Das Kind - Jules Vallès - E-Book

Das Kind E-Book

Jules Vallès

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Beschreibung

Einer der großen Romane der Weltliteratur! Jules Vallès, ein Anarchist und Bohemian, widmete seinen Roman Das Kind all jenen, »die in der Schule vor Langeweile umkamen oder zu Haus weinten, die in der Kindheit von ihren Lehrern tyrannisiert oder von ihren Eltern verprügelt wurden«. Erzählt wird darin die durchaus autobiografische Geschichte eines kleinen Jungen, der von seiner Bauernmutter und seinem Lehrervater ständig zum Sündenbock gemacht und emotional und körperlich missbraucht wird. Sein größtes Anliegen ist es jedoch, den sozialen Status der Familie zu verbessern. Allen geschilderten sozialen Abgründen und menschlichen Bösartigkeiten zum Trotz ist Das Kind doch voller Ironie und Humor, gilt vielen gar als eines der witzigsten Bücher der französischen Literatur überhaupt, und wirkt dabei so modern, als sei es aus dem Herzen der Gegenwart geschrieben.

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Jules Vallès

Das Kind

Erster Band der TrilogieJacques Vingtras

Aus dem Französischen übersetztund mit Anmerkungen versehenvon Christa Hunscha

Herausgegeben vonBarbara Kalender

DAS KIND

ALLEN,die in der Schule vor Langeweile umkamenoder zu Haus weinten,die in der Kindheitvon ihren Lehrern tyrannisiert odervon ihren Eltern verprügelt wurden,widme ich dieses Buch.

JULES VALLÈSParis

Inhalt

I. Meine Mutter

II. Die Familie

III. Das eine Gymnasium

IV. Die Kleinstadt

V. Die Toilette

VI. Ferien

VII. Häusliche Freuden

VIII. Das Hufeisen

IX. Saint-Étienne

X. Rechtschaffene Leute

XI. Das andere Gymnasium

XII. Scheuern – Schlemmen – Sauberkeit

XIII. Das Geld

XIV. Reise aufs Land

XV. Fluchtpläne

XVI. Ein Drama

XVII. Erinnerungen

XVIII. Die Abreise

XIX. Louisette

XX. Meine humanistischen Studien

XXI. Frau Devinol

XXII. Die Pension Legnagna

XXIII. Frau Vingtras in Paris

XXIV. Die Rückkehr

XXV. Die Befreiung

Anmerkungen

I

Meine Mutter

Hat meine Mutter mich genährt? Hat eine Bäuerin mir ihre Milch gegeben? Ich weiß es nicht. Welche Brust ich auch benagt habe, ich erinnere mich aus der Zeit, als ich ganz klein war, an keine Liebkosung; man hat mich nicht gehätschelt und getätschelt und abgeküsst; man hat mich viel verprügelt.

Meine Mutter sagt, man soll Kinder nicht verwöhnen, und sie verprügelt mich jeden Morgen; wenn sie morgens keine Zeit hat, bleibt es bis mittags, selten später als vier Uhr. Fräulein Balandreau macht Salbe drauf.

Sie ist eine gute alte Jungfer von fünfzig. Sie wohnt unter uns. Zuerst war es ihr recht: Sie hat keine Uhr, so kam sie zur Uhrzeit. »Flitsch! Flatsch! Zack! Zack! – Das kleine Ding wird verprügelt, es ist Zeit für meinen Milchkaffee.«

Aber eines Tages, als ich meinen Kittel hochhob und mich zwischen zwei Türen abzukühlen versuchte, hat sie mich gesehen; mein Hintern hat ihr Mitleid erregt.

Sie wollte ihn zuerst aller Welt zeigen, die Nachbarn ringsum aufhetzen; aber sie hat sich überlegt, dass das nicht das Mittel war, ihn zu retten, und sie hat etwas anderes erfunden.

Wenn sie hört, wie meine Mutter zu mir sagt: »Jacques, jetzt schlage ich dich!«

»Frau Vingtras, machen Sie sich nicht die Mühe, ich erledige das für Sie.«

»Oh, liebes Fräulein, Sie sind zu gütig!«

Fräulein Balandreau nimmt mich mit; aber statt mich zu prügeln, klatscht sie in die Hände, ich schreie. Am Abend bedankt sich meine Mutter bei ihrer Stellvertreterin.

»Nichts zu danken«, antwortet das gute Mädchen und steckt mir heimlich ein Bonbon zu.

Meine erste Erinnerung geht also auf eine Tracht Prügel zurück. Meine zweite ist voll von Befremden und Tränen.

Sie führt ans Reisigfeuer unter einem alten Kaminaufsatz. Meine Mutter strickt in einer Ecke; eine meiner Cousinen, die in dem ärmlichen Haushalt als Dienstmädchen herhält, ordnet auf dem abgenutzten Bord ein paar grobe Steingutteller, auf denen Hähne mit rotem Kamm und blauen Schwänzen sind.

Mein Vater hat ein Messer in der Hand und schnitzt an einem Stück Tanne; die Späne fallen gelb und seidig herab wie Stückchen von Haarschleifen. Er macht mir einen Wagen aus Brettchen von frischem Holz. Die Räder sind schon geschnitzt; es sind Kartoffelscheiben, der Ring von brauner Schale stellt das Eisen dar … Der Wagen ist gleich fertig; ich warte erregt, mit aufgerissenen Augen, als mein Vater einen Schrei ausstößt und seine Hand blutüberströmt hochhebt. Er hat sich das Messer in den Finger gerammt. Ich werde kreideweiß und gehe auf ihn zu; ein heftiger Schlag hält mich zurück; meine Mutter hat ihn mir versetzt, Schaum auf den Lippen, die Hände zur Faust gekrampft.

»Du bist schuld, dass dein Vater sich wehgetan hat!« Und sie treibt mich über die dunkle Treppe vor sich her und stößt mich noch einmal mit der Stirn gegen die Tür.

Ich schreie, ich flenne um Gnade, ich rufe nach meinem Vater: in meinem Kinderentsetzen sehe ich seine Hand ganz zerhackt herunterhängen; ich bin der Anlass! Warum darf ich nicht dabei sein, um alles zu sehen? Sie können mich ja hinterher schlagen, wenn sie wollen. Ich schreie, sie antworten nicht. Ich höre sie mit Flaschen hantieren und eine Schublade öffnen; sie machen Verbände.

»Es ist nicht schlimm«, kommt mir meine Cousine sagen, während sie eine rotgefleckte Leinenbinde zusammenlegt. Ich schluchze und ersticke fast. Meine Mutter erscheint wieder und stößt mich in die Kammer, in der ich schlafe, in der ich jeden Abend Angst habe.

Ich bin vielleicht fünf Jahre alt und halte mich für einen Vatermörder.

Es ist doch aber nicht meine Schuld!

Habe ich meinen Vater gezwungen, einen Wagen zu schnitzen? Würde ich nicht lieber selber bluten, wenn ihm nur nichts wehtäte?

Ja – und ich zerkratze mir die Hände, damit es mir auch wehtut.

Mama liebt meinen Vater so sehr! Darum ist sie so wütend geworden.

Man bringt mir Lesen bei aus einem Buch, in dem mit dicken Buchstaben geschrieben steht, dass man seinem Vater und seiner Mutter gehorchen muss: Meine Mutter hat gut daran getan, mich zu schlagen.

Das Haus, in dem wir wohnen, liegt in einer schmutzigen Straße, die man mühsam hinaufsteigt. Von oben überblickt man das ganze Land, aber Wagen fahren keine durch. Nur Holzkarren kommen hierher, von Ochsen gezogen, die man mit Stechhaken anspornt – sie laufen mit angespanntem Nacken und wegglitschenden Füßen; die Zunge hängt ihnen zum Hals heraus, und ihr Fell dampft. Ich bleibe immer stehen, um zu sehen, wie sie Mehl und gebündeltes Reisig zum Bäcker bringen, der auf halber Straße wohnt; ich betrachte mir dabei die Bäckerjungen ganz in Weiß und den roten Backofen – die Brote werden mit großen Schaufeln in den Ofen geschoben, es riecht nach der frischen Kruste und nach Holzglut.

Das Gefängnis liegt am Ende der Straße, und die Gendarmen treiben oft Gefangene vor sich her, die Handschellen tragen. Beim Laufen blicken sie weder nach rechts noch nach links, ihre Augen sind starr, sie sehen krank aus.

Von manchen Frauen bekommen sie Münzen, die sie mit der Hand umklammern, während sie zum Dank den Kopf senken.

Sie wirken überhaupt nicht bösartig.

Einmal haben sie einen auf einer Bahre weggebracht, der war ganz von einem weißen Tuch bedeckt; er hatte sein Handgelenk unter eine Säge gehalten, nachdem er gestohlen hatte; es hatte schon so sehr geblutet, dass sie glaubten, er werde sterben.

Da der Gefängniswärter in der Nachbarschaft wohnt, verkehrt er freundschaftlich im Haus. Er isst ab und zu die Suppe bei den Leuten unter uns, und sein Sohn und ich, wir sind Spielkameraden. Er nimmt mich manchmal ins Gefängnis mit, weil es da lustiger ist. Da sind viele Bäume; wir spielen und lachen, und da ist ein ganz Alter, der im Zuchthaus war und uns Kathedralen aus Korken und Nussschalen macht.

Zu Haus wird nie gelacht; meine Mutter ist immer finster. – Mein Gott! Wie viel unterhaltsamer es mit dem Alten ist und mit dem Großen, den sie den Wilddieb nennen, der auf dem Markt von Vivarais einen Gendarmen umgebracht hat!

Sie bekommen auch Blumen und verstecken sie auf der Brust. Als ich durchs Sprechzimmer ging, habe ich gesehen, dass sie sie von Frauen bekamen.

Andere haben Orangen und Kuchen, den ihre Mütter ihnen mitbringen, als ob sie noch ganz klein wären. Ich bin ganz klein, aber ich habe niemals Kuchen oder Orangen. Ich erinnere mich nicht, zu Haus je eine Blume gesehen zu haben. Mama sagt, das stört, und nach zwei Tagen stinkt es. Ich hatte mich neulich an einer Rose gestochen, da hat sie mich angeschrien: »Das geschieht dir recht!«

Ich muss immer lachen, wenn gebetet wird. Ich kann mich noch so sehr zusammennehmen! Ich bete zu Gott, bevor ich niederknie, und ich schwöre ihm, dass ich nicht etwa über ihn lache, aber sobald ich auf den Knien bin, geht es mit mir durch. Mein Onkel hat Warzen, die ihn jucken, er kratzt, er beißt an ihnen herum: ich platze heraus. – Meine Mutter bemerkt es glücklicherweise nicht immer; aber Gott, der alles sieht, was soll der sich denken?

Neulich habe ich allerdings nicht gelacht! Wir hatten zu Haus zu Mittag gegessen, meine Tante aus Vourzac und meine beiden Onkel aus Farreyrolles waren da; wir waren gerade bei der tarte1, als es plötzlich finster wurde. Uns war die ganze Zeit zum Ersticken warm gewesen, die Überröcke waren ausgezogen. Auf einmal hat der Donner gegrollt. Der Regen ist in Strömen heruntergekommen, dicke Tropfen fielen platsch in den Staub. Es wurde kalt wie im Keller, und es roch nach Pulver; auf der Straße brodelte der Graben wie Waschlauge, dann haben die Scheiben zu scheppern angefangen: es hagelte.

Meine Tanten und Onkel haben einander angesehen, und einer ist aufgestanden; er hat den Hut abgenommen und zu beten angefangen. Alle verharrten stehend und ohne Hut, Traurigkeit lag auf ihren jungen oder alten Stirnen. Sie beteten zu Gott, er möge nicht allzu grausam mit ihren Feldern umgehen und nicht mit seinen weißen Geschossen ihre Ernte in der Blüte töten.

Ein Hagelkorn ist in dem Moment, als sie Amen sagten, zum Fenster hereingeflogen und in ein Glas gesprungen.

Wir stammen vom Land.

Mein Vater ist der Sohn eines Bauern mit Hochmut, der wollte, dass sein Sohn studierte, um Priester zu werden. Dieser Sohn wurde zu einem Onkel gesteckt, der Pfarrer war, damit er Latein lernte, dann wurde er aufs Seminar geschickt.

Mein Vater – der, der mein Vater werden sollte – ist nicht dageblieben, er wollte Student werden, zu Ehren kommen, und hat sich in einer Kammer im Winkel einer trübseligen Straße eingenistet, von wo er am Tag losgeht und Nachhilfeunterricht für 10 Sous2 die Stunde gibt, wohin er am Abend zurückkehrt und einer Bauerntochter, die meine Mutter werden wird, den Hof macht; im Moment erfüllt sie noch die Pflichten der ergebenen Nichte gegenüber einer kranken Tante.

Es gibt deswegen Krach mit dem Onkel, der Pfarrer ist, der Kirche wird Adieu gesagt; sie lieben sich, sie einigen sich, sie heiraten! Sie stehen im Übrigen denkbar schlecht mit Vater und Mutter, die sie auf dem Amtswege angehen müssen, um diese Heirat in Not und Elend durchzusetzen. Ich bin das erste Kind aus dieser gesegneten Verbindung. Ich komme in einem alten Holzbett zur Welt, in dem die Wanzen vom Dorf und die Flöhe aus dem Seminar sind.

Das Haus gehört einer fünfzigjährigen Dame, die nur zwei Zähne hat, einen braunen und einen blauen, und die andauernd lacht; sie ist gutmütig, und jeder hat sie gern. Ihr Mann ist beim Keltern in einem Bottich ertrunken, worüber ich viel grüble und was mich mit Angst vor Bottichen, aber mit Leidenschaft zum Wein erfüllt. Wenn Herr Garnier – das ist sein Name – sich daran zu Tode getrunken hat, muss es etwas Gutes sein. Frau Garnier trinkt jeden Sonntag von diesem Wein, der nach dem Mann schmeckt, den sie geliebt hat: die Schuhe des Toten stehen eigens auf einem Brett wie zwei leere Schoppen.

In dem Haus, in dem ich wohne, besäuft man sich nicht schlecht.

Ein Abbé, der auf unserm Stockwerk wohnt, steht vom Tisch nicht auf, ohne dass ihm die Augen aus dem Kopf quellen, dass ihm die Backen leuchten und die Ohren glühen. Das Schnaufen aus seinem Mund stinkt nach Fass, und seine Nase sieht aus wie eine gepellte Tomate. Sein Brevier riecht nach Fischragout mit Wein.

Sein Dienstmädchen, Fräulein Henriette, sieht er schräg an, wenn er gesoffen hat. Es wird manchmal über sie und ihn in den Ecken getuschelt.

Im zweiten Stock wohnt Herr Grélin. Er ist Feuerwehrleutnant, und an Fronleichnam hat er auf dem Marktplatz das Kommando. Herr Grélin ist Architekt, aber es heißt, er versteht nichts, »es ist seine Schuld, wenn die Place du Breuil immer überschwemmt ist, er kostet die Stadt 50 000 Francs, und ohne seine Frau …« Man erzählt wer weiß was von seiner Frau. Sie ist freundlich, hat große dunkle Augen, kleine weiße Zähne und einen Hauch von Schnurrbart auf der Lippe; beim Laufen lässt sie immer den Rock flattern und die Absätze klappern.

Sie spricht wie die Leute im Süden, und manchmal machen wir sie aus Spaß nach.

Es heißt, sie hat ›Liebhaber‹. Ich weiß nicht, was das ist, aber was ich weiß, ist, dass sie lieb zu mir ist, dass sie mir im Vorbeigehen einen Klaps auf die Backe gibt, dass ich es mag, wenn sie mir einen Kuss gibt, denn sie riecht gut.

Es sieht so aus, als ob ihr die Leute im Haus aus dem Wege gehen, aber sie zeigen es nicht offen.

»Also Sie meinen, sie treibt es mit dem Gehilfen?«

»Aber ja! Und wie!«

»Nein sowas! Und der arme Grélin?«

Ab und zu höre ich das, meine Mutter mischt sich da mit Sprüchen ein, die ich nicht verstehe.

»Wir anständigen Frauen, wir verhungern. Und denen da wirft man Posten für ihre Männer nach, und Kleider für ihre Feste!«

Ist Frau Grélin nicht anständig? Was macht sie denn? Was ist los? Armer Grélin!

Aber Grélin ist anscheinend völlig zufrieden. Immerzu streicheln sie ihre Kinder und schenken ihnen Spielsachen; mir schenkt man nur Ohrfeigen, mir erzählt man nur von der Hölle, mir sagt man immerzu, dass ich zu laut schreie. Ich wäre wirklich glücklicher, wenn ich der Sohn von Herrn Grélin wäre: Ja aber! Dann würde der Gehilfe zu uns kommen, wenn meine Mutter allein wäre … Mir wäre das ganz schön egal.

Im dritten Stock wohnt Frau Toullier: das ist eine anständige Frau!

Frau Toullier kommt mit ihrer Handarbeit zu uns, und meine Mutter und sie plaudern über die Leute von unten, über die Leute von oben und über die Leute aus Raphaël und Espailly. Frau Toullier schnupft, hat die Ohren voller Haare und Ballen an den Füßen; sie ist anständiger als Frau Grélin. Sie ist auch dümmer und hässlicher.

Welche Erinnerungen gibt es noch an meine frühe Kindheit? Ich erinnere mich, dass die Vögel im Winter vorm Fenster herumpicken; dass ich mir im Sommer in einem stinkenden Hof die Hosen dreckig mache; dass einer der Mieter hinten im Keller Puten mästet. Ich darf die Bällchen aus feuchtem Brot kneten, mit denen sie gestopft werden, bis sie fast ersticken. Es macht mir großen Spaß, wenn sie würgen und blau werden. Blau mag ich offenbar! Meine Mutter erscheint oft, zieht mich an den Ohren und ohrfeigt mich. Es geschieht zu meinem Besten; denn, je mehr Haare sie mir ausreißt, je mehr Katzenköpfe ich kriege, desto fester ist meine Überzeugung, dass sie eine gute Mutter ist und ich ein undankbares Kind bin. Undankbar, ja! Denn manchmal passiert es mir, dass ich sie nicht gerade segne, wenn ich mir abends die Beulen kratze, und dass ich Gott erst ganz am Ende meiner Gebete anflehe, ihre Gesundheit zu erhalten, damit sie über mich wacht und ihre liebevolle Fürsorge fortsetzt.

Ich bin groß, ich gehe zur Schule.

Sieh mal, die hübsche kleine Schule! Sieh mal! Die hübsche Straße! Wie ist sie an Markttagen lebendig!

Die wiehernden Pferde; die grunzenden herumlungernden Schweine, mit Stricken an den Beinen: die Hühner, die grell in den Käfigen gackern; die Bäuerinnen in grünen Schürzen, mit scharlachroten Röcken; die Schimmelkäse, die Frischkäse, die Körbe mit Obst, die rosa Radieschen, die grünen Kohlköpfe! …

Nahe bei der Schule war ein Gasthaus, wo oft Heu abgeladen wurde. Ins Heu verbuddelten wir uns bis an die Augen, struppig und schwitzend kamen wir hervor, Halme, die wie Nadeln piekten, im Hals, im Rücken, an den Beinen! …

Wir verloren unsere Bücher im Heuhaufen, unsere Frühstückskörbchen, den Gürtel, einen Holzpantoffel … Alle Freuden eines Festes, alle Aufregungen einer Gefahr … Was für Minuten!

Wenn ein Heuwagen vorbeifährt, ziehe ich den Hut und folge ihm.

II

Die Familie

Zwei Tanten vonseiten meiner Mutter, Tante Rosalie und Tatan Mariou. Die zweite heißt Tatan; warum, weiß ich nicht, vielleicht, weil sie liebevoller ist. Ich sehe noch ihr breites, weißes, sanftes Lachen in dem braunen Gesicht: sie ist mager und leidlich anmutig, eine Frau.

Meine Tante Rosalie, ihre ältere Schwester, ist gewaltig, vornübergebeugt; sie sieht wie ein Kantor aus; sie hat Ähnlichkeit mit dem Vater Jauchard, dem Bäcker, der sonntags die Vespergesänge intoniert und bei der Prozession die Litanei anstimmt. Der Mann im Haus ist sie; ihr Gatte, mein Onkel Jean, zählt nicht; er begnügt sich damit, an einer kleinen Warze herumzupolken, die in seinem abgenutzten, müden, zerfurchten Gesicht als Schönheitsfleck auftritt. Später habe ich oft bemerkt, wie viele Bauern solche Gesichter haben, listig, ältlich, spitzig; sie haben Blut vom Theater oder vom Hof, das sich an Fest- und Komödientagen in die Scheune oder ins Gasthaus verirrt hat, sie riechen nach dem Schmierenkomödianten, dem Cidevant1, oder dem alten Adligen, durch die Düfte von Schweinestall und Misthaufen hindurch. Von dekadentem Ursprung, bleiben sie auch am helllichten Tag zerbrechliche Schwächlinge.

Tatan Marious Mann, das ist ein Ochsenknecht! Ein schöner blonder Landarbeiter, fünf Fuß sieben Zoll, bartlos, aber mit leuchtenden Härchen auf dem Hals, einem runden, feisten, goldbraunen Hals; seine Haut ist strohfarben, er hat Augen wie Kornblumen und Lippen wie Klatschmohnblüten; sein Hemd ist immer halboffen, die Weste gelb gestreift, und der große Hut mit dem blauweißroten Seidenband verlässt ihn nie. Auf Bildern von Malern, die ich gesehen habe, sahen Bauerngottheiten so aus.

Zwei Tanten vonseiten meines Vaters.

Meine Tante Amélie ist stumm – dabei geschwätzig, geschwätzig! Ihre Augen, ihre Stirn, die Lippen, die Hände, die Füße, ihre Nerven, ihre Muskeln, ihr Fleisch, ihre Haut, alles an ihr ist in Bewegung, plappert, fragt, antwortet; sie fällt mit Fragen über dich her, fordert Antworten; ihre Pupillen weiten sich und erlöschen wieder; die Wangen blähen sich auf und fallen ein; ihre Nase hopst! Sie fasst dich hier an, da, behutsam, schroff, nachdenklich, wild; es gibt kein Mittel, die Unterhaltung zu beenden. Du musst bleiben, auf jedes Zeichen ein Zeichen finden, auf jede Geste eine Geste, Antworten haben, Geistesgegenwart, erst in den Himmel, dann in den Keller gucken, ihre Gedanken erwischen, so gut du kannst, am Kopf oder am Schwanz, mit einem Wort, dich ganz und gar ausliefern; während du den Gevatterinnen, die sprechen können, nur dein Ohr zu leihen brauchst: nichts ist so geschwätzig wie eine Taubstumme.

Armes Mädchen! Sie hat niemanden zum Heiraten gefunden. Das war klar, und mit Mühe lebt sie vom Ertrag ihrer Handarbeit; nicht, dass sie Entbehrungen litte, um ehrlich zu sein, aber die arme Tante Amélie ist eitel!

Man muss ihr Gebrummel hören, ihre Bewegungen sehen, ihren Augen folgen, wenn sie eine Haube oder ein Halstuch probiert. Sie hat Geschmack: mit sicherem Instinkt steckt sie eine Rose hinter ihr totes Ohr und wählt die Farbe für das Band, das auf ihrem Mieder prangen soll, nahe am Herzen, das sprechen möchte …

Großtante Agnès.

Sie wird ›Betschwester‹ genannt.

Diesen Namen hängt man vielen alten Mädchen an.

»Mama, was heißt das, eine Betschwester?«

Meine Mutter sucht nach einer Erklärung und findet keine; sie spricht von Sich-der-Jungfrau-weihen und Unschuldsgelübden.

»Die Unschuld. Meine Tante Agnès stellt die Unschuld dar? So ist das also, die Unschuld!«

Sie ist gut siebzig Jahre alt, und wahrscheinlich hat sie weiße Haare; ich weiß es nicht, niemand weiß es, denn sie trägt immer eine schwarze Haube, die ihr wie ein Heftpflaster am Schädel klebt; ihr Bart ist zum Beispiel grau, sie hat ein Büschel Härchen hier und eine gekräuselte Strähne dort, und überall hat sie Warzen wie Johannisbeeren, sie sehen aus, als ob sie auf ihrem Gesicht gären.

Um es besser zu beschreiben: von oben erinnert ihr Kopf wegen der schwarzen Haube an eine verbrannte Kartoffel und von unten an eine Kartoffel, die keimt: neulich morgen habe ich so eine unter dem Ofen gefunden, aufgequollen und lila, die ähnelte Tante Agnès wie ein Tropfen Wasser dem andern.

›Unschuldsgelübde‹.

Meine Mutter macht ihre Sache so gut und erklärt so schlecht, dass ich zu glauben anfange, Betschwester sein ist etwas Anstößiges, dass denen etwas fehlt, oder dass sie etwas zu viel haben.

Betschwester?

Vier ›Betschwestern‹ leben zusammen – nicht alle mit feuerfarbenen Warzen auf ihrer aschfarbenen Haut, wie Großtante Agnès, die eitel ist, aber alle mit einem Spross Schnurrbart oder einem Stück Backenbart oder ein bisschen Koteletten, und der unvermeidlichen Haube, dem schwarzen Pflaster!

Ich werde von Zeit zu Zeit hingeschickt.

Sie wohnen am Ende einer verlassenen Straße, wo das Gras wächst.

Großtante Agnès ist meine Patentante, und sie vergöttert ihren Patensohn.

Sie will mich zum Erben machen, mir hinterlassen, was sie besitzt – hoffentlich nicht ihre Haube.

Es scheint so, als ob sie ein paar alte Sous in einem alten Strumpf aufbewahrt, und wenn von einer Nachbarin die Rede ist, bei der man auf dem Grund eines Buttertopfes einen Beutel mit Goldstücken gefunden hat, lacht sie in ihren Bart.

Ich unterhalte mich nicht übermäßig bei ihr, beim Warten darauf, dass ihr Buttertopf gefunden wird!

In dem großen Zimmer ist es dunkel, es ist eine Art Dachboden, von Balken gestützt, die wie alte Korken aussehen, so zerlöchert und verschimmelt sind sie!

Das Fenster geht auf einen Hof hinaus, von wo der Gestank von gekochtem Schlamm heraufsteigt.

Nur die Bettvorhänge gefallen mir – sie genügen zu meiner Zerstreuung; es gibt Männchen zu sehen, Hunde, Bäume, ein Schwein; alles ist mit Violett auf den Stoff gemalt, das gleiche Motiv wiederholt sich hundertmal. Aber es macht mir Spaß, sie von allen Seiten zu betrachten, und vor allem, wenn ich den Kopf zwischen die Beine stecke und dann gucke, sehe ich alle möglichen Dinge auf den Vorhängen meiner Tante.

Die Jagd – das Motiv – erscheint mir in allen Farben. Unglaublich! Das Blut steigt mir ins Gesicht herunter; mein Hirn ist wie ein hohles Fass: jetzt kommt der Schlaganfall! Ich muss meinen Kopf an den Haaren zurückziehen, um mich wieder aufzurichten und ihn wieder gerade hinzusetzen wie eine geleerte Flasche.

An allen Ecken und Enden wird gebetet: Amen! Amen! Vor dem Kohlrabi und nach dem Ei.

Kohlrabi bildet die Grundlage für das Mittagessen, das man mir anbietet, wenn ich Tante Agnès besuche; sie geben mir einen roh und einen gekocht.

Den rohen schabe ich, er schäumt unter dem Messer, und auf der Zunge liegt ein Geschmack von Nüssen und Schnee. Mit weniger Vergnügen beiße ich in den, der in der Glut des Fußwärmebeckens geschmort hat, das die Tante immer zwischen den Beinen hat, das unentbehrliche Möbel aller Betschwestern. Acht Betschwesternbeine: vier Fußwärmebecken – die im Sommer als Schachteln für Nähzeug dienen und in deren Glut sie im Winter mit Schlüsseln herumstochern.

Manchmal gibt es ein Ei.

Dieses Ei wird wie ein Lotterielos aus einem Beutel gezogen, und es wird gekocht, das Unglückselige! Es ist ein wahrhaftes Verbrechen, ein Hahnenmord, denn immer ist ein kleines Huhn drin.

Ich esse diesen Fötus mit Dankbarkeit, denn es wird mir gesagt, dass nicht jeder so etwas isst, dass ich eine seltene Vergünstigung genieße, aber begeistert bin ich nicht, denn ich mache mir nichts aus feuchtem Abortus und Löffelhuhn.

Im Winter arbeiten die Betschwestern bei Kugellicht: zwischen vier mit Wasser gefüllte Glasglocken setzen sie eine Kerze, wodurch ein weißer, kurzer, harter Lichtschein entsteht, in dem goldene Reflexe spielen.

Im Sommer tragen sie Stühle auf die Straße, direkt vor die Türschwelle, und die Klöppelsäcke legen los.

Der Klöppelsack ist mit seinen grünen Bändern und rosa Schleifen, seinen Perlknopfnadeln, mit den Fäden, die wie Silberstreifen über einem Blumenstrauß aussehen, mit der Atmosphäre von reichen Geweben und den geschwätzigen Klöppeln eine kleine Welt voller Leben und Fröhlichkeit. Man muss ihn an warmen Tagen auf den Knien der Klöpplerinnen plappern hören, in den Betschwesternstraßen, auf der Schwelle stummer Häuser. Ein Lärm wie von einem Bienenstock oder einem Bach, sobald nur fünf oder sechs arbeiten – dann, wenn es Mittag schlägt, wird es still! …

Die Finger halten an, die Lippen bewegen sich, das kurze Engelsgebet wird gesprochen. Wenn die, die es spricht, fertig ist, antworten alle melancholisch: Amen!

Und die Klöppelsäcke machen sich wieder ans Schwätzen …

Mein Onkel Joseph, mein Tonton, wie ich sage, ist ein Bauer, der es zum Handwerker gebracht hat. Er ist fünfundzwanzig Jahre alt, und er ist stark wie ein Ochse; er ähnelt einem Leierkastenmann; braune Haut, große Augen, breiter Mund, schöne Zähne, pechschwarzer Bart, ein Gestrüpp von Haaren, ein Seemannsnacken, riesige Hände, mit Warzen bedeckt – den berühmten Warzen, an denen er beim Beten herumkratzt!

Er ist Zunftgeselle, er hat einen großen Stock mit langen Bändern, und er nimmt mich manchmal mit zur Mutter der Tischler. Hier wird getrunken, gesungen, man liefert sich Kraftproben; er greift mich beim Gürtel, wirft mich in die Luft, kriegt mich wieder zu fassen und wirft mich wieder hoch. Es macht mir Spaß und Angst! Dann klettere ich den Gesellen aufs Knie; ich berühre ihre Zollstöcke und Zirkel, ich koste vom Wein, der mir übel werden lässt, ich stoße mich an einem Meisterstück, ich werfe Planken um, ich steche mir an ihren Vatermördern die Augen aus, ihre Ohrgehänge kratzen mich. Sie tragen Ohrgehänge.

»Jacques, gefällt’s dir bei den ›Studierherren‹ besser als bei uns?«

»Nein! Überhaupt nicht!«

›Studierherren‹ nennt er die Erzieher, Lehrer und Lehrmeister für Lateinkram oder Zeichnen, die manchmal ins Haus kommen und unentwegt vom Gymnasium reden; an so einem Tag wird mir feierlich befohlen, brav zu sein, es wird mir verboten, die Ellbogen auf den Tisch zu legen, ich soll nicht mit den Füßen scharren, und ich habe das Fette von denen zu essen, die es nicht mögen! Die Studierherren öden mich an, und ich bin froh, wenn ich bei den Tischlern bin!

Ich schlafe neben Tonton Joseph, und er schläft niemals ein, ohne mir Geschichten erzählt zu haben – er ist voll davon –, danach trommelt er mit den Händen auf dem Bauch den Zapfenstreich. Am Morgen bringt er mir Boxen bei, er macht sich ganz klein und präsentiert mir seine mächtige Brust zum Draufhauen; ich versuche auch, mit den Füßen zu treten und falle fast immer hin.

Wenn es wehtut, weine ich nicht, damit meine Mutter nicht kommt.

Er geht morgens weg und kommt abends zurück.

Wie ich auf ihn warte! Ich zähle die Stunden, bis er nach Hause kommen muss.

Nach der Suppe trägt er mich auf den Armen weg und nimmt mich, bis alle schlafen gehen, in die kleine Werkstatt mit, die er unten hat und in der er abends auf eigene Rechnung arbeitet, er singt dabei Lieder, die mir gefallen, und er wirft mir Späne ins Gesicht; ich darf die Kerze putzen und mit den Fingern im Firnis plantschen.

Manchmal kommen Kameraden, um mit ihm, die Hände in den Taschen und die Schulter an die Tür gelehnt, zu plaudern. Sie sind freundlich zu mir, und mein Onkel ist mächtig stolz: »Der weiß schon viel, der Bursche! – Jacques, sag uns deine Fabel auf!«

Eines Tages ging Onkel Joseph weg.

Das war eine traurige Geschichte!

Frau Garnier, die Witwe des Säufers, der sich im Bottich ertränkt hat, hatte eine Nichte, die sie nach der Bottichkatastrophe aus Bordeaux kommen ließ.

Eine stattliche Brünette, mit riesigen Augen, schwarzen, ganz schwarzen, brennenden Augen; sie spielt mit ihnen wie ich im Unterricht mit einem Spiegelscherben, wenn ich Lichtflecken tanzen lasse; sie rollen in die Ecken, dann zum Himmel und nehmen dich mit.

Wahrscheinlich verliebte ich mich wahnsinnig in sie. Ich sage ›wahrscheinlich‹, denn ich erinnere mich nur an eine Szene voll Leidenschaft und fürchterlicher Eifersucht.

Und auf wen?

Ausgerechnet auf Onkel Joseph, der Fräulein Célina Garnier den Hof gemacht, sich ich weiß nicht wie an sie herangeschlichen hatte, schließlich um ihre Hand anhielt und sie heiratete.

Liebte sie ihn?

Ich kann heute auf diese Frage nicht antworten. Heute ist die Vernunft wiedergekehrt, und der Schnee der Zeit hat sich auf die aufgewühlten Gefühle gelegt. Aber damals – an dem Tag, an dem Fräulein Célina heiratete, war ich blind vor Leidenschaft.

Sie wurde die Frau eines andern!

Mich lehnte sie ab, der ich es so ehrlich meinte. Ich kannte den Unterschied, den es zwischen einer Dame und einem Herrn gibt, noch nicht, ich glaubte, die Kinder wachsen unter den Kohlköpfen2.

Wenn ich im Gemüsegarten war, schaute ich immer mal nach; ich spazierte zwischen den Kohlköpfen herum, in der Hoffnung, auf diese Weise vielleicht Vater zu werden …

Aber dennoch erzitterte ich, wenn meine Tante mir die Wangen tätschelte und in ihrem bordelaiser Dialekt mit mir sprach. Wenn sie mich auf eine bestimmte Art ansah, drehte sich mir das Herz um, wie an dem Tag, an dem ich auf dem Breuil in die Jahrmarktsschaukel geklettert war. Ich war schon so groß, zehn Jahre. Und das habe ich ihr gesagt:

»Heirate den Onkel Joseph nicht! Es dauert nicht mehr lange, dann bin ich ein Mann: warte auf mich, schwör mir, dass du auf mich wartest! Stimmt’s, ihr macht nur Spaß mit der Hochzeit heute?«

Sie machten ganz und gar keinen Spaß; sie wurden unzweifelhaft getraut, und sie gingen beide fort.

Ich sah sie verschwinden.

Ich lauerte voll Eifersucht. Ich hörte, wie der Schlüssel sich drehte.

Dieser Schlüssel drehte mir das Herz um! Ich horchte, spionierte. Nichts! Nichts! Ich fühlte, dass ich verloren war. Ich kehrte in den Festsaal zurück und ich trank, um zu vergessen.

Von da an habe ich Onkel Joseph nicht mehr ins Gesicht zu sehen gewagt. Trotzdem machte er, als er uns am Abend vor seiner Abreise nach Bordeaux besuchte, nicht die leiseste Anspielung auf unsere Rivalenschaft und sagte mir als zärtlicher Onkel, nicht als rachelüsterner Gatte auf Wiedersehen!

Da ist noch meine Cousine Apollonie; sie wird Polonie genannt.

Auf so einen Namen haben diese Bauern ihre Tochter getauft! Liebe Cousine! Lang und träge, mit hellblauen Augen und langen kastanienbraunen Haaren und Schultern wie Schnee; ein straffer Hals, von einem leuchtend schwarzen Samtband mit einem Goldkreuz unterbrochen; ein sanftes Lächeln und eine schleppende Stimme, sie wird rosig, sobald sie lacht, und rot, sobald jemand sie ansieht. Wenn sie sich anzieht, verschlinge ich sie mit den Augen – ich weiß nicht, warum – und ich empfinde alles Mögliche, wenn ich zuschaue, wie sie mit den Zähnen ihr herunterfallendes Hemd festhält und es auf ihre runde Schulter zurückschiebt. Sie schläft manchmal in unserem kleinen Zimmer, damit sie die erste auf dem Markt ist, mit ihren Butterblöcken, die fest und weiß sind wie das gemodelte Fleisch ihrer Brüste. Um die Butter von Polonie reißen sich die Leute.

Manchmal kommt sie und kitzelt mich am Hals, oder sie piekst mich mit ihren langen Fingern in die Seiten. Sie lacht, streichelt, küsst mich; ich drücke sie zur Verteidigung, und einmal habe ich sie gebissen; ich wollte sie nicht beißen, aber es war zu verführerisch, die Zähne zu blecken, ihr Fleisch roch nach Himbeeren … Sie hat aufgeschrien: Kleines Biest! und mir einen etwas derben Klaps auf die Backe gegeben; ich meinte, ich würde ohnmächtig und habe zur Antwort geseufzt; meine Brust zog sich zusammen, und meine Augen schwammen.

Sie hat mich losgelassen und sich wieder ins Bett geworfen und hat gesagt, es sei ihr kalt geworden. Von hinten sieht sie wie das weiße Fohlen aus, auf dem der Kleine vom Präfekten reitet.

Ich habe bei den Schularbeiten immer an sie gedacht.

Manchmal sehe ich sie lange nicht, sie versorgt das Haus auf dem Dorf, dann kommt sie plötzlich eines Morgens an wie ein Windstoß.

»Ich bin’s«, sagt sie, »ich hol dich ab und nehme dich mit zu uns! Wenn du willst!«

Sie küsst mich! Ich reibe mein Schnäuzchen an ihren rosigen Wangen, ich tauche es in ihren weißen Hals, schnüffle an ihrer blaugeäderten Kehle!

Immer riecht sie nach Himbeeren.

Sie schüttelt mich ab, und ich laufe meine Siebensachen zusammensuchen und das Hemd wechseln.

Ich binde einen grünen Schlips um und mopse meiner Mutter Pomade, damit ich auch gut rieche, damit sie ihren Kopf auf mein Haar legt!

Mein Bündel ist fertig, ich bin beschlipst und eingeschmiert; aber im Spiegel finde ich mich grässlich, und ich zerstrubble mein Haar wieder! Den Schlips stopfe ich in die Tasche, und mit offenem Kragen und schiefer Mütze hole ich mir noch einen Kuss. Es hat gekitzelt, ich habe es ihr nicht gesagt.

Der Stalljunge hat dem Pferd einen Klaps auf den Hintern gegeben, einem gelben Pferd mit Haarbüscheln über den Hufen; es gehört Tatan Mariou und wird bestiegen, wenn zu viel Butter zu tragen und zu viel Schimmelkäse zu verkaufen sind. Das Pferd geht im Passschritt klapp, klapp, klapp, klapp, klapp, klapp! Immer geradezu; man könnte meinen, sein Hals müsste brechen, und die moosfarbene Mähne fällt schwer über seine Augen, die an Hammelherzen erinnern.

Die Tante oder die Cousine steigen wie Männer auf; meine Tante hat dürre Waden wie schwarze Klöppel, die Waden meiner Cousine dagegen sind prall und sanft in den weißen Wollstrümpfen.

Hü also! Ho, ho!

Jean zäumt das Pferd auf und führt es vor; es hat seinen Hafer gehabt, wiehert, zieht die Lefzen hoch und zeigt seine gelben Zähne.

Jetzt ist es gesattelt.

»Beicht mir den Jacquinou herauf«, sagt Polonie, nachdem sie umständlich ihren Barchentrock über die Knie gezogen und ihr blankes Fleisch auf dem glänzenden Sattel zurechtgesetzt hat. Sie hilft mir, hinter ihr aufzusteigen. Da bin ich!

Dann aber merken wir, dass ich meine in einen Lappen zusammengerollten Sachen auf dem Gasthaustisch vergessen habe, zwischen Weinlachen und Fliegen.

Sie werden gebracht.

»Jean, machen Sie sie fest. Mein kleiner Jacquinou, leg deine Arme um meine Taille und drück mich fest.«

Das arme Pferd ist nur dünn bestrickt und hat harte Knochen; aber ich beherzige bei der Gelegenheit, wie wahr die Fabel spricht, die wir immer aufsagen müssen.

Was Gott tut, das ist wohlgetan.

Meine Mutter hat mit ihrem Prügeln meine Haut abgehärtet und gegerbt.

»Drück, sag ich dir! Drück mich fester!«

Und ich drücke sie unter ihrem bemalten Tuch, das mit Blümchen wie mit goldenen Maikäfern bestreut ist, ich fühle die Wärme ihrer Haut, ich presse meine Hände an ihr sanftes Fleisch. Es kommt mir so vor, als ob dieses Fleisch sich über meinen Fingern wieder schließt, und vorhin, als sie den Kopf hergewendet und mich mit geöffneten Lippen und geblähtem Hals angesehen hat, ist mir das Blut in den Schädel gestiegen und hat mir die Haare gesotten.

In der Rue Saint-Jean habe ich meine Arme etwas gelockert. Hier werden die Viehherden hindurchgetrieben, und wir ritten Schritt. Ich war ungeheuer stolz. Ich stellte mir vor, wie alle mich sahen und mimte den Pferdekenner: ich drehte mich auf dem Hinterteil des Pferdes um und stützte mich auf die flache Hand, ich drückte dem Pferd die Absätze in die Schenkel und schrie hü! wie ein Rosshändler.

Wir haben die Vorstadt durchquert, den letzten Sattler hinter uns gelassen.

Wir sind in Espailly!

Es gibt keine Häuser mehr, außer einigen wenigen in den Feldern; Blüten klettern an den Mauern hoch, wie Rosenknöpfe über ein weißes Kleid; ein Weinberg und unten der Fluss, der sich wie eine Schlange unter den Bäumen hinzieht, eingefasst von gelbem Sand, feiner als Schlagsahne und gespickt mit Kieseln, die wie Diamanten aufflammen.

Ganz hinten die Berge. Ihre dunklen, vom Haarkleid der Tannen begrünten Buckel schneiden in den blauen Himmel, in dem Wolken wie Seidenflocken umherziehen; ein Vogel, bestimmt irgendein Adler, hatte einen großen Flügelschlag getan und hing in der Luft wie ein Ball am Ende einer Schnur.

Immer werde ich mich an die dunklen Wälder erinnern, den flackernden Fluss, die laue Luft und den großen Adler …

Ich hatte vergessen, dass ich mit klopfendem Herzen an Polonies Rücken hing. Sie selbst schien nichts zu denken, ich erinnere mich an kein Geräusch außer dem Schritt des Pferdes und dem Blöken einer Kuh …

III

Das eine Gymnasium

Das Gymnasium. – Wie alle Gymnasien und alle Gefängnisse lag es in einer finsteren Straße, die aber nicht weit vom Martouret entfernt war, dem Martouret, unserm großen Platz, auf dem das Rathaus, der Obstmarkt, der Blumenmarkt, der Treffpunkt aller Rotzjungen und die ganze Fröhlichkeit der Stadt waren. Und dann, am Ende der Straße, da war was los, da waren Kneipen, die ›Spunde‹, wie sie hießen, vor denen Äste oder Zweigbündel als Wahrzeichen hingen. Aus diesen Spundlöchern kam Lärm von Streitereien und ein Weingeruch, der mir zu Kopfe stieg, meine Sinne verwirrte und mich froh und stärker machte.

Dieser Weingeruch! – Der wunderbare Duft der Keller! – Noch heute flattert mir die Nase davon und bläht sich die Brust.

Die Trinker krakeelten; anscheinend lebten sie ohne Sorgen drauflos, sie hatten Bänder an ihren Peitschen und trugen reich verzierte Hemden – sie brüllten und besiegelten fluchend durch Handschlag ihre Verkäufe von Schweinen oder Kühen.

Und wieder knallt ein Korken und dröhnt ein Lachen, die Flaschenbäuche prosten einander in den Fingern des Wirts zu! Die Sonne wirft Gold durch die Fenster, zündet hier einen Westenknopf an, brät dort einen Schwarm Fliegen in der Ecke. Die Kneipe johlt, stinkt, raucht und brodelt.

Zwei Minuten entfernt schimmelt das Gymnasium vor sich hin, schwitzt Stumpfsinn aus und stinkt nach Tinte; wer hineingeht und wer herauskommt, der dämpft seinen Blick, seine Stimme, seinen Schritt, um die Disziplin nicht zu verletzen, um die Stille nicht zu trüben, um das Studium nicht zu stören. Was für ein abgestandener Mief! …

Fräulein Balandreau bringt mich hin. – Meine Mutter ist leidend. – Vor dem Weggehen wird mein Frühstück fertig gemacht, und ich verschwinde da drin bis acht Uhr abends. Dann kommt Fräulein Balandreau wieder und bringt mich zurück. Manchmal ist mir das Herz sehr schwer, ich erzähle ihr schluchzend von meinem Kummer.

Mein Vater beaufsichtigt den ersten Arbeitsraum, den mit den Mathematik-, Rhetorik- und Philosophie-Schülern. Er ist nicht beliebt, er hat den Ruf, ein scharfer Hund zu sein.

Er hat vom Direktor die Erlaubnis erhalten, mich bei sich im Arbeitsraum zu behalten, neben seinem Stuhl, und da sitze ich und büffle an meinen Aufgaben, während er seine Universitätsprüfung vorbereitet.

Es war unrecht von ihm, mich mit sich zu nehmen. Die Großen sind nicht besonders boshaft mir gegenüber; sie sehen ja, wie verschüchtert, ängstlich und ergeben ich bin; sie sagen nichts zu mir, das mich kränken könnte, aber ich höre, wie sie über meinen Vater sprechen, was für Namen sie ihm anhängen. Sie machen sich über seine große Nase lustig, über seinen alten Mantel, sie machen ihn in meinen Kinderaugen lächerlich, und ich leide, ohne dass er es weiß. Er fährt manchmal derb auf mich los.

»Was hast du? Wie ein Trottel guckt er in die Welt!« Aber ich habe gerade gehört, wie sie ihn beleidigt haben und würge an einem dicken Seufzer und einer bitteren Träne. Während der Abendstudien schickt er mich oft zu einem der andern Hilfslehrer, der jenseits des Hofes sitzt, ganz da hinten … ich soll um ein Buch bitten oder eine Nachricht überbringen. Es ist dunkel, der Wind heult! Manchmal muss ich durch mehrere Treppenhäuser steigen, einen langen Korridor entlanggehen, über dunkle Treppen klettern; in den Ecken verstecken sich welche, um mich zu ängstigen. Ich spiele den Helden, aber wohl ist mir erst wieder, wenn ich in den Arbeitssaal zurückkehre, wo man fast erstickt.

Hier bleibe ich manchmal ganz allein sitzen, wenn Fräulein Balandreau zu spät kommt. Die Schüler sind zum Abendessen gegangen, mein Vater hat sie hingeführt.

Dann wird mir die Zeit ganz schön lang! Alles ist leer, stumm; wenn überhaupt einer kommt, dann der Lampenanzünder. Er mag meinen Vater auch nicht, warum weiß ich nicht: ein Alter mit einem Grützbeutel, einer Lederkappe und einer grauen Jacke, wie Gefangene sie tragen. Er stinkt nach Öl, murmelt andauernd etwas zwischen den Zähnen, sieht mit harten Augen zu mir herüber, zieht grob, ohne Vorwarnung meinen Stuhl unter mir weg, stellt seine Öllampe auf meine Hefte, wirft mein Mäntelchen auf den Boden, schubst mich beiseite wie einen Hund und geht wortlos davon. Ich sage auch nichts, und ich spreche auch nicht, wenn mein Vater wiederkommt. Ich habe gelernt, dass man nicht ›petzen‹ darf. Ich tue es nicht, ich werde es im Laufe meiner langen Gymnasiasten-Existenz niemals tun und mir auf diese Weise so manche Quälerei vonseiten der Lehrer einbrocken.

Ich möchte aber auch nicht, dass mein Vater sich grämt, weil man mir mitgespielt hat, ich sage ihm nicht, dass ich misshandelt werde, damit er meinetwegen keinen Streit anfängt. So klein ich bin, habe ich das Gefühl, eine Pflicht erfüllen zu müssen, ich bin sensibel genug, um zu verstehen, dass ich der Sohn eines Galeerensklaven, schlimmer als das, eines Zuchthausaufsehers bin! Und ich ertrage die Rohheit des Lampenanzünders.

Ich höre die Sticheleien gegen meinen Vater, ohne zu zeigen, dass ich sie verstanden habe; das ist hart für einen zehnjährigen Jungen.

Es ist vorgekommen, dass ich furchtbaren Hunger hatte, wenn man mich an einigen Abenden allzu spät abholte. Der Speisesaal schickte Bratendüfte herüber, ich hörte das Klappern der Gabeln über den Hof.

Wie habe ich Fräulein Balandreau verflucht, dass sie nicht kam!

Ich habe später erfahren, dass sie zurückgehalten wurde; meine Mutter hatte meinem Vater klargemacht, dass er, wenn er kein Waschlappen wäre, mir die Reste seines eigenen Essens oder einen Nachschlag, um den er bitten müsste, als Nachtmahl beschaffen könnte.

Wenn sie an seiner Stelle wäre, liefe das Ganze längst. Er brauchte das Zeug nur in Papier einzuwickeln. Sie könnte ihm auch eine Schachtel mitgeben, wenn er wollte.

Mein Vater hat ihr immer widerstanden – der arme Mann. Die Angst, gesehen zu werden! Der Hohn, wenn man ihn überraschte – die Schande! Meine Mutter hat ab und zu versucht, ihn unter Druck zu setzen, indem sie mich in seinem Arbeitssaal zur Essenszeit hungern ließ. Er gab nicht nach, er zog es vor, dass ich ein bisschen litt, und er hatte recht.

Ich erinnere mich aber an ein einziges Mal, da hat er sich aus dem Speisesaal gestohlen, um mir ein kleines paniertes Kotelett zu bringen, er zog es aus einem Aufsatzheft, in dem er es versteckt hatte: er wirkte völlig verwirrt und lief aufgeregt zurück! Ich sehe die Stelle noch vor mir, ich erinnere mich an die Farbe des Heftes, und ich habe später meinem Vater manches Unrecht verziehen im Gedanken an dieses Kotelett, das er eines Abends im Gymnasium zu Le Puy für seinen Sohn stibitzt hat …

Der Direktor heißt Hennequin – er ist in Ungnade gefallen und in das Nest Le Puy versetzt worden.

Er hat ein Buch geschrieben: Oscars Ferien.

Es wird als Examenspreis vergeben, und nach allem, was ich habe sagen hören, nach dem, was ich über Leute, die Autoren sind, gelesen habe, empfinde ich eine tiefe Ehrfurcht, eine stumme Bewunderung für den Autor von Oscars Ferien, der in unserer kleinen Stadt Direktor zu sein geruht, Direktor meines Vaters, der meine Mutter grüßt, wenn er ihr begegnet.

Ich habe Oscars Ferien verschlungen.

Ich sehe den grünkartonierten Band noch vor mir, in einem marmorierten Grün, das unter dem Daumen abblätterte und einem an den Händen kleben blieb, mit einem weißen Lederrücken, es öffnete sich schlecht, war auf holzigem Papier gedruckt. Und wenn schon! Von diesen Seiten, von diesem jammervollen Buch fällt ein Hauch von Frische in meine Erinnerungen, wann immer ich daran denke!

Die Geschichte eines Fischfangs habe ich niemals vergessen. Ein weites Netz glitzert in der Sonne, Wassertropfen rollen wie Perlen, die Fische zappeln in den Maschen, zwei Fischer stehen bis zum Gürtel im Wasser, der Kühle des Flusses ausgesetzt.

Er hat es verstanden, dieser Hennequin, dieser verkrachte Direktor, dieser Karde des kleinen Oscar, das weite Netz über eine ganze Buchseite schleifen und den Fluss durch das Kapitel strömen zu lassen …

Der Philosophielehrer – Herr Béliben – klein, schmächtig, Kopf so groß wie eine Faust, drei Haare, essigdünne Stimme.

Er bewies gern die Existenz Gottes, aber wenn jemandem ein Argument entschlüpfte, auch eins in seinem Sinne, gab er zu erkennen, dass er sich gestört fühlte, er brauchte den ganzen Tisch, wie für eine Patience. Er bewies die Existenz Gottes mit kleinen Holzstückchen und Bohnen.

»Hier setzen wir eine Bohne her, so! – Dort ein Streichholz. – Ein Streichholz, Frau Vingtras? – Und nun, da ich hier die Laster, dort die Tugenden des Menschen angeordnet habe, komme ich zu den FÄHIGKEITEN DER SEELE.«

Wer nicht auf dem Laufenden war, sah zur Tür, ob jemand hereinkäme, oder auf seine Tasche, um zu sehen, ob er etwas hervorholen würde. Die Fähigkeiten der Seele, das hatte Größe, das war vom Feinsten! Meine Mutter war geschmeichelt.

»Da sind sie!«

Alle drehten sich unwillkürlich noch einmal um, um die Damen zu begrüßen, aber Béliben nahm dich beim Mantelknopf und klopfte ungeduldig auf den Tisch. Er bat um Aufmerksamkeit. Zum Teufel! Sollte er nun die Existenz Gottes beweisen, ja oder nein!

»Mir ist das egal, und Ihnen?« sagte mein Onkel Joseph zu seinem Nachbarn, der pst machte und den Hals reckte, um besser zu sehen.

Mein Onkel steckte gemächlich die Hände wieder in die Taschen und sah den Fliegen zu.

Aber der Lehrer vom lieben Gott wünschte auch meinen Onkel für sich zu gewinnen und führte ihn zum Thema zurück, indem er ihn bei seiner Eigenliebe griff, sich in seine Berufsehre krallte.

»Chadenas, Sie sind Tischler, Sie wissen, dass man mit dem Zirkel …«

Er musste zum Schluss kommen: der kleine Mann rückte schließlich seinen Stuhl nach hinten, streckte eine Hand aus, deutete auf eine Ecke des Tisches und sagte: »DA IST GOTT.«

Man sah wieder hin, alle drängelten, um besser zu sehen: Alle Bohnen lagen zusammen mit den Streichhölzern und Korkstückchen und anderem kleinen Dreck, der zur Demonstration des Höchsten Wesens beigetragen hatte, in einer Ecke.

Anscheinend laufen die Tugenden, die Laster und die Fähigkeiten der Seele schick-sal-haft auf diesem Häufchen da zusammen. Alle Bohnen sind da. Also existiert Gott. Q. E. D.1

IV

Die Kleinstadt

Das Tor von Pannesac.

Aus Stein ist dieses Tor, mein Vater hat sogar gesagt, dass ich mir eine Vorstellung von römischen Monumenten machen kann, wenn ich es betrachte.

Am Anfang empfinde ich eine Art Ehrfurcht; dann langweilt es mich: ich entwickle allmählich eine Abneigung gegen römische Monumente.

Aber die Straße! … Sie riecht nach Korn und Getreide.

Der gestapelte Weizen entlang den Mauern gerät oft ins Rutschen, wie Schlafende fallen die Säcke übereinander. Feiner Mehlstaub hängt in der Luft, und der Lärm von fröhlichen Märkten. Hierher kommen die Bäcker und die Müller, die unser Brot bereiten, um einzukaufen.

Ich habe Hochachtung vor Brot. Einmal habe ich eine Kruste weggeworfen, mein Vater hat sie aufgehoben. Er hat mich nicht hart angefahren, wie er es sonst immer tut.

»Mein Kind«, hat er gesagt, »Brot darf man nicht fortwerfen, es wird schwer verdient. Wir haben nicht gerade zu viel, aber wenn wir zu viel hätten, müssten wir es den Armen geben. Vielleicht fehlt es dir eines Tages, dann wirst du seinen Wert kennenlernen. Beherzige immer, was ich dir da sage, mein Kind!«

Ich habe es nie vergessen.

Die Belehrung, die man mir vielleicht zum ersten Mal in meinem kurzen Leben ohne Wut, aber mit Würde erteilte, drang tief in meine Seele; und seitdem habe ich Hochachtung vor Brot.

Die reifenden Kornfelder waren mir heilig, ich habe niemals einen Halm geknickt, um eine Mohnblüte oder eine Kornblume zu pflücken; nie habe ich die Brotblüte auf dem Stängel getötet!

Auch, was er über die Armen gesagt hat, hat mich ergriffen, und vielleicht verdanke ich es seinen schlichten Worten an diesem Tag, dass ich für die, die Hunger litten, immer Hochachtung empfand und Partei ergriff.

»Du wirst seinen Wert kennenlernen.«

Ich habe ihn kennengelernt.

An den Ladentüren lungern Bäckerjungen herum, in Röcken wie Weiber, mit nackten Beinen und einem kleinen blauen Umhang um die Schultern.

Ihre Wangen sind weiß wie das Mehl, ihr Bart blond wie die Brotkruste.

Wenn sie über die Straße kommen, um einen Schluck zu trinken, weißen sie im Vorübergehen die Hand eines Freundes oder die Schulter eines Herren, wenn sie ihn streifen.

Die Meister stehen hinterm Ladentisch und wiegen die Brotlaibe, auch ihre Kleider sind mehlbestäubt. Außer den Broten liegen Backwaren in den Auslagen: brioches, kleine Rundkuchen, die wie Rotznasen über die Form gequollen sind und Törtchen wie lappiges Papier.

Neben Bohnen und Sämereien, von denen manche fleischig grün aussehen wie Früchte, andere wie leuchtende Flusskiesel, führen die Kaufleute auch Schrot in Holzfässern.