Kameliengarten machten. Und sich furchtbar erbost gezeigt, als sie Mette des Mordes an mehreren ihrer Pfleglinge beschuldigt hatten.

Und wenn wir uns geirrt haben?, dachte Paula. Wenn uns das Misstrauen, das der Beruf uns einimpft, den Blick verstellt hat? Wenn diese Mette tatsächlich unschuldig ist? Nein, dachte sie – die Beweise waren unwiderlegbar. Erneut sah sie zu Broder hinüber, der blass und elend aussah und zweifellos genau wie sie das Ende dieses schrecklichen Aktes der Gerechtigkeit herbeisehnte.

Es war fast eine Erlösung, als die Tür zum Innenhof aufgestoßen wurde. «Die Verurteilte ist bereit», ertönte die heisere Stimme einer Justizwachtmeisterin – und wurde sofort widerlegt. Mette Gerdes stolperte von zwei kräftigen Frauen gehalten in den Hof und schrie, wie Paula noch nie einen Menschen hatte schreien hören. Das war pures Entsetzen, kein Flehen um Erbarmen mehr, einfach nur ein Grauen vor dem, was kommen würde. «Ich will den Pastor haben!» Vögel flatterten auf und suchten über die Mauern das Weite.

«Sie hat sich bis eben geweigert, den Pastor zu empfangen», erklärte die Wachtmeisterin erschöpft. In Hamburg wurden selten Todesurteile vollzogen, und eine Frau war seit Jahrzehnten nicht hingerichtet worden. Die Wärterin war blass und sah aus, als wünschte sie sich ans andere Ende der Welt.

«Und wenn wir etwas übersehen haben?», flüsterte Paula Martin zu.

«Was denn?»

«Weiß ich nicht.»

«Wir ermitteln, die Richter urteilen.»

Und die hätten mit dem Urteil zumindest warten können, bis Mettes Mann nach Hamburg zurückgekehrt ist, dachte Paula. Habbo Gerdes fuhr als Kapitän um die Welt und hätte zu den Mordtaten wohl wenig Erhellendes beitragen können. Dennoch: Hätte man ihm nicht zumindest die Möglichkeit geben müssen, sich von seiner Frau zu verabschieden?

Die Delinquentin wurde zu der Bretterbank geschleift und genötigt, sich bäuchlings darauf zu legen. Ihr Gesicht wurde mit der Wange auf den Holzklotz gedrückt. Sie versuchte sofort, wieder hochzukommen, doch die Wärterinnen ließen es nicht zu. Mettes Gesicht wurde zu einer geifernden Grimasse. Zu klar war, was jetzt folgen würde.

«Der Pastor! Ich habe ein Recht darauf!», kreischte sie. Ihr blondes Haar war kurz geschoren worden, ein dünner Ratscher verlief blutrot vom fülligen Kinn bis in den Nacken, in dem sich Schweiß gesammelt hatte.

Der Henkershelfer ermahnte sie zur Ruhe und legte ihr eine Augenbinde an, doch sie wollte auch danach nicht still sein. Er zog ein weiteres Brett aus seinem Ledersack, mit dessen Hilfe er ihren Kopf resolut auf den Holzklotz drückte. Paula wandte das Gesicht ab. Sie hörte Mettes Hilfeschreie, dann feste Schritte auf den Pflastersteinen … Stille … einen dumpfen Schlag … Und danach wieder Stille, diesmal eine fürchterliche.

Martin griff nach ihrem Arm. «Komm.»

Sie folgte ihm, ohne noch einmal zur Bank zu schauen, ins Gebäude zurück und schritt wie betäubt durch die Flure. Eine Tür nach der anderen wurde vor ihnen aufgeschlossen und hinter ihnen wieder verriegelt. Endlich erreichten sie die große Halle. Treppen wanden sich hier wie Würmer aus Stahl in die oberen Geschosse, es sah kalt und hässlich aus. Die Gittertür, die ins Freie führte, wirkte wie ein Tor, das sie aus der Hölle entließ.

«Und wenn wir doch etwas übersehen haben?», flüsterte Paula mit belegter Stimme.

«Haben wir nicht.»

«Aber wir …»

Martin drückte ihren Arm, und sie verstummte. Die nette Mette Gerdes, die ihnen sogar dann noch einen Kaffee vorsetzte, als sie verstanden hatte, warum sie kamen … Sie hatten tatsächlich alles unter die Lupe genommen, auch, was sie hätte entlasten können. Aber sie war schuldig gewesen.

Stumm stieg Paula in den Polizeiwagen, den Martin vor dem Gefängnis geparkt hatten. Sie fuhren zu dem Block in der Lohmühlenstraße, in dem sie beide in unterschiedlichen Stockwerken zur Miete wohnten. Es war kurz vor Feierabend, ins Stadthaus zurückzukehren, lohnte nicht. Und Paula hätte es in ihrem Zustand auch gar nicht geschafft. Martin setzte sie ab, dann fuhr er weiter, um das Auto in den Hof des Polizeipräsidiums zurückzubringen.

Auch ihm war nicht nach Sprechen zumute.

2. Kapitel

Dienstag, 6. August

Paula erwachte am folgenden Morgen mit Schmerzen im Kreuz und einem eisernen Ring aus Kopfweh um die Stirn. Während sie sich aus dem Bett stemmte, flackerten die verblassenden Bilder ihres Traums noch einmal auf: ein Strand und Eidechsen, die in eine Badetasche krabbeln wollten. Eine Szene ohne Sinn, die ihr plötzlich vorkam, als würde sie ihr eigenes Leben spiegeln: Sinnlos, alles war sinnlos.

Obwohl sie das Fenster über Nacht hatte offen stehen lassen, rann ihr der Schweiß den Rücken hinab. Ihr Nachthemd war feucht.

So wie das Armesünderkleid, das Mette Gerdes gestern getragen hat.

Sie hob die Waschschüssel, die in einer Ecke ihrer Schlafkammer stand, aus dem eisernen Ständer und füllte sie in der Küche mit kaltem Wasser. Anschließend trug sie sie zurück, zog sich aus und begann, sich von Kopf bis Fuß zu waschen. Sie scheuerte ihre Hände, bis sie brannten, als könnte sie mit dem Lappen Mette Gerdes’ Blut, das daran klebte, fortschrubben.

Ihre Ermittlungen waren durch eine Anzeige ausgelöst worden. Der Großneffe eines der Opfer war aus den Kolonien zurückgekehrt und hatte herausgefunden, dass sein verstorbener Verwandter kurz vor dem Tod eine Lebensversicherung zugunsten von Mette Gerdes abgeschlossen hatte. Martin hatte sich mit Josefine Erkens, der Leiterin der Weiblichen Kriminalpolizei, kurzgeschlossen, und sie hatten Paula und ihre Kollegin Carolina Wagner in den Kameliengarten geschickt.

«Der Neffe ist nur neidisch», hatte Paula zu ihrer Kollegin gesagt, nachdem sie dem Loblied der Heiminsassen auf die vorbildliche Betreuung gelauscht hatten.

«Und du bist naiv», hatte Caro gespöttelt und darauf bestanden, die Gesellschaft aufzusuchen, bei der der Verstorbene die Lebensversicherung abgeschlossen hatte. Dort fanden sie heraus, dass mindestens drei weitere ehemalige Heimbewohner Mette als Begünstigte eines Lebensversicherungsvertrags eingesetzt hatten – und dass sie alle kurz darauf verstorben waren. Zwei hatten sich umgebracht, den dritten hatte angeblich ein Magengeschwür dahingerafft. Bis auf den Großonkel des misstrauischen Manns, der Anzeige erstattet hatte, waren sie sämtlich ohne Angehörige gewesen. Daraufhin hatte Martin eine Mordkommission eingerichtet.

«Und das musste er auch, und wir haben sauber ermittelt», sagte Paula zu dem Spiegelbild, das ihr hinter dem Ständer mit der Waschschüssel von der Wand aus entgegenstarrte. «Jammerlappen!» Sie streckte sich die Zunge heraus und zog sich hastig an. Dann verließ sie, ohne zu frühstücken, ihr karges Zuhause.

Martin Broder wohnte in der Etage unter ihr. Als eine seiner Nachbarinnen vor Monaten auf tragische Weise verstorben war, hatte er Paula ihre Wohnung vermittelt. Sie hatte sie gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen renoviert, alles sah jetzt hübsch und gemütlich aus. Und trotzdem konnte Paula die beiden Zimmerchen immer noch nicht leiden. Es war, als verfolgte sie der Geist der verhungerten Frau, sobald sie die Räume betrat. Sie war froh, als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel.

Da Martin genau wie sie selbst auf Pünktlichkeit hielt, trafen sie einander wie fast immer an der Haltestelle der Tram.

«Wieder besser?», fragte er, als wären sie gerade erst auseinandergegangen.

«Und du?»

«Der Staat sollte keine Menschen umbringen.»

Sie nickte.

Und schon versiegte ihr Gespräch wieder. Das geschah oft in letzter Zeit, ohne dass sie dafür einen Grund hätte nennen können. Sie hatte Martin vor gut einem Jahr bei ihrer Arbeit als Sekretärin für die Weibliche Kripo kennengelernt. Aufgrund innerer Querelen hatte man sie der Mordkommission zugeteilt, die er leitete. Es hatte sofort zwischen ihnen gekribbelt, und bei einem weiteren Fall hatte sie bereits als Kriminalassistentin mitarbeiten dürfen. Eine Sparkassenangestellte war ermordet worden, und die gemeinsamen Ermittlungen hatten ihre Beziehung enger werden lassen. Sie waren, meist mit Kollegen, auf das eine oder andere Feierabendbier losgezogen, hatten sich zu Hause mit Eiern und Zucker ausgeholfen, über ähnliche Dinge gelacht und gelegentlich lange Stunden über die Arbeit geredet.

Der will dich ins Bett kriegen, hatte Caro damals gemeint – aber sich geirrt. Martin war, was das Körperliche anging, immer auf Distanz geblieben. Gut, ihr Leben war auch so aufregend gewesen. Sie konnte warten.

Doch während sie sich mit Mette Gerdes beschäftigten, hatte die Distanz zwischen ihnen plötzlich eine andere Färbung bekommen. Er schien sich von ihr zurückziehen. Weil ihn der Fall belastete? Oder war sie ihm womöglich zu dicht auf die Pelle gerückt? Letzteres konnte sie klar verneinen. Sie war verliebt, aber sie war auch dünnhäutig und zu stolz, um eine Abfuhr zu riskieren.

Paula schreckte aus ihren Gedanken auf, als die Tram heranratterte. Da die Bänke entlang der Fenster besetzt waren, blieben sie im Mittelgang stehen und hielten sich an den Lederschlaufen fest, die von der Decke baumelten. Martin starrte auf die Straße, auf der sich Fußgänger, Kutschen, Fahrräder und Karren den Platz streitig machten.

«Ich will mit Caro und Gertrud Augspurg am Wochenende schwimmen gehen. Kommst du mit? Wir könnten auch Fritz und Volker fragen», schlug sie vor.

«Gute Idee», antwortete er mit so wenig Begeisterung, als hätte sie ihn gebeten, eine Akte anzulegen. Sie erreichten das Stadthaus, und Paula fühlte sich von seinem beklemmenden Schweigen so angestrengt, dass sie hinter der Treppe zu den Toiletten abbog. War sie wütend? Ja. Was sollte dieses bescheuerte Benehmen? Zum Glück traf sie eine der beiden Sekretärinnen, die für die Kripo arbeiteten, Elsbeth Neumann, und nach einem Zehnminutenplausch über den Reiz kunstseidener Strümpfe ging es ihr ein wenig besser.

Als sie in den Flur zurückkehrte, hastete Caro an ihr vorbei. «Wir essen nachher zusammen in der Kantine! Halb eins?»

Natürlich, warum nicht? Caro, die keinen Wert auf seidene Strümpfe legte, sondern provokant in Hosen mit breiten Gürteln und weißen Hemden herumlief, über denen bunte Schlipse baumelten, war schwer in Ordnung. Empfindlich, wenn es um die Liebe zu ihrer Kollegin Gertrud ging, die ebenfalls bei der Weiblichen Kriminalpolizei arbeitete, aber scharfsinnig und mit vollem Einsatz bei der Arbeit. Und darauf kam es letztlich an.

Paula erklomm die Treppe in den ersten Stock. Sie konnte nicht verhindern, dass ihre Gedanken wieder zu Martin abschweiften. Vielleicht hatte sie sich die zarten Schwingungen zwischen ihnen bloß eingebildet? Waren die nachdenklichen Gespräche, das gemeinsame Lachen und seine gelegentlichen Berührungen nur Bestandteile einer kollegialen Freundschaft gewesen? Und war ihm erst jetzt aufgegangen, dass sie sich möglicherweise mehr erhoffte? Dann soll er doch zum Teufel gehen, dachte sie und meinte es nicht so und wartete auf Tränen, die sie sich auf keinen Fall gestatten würde, die aber auch nicht kamen, und …

Und dann traf sie auf die Fremde.

 

Zuerst hörte Paula nur ein lautes Schimpfen aus dem schmalen Gang, der vom Flur zu den Büros der Inspektion für Wirtschaftsverbrechen abging. Die Frauenstimme klang hell und … Paula hasste das Wort hysterisch, weil es vor allem dazu diente, Ängste von Frauen kleinzureden, aber jetzt drängte es sich auf: Diese Frau klang hysterisch!

Als sie die Abzweigung erreichte, erblickte Paula zu ihrer Überraschung eine elegante Dame mittleren Alters. Sie trug ein graublaues Sommerkleid mit hängender Taille, außerdem eine Perlenkette, zweimal um den Hals geschlungen, wobei der längere Teil ihr immer noch bis zum Bauchnabel reichte. Etliche Bürotüren standen wegen der Hitze offen, und Paula sah mehrere Männer grinsend hinauslugen. Aber an der Hysterikerin war nichts amüsant. In ihren zartgliedrigen Händen lag ein schlaffes, flauschiges Etwas, das auf ihrem Bauch einen unförmigen Blutfleck hinterlassen hatte. Ein Hund. Ein Pekinese, nach dem üppigen, braunweißen Fell und dem platten Kopf zu urteilen.

Die Flurtüren zwischen Paula und der Fremden begannen sich zu schließen, wohl weil die Frau hektisch nach einem Ansprechpartner zu suchen begann. Niemand hatte Lust, seine Zeit mit einer Irren zu vergeuden. Schließlich blieb ihr Blick an Paula haften. «Hören Sie, Fräulein, ich will Anzeige erstatten …»

Außer ihrer kostspieligen Aufmachung fiel ihr interessantes Gesicht mit den strahlend grünen Augen auf. Unter einem schmalen Hut mit einem Federbäuschchen ringelten sich dunkelbraune Locken hervor. Ihr Mund war schmal und wirkte rechthaberisch, dabei aber trotzdem attraktiv. Sie wäre auch ohne den blutigen Kadaver ein Mensch gewesen, der die Blicke auf sich zog.

Eilig kam sie auf Paula zu und drückte den toten Hund dabei so fest an sich, dass aus seinem Bauch ein Stück Gedärm heraustrat. «Man kann das doch nicht einfach ignorieren!», schimpfte sie.

Paula nickte, ohne etwas zu begreifen.

Die Frau zog mit dem Daumen das zerfaserte Ende eines Stricks aus dem Nackenfell des Tieres. «Jemand hat meinen Hund unter meinem Auto festgebunden, damit ich ihn überfahre, verstehen Sie? Das ist doch … schändlich. Ich will, dass Sie diesen Verbrecher suchen!»

Paula räusperte sich. «Hören Sie, Frau …»

«Signe von Arnsberg.»

«Hunde sind Tiere, und Verbrechen können nur an Menschen began…»

«Kommen Sie bitte mit», ordnete die Frau an. «Mein Name ist Signe von Arnsberg», schob sie noch einmal hinterher, als wäre es ein Argument.

Wider Willen fasziniert folgte Paula ihr. Wie brachte die Frau es nur fertig, einen zermatschten Kadaver so dicht an sich zu pressen? War sie irre? Reich und irre – das musste ja kein Widerspruch sein. Vielleicht war in der Zentrale bereits der Anruf einer Anstalt eingegangen, die eine ihrer Patientinnen vermisste.

Die Frau eilte mit raschen Schritten hinab in den Innenhof des Stadthauses, wo die Polizeiwagen parkten. Sie hatte ihr eigenes Auto – einen knallig roten Ford mit herabgelassenem Verdeck – unbeeindruckt von allen Warntafeln, die so etwas verboten, neben den Behörden-Pkws abgestellt. «Sie müssen darunterschauen. Unter den Wagen», verlangte sie.

Paula starrte auf Signes Kleid, auf deren Stoff sich in Kniehöhe schmutzige Flecken abzeichnen. Ihr eigener Rock war nicht annähernd so elegant, aber trotzdem ungeeignet, damit auf dem Boden herumzukriechen.

«Wo geht’s denn drum?» Ein neugieriger Schupo kam näher, und Paula erklärte die Sache mit knappen Worten. Der Mann betrachtete zuerst den Strick am Hals des Pekinesen und ließ sich dann auf die Knie nieder. «Jau, die Dame hat recht. Da hängt was an der Vorderachse. Soll ich’s losmachen? Also: abschneiden?»

«Ja, bitte.»

Der Mann zog ein Klappmesser aus der Hosentasche, und kurz drauf hielt Paula ein schmutziges Stück Strick in der Hand.

«Jemand muss Berti aus dem Auto geholt haben, während ich … Ich habe eine Bekannte besucht und wollte ihn nicht mit hineinnehmen. Als ich zurückkehrte, dachte ich, er würde auf dem Rücksitz schlafen, und bin deshalb einfach losgefahren. Dann hörte ich plötzlich sein Jaulen …» Signe von Arnsberg verlor die Contenance, ihre Stimme brach.

Verlegen suchte Paula nach Worten. «Wahrscheinlich haben sich irgendwelche Lausebengel einen Spaß …»

«Ach, einen Spaß nennen Sie das hier?» Empört hielt Frau von Arnsberg ihr den Kadaver entgegen.

«Natürlich nicht. Aber ich fürchte …»

«Ich will zu jemandem gebracht werden, der meine Anzeige aufnimmt und nach dem Tierquäler fahndet!»

Ja, hysterisch, dachte Paula. Sie hatten einen Krieg mit Millionen Todesopfern hinter sich. Wer rannte wegen eines toten Köters zur Polizei? «Kommen Sie mit», sagte sie, plötzlich wieder so müde wie beim Aufstehen.

Nachdem die Frau den Kadaver umständlich in eine lederne Hutschachtel auf dem Rücksitz gepackt hatte, folgte sie ihr zur WKP, wo Martha Gutschmidt, die Sekretärin, die vor gut einem Jahr Paulas Platz eingenommen hatte, das Protokoll aufnahm. Paula ließ Frau von Arnsberg ihre Aussage unterschreiben, während Martha wie hypnotisiert auf ihr blutiges Kleid starrte. Als sich die Tür hinter der eleganten Schönheit schloss, tippte sie sich an die Stirn.

Genau.

 

Die Kantine des Stadthauses platzte bereits aus allen Nähten, als Paula, eine Viertelstunde zu spät, den geräumigen Saal betrat. An einigen Tischen drängten sich die Männer der Schutzpolizei, die im Stadthaus ihren Dienst versahen, an anderen die Kommissare aus den Inspektionen. Die Sekretärinnen hatten mehrere Tische an den Fenstern belegt, die sie schon so lange verteidigten, dass sie ihnen niemand mehr streitig machte. Nur die Frauen der WKP besaßen keine festen Plätze. Sie verteilten sich immer dort, wo gerade Stühle frei waren. Paula entdeckte Caro und Gertrud am hinteren Ende einer Tischreihe, wo sie ihr einen Platz freigehalten hatten. Sie ließ sich über den Tisch vor der Küchentür einen der Teller mit dampfender Linsensuppe geben und gesellte sich zu ihnen.

«Albträume gehabt?», wollte Gertrud noch vor Paulas erstem Löffel wissen. Sie war eine dunkelhaarige Frau Anfang dreißig mit Geheimratsecken, die sie unter einer kunstvollen Frisur verbarg. Gertrud war eine nette Kollegin – erheblich umgänglicher als Caro, mit der sie zusammenlebte und das Bett teilte. Aber diese Frage, mit der sie natürlich auf die Hinrichtung anspielte, hätte sie sich sparen können.

«I wo», winkte Paula einsilbig ab.

«Also, ich finde, man hätte dieses Weib ins Irrenhaus stecken sollen. Das ist doch verrückt, wenn jemand, der auf der einen Seite vor Mitgefühl weint, wenn die Veteranen traurige Geschichten erzählen, sie andererseits kaltblütig ermordet, um …»

Ausgerechnet Caro, die normalerweise lustvoll in jeder Wunde stocherte, lenkte vom Thema ab. «Ich habe gehört, du musstest dich heute mit einer reichen Schrulle herumärgern, die dir ihren plattgefahrenen Pekinesen als Mordopfer angeschleppt hat?»

Die folgenden Minuten lästerten sie gemeinsam über Signe von Arnsberg. Merkwürdig, in welchen realitätsfernen Welten manche Leute lebten. Wegen eines Hundes zur Polizei zu rennen!

«… liegt daran, dass solche Frauen nichts zu tun haben, als um ihre Männer rumzuschwenzeln», meinte Gertrud. «Wer genügend Kohle auf dem Konto liegen hat, kann es sich natürlich leisten, seine Zeit …» Ihr Blick huschte zur Tür. «Na, da ist er ja endlich.»

Paula sah über eine Spiegelfläche an der Wand, dass Martin hereingekommen war. Er holte sich seinen Teller Suppe und steuerte damit zielstrebig auf einen Tisch auf der anderen Raumseite zu. Kaum anzunehmen, dass er seine Kolleginnen übersehen hatte.

«Habt ihr euch gestritten, du und Martin?», fragte Caro, die auf unheimliche Weise in Gesichtern lesen konnte.

«Ich hab keinen Schimmer, was mit ihm los ist. Interessiert mich auch nicht!»

«Ach ja? Dabei hatte ich mir eingebildet, dass zwischen euch beiden ein Funke übergesprungen ist.»

«Tatsächlich?»

«Tatsächlich.» Caro lachte, und Paula schnappte sich erbost ihren Teller mit dem Rest Suppe und brachte ihn zum Tisch vor der Küche zurück.

Dann sah sie zu, dass sie wieder ins Büro kam. Aber sie hatte sich kaum auf ihren Stuhl gesetzt, als Josefine Erkens sie durch ihre Sekretärin zu sich rufen ließ. Ein Todesfall auf dem Kiez. Vermutlich Selbstmord. In einer der Sprechzellen saß die Schwester der Verstorbenen.

«Bitte reden Sie mit ihr, und suchen Sie nach Unstimmigkeiten.»

Routine.

 

Paula achtete darauf, das Stadthaus erst nach Martin zu verlassen, sodass sie nicht dieselbe Tram nach Hause nutzen musste. Als sie ihren Wohnblock erreicht hatte, stieg sie geräuschlos die Treppe hinauf. Ihr Zorn war verraucht und einem bitteren Gefühl der Demütigung gewichen.

In ihren eigenen vier Wänden warf sie erst einmal die Kleidung ab. Während ihrer Abwesenheit hatten sich die Räume hinter den geschlossenen Fenstern derart aufgeheizt, dass sie sich wie in der Sahara vorkam. Martin Broder war ein langweiliger Mann. Klug, ja, und witzig auf eine Art, dass man gut hinhören musste, um es mitzubekommen. In einer verfluchten Klemme hatte er ihr das Leben gerettet. Aber er war auch stur und pedantisch, seine Kleider, sein ganzes Äußeres: ordentlich, aber ohne jeden Pfiff! Kriegte er morgens überhaupt mit, was er anzog?

Andere Frauen in ihrer Situation warfen sich aufs Bett und heulten. Doch das würde sie sich nicht gestatten. Sie würde … ausgehen? Warum nicht? Ins Hansatheater. Da versprühten sie angeblich in den Pausen 4711 zur Lufterfrischung. Szenen von lachenden Menschen, die sich miteinander amüsierten, geisterten durch ihren Kopf. Und wurden ersetzt durch eine Vision ihrer selbst, wie sie wie ein vergessener Regenschirm zwischen den anderen Theatergästen saß, bemitleidet von den aufgedonnerten Damen mit ihrem Gespür für anderer Leute Einsamkeit. Schlimmstenfalls würde sie sogar Bekannte ihrer Eltern treffen.

Nein, dann lieber in eine Bar und sich besäuseln. Am besten ins Siedler am Steindamm, wo eine der besten Jazzbands die Luft zum Schwingen brachte. Und dann? Wiederum allein an einem der Tische sitzen und zu dem Gesang von Fräulein, woll’n Se nicht ein Kind von mir? blöde Sprüche kassieren?

Paula entschied sich für ihr Bett. Nur das Heulen verkniff sie sich.

3. Kapitel

Freitag, 9. August

Die folgenden Tage verstrichen in öder Routine. Ein Mann hatte aus Ärger über die ständige Nörgelei seiner Frau zum Messer gegriffen – und sich anschließend gestellt. Auch das war mehr Papierkram als Ermittlung.

Freitagabend traf Paula sich pünktlich beim Schlag der Rathausglocke mit ihren Kolleginnen auf der Treppe des Stadthauses. Allerdings war ihr Feierabendtrupp zu einem kleinen Kreis zusammengeschmolzen: Außer Gertrud und Caro hatte sich nur noch Alice Dornapfel zum Schwimmengehen aufraffen können. Umso besser, dann brauchten sie nicht raus nach Ohlsdorf zu fahren, wo Männer und Frauen sich gemeinsam ein Familienbad teilten, sondern konnten direkt an die Außenalster zum Schwanenwik, das neben einem Herrenbad auch noch ein eigenes Damenbad besaß.

Sie gingen zu Fuß die Binnenalster entlang und dann an der Außenalster weiter und freuten sich darauf, die Hektik des Arbeitstages abzuschütteln zu können. Doch als sie eine gute halbe Stunde später ihr Ziel erreichten, blieben sie enttäuscht vor dem braunen Bretterzaun des Bads stehen. Männer in Badeanzügen und Frauen in bunten, knappen Badekleidchen bevölkerten die Rasenflächen und Schwimmbecken. Im Wasser war kaum ein freier Fleck zu entdecken. Und überall paddelten und rannten kreischende Kinder … Ihre Lust, sich ebenfalls Eintrittskarten zu holen, schwand. Alice fing einen Ball auf, der bei ihnen hinter dem Zaun gelandet war, warf ihn zurück und fragte: «Im Ernst? Ihr wollt euch in dieses Getümmel stürzen?»

«Wir könnten Vorsicht, Bombe rufen», witzelte Caro.

Kurz schauten sie einander an – dann schlenderten sie unter den Bäumen Richtung Alsterdamm zurück. Gertrud erzählte von einer Kollegin, die bei einem Trödler eine Geheimkamera in Form eines Buchs ergattert hatte. «Kannst du mit Fotos schießen, und keiner merkt’s.»

«Außer dass sie sich im Kiez wundern würden, wenn eine von uns mit einem Buch unterm Arm erschiene und ständig rufen würde: Tschuldigung, bitte mal kurz still stehen», meinte Caro ironisch.

«Dir fehlt die Fantasie», lachte Gertrud. «Stell dir vor, ich sitze in einem Café und warte auf eine Zeugin, die unerkannt bleiben will und natürlich gar nicht auf das Buch achtet.» Sie spann sich eine Geschichte zurecht, gegen die Caro und Alice grinsend Einwände erhoben.

Kurz vor der Lombardsbrücke tauchte ein von Rasen umgebenes Bootshaus auf. Eine Familie hatte dort gerade die Picknickdecke zusammengerollt, und sie belegten den freiwerdenden Platz rasch für den eigenen Feierabend. Als sie wenig später in den zartblauen Himmel schauten, merkte Paula, wie die Anspannung von ihr abzufallen begann. Müde lauschte sie dem spöttischen Lied eines Grünspechts. Es war schön hier, fast noch schöner als in einem Bad. Sie drehte den Kopf zum Wasser und beobachtete, wie junge Männer die Damen ihrer Herzen über die Alster ruderten. Sportler lieferten sich Bootsrennen, in der Ferne dümpelte eine der Fähren. Sie gähnte.

«Martin hat sich übrigens für morgen freigenommen», sagte Caro, die neben ihr lag. «Er hat seinen Koffer gleich mit ins Büro gebracht. Als könnte er es gar nicht abwarten, ins lange Wochenende zu verschwinden.»

«Schön für ihn», murmelte Paula.

«Ja, nicht wahr?»

Glücklicherweise wurde sie durch das Trappeln von Hufen abgelenkt, das von der Uferstraße zu ihnen drang. Paula reckte den Hals und erblickte einen Mann mittleren Alters, der vier muskulöse Pferde an den Zügeln führte. Er leitete sie zu einer gepflasterten Rampe, die sich neben dem Rasenstück, auf dem die Kommissarinnen den Feierabend genossen, in die Alster hinabsenkte. Der Zugang war durch ein Eisengitter gesichert, und der Mann band seine Tiere an den Streben des Gitters fest. Er ging zum Bootshaus, holte einen eigenartigen Sitz auf hohen Rädern heraus, der mit einem Pferdegeschirr verbunden war, schleppte ihn zum Weg und legte zweien seiner Pferde das Geschirr an. Dann band er sie los, stieg auf den Sitz und lenkte seine Schützlinge, die das Prozedere offenbar kannten und genossen, ins Wasser hinab.

«Martin ist völlig durch den Wind. Er vergisst, was er eben erst gesagt hat, starrt Löcher in die Luft …»

Paula tat, als hörte sie nicht, was Caro von sich gab.

«Ich kann mich nicht erinnern, dass er jemals einen einzelnen Urlaubstag eingereicht hätte. Der nimmt seinen Urlaub in einem Stück, wie jemand, der was Bitteres schlucken muss …» Ihre Kollegin stemmte sich auf den Unterarm und drehte sich zu ihr auf die Seite. «Liebe tut weh, Paula. Wenn’s nicht gelegentlich wehtut, ist es auch keine Liebe. Aber man sollte sich den Kummer von der Seele reden.»

«Ich habe keinen Kummer. Ich weiß überhaupt nicht …»

«Redet ihr über Broder?», wollte Alice wissen.

Paula erhob sich. Sie wollte runter zum Wasser, um den Pferden zuzusehen, wurde aber von einem lauten Fluch aufgehalten. «Autsch, verdammt!»

Dort, wo die beiden zurückgelassenen Hengste auf ihr Bad warteten, standen einige junge Männer beisammen. Einer von ihnen, ein blonder Bursche, war offenbar einem der Tiere zu nahegekommen und von ihm in den Arm gebissen worden. Caro begann zu lachen. Nicht wegen des Bisses – was sie zum Lachen reizte, war, wie närrisch sich der Blondschopf aufführte. Er beschimpfte das Tier und trat nach ihm.

Paula sah, wie der Pferdepfleger sich irritiert nach den jungen Leuten umblickte. Er rief etwas, das sie nicht verstehen konnte, aber der Gebissene knöpfte daraufhin seine Hosenträger ab und begann, auf den Hengst einzudreschen. Die Träger besaßen eiserne Schnallen, und das Pferd wieherte zornig und stieg auf die Hinterhufe. Das Leder des Halfters schnürte sich ihm ins Fleisch, was es noch wilder machte.

«Nu lass das mal sein!», brüllte der Mann vom Wasser herauf.

«Das Scheißvieh hat’s verdient!»

Die Freunde des Schlägers lachten, das zweite Pferd wich ängstlich zurück. Einer der jungen Kerle, Studenten, nahm Paula an, denn sie waren gut gekleidet, mit Weste und Anzughose, zog einen Ledergürtel aus seiner Hose.

«Jetzt reicht’s aber. Finger weg von den Pferden!» Dieses Mal war es Caro, die brüllte. Ihr fehlten das Talent und der Wille, sich den Schlägern mit weiblichem Charme zu nähern, um die Situation zu entschärfen.

«Gott, wen haben wir denn da? Aphrodite hat Mars die Klamotten geklaut!» Der Schläger mit dem Gürtel wich zurück und tat ängstlich. «Hilfe, sie will mich hau’n! Die will mich schlagen. So helft mir doch, Leute …» Die Pferde waren vergessen. Die Frau in Hosen bot amüsantere Unterhaltung.

Caro erhob sich, und auch Gertrud und Alice sprangen auf. Im nächsten Moment rannte einer der jungen Randalierer im Bogen um die Pferde herum und auf den Rasen. Er schnappte sich Caro von hinten, umfasste ihre Brüste und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Paula, die entsetzt zu ihnen hinüberstarrte, wurde ebenfalls von groben Händen gepackt.

Die Kommissarinnen waren zu viert, die jungen Männer ein Trupp von acht oder zehn Leuten. Keine Chance, sich zu wehren. Einige Passanten drehten die Köpfe, aber niemand machte Anstalten, ihnen zu Hilfe zu eilen. Jungvolk!, war in ihren verächtlichen Gesichtern zu lesen. Einige beschleunigten auch den Schritt, um nicht in die Verlegenheit zu kommen, sich einmischen zu müssen.

Die Studenten waren dümmliche Bengel, aber ihre Muskeln machten sie jeder der Kommissarinnen überlegen. Vergeblich versuchte Paula sich zu befreien. Der Kerl, der sie festhielt, leckte mit der Zunge über ihre Wange. Sie fühlte sich gedemütigt wie nie in ihrem Leben. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Caro ihrem widerwärtigen Spötter den Ellbogen in den Magen zu rammen versuchte. Alice schrie um Hilfe. Nichts davon half.

Es war der Pferdepfleger, der sie schließlich erlöste. Er sprang von seinem Gefährt und stapfte durch das Wasser die Rampe herauf. Die Peitsche, mit der er seine Schützlinge gelenkt hatte, knallte durch die Luft. Schmerzschreie gellten auf, und plötzlich meldeten sich auch zwei ältere Herren, die auf dem Uferweg stehen geblieben waren, mit aufgebrachten Kommentaren zu Wort. Die Studenten ließen ihre Opfer los. Sie schwankten kurz – und suchten das Weite, die feigen Schweine. Einen humpelnden Kameraden, den die Peitsche am Bein erwischt hatte, zerrten sie mit sich.

Einen Moment stand Paula wie betäubt auf dem Rasen, dann gab sie sich einen Ruck, ging auf den Pferdelenker zu und bedankte sich bei ihm.

«Nee, zu danken habe ich, Fräulein. Ihnen allen. Das ist doch … Ich find dafür gar keine Worte. Da hau’n die auf die Pferde drauf, als würden sie nichts fühlen, als wären sie aus Holz. Und dann auch noch Damen belästigen, diese Dreckskerle!» Er schnaufte, kreuzte die Hände auf der Brust und neigte verlegen den Kopf. Sein blondes Haar war licht und klebte am Kopf. Die Ohren standen ab. Über dem breiten Mund mit den bräunlichen Zähnen wuchs ein dünner Schnurrbart. Ein hässlicher Mann mit einer Säufernase – trotzdem flog ihm Paulas Sympathie zu. Anstand ließ sich nicht am Äußeren ablesen. Er kehrte zu seinen Pferden zurück und sprach beruhigend auf sie ein.

«Kleine Scheißer», flüsterte Caro, die immer noch den Studenten nachstarrte. Sie war so blass wie selten. Stumm sammelten sie ihre Sachen ein und taten, als wäre nichts geschehen – als hätten ihnen nicht wieder einmal ein paar Bartträger gezeigt, dass Frauen im Ernstfall die Unterlegenen waren und nur durch Mannes Gnaden Autorität besaßen.

 

Der Samstagvormittag verlief schleppend. Alice und Irene Scheideweg waren auf dem Kiez unterwegs, wo in einem Kellerpuff angeblich ein halbwüchsiger Junge zur Prostitution genötigt wurde, und die anderen irgendwo im Haus beschäftigt. Im Nebenzimmer klapperte Karla Gutschmidt auf ihrer Mercedes Elektra.

Da nichts Dringliches anlag – was selten genug vorkam –, hatte Paula sich einige Kriminalistische Monatsheftegeschnappt, für die eine gewisse Berta Ratsam einen Artikel über Aktenvermerke geschrieben hatte. Sie warnte vor Beurteilungen, die von der Polizei leichtfertig in den Berichten eingestreut wurden und gegen die sich die Betroffenen nicht wehren konnten. Ihre Befürchtung: Sie würden in deren Zukunft wie Bleigewichte an ihnen hängen. Paula dachte an die Karteikarten, die sie über Beschuldigte und Täter anfertigten, und fand, dass die Frau recht hatte. Hang zur Gewalttätigkeit … Solche Floskeln fanden sich ständig. Und sie wusste ja, wie sie selbst auf solche Notizen reagierte.

Gegen Mittag ließ ein Klopfen an der offen stehenden Tür sie aus ihren Gedanken hochschrecken. Martin stand in der Tür. Wieso Martin? Der hatte sich doch Urlaub genommen.

Er trat ins Zimmer. «Langeweile?»

«Fortbildung», sagte Paula – und ärgerte sich, dass sie sich rechtfertigte.

«Kann nie schaden. Klüger werden, meine ich.» Er stellte seinen abgeschabten dunkelbraunen Lederkoffer in die Ecke, schnappte sich einen Stuhl und setzte sich ihr mit einem Lächeln gegenüber. Ach, plötzlich war dem Herrn also wieder gesellig zumute? Nach wochenlangem Schweigen? Draußen auf der Straße begannen einige Autos zu hupen, ein Hintergrundgeräusch, das sie zusätzlich nervös machte.

Nach einem Räuspern fragte sie: «Und? Was treibt dich in deiner freien Zeit ins Stadthaus?»

Das Lächeln in seinen Mundwinkeln ärgerte sie genauso wie die grundlos schlechte Laune, die er in letzter Zeit gepflegt hatte. «Ich bin zu Hause rausgeflogen.»

«Bitte?»

«Meine Eltern. Sie haben mich rausgeschmissen.»

Paula verschlug es die Sprache. «Ich wusste gar nicht, dass du welche hast», meinte sie schmallippig.

«Wer denn nicht?»

«Tja, dann … Glückwunsch? Da du so guter Laune bist?»

«Die beiden sind schwierige Menschen.» Er zuckte mit den Achseln. «Ist nicht schön, so zu denken, aber ehrlich: Ich bin wahnsinnig erleichtert, dass dieses Kapitel abgeschlossen ist.»

Wollte er, dass sie nachhakte und fragte, was schiefgelaufen war? Da hoffte er vergeblich. Vor ein paar Tagen hatte er sich nicht einmal mit ihr zum Essen an einen Tisch setzen wollen, und nun sprach er über seine Familie in einer Art, die sich … also, wirklich nicht gehörte!

In das Hupen der Autos mischte sich das Klingeln einer Tram. Im Flur wurden aufgeregte Stimmen laut. Wieder war Paula kurz abgelenkt.

«Und hier? Ist irgendwas passiert?»

«Sieht es danach aus?» Sie klappte das Heft zu, legte es in den Ordner zurück, in den es gehörte, und trat zum Fenster. Hatte es draußen einen Unfall gegeben? Von hier aus konnte sie nur den Neuen Wall überblicken, und da war nichts Ungewöhnliches zu erkennen. Bei der Kreuzung mit der Stadthausbrücke staute sich allerdings der Verkehr.

Martin erhob sich, um nachzuschauen, was im Flur los war. Er wurde von Caro angerempelt, die im selben Moment ins Zimmer stürmte.

«Tschuldigung», sprudelte sie hervor und lachte. «Die Irre mit dem Köter! Leute, es ist nicht zu fassen …» Sie verdrehte die Augen. «Jetzt hat sie die Kreuzung zum Qualmen gebracht. Sie ist mit ihrer schicken Karosse gegen eine Grüne Minna geknallt, die gerade raus auf die Straße wollte, und hat dann das Haltestellenschild umgenietet. Unfassbar, dieses Weib! Martin, was machst du denn hier? Ich dachte, du hast frei.»

«Wer soll das sein – die Irre mit dem Köter?», wollte er wissen.

Caro begann zu erklären, doch sie kam nicht weit. Im Flur klapperten plötzlich Absätze, und im nächsten Moment stürzte Signe von Arnsberg in Paulas Büro. Der eleganten Frau war der hübsche Hut auf den Locken verrutscht und ihr Augen-Make-up verwischt, als hätte sie geweint. Außerdem schwitzte sie, was allerdings bei den Temperaturen draußen kein Wunder war.

«Wo ist denn …? Ach, da sind Sie ja!» Sie stürzte auf Paula zu und krallte sich an ihren Blusenärmeln fest. «Ich brauche Ihre Hilfe. Bitte, ich flehe Sie an, Fräulein Haydorn …»

Sie hatte sich ihren Namen gemerkt. Interessant.

«Meine Tochter …» Ein Schupo war Signe gefolgt. Er versuchte, sie in den Flur zurückzuziehen, aber sie wehrte sich, indem sie ihm eine Ohrfeige gab. Ihre Stimme zitterte, als sie sich wieder an Paula wandte. «Bitte, es ist keine Zeit zu verlieren … Dorothee, das ist meine Tochter …» Ihre Stimme schraubte sich in schrille Höhen und brach. «Versteht das denn keiner hier? Sie ist verschwunden!»

«Wie alt ist sie denn?», brach Martin das Schweigen, das ihrem Ausbruch folgte.

«Sechs. Sie ist erst sechs. Und hat nur einen Arm», fügte Signe hinzu, als spielte das bei dem Verschwinden eine Rolle.

«Und wohin könnte sie gegangen sein?», fragte Paula. «Stromert sie vielleicht durch Ihr Hotel?» Die Frau hatte bei ihrer Anzeige angegeben, im Atlantic zu residieren, einem der besten Hotels der Stadt, direkt gegenüber der Außenalster, ganz in der Nähe des Pferdebads.

«Aber nein! Alma ist doch bei ihr, das Kindermädchen.» Signes Augen waren weit aufgerissen. «Die beiden sollten einen kleinen Spaziergang machen. Ein Stündchen, mehr nicht, damit ich mich ankleiden kann. Alma hält sich genau an meine Anweisungen. Inzwischen sind aber fast drei Stunden daraus geworden!»

«Drei Stunden?» Martin runzelte verärgert die Stirn.

«Womöglich haben die beiden sich verlaufen oder die Zeit vergessen», meinte Paula.

«Aber ich sage doch: Alma ist korrekt! Deshalb habe ich sie angestellt!»

Martin schaute unauffällig zur Uhr. Auch Caro sah aus, als wollte sie das Weite suchen. Ein Kindermädchen, das sich mit seinem Schützling bei einem Spaziergang in einer fremden Stadt verspätete, vermutlich, weil es sich verlaufen hatte!

Der Schupo hüstelte: «Sie haben draußen einen Unfall verursacht, Gnädige. Ich muss Sie erst einmal bitten, unten ihre Personalien …»

«Jemand hat sie entführt!»

Plötzlich tat die Frau Paula leid. Gleich wie unsinnig ihre Panik sein mochte – echt war sie auf jeden Fall. «Ich schlage vor, Sie geben dem Schupo Ihren Namen und Ihre Anschrift und lassen ihn einen Blick in Ihre Fahrerlaubnis werfen. Und dann gehen wir gemeinsam in Ihr Hotel», schlug sie vor.

 

Der Schupo kehrte den Herrn über Recht und Ordnung heraus – sie saßen fast eine Stunde bei ihm fest, weil er glaubte, überprüfen zu müssen, ob die Identität der Unfallfahrerin samt Anschrift echt war. Dafür führte er sogar ein Telefonat mit dem Meldeamt von Bielefeld, das sich inklusive Vermittlung über eine Viertelstunde hinzog.

Signe von Arnsberg explodierte mehrere Male, doch es half nicht. Geduld war gefragt. «Alma kümmert sich doch um Dorothee», versuchte Paula, sie zu beruhigen. Als sie den behördlichen Aufwand hinter sich gebracht hatten, war die Frau endgültig mit den Nerven fertig. Trotzdem gingen sie zu Fuß zum Atlantic. Paula hatte keine Lust, für diese relativ kurze Strecke einen der Polizeiwagen zu ordern, obwohl sie inzwischen ebenfalls eine Fahrerlaubnis und Zugriff auf die Autos hatte.

«Und wenn sie tot ist?», fragte Signe, als sie vor dem mehrstöckigen Prachthotel mit dem überdachten Eingang stehen blieben.

Martin und Caro lagen anscheinend richtig mit ihrer Einschätzung: Die Frau war verrückt. Paula verspürte inzwischen nur noch kribblige Ungeduld. Sie hielt ein wenig Abstand, als sie die weitläufige Eingangshalle mit den Säulen, dem Empfangsbereich und der mit Teppich ausgelegten breiten Treppe in die Obergeschosse betraten. Signe erkundigte sich bei dem Concierge, ob Alma Schütte, ihr Kindermädchen, inzwischen mit ihrer kleinen Tochter ins Hotel zurückgekehrt sei. Der Mann blätterte in einem Ordner – es dauerte lange –, dann schüttelte er den Kopf. «Tut mir leid.» War er so umständlich, weil es die beiden Personen in Wirklichkeit überhaupt nicht gab? Versuchte er, sich aus einer kniffligen Situation mit einem wohlsituierten, aber schwierigen Gast zu winden?

Signes Blick ging zu der Porzellanuhr, die hinter ihm an der Wand hing. Es war mittlerweile kurz nach zwei. Sie drehte sich zu Paula um. In ihren Augen schwammen Tränen.

Gemeinsam erklommen sie die Treppe in den ersten Stock. Der Flur entlang der Zimmertüren war mit Tiffanylampen verschwenderisch beleuchtet, an den Zimmertüren prangten goldene Nummern. Alles strahlte Eleganz aus. Auch in Signes gemieteter Suite umgab sie purer Luxus. Durch die Flügeltür eines großzügigen Wohnraums hindurch erblickte Paula zwei Schlafzimmer und ein Bad mit einer Badewanne auf weiß lackierten Füßen. Aber weder ein Kind noch dessen Kindermädchen war zu entdecken.

«Sehen Sie? Verstehen Sie endlich?», brach es aus Signe heraus.

Paula ging in das linke Zimmer, in dem ein Kinderbett stand. Dorothee war, was kaum überraschte, bei Alma untergebracht worden. In einem Schrank fand sie neben schlichten Damenkleidern einiges an Kindergarderobe und unten im Bodenraum kleine Lackschuhe.

«Das ist sie.» Signe, die Paula in das Zimmer gefolgt war, hatte ein Bild aus einer Schublade gekramt. Nicht irgendeines, sondern eine Fotografie im Autochromverfahren, bei dem ihre Tochter in Farbe abgelichtet worden war. Wahnsinnig teuer, berührend schön. Paula sah ein kleines Mädchen, schüchtern und ohne Lächeln, aber mit wachen Augen. In ihrer Hand baumelte eine Puppe mit einem Kopf aus Porzellan – eine der kürzlich in Mode gekommenen Käthe-Kruse-Puppen. Der Porzellankopf war bemalt, ein blaues Mützchen saß darauf, außerdem trug die Puppe eine bestickte rote Schürze. Was aber beim Anschauen des Fotos wirklich fesselte, war der fehlende linke Arm des Kindes. Der Ärmel – sie trug eine hellblaue Bluse – hing schlaff herab.

«Was für ein niedliches Kind.» Paula versuchte, das beklemmende Gefühl, das sie überkam, zu unterdrücken. «Kann ich das erst mal behalten?» Sie steckte das Foto ein und sah sich weiter in dem Zimmer um. Dabei fand sie Kosmetikartikel, Spielzeug und mehrere Kinderbücher, von denen eines, ein Häschenbuch, vom vielen Blättern ganz zerfleddert war.

«Also gut», sagte sie, während sie eine Schranktür schloss. «Und Sie halten es für ausgeschlossen, dass Alma mit Dorothee … vielleicht in den Zoo gegangen ist? Oder anderswo die Zeit vergessen hat?»

«Ich sagte doch: Die Frau ist korrekt.»

«Es ist gut, dass Sie sie zu uns gekommen sind.» Sie starrten einander an: die Mutter, deren Kind verschwunden war, und die Kommissarin, die gezögert hatte, ihr Glauben zu schenken.

«Dann glauben Sie mir endlich, dass Dorothee etwas zugestoßen sein muss?»

Paula nickte.

«Ich bin so froh, dass es Sie gibt», sagte Signe leise. «Ich bin so froh, ich wusste, dass Sie etwas unternehmen würden …» Ihre Stimme zitterte. Unvermittelt schloss sie sie in die Arme und schmiegte das Gesicht an ihre Wange. Paula spürte, wie sich auf ihrem Rücken eine Gänsehaut bildete – die Berührung war ihr unangenehm.

 

Martin hatte Caro hinzugerufen. Zu dritt saßen sie in seinem Büro. Es war ein schlichter Raum mit einem unaufgeräumten Schreibtisch, einigen Stühlen und einem kleineren Tisch in der Ecke, an dem Elsbeth Neumann bei Bedarf mitstenografierte, wenn Zeugen verhört wurden. Paula hatte das Büro bei ihrem ersten Fall im vergangenen Jahr Mordbude getauft – ein Name, der sich mittlerweile auch bei den Kollegen eingebürgert hatte.

«Kinderkleidung muss kein Beweis für die Existenz eines Kindes sein – dann nämlich, wenn wir es mit einer Frau zu tun haben, die …», Martin suchte nach einem nicht allzu harten Ausdruck, «… übergeschnappt ist.»

«Warum sollte sie das sein?», fragte Paula.

«Na ja, ihr Verhalten …»

«Auf mich wirkt sie inzwischen anders.»

«Die Frau ist komplett irre, Mensch, das sieht man doch!», meinte Caro verächtlich.

«Weil sie die Sache mit dem Hund zur Anzeige bringen wollte?»

Martin lehnte sich zurück. «Frau von Arnsberg ist seit einer Woche in der Stadt, und in dieser Zeit wird ihr Hund auf üble Weise von einem Unbekannten getötet und anschließend werden ihre Tochter und ihr Kindermädchen von einem ebenfalls Unbekannten entführt. Zwei Ereignisse, von denen auch jedes für sich allein nicht gerade alltäglich ist.»

«Vielleicht hängt ja beides zusammen.»

«Da fällt mir nichts ein. Einen Hund unter einem Auto festzubinden, damit er überfahren wird, ist sinnloser Sadismus. Wenn ein Kind reicher Eltern entführt wird, geschieht das in der Regel, um Lösegeld zu erpressen.»

«Und wenn sich ein Perverser an die Familie rangemacht hat?»

«Für solche Mistkerle gibt es leichtere Opfer. Warum ist diese von Arnsberg überhaupt nach Hamburg gekommen?»

«Um eine alte Bekannte zu besuchen.»

Martin nickte. Das klang harmlos.

«Und wo steckt der Vater?», wollte Caro wissen.

«Der ist vor einem Jahr verstorben.»

«Lass mich raten: Er wurde umgebracht.» Für Caro war die Sache klar. Diese Signe war eine reiche Irre, die sich die Zeit damit vertrieb, Dramen zu erfinden.

«Auf jeden Fall werden wir uns mit den Kollegen in … wo ist die Frau zu Hause?», fragte Martin.

«Bielefeld.»

«Mit den Kollegen in Bielefeld in Verbindung setzen. Vielleicht haben sie ja bereits Erfahrungen mit Frau von Arnsberg gesammelt.»

«Aber die Kinderkleider …»

«Wer weiß schon, was in den Köpfen geisteskranker Menschen vor sich geht?», unterbrach Martin sie ungeduldig. «Es gibt seelische Krankheiten, bei denen Menschen sich in einer komplett zusammenfantasierten Realität einrichten.»

Aha? Und das wusste er woher, der Schlaumeier? Paula zog das Foto von Dorothee aus ihrer Handtasche und legte es auf den Schreibtisch. «Das ist das Mädchen.»

Sie sah, wie Martin beim Anblick des schlenkernden linken Ärmels kurz stutzte.

«Und ein Bilderbuch, das ich im Hotel gefunden habe, war zerfleddert, als würde es oft benutzt.»

«Das Foto kann auch von einem fremden Kind stammen – oder von jemandem aus Signes Bekanntenkreis oder Verwandtschaft», wandte Caro ein. «Und das Buch … keine Ahnung. Hat die Frau vielleicht aus der eigenen Kindheit rübergerettet. So was machen viele Leute.»

Sie starrten einander an – und wurden vom Läuten des Telefons unterbrochen, das zwischen den Papierstapeln auf dem Schreibtisch stand. Martin nahm den Hörer auf. Er lauschte, sein Mund verzog sich zu einem Lächeln, gelegentlich streute er ein Oh oder ein ich verstehe ins Gespräch ein. Aus dem Hörer musste ein wahrer Wortschwall dringen, den langen Pausen nach zu urteilen.

Schließlich legte er auf. «Das war Frau von Arnsberg. Sie wollte uns mitteilen, dass ihr Kind und das Kindermädchen vermutlich mit dem Chauffeur unterwegs sind.»

«Mit welchem Chauffeur?», wollte Paula wissen.

«Genau, mit welchem Chauffeur, da die Dame es ja offenbar vorzieht, ihren Wagen selbst zu lenken und ihn übrigens vorhin zu Schrott gefahren hat? Er ist schon sonderbar, dieser Chauffeur, der plötzlich aus der Versenkung auftaucht wie das Kasperle auf der Bühne.» Martin schlug mit den Handflächen auf den Tisch. «Ich hab genug, Leute: Feierabend.»

«Also keine Fahndung nach dem Kind?»

Er schüttelte den Kopf. Signe war ein Fall für den Psychiater! Als Paula an der Tür stand, fragte er: «Kommst du mit zur Tram?»

«Ich habe noch eine Stunde Dienst.» Und nicht die geringste Lust, mich mit dir zu unterhalten. Zudem nagte in ihr eine bohrende Unruhe. Sie spürte wieder Signes Umklammerung. Ich bin so froh, dass es Sie gibt … Und fühlte sich wie ein Rettungsring, aus dem gerade die Luft herausgelassen wurde.

Martin verschwand, und eine Stunde später leerten sich auch die Nachbarzimmer. Die Kollegen auf den Fluren lachten und freuten sich auf einen freien Sonntag bei allerbestem Wetter.

Und Paula dachte an ein Kind, dem ein Arm fehlte.

Schließlich beschloss sie, noch einmal ins Atlantic