Das kleine Bistro zum Verlieben - Caro Stein - E-Book
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Das kleine Bistro zum Verlieben E-Book

Caro Stein

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Beschreibung

Liebe, Kakao und Zimtschnecken – Willkommen im kleinen Bistro zum Verlieben
Der winterliche Wohlfühlroman für romantische Lesestunden

Seit ihrer Kindheit träumt Chloé davon, die Hauptrolle in Der Nussknacker zu tanzen. Für ihren Traum zieht sie zu ihrer Tante nach Paris, in der Hoffnung in das Ensemble der Oper aufgenommen zu werden. Doch als sie sich während einer Aufführung verletzt, fällt sie für die restliche Saison aus. Frustriert willigt sie ein, stattdessen im Bistro ihrer Tante auszuhelfen. Abgesehen von wenigen Stammgästen verirrt sich allerdings niemand in das Les Fleurs. Um das schlecht laufende Bistro zu retten und wieder die Gäste anzulocken, die zur Winterzeit nach Paris strömen, schmiedet Chloé einen Plan. Zum Glück bekommt sie dabei Hilfe von Elian, der Chloé mit seinen eigens kreierten Macarons, Eclairs und Zimtschnecken gehörig den Kopf verdreht. Aber Elian hat ein Geheimnis, das das Bistro in den Ruin treiben könnte …

Erste Leser:innenstimmen
„Wer braucht den Nussknacker auf der Bühne, wenn man ihn im Bistro findet? Genialer und mitreißender winterlicher Liebesroman!“
„Eine Feel Good Romance voller Romantik, Köstlichkeiten und unvergesslicher Momente.“
„Mitten in Chloés Traum von Liebe und Ballett zu sein, war wie ein kurzer Ausflug nach Paris für die Seele.“
„Paris, Ballett und Geheimnisse – eine unwiderstehliche Mischung!“

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Seitenzahl: 337

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Über dieses E-Book

Seit ihrer Kindheit träumt Chloé davon, die Hauptrolle in Der Nussknacker zu tanzen. Für ihren Traum zieht sie zu ihrer Tante nach Paris, in der Hoffnung in das Ensemble der Oper aufgenommen zu werden. Doch als sie sich während einer Aufführung verletzt, fällt sie für die restliche Saison aus. Frustriert willigt sie ein, stattdessen im Bistro ihrer Tante auszuhelfen. Abgesehen von wenigen Stammgästen verirrt sich allerdings niemand in das Les Fleurs. Um das schlecht laufende Bistro zu retten und wieder die Gäste anzulocken, die zur Winterzeit nach Paris strömen, schmiedet Chloé einen Plan. Zum Glück bekommt sie dabei Hilfe von Elian, der Chloé mit seinen eigens kreierten Macarons, Eclairs und Zimtschnecken gehörig den Kopf verdreht. Aber Elian hat ein Geheimnis, das das Bistro in den Ruin treiben könnte …

Impressum

Erstausgabe Januar 2024

Copyright © 2023 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98637-844-8 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98778-872-7

Covergestaltung: Anne Gebhardt unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © karamysh, © robbiesnaps, © BestPhotoPlus stock.adobe.com: © Volodymyr, © detshana, © JEROME LABOUYRIE, © josemiguelsangar elements.envato.com: © aarleykaiven, © PixelSquid360, © foxyeaf Lektorat: Manuela Tengler

E-Book-Version 19.12.2023, 17:02:43.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Das kleine Bistro zum Verlieben

Kapitel 1

Der staubige Geruch der Vorhänge hatte stets etwas Magisches. Chloé hielt den Atem an. Die Luft lud sich mit einer Energie auf, die von den restlichen Tänzern hinter ihr ausging. Sie dehnte zum wiederholten Male ihren rechten Fuß und stellte sich probeweise auf die Zehen. Trotz der Watte, die sie in die Schuhspitze gestopft hatte, zog sich ein hartnäckiges Stechen bis zur Ferse. Schmerzen waren Teil ihres Berufs. Chloé wusste, wie man damit umging: ignorieren und lächeln.

Aus dem Publikumssaal war leises Gemurmel zu hören. Sobald jedoch Eric Marchand, der Intendant der Pariser Oper, die Bühne betrat, verstummten die Gespräche. Nach den üblichen Begrüßungsworten fasste er die Handlung von Cinderella zusammen, die mit dem ersten Aufeinandertreffen zwischen Cinderellas Vater und ihrer zukünftigen Stiefmutter begann.

Wie aufs Stichwort beugte sich Julie zu Chloé vor. »Hals- und Beinbruch. Auch wenn du für diese Rolle sicher keine Étoile wirst.«

Der Rang der Étoile war der höchste, den eine Tänzerin an der Pariser Oper erlangen konnte: eine Solotänzerin, die ihren Status ausschließlich auf Empfehlung des Directeur de la danse erhielt. Damit hob sie sich von den übrigen ersten Tänzerinnen ab.

Chloé überprüfte den Sitz ihres hellblauen Kleides, das mit dem weißen Kragen an die Uniform von Zimmermädchen erinnerte. »Mit der Rolle der Stiefmutter wirst du Isabelle ebenso wenig beeindrucken.«

Isabelle war die Direktorin: Sie entschied darüber, wer sich eine Étoile nennen durfte.

»Chicas, das hier soll auch Spaß machen und nicht nur Arbeit sein. Also hört auf mit eurem Étoile-Quatsch.« Marcs spanischer Akzent erweckte häufig den Eindruck, er wäre ununterbrochen in Flirtlaune. Allerdings verfehlte dieser heute die Wirkung, was vermutlich daran lag, dass Marc Lippenstift und Rouge trug und die Maskenbildner ihm eine blonde Perücke aufgesetzt hatten. Das hielt ihn dennoch nicht davon ab, Chloé zuzuzwinkern. »Ich freue mich schon auf unsere Hebefigur im zweiten Akt.«

Es war üblich, dass Männer die Rollen der Stiefschwestern übernahmen, da sie auf diese Weise tänzerisch mehr Möglichkeiten hatten. Sie gab ihm einen leichten Klaps auf die Schulter. »Der Lidschatten steht dir hervorragend. Solltest du öfter tragen.« Chloé wollte etwas hinzufügen, aber Erics Stimme bescherte ihr plötzlich Gänsehaut. Die Vorstellung begann.

»Ich wünsche Ihnen nun eine schöne Zeit mit Cinderella. Sie sind herzlich eingeladen, mit uns zu träumen … und auch zu lachen.«

»Damit meint er mich«, flüsterte Marc dicht an Chloés Ohr.

Sein Atem kitzelte sie. Chloé wedelte mit der Hand, als wollte sie eine Fliege verscheuchen.

»Du bist nur die Hälfte eines Ganzen, Schwesterchen.« Philippe, der die zweite Stiefschwester spielte, stand weiter hinten. »Und jetzt komm endlich her.« Seine Stimme zitterte vor Aufregung. Es war sein erster Auftritt als Halbsolist. Je höher man im Rang aufstieg, desto strenger musste man zu sich selbst sein, um seine Stellung auch zu behalten.

Eric verbeugte sich ein letztes Mal und verließ die Bühne auf der anderen Seite, um den Tänzern nicht im Weg zu stehen.

Chloés Puls beschleunigte sich. Die ersten lang gezogenen Töne der Violinen erklangen aus dem Orchestergraben und das Licht wurde gedimmt. Chloé neigte den Kopf nach unten und schritt hinaus auf die Bühne. Dies war der magische Moment, in dem sie eine unsichtbare Schwelle überwand. Von einem Atemzug zum nächsten war das Scheinwerferlicht auf sie gerichtet. Alle Blicke im Saal folgten ihr.

Sie war das Herz des Stücks.

Die Geschichte lebte durch sie.

Schwarze Seidentücher hingen von oben herab und berührten knapp den Boden. Sanft strich sie mit den Fingern darüber, während sich die schweren Töne der Oboe zu den Violen einfügten. Der Klang vibrierte in ihrem Bauch und ließ ihren Körper kribbeln.

Von der anderen Seite kamen sechs Tänzer mit weit ausholenden Schritten auf sie zu. Sie trugen einen Sarg auf den Schultern und stellten diesen in der Mitte der Bühne ab.

Chloé verharrte in der Bewegung und drehte ihr Gesicht zur Seite. Körpersprache und Mimik mussten alle Emotionen vermitteln, damit die Zuseher der Handlung folgen konnten – ein wesentlicher Teil des Balletts, da nicht gesprochen wurde. Trotz der ständigen Muskelspannung und der Konzentration, die das Tanzen erforderte, gab es kaum einen Ort, an dem sich Chloé so frei und leicht fühlte wie auf der Bühne. Die Musik trug sie hoch in die Lüfte, wo sie untrennbar mit der Melodie verschmolz.

Die Spannung, die eben noch zwischen den Tänzern hinter der Bühne geherrscht hatte, übertrug sich nun auf das Publikum. Chloé hörte die Menschen in den vordersten Reihen nach Luft schnappen. Sie hatte es geschafft! Die Zuschauer identifizierten sich mit ihr. Erlebten die Geschichte aus ihrer Sicht. Jede ihrer Bewegungen musste perfekt ausgeführt werden. Keine Drehung durfte zu schnell sein, kein Sprung danebengehen. Auf ihr lastete die Verantwortung, ob es am Ende der Vorstellung Applaus oder Buhrufe geben würde.

***

Das weiße Kleid schwebte von der Decke. Das Licht erinnerte an das Schimmern einer klaren Sternennacht. Chloé hielt den Atem an und streckte sich nach oben, bis sie den unteren Saum berührte. Dieser Teil des Stücks gehörte zu ihren Lieblingsszenen, da sich für Cinderella endlich das Schicksal wendete und sie ihren Weg gehen konnte. Voll konzentriert nahm sie das Kleid vom Haken und drückte es wie einen verloren geglaubten Freund an die Brust. Dann drehte sie sich im Kreis und ließ den Stoff sanft hin und her schwingen. Mit großen Augen sah sie zu Anna, die ihre gute Fee spielte und ihr deutete das Kleid anzuziehen.

Chloé eilte hinter die Kulisse. Eine Assistentin öffnete den Reißverschluss ihres Kostüms und streifte ihr den Stoff von den Schultern. In der Zwischenzeit tanzte Anna ihr Solo mit großen Sprüngen und Pirouetten. Chloé kannte die Schritte auswendig, da sie diese in knapp zwei Minuten wiederholen würde.

Sie zupfte das weiße Kleid zurecht. Ihre Arme fühlten sich schwerer an als üblich. Der stechende Schmerz in ihrem Fuß war in ein stetiges Pochen übergegangen. Dabei hatte sie den anstrengendsten Teil – den Pas de deux mit dem Prinzen – noch vor sich.

Chloé biss die Zähne fest aufeinander, als ihr Fuß erneut schmerzhaft protestierte. Während einer Aufführung blieb keine Zeit für Überlegungen. Jeder im Ensemble musste fehlerfrei funktionieren. Allen voran die Solistin mit der Hauptrolle.

Eine der Maskenbildnerinnen überprüfte ihr Make-up und zog die Augenbrauen zusammen. Offensichtlich sah sie ihr an, dass sie nicht in Bestform war. Aber das würde Chloé nicht davon abhalten, die Vorstellung zu beenden. Eher würde sie auf der Stelle tot umfallen.

Auf ein Zeichen des Regisseurs sprang sie hinaus ins Licht zu Anna und ahmte ihre Bewegungen nach. Die schnellen Töne der Geigen und Pauken bestimmten ihr Tempo und ermutigten sie zu Grands Jetés, weiten Sprüngen mit gestreckten Beinen. An dieser Stelle fühlte sich Chloé für gewöhnlich schwerelos, als würde sie eine Last verlieren, die sie ansonsten mit sich trug. Dieses Mal glaubte sie jedoch, ein Gewicht an den Knöcheln zu haben, das sie nach unten zerrte und gegen das sie mit aller Kraft ankämpfen musste. Die Schmerzen schossen von ihren Zehenspitzen bis hinauf in ihr Knie. Dennoch verzog sie keine Miene. Die Leichtigkeit war an dieser Stelle von zentraler Bedeutung. Cinderella streifte die Fesseln ihrer Stiefmutter ab und machte die ersten Schritte Richtung Freiheit.

Sie folgte Annas letztem Sprung. Ihre Zehen berührten den Boden.

Chloé spürte das Knacken eher, als dass sie es hörte. Instinktiv verharrte sie mitten in der Bewegung. Ihr Herz schlug schneller. Ein Schweißtropfen lief ihr über die Schläfe. In letzter Sekunde unterdrückte sie den Impuls, ihn wegzuwischen.

An dieser Stelle folgte üblicherweise eine letzte Pirouette. Chloé bezweifelte, dass ihr Fuß der Belastung standhalten würde. Ihre Brust hob und senkte sich deutlich. Das Lächeln behielt sie bei. Die Illusion, die sie in der vergangenen Stunde hergestellt hatten, durfte nicht zerstört werden. Nicht ihretwegen.

In diesem Moment traten sieben Schülerinnen der Ballettschule auf die Bühne. Sie stellten die verzauberten Mäuse dar, die die Kutsche zogen. Mit nach oben gestreckten Armen trugen sie einen Umhang für Cinderella, der an einen überlangen Kapuzenmantel erinnerte. Ihnen folgten zwei Tänzer in schlichten schwarzen Kostümen.

Anna nahm den Umhang, legte ihn Chloé um und setzte ihr die Kapuze auf. Annas Atem klang nicht annähernd so angestrengt wie ihr eigener. Womöglich hatte ihre Kollegin begriffen, dass etwas nicht mit ihr stimmte, denn sie drückte kurz ihre Schultern.

Die beiden Tänzer hoben Chloé in die Höhe. Beinahe hätte sie erleichtert aufgeatmet, beherrschte sich aber im letzten Moment. Stattdessen streckte sie wie vorgesehen die Arme zur Seite. Diese kleine Bewegung genügte, um ihre Glieder zum Zittern zu bringen.

Die Schülerinnen liefen ihnen im Gleichschritt voraus, während Anna das Ende des Umhangs in die Höhe hielt und als letzte die Bühne verließ.

Unter einem Paukenschlag fiel der Vorhang.

Applaus erfüllte den Saal und schwappte wie eine Welle zu ihnen herüber. Chloé atmete erleichtert aus. Niemand aus dem Publikum schien bemerkt zu haben, dass sie ihren Tanz nicht vollendet hatte. Lediglich Eric Marchand und der Choreograf würden später Fragen stellen.

Die Glocke ertönte und kündigte fünfzehn Minuten Pause an.

Die beiden Tänzer setzten Chloé ab und verschwanden zu den Garderoben, um die Kostüme für die nächste Szene – den Ball – anzuziehen. Chloé ließ sich zu Boden sinken und öffnete das Band ihres rechten Schuhs.

»Alles in Ordnung mit dir?« Anna ging vor ihr in die Hocke, eine leere Wasserflasche in den Händen, und sah sie eindringlich an.

Chloé sah zur Seite. »Ja, natürlich.«

»Warum hast du dann die Pirouette verpatzt?« Anna deutete mit dem Kopf auf den Schuh. »Hast du Schmerzen?«

»Ein wenig.«

Anna grunzte, was so gar nicht zu ihrer zarten Gestalt passte. »Ein wenig. Klar.« Sie berührte Chloés Arm. »Ich hol dir etwas zu trinken.«

Sobald sie außer Sichtweite war, streifte Chloé ihren Schuh vorsichtig ab und sog die Luft zwischen den Zähnen ein. Der Fuß war geschwollen und fühlte sich heiß an. Als sie ihn zaghaft bewegte, zuckte sofort ein scharfer Stich quer über den Fußrücken. Chloé biss sich auf die Innenseite ihrer Wange, um bloß keinen Ton von sich zu geben. Dennoch brannten Tränen in den Augen.

»Linda, der Rock bei Marc zieht einen Faden. Könntest du den bitte abschneiden?«

Chloé fuhr herum, was ihr einen weiteren schmerzhaften Stich einbrachte. Agnes Moreau kam direkt auf sie zu. Sie war für die Organisation hinter der Bühne zuständig und sorgte dafür, dass es den Tänzern an nichts fehlte. Agnes sah auf ihre altmodische Taschenuhr. »In zehn Minuten ist die Pause zu Ende. Macht euch bereit für den nächsten Akt.«

Hektisch griff Chloé nach ihrem Schuh und stellte ihn auf die Spitze, damit sie hineinschlüpfen konnte. Der Versuch schmerzte so sehr, dass ihr schwindlig wurde. In ihren Ohren rauschte es, trotzdem hörte sie Agnes’ Stimme dicht neben sich. »Inès, könntest du bitte bei Chloés Make-up nacharbeiten? Cinderella sollte nicht so blass sein, wenn sie … ach herrje.« Agnes machte ihren Job seit knapp vierzig Jahren und wusste genau, wie eine Tänzerin aussah, die … Weiter wagte Chloé nicht zu denken.

Inès kam mit einer Schminkpalette und zwei Pinseln auf sie zu. Agnes winkte sie weg. »Hat sich erledigt. Aber hol bitte Jean her.«

Jean gehörte zum Sanitäter-Team, das in der Oper stets auf Abruf bereitstand.

Chloés Magen krampfte sich zusammen. Sie schüttelte heftig den Kopf. Für einige Sekunden fiepte es hartnäckig in ihrem Ohr. »Es ist alles in Ordnung. Ich muss nur …« Sie griff mit zitternden Händen nach den Schnüren ihres Schuhs.

»Das kannst du vergessen.«

»Aber …«

Anna kam in ihr Blickfeld und streckte ihr eine Wasserflasche entgegen. »Trink einen Schluck.«

Chloé nahm die Flasche und krampfte ihre Finger darum. Sie verlor die Kontrolle. Über ihren Körper und über die Situation.

»Hol bitte Manon«, sagte Agnes zu Anna. »Sie sitzt in der Garderobe. Sag ihr, sie ist in acht Minuten dran. – Und du bewegst dich keinen Millimeter.« Den letzten Satz richtete sie an Chloé.

Kurz darauf wurde sie auf ein Traggestell gehoben. Im selben Moment kam Anna mit Manon zurück. Die Zweitbesetzung trug dasselbe Kleid und Make-up wie Chloé. Auf die Entfernung würde kaum jemand den Wechsel bemerken.

»Na, dann wollen wir mal.« Jean schob die Trage ein Stück vorwärts, während Grace, seine Kollegin, vorausging.

Die Musik setzte ein.

»Wartet.« Chloé klammerte sich seitlich an der Trage fest. »Eine Sekunde … bitte.« Ihre Stimme zitterte wie auch der Rest ihres Körpers. Ihr Blick haftete an Manon, die schüchtern zwischen den Tanzpaaren auf der Bühne stand, sich unschlüssig umsah und schließlich den Prinzen entdeckte. Die beiden gingen aufeinander zu und fassten sich an den Händen.

Chloés Mund war trocken. Erschöpft wandte sie sich ab, um die Szene nicht länger vor Augen zu haben, die sie eigentlich hätte spielen sollen. »Gehen wir«, flüsterte sie. Etwas in ihr sackte zusammen. Als hätte sie den letzten Zug verpasst, der sie an ihr Ziel hätte bringen sollen.

Kapitel 2

Der Zuckerstreuer kippte mit einem leisen Klirren um. Krümel verteilten sich quer über den Tisch. Chloé seufzte und wischte sie zu einem Häufchen zusammen. Dann pustete sie auf die Tastatur ihres Laptops, der zum Glück nichts abbekommen hatte. Ihr Blick fiel auf die Webseite der Pariser Oper, wo die Aufführung des Nussknackers angekündigt wurde. Die Besetzung würden sie demnächst bekannt geben.

»Es macht die Sache nicht besser, wenn du dir stundenlang das Programm ansiehst.« Tante Josette hatte die unangenehme Eigenschaft, aus dem Nichts aufzutauchen – zumindest, solange man vor sich hinstarrte und die Passanten beobachtete, die in ihren dicken Jacken an dem Bistro vorbeiliefen. Einige von ihnen marschierten die Treppe zu Sacré Coeur hinauf. Vereinzelte Sonnenstrahlen schienen auf die Kirchenkuppeln, die unter einen feinen Eisschicht glitzerten.

Josette stellte ein Tablett mit zwei Tassen Tee ab. Der Duft von Nelken stieg Chloé in die Nase. Ohnehin hatte sich das Bistro ihrer Tante längst in eine Zuckerbäckerwerkstatt verwandelt, in der es abwechselnd nach Schokolade, Rosinen, Zimt und Vanille duftete.

»Danke.« Chloé umschloss ihre Tasse mit beiden Händen. Sie bemerkte, dass ein Stückchen vom Rand herausgebrochen war, sagte jedoch nichts.

Ihre Tante ließ sich mit einem schweren Schnauben auf den Stuhl fallen, der daraufhin knarzte. Josette sah auf den Laptop vor Chloé und verzog missmutig die Lippen.

»Ich schaue mir das Programm nicht stundenlang an.«

»Genau genommen starrt sie die meiste Zeit aus dem Fenster.«

Zeitgleich drehten sich Chloé und Josette zu Madame Didier um. Die ältere Dame trat jeden Freitag pünktlich um zehn Uhr durch die Tür des Les Fleurs, um es sich mit einem Café au Lait und ihren Zeitschriften gemütlich zu machen.

Sie wedelte mit einem ihrer Klatschblätter in der Luft herum. »Ich hätte die hier schon durch. Falls es in diesem Internet gerade nichts Neues zu lesen gibt.«

Josette hob die Hand. »Merci, Madame Didier. Wir kommen darauf zurück.«

»Ich starre nicht aus dem Fenster«, flüsterte Chloé.

»Doch, tut sie.«

»Wie auch immer.« Josette legte eine Hand auf Chloés Unterarm und seufzte leise. »Der Unfall ist vier Wochen her. Solltest du nicht langsam … zurück ins Leben finden?«

Chloé entzog sich ihrem Griff und nippte an der Tasse, um Zeit zu gewinnen. Der heiße Tee verbrühte ihr die Oberlippe, sodass sie die Stelle mit der Zungenspitze befühlte. »Du klingst, als wäre ich im Koma gelegen.«

»Na ja, ich habe mich erkundigt«, Josette deutete auf den Laptop, »in diesem Internet …«

»Tolle Sache, oder?« Madame Didiers Lektüre schien nicht so interessant zu sein, wie sie vorgab. »Meine Enkel kriegen gar nicht genug davon.«

»Das ist wahr«, antwortete Josette. Dann wandte sie sich wieder an Chloé. »Jedenfalls bedeutet so ein Mittelfußbruch für eine Tänzerin oftmals …«

»Nicht für mich! Ich gehe zurück an die Oper.« Sie hätte es nicht ertragen, wenn ihre Tante das angsteinflößende Wort Karriereende laut ausgesprochen hätte.

»Trotzdem könntest du …« Josette sah hilfesuchend Richtung Küche. Dann hellte sich ihre Miene auf. »Was hältst du davon, mir im Bistro ein wenig auszuhelfen?«

Anstelle einer Antwort zog Chloé eine Augenbraue nach oben und sah auf ihren Fuß, der in einem Gipsschuh steckte. Es kam ihr so vor, als wäre dies nicht derselbe Körperteil, mit dem sie Pirouetten drehte und Grands Jétes sprang. Sie schüttelte den Gedanken ab und konzentrierte sich wieder auf ihre Tante.

»Der Gips kommt in zwei Wochen runter … und du darfst den Fuß ja belasten.« Josettes Augen leuchteten vor Begeisterung. Ein Anblick, den Chloé seit einer Ewigkeit nicht mehr bei ihr gesehen hatte. Dafür waren die Sorgen um das Bistro viel zu allgegenwärtig. »Ich möchte nur, dass du auf andere Gedanken kommst und du dich … na ja, mit einer Alternative oder zumindest einem Kompromiss anfreundest.«

»Worum geht es dir wirklich?« Chloé lehnte sich zurück und trank einen Schluck Tee. Hinter sich hörte sie das energische Rascheln von Madame Didier, die ihre Zeitschriften unsanft in die große Handtasche gestopft hatte.

»Herrgott, sogar ich sehe, wie sehr dich das Tanzen einschränkt. Und ich bin nur einmal die Woche hier.« Madame Didier zählte eine Handvoll Münzen aus ihrem Portemonnaie ab und legte sie auf den Tisch. Dann klemmte sie sich ihre Tasche unter den Arm und ging zur Tür. Sie hatte schon die Klinke in der Hand, wandte sich aber erneut an Chloé. »Fang endlich zu leben an, bevor du es eines Tages bereust.« Damit riss sie die Tür schwungvoll auf und ließ dadurch eine eisige Windböe in das Bistro strömen. Madame Didier schien das nichts auszumachen. Hoch erhobenen Hauptes marschierte sie über die glatten Pflastersteine und verschwand schließlich hinter der nächsten Abbiegung.

Chloé starrte ihr mit halb offenem Mund hinterher – sprachlos und gekränkt zugleich. Das Tanzen war ihr Leben. Mehr brauchte und wollte sie nicht.

Josette räusperte sich. »So drastisch hätte ich es zwar nicht formuliert«, sie trank von ihrem Tee, »aber ja, sie hat recht. In deinem Alter sollte man mehr erlebt haben als …«

Die Schwingtür zur Küche quietschte geräuschvoll und erinnerte Chloé daran, wie lange ihre Tante das Bistro schon gepachtet hatte.

Elian schob die Tür mit der Schulter auf und brachte gleichzeitig das Kunststück zustande, jeweils zwei Teller auf einem Arm zu balancieren. Diese waren randvoll mit Pain au Chocolat, Profiteroles, Macarons, Madeleines, Mandel-Calissons und einer Bûche de Noël, einer Biskuitrolle gefüllt mit Vanille- und Schokocreme. Seine dunklen Locken standen auf einer Seite ab, so als hätte er zu oft darüber gestrichen, und Mehlspuren waren auf seiner Stirn zu erkennen. Dieser Anblick war Chloé beinahe so vertraut wie ihr eigenes Spiegelbild. Sie hatte Elian als Jugendliche vor zehn Jahren kennengelernt und war beinahe vom ersten Tag an in ihn verliebt gewesen – zumindest bis er ihr wenige Monate nach ihrer ersten Begegnung das Herz gebrochen hatte.

Elian blieb einen Augenblick in der Tür stehen und sah zu dem Tisch, wo Madame Didier eben noch gesessen hatte. »Sie ist schon weg.« Er ließ die Schultern sinken, woraufhin die Teller gefährlich schwankten. Dann bemerkte er Josette und Chloé und machte einen Schritt auf sie zu. Die Tür schwang zurück.

»Pass …« Weiter kam Josette nicht.

Die Tür holte wieder nach vorn aus und verpasste ihm einen Schubs. Er stolperte, wodurch ein Teller von seinem Arm rutschte und mit einem dumpfen Scheppern auf dem Boden landete.

Chloé beobachtete, wie eine Profiterole unter einen Tisch rollte. Immerhin blieb der Teller heil.

»Nichts passiert … räum ich gleich weg.« Elian stieg über zwei Madeleines hinweg und stellte die übrigen drei Teller vor Josette und Chloé hin. »Dann müsst ihr mir sagen, wie ihr meine Kreationen findet.« Er nahm ein Mandel-Calisson und steckte es sich in den Mund. »Hmmm … kandierte Orangen und Zitronen«, nuschelte er kaum verständlich. »Exquisit.«

Der Duft von Zimt, Schokolade, Vanille und warmen Mürbteig stieg Chloé in die Nase. Sie presste die Lippen aufeinander. Das hinderte ihren Magen allerdings nicht daran zu knurren. Chloé schob den Teller von sich weg. »Danke, aber da muss ich passen.« Wie so oft hatte sie dabei das Gefühl, nicht nur das Gebäck, sondern auch Elian zurückzuweisen, was ihr ein schlechtes Gewissen bereitete. Aber er stellte ein zu großes Risiko für ihre Karriere als Tänzerin dar.

Tante Josette strafte sie mit einem Blick, den für gewöhnlich Mütter aufsetzten, deren Kinder den Brokkoli verweigerten. Demonstrativ biss sie von einem Madeleine ab, hob die Augenbrauen und gab anerkennende Geräusche von sich. »Das hier hat einen Schuss Rum mit Kokos. Nicht übel.«

Elian grinste breit und schob sich ein Pain au Chocolat zwischen die Zähne. Er sagte etwas, das niemand verstand. Dann verschwand er zurück in die Küche.

Sobald er weg war, stupste Josette den Teller in Chloés Richtung. »Möchtest du wirklich nicht probieren? Deine Figur wird schon nicht darunter leiden.«

Chloé verschränkte die Arme und drückte sie gegen ihren knurrenden Magen. Es war ewig her, seit sie zuletzt etwas Süßes gegessen hatte. Die Schokocreme des Pain au Chocolat, das Josette soeben auseinanderbrach, duftete verführerisch. So musste sich Eva im Paradies gefühlt haben, als sie vor dem Apfelbaum gestanden hatte.

Womöglich ahnte Josette, worüber sie nachdachte, denn sie legte das süße Gebäck beiseite und betrachtete den Gipsschuh. »Es hat vielleicht eine Zeit gegeben, in der dich das Tanzen glücklich gemacht hat. Aber du kannst mir nicht erzählen, dass dem immer noch so ist.« Ihre Stimme glich einem schwachen Flüstern, was untypisch für sie war. »Gib dem Bistro eine Chance. Am Ende gefällt es dir besser, als du denkst.«

Chloé wollte etwas erwidern, jedoch quietschte in diesem Moment wieder die Küchentür. Elian streckte einen neuen Teller mit Macarons in die Höhe. Er erinnerte dabei an die Spieler einer Fußballmannschaft, die den Pokal zur Weltmeisterschaft in den Händen hielten. »Gut, dass ich immer mehr mache.« Erneut tänzelte er zwischen den verstreuten Süßigkeiten hindurch.

Das Chaos im Bistro machte Chloé nervös. Unruhig sah sie aus dem Fenster. Josettes Worte klebten in ihren Gedanken wie der Schokoladenguss auf den Profiteroles. Natürlich, sie würde nicht ewig auf der Bühne tanzen. Mit zweiundvierzig Jahren beendete man seine Karriere an der Pariser Oper. Diese Regel stammte noch aus der Zeit des Sonnenkönigs. Aber eine zukünftige Étoile in einem Bistro? Das passte nicht zusammen.

Die Klänge von Little Drummer Boy schwebten durch den Raum. Sie landeten auf ihrer Haut, wo sie in einen sanften Schauer übergingen und einen völlig anderen Gedanken auslösten: Mit dreizehn Jahren war sie von Vichy zu Josette nach Paris gezogen, um die Ballettschule zu besuchen. Ihre Tante hatte sie ohne Widerrede bei sich aufgenommen. Wäre sie nicht gewesen, hätten Chloés Eltern sie niemals in die Großstadt ziehen lassen. Die beiden hätten es ohnehin bevorzugt, wenn ihre Tochter einen gewöhnlichen Beruf wie Büroassistentin oder Lehrerin erlernt hätte.

Womöglich war es nun an der Zeit, sich für Josettes Unterstützung zu revanchieren. Auch wenn sie keine Ahnung hatte, was sie im Bistro machen sollte. Es war ja nicht unbedingt so, als würden ihnen die Gäste die Türen einrennen.

Zwar hatte ihre Tante schon einmal mit dem Gedanken gespielt, das Bistro zu schließen, da es nur knapp profitabel war. Allerdings konnte sie sich nicht dazu durchringen. Das lag nicht ausschließlich daran, dass sie das Les Fleurs seit fünfundzwanzig Jahren betrieb. Ihr Pachtvertrag beinhaltete neben der Geschäftsfläche auch die Wohnung über dem Bistro. Sollte Josette das Bistro tatsächlich aufgeben, würden sie damit auch gleichzeitig ihre Wohnung verlieren. Und in Paris eine leistbare Unterkunft zu finden, war ungefähr so schwierig wie die Giselle-Hüpfer aus dem gleichnamigen Ballett.

Der Duft nach Vanillecreme lockte Chloé von ihren Überlegungen weg. Elian hielt ihr einen Teller so dicht vor das Gesicht, dass ihre Nasenspitze beinahe die Schokoladenglasur der Eclairs berührte.

»Möchtest du wirklich nicht probieren? Nicht mal einen kleinen Bissen?« Er rückte mit dem süßen Gebäck noch ein Stückchen näher an sie heran.

Daraufhin drehte sie demonstrativ den Kopf weg. Ihre Tasse hielt sie wie ein Schutzschild zwischen sich und die verführerischen Kalorien.

Tante Josette zeigte sich in dieser Hinsicht weniger zimperlich. Sie nahm eines der Eclairs, schnupperte daran und biss dann genüsslich hinein. »Elian, du bist ein Künstler.« Anerkennend hob sie die Nascherei an, als wollte sie ihm damit zuprosten.

Chloé schnaubte unwillkürlich. Die Nähe zu Elian und dem Gebäck stellten ihre Willenskraft auf eine harte Probe. Beides weckte in ihr den Wunsch, der Versuchung nachzugeben. Gleichzeitig wusste sie aber, dass sie sich und vor allem ihrer Karriere damit bloß schaden würde.

In diesem Augenblick gab ihr Handy ein melodisches Klingeln mehrerer Glöckchen von sich. Es war die Erinnerung, dass ihr nächster Röntgentermin bevorstand. Also setzte sie ihren verletzten Fuß vorsichtig auf dem Boden ab. Die Schmerzen hielten sich in Grenzen. Dennoch musste sie ständig darauf achten, sich zu schonen, da ansonsten erneut ein scharfer Stich durch sie hindurch fuhr. Zumindest benötigte sie keine Krücken, da der Gipsschuh ihren Fuß stützte und das obere Sprunggelenk dadurch frei beweglich blieb. »Ich ziehe mich schnell um … Josette, fährst du mich bitte wieder ins Krankenhaus?«

Ihre Tante nickte. »Elian kann sich in der Zwischenzeit auch allein um das Bistro kümmern.«

Er salutierte lässig. »Ich werde mein Bestes geben.« Dann wandte er sich an Chloé. »Soll ich dir nach oben helfen?«

Sie blinzelte ihn an. Für einen Augenblick erkannte sie in ihm wieder den Jungen, der nach der Schule Zeit mit ihr verbracht hatte. Während der Sommerferien hatte er als Aushilfskellner im Bistro gearbeitet, wodurch sie sich fast täglich gesehen hatten. Danach unterstützte er Josette an den Wochenenden oder vertrat ihre Tante, wenn sie einen wichtigen Termin gehabt hatte.

Wie selbstverständlich hatte er sukzessive den Platz als Koch im Bistro eingenommen. Josette hatte ihm beigebracht, was er wissen musste, und hatte ihm später weitestgehend freie Hand gelassen.

Chloé schüttelte den Kopf, um all diese Erinnerungen loszuwerden. »Ich komme klar, danke.« Damit klemmte sie sich den Laptop unter den Arm und humpelte zur Treppe, die hinauf in die Wohnung führte. Aus den Augenwinkeln sah sie die Süßspeisen in der Vitrine. Eine Apfeltarte stand neben einer Schüssel mit schokoladeüberzogenen Profiteroles und Mille-feuille, kleinen rechteckigen Kuchen aus mehreren Schichten Blätterteig und Vanillecreme.

Sie hinkte soeben die Stufen hinauf, als Elian an ihr vorbeihuschte und die Tür in den Wohnungsflur öffnete. Er deutete eine knappe Verbeugung an, die sie mit einem schwachen Lächeln quittierte. Dann setzte sie ein leises »Danke« hinterher. Nur weil sie den jahrelang aufgebauten Abstand zwischen ihnen bewahren wollte, musste sie noch lange nicht unhöflich zu ihm sein.

Vor knapp zehn Jahren war sie in ihn verliebt gewesen und hat jede Gelegenheit genutzt, um Zeit mit ihm zu verbringen. Darunter hatte allerdings nach einer Weile ihr Training gelitten und letzten Endes hatte sie deswegen das Vortanzen für die erste wichtige Rolle in ihrem Leben vermasselt. Am selben Tag hatte sie Elian mit einem anderen Mädchen händchenhaltend die Champs-Elysées entlang spazieren gesehen. Und dabei hatte es sich definitiv nicht um seine jüngere Schwester gehandelt. Chloé kannte Ava, die gelegentlich morgens vorbeikam, um sich einen Kaffee zu holen und kurz mit ihrem Bruder zu plaudern, bevor sie von einer Nachtschicht im Krankenhaus nach Hause fuhr. Sie hatte ihn nie auf das Mädchen angesprochen und er hatte es ebenfalls nie erwähnt. Dennoch änderte es nichts daran, dass er ihr in diesem ohnehin schon verletzlichen Moment zusätzlich das Herz gebrochen hatte.

Nach diesem Tag hatte sie das Tanzen wieder an die oberste Stelle gesetzt und seither den Kontakt zu Elian auf ein Minimum reduziert. Beides ließ sich einfach nicht in ihrem Leben vereinbaren.

Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit versetzte ihr diese Erkenntnis einen Stich in der Brust. Womöglich lag es daran, dass die Oper nun so weit entfernt wirkte wie nie zuvor. Aber sie würde ihren Weg dorthin zurückfinden und den Rang einer Étoile erhalten.

Kapitel 3

Eingehüllt in ihren dicken Mantel, den Schal bis zur Nase hochgezogen, wartete Chloé im Tuileriengarten, dem barocken Schlossgarten vor dem Louvre. Über den Gips hatte sie einen Überschuh gezogen, damit nichts nass wurde.

Wenige Schritte von ihr entfernt bot eine Crêperie neben den Süßspeisen auch Kaffee und Tee an. Die Fassade der Hütte war mit Tannenzweigen und Weihnachtskugeln geschmückt, ein untrügliches Zeichen dafür, dass Weihnachten näher rückte. Der verführerische Duft von heißem Zucker schwebte zu ihr hinüber und ließ ihre Gedanken für einen Augenblick zu Elian wandern. Sie hatte ihn wenige Monate nach ihrer Ankunft in Paris kennengelernt, als sie noch die Ballettschule besucht hatte und er auf eine öffentliche Schule gegangen war. In dieser Zeit hatten sie die Nachmittage miteinander verbracht und waren zusammen ins Kino oder ins Freibad gegangen. Nach Ende seiner Ausbildung hatte Elian den vorherigen Koch im Bistro abgelöst und gehörte seither ebenso zu Chloés Alltag wie die Tanzproben und Bühnenauftritte.

Ein eisiger Windhauch streifte ihr Gesicht und brachte sie zur Besinnung. Sie vergrub die Hände tiefer in ihren Manteltaschen und zog die Schultern hoch. Chloé hatte darauf bestanden, dass sie sich draußen trafen. Momentan verbrachte sie so viel Zeit im Bistro, dass sie nicht schon wieder in einem Café sitzen wollte. Trotz ihres verletzten Fußes verspürte sie das Bedürfnis nach ein bisschen Bewegung. Durch ihren Beruf liebte sie das Gefühl, an ihre körperlichen Grenzen zu kommen und diese immer weiter auszureizen.

Sie unterdrückte den Impuls, ihr Handy aus der Tasche zu nehmen und auf die Uhr zu sehen. Dafür hätte sie ihre Hände der kalten Luft aussetzen müssen. Anna hätte eigentlich längst da sein sollen. Für gewöhnlich war ihre Freundin pünktlich. Eine Eigenschaft, die für eine Tänzerin ebenso wichtig war wie Ausdauer. Wenn man mehrfach zu spät zu einer Probe oder gar einer Aufführung kam, konnte dies ein schnelles Karriereende bedeuten.

Chloé verlagerte das Gewicht von ihrem gesunden Bein auf das verletzte, woraufhin sofort ein spitzer Schmerz durch sie hindurch jagte.

Da entdeckte sie endlich Anna, die mit beneidenswert leichten Schritten auf sie zugelaufen kam. Sie erinnerte Chloé an eine Fee, deren Füße kaum den Boden berührten. Im Vergleich dazu fühlte sie sich wie ein unförmiger Troll, der zusätzlich einen Klotz am Bein trug.

Der Reißverschluss von Annas Jacke stand offen, sodass man den darunterliegenden dicken Strickpullover sah. Den Schal hatte sie lässig um den Hals geschwungen und ihre blonden Haare flogen im Wind. Im Gegensatz zu ihr schien Anna die Kälte nichts auszumachen, was aber auch nicht weiter verwunderlich war. Schließlich kam sie aus Weißrussland und war vermutlich kältere Temperaturen gewohnt.

Als sie näher kam, erkannte Chloé, dass Annas Gesicht noch erhitzt vom Balletttraining war. Ihre Freundin begrüßte sie mit drei Küsschen auf die Wangen und hüllte sie mit dem schweren Duft ihres Parfüms ein, dessen dreistelligen Eurobetrag man geradezu riechen konnte. Zu ihrer Überraschung drückte Anna sie fest an sich und wog sich mit ihr hin und her. »Wie schön dich wiederzusehen.«

Die beiden hatten sich seit ihrem Unfall nicht mehr verabredet. Chloé hatte ein Treffen hinausgezögert, da sie nicht sicher war, ob sie mit jemandem aus dem Ensemble sprechen konnte, ohne dass die Sehnsucht nach der Oper sie auffraß. Die Themen würden sich zwangsläufig um die anstehenden Stücke drehen, an denen sie nicht teilnehmen konnte. Davon abgesehen prägten tägliche Trainingsstunden und Proben Annas Alltag. So war es schwierig, eine Lücke in ihrem dicht gefüllten Kalender zu finden. Ihre Freundin gehörte wie sie selbst zu den Solistinnen an der Pariser Oper und musste hart arbeiten, um diesen Status nicht zu verlieren.

»Entschuldige die Verspätung. Du weißt ja, wie Dupont ist. Er hat kein Problem damit, wenn das Training länger dauert als geplant.« Etienne Dupont war einer der angesehensten Choreografen in ihrer Branche, aber auch einer der strengsten. Wenn er von den Tänzern Überstunden erwartete, kam man dem ohne Widerworte nach.

Chloé lächelte schief hinter ihrem Schal. Allein diese Erwähnung genügte bereits, damit sich ihr Herz zusammenzog. Sie wünschte sich nichts sehnlicher als ein Training, nach dem man kaum noch in die Garderobe laufen konnte, da die Beine so sehr zitterten, begleitet von dem einzigartigen Gefühl, wieder ein Stückchen besser geworden zu sein.

Anna warf einen Blick auf ihren Gipsschuh. »Das sieht ja furchtbar aus«, sagte sie in einem Tonfall einer Modedesignerin, die ein Outfit kritisierte.

Das entlockte Chloé nun doch ein Lachen. Sie war froh, dass ihre Freundin sie nicht zimperlich behandelte oder so tat, als könnte sie ihre Karriere bereits an den Nagel hängen. »Ich kann es kaum erwarten, das blöde Ding loszuwerden und wieder zum Training zu kommen.«

Sie stellten sich bei der Crêperie hinter einem Paar an, das sich nicht entscheiden konnte, ob es die Crêpes mit Nugat oder Vanillezucker essen sollte. Chloé wechselte einen vielsagenden Blick mit Anna. Es verstand sich von selbst, dass sie lediglich einen Espresso trinken würden.

»Zuerst wirst du zur Physiotherapie gehen, oder?« Anna legte den Kopf schief, als müsste sie sich bei ihr entschuldigen. »Das mit dem Tanzen wird wohl noch eine Weile dauern.«

Reflexartig machte Chloé eine beschwichtigende Geste. »Ich bin schneller zurück, als Julie lieb sein wird. Du wirst schon sehen: Im Frühjahrsprogramm bin ich wieder dabei.«

Anna erwiderte nichts darauf, sondern ging vor, um den Kaffee zu bestellen. Das Pärchen hat beide Crêpes gekauft und biss jeweils von der Portion des anderen ab.

Mit den Kaffeebechern schlenderten die beiden Tänzerinnen anschließend durch den Park und vorbei am Arc de Triomphe du Carrousel, dem etwas kleineren Gegenstück zum Triumphbogen am Ende der Champs-Élysées. Hier rauschte der Verkehr in einem unablässigen Strom, was in starkem Kontrast zu der Ruhe im Tuileriengarten stand. Sie überquerten die Straße und gingen weiter in den Innenhof des Louvre, wo sich die berühmte Glaspyramide befand.

Im stillen Einverständnis steuerten sie auf den linken Säulengang zu, der sich aus eleganten Arkaden mit dorischen Säulen zusammensetzte. Dort pfiff der Wind weniger stark und sie hatten einen guten Blick auf die gläserne Pyramide, vor der trotz der Kälte einige Touristen für Fotos posierten.

Chloé pustete in die Trinköffnung ihres Bechers und nahm dann einen behutsamen Schluck. Der herbe Geschmack legte sich über ihren Gaumen. Sie atmete mit einem zufriedenen Gefühl aus.

»Jetzt mal im Ernst …«, Anna setzte ihr Gespräch fort, als hätte es nie eine Pause gegeben, »hast du dir Gedanken darüber gemacht, was du tust, wenn dein Fuß … wenn du deine alte Leistung nicht mehr erbringen kannst?« Anna ließ unausgesprochen, dass Chloé es niemals ertragen könnte, in einen niedrigeren Rang herabgestuft zu werden und lediglich Nebenrollen zu übernehmen, während Julie eine Hauptrolle nach der nächsten ergatterte.

Unwillkürlich zog sie die Schultern hoch, als galt es, einen Angriff abzuwehren. »Es wird alles wie früher. Ich brauche nur etwas Zeit.« Umständlich löste sie den Plastikdeckel von ihrem Becher, um den Rest auszutrinken.

Annas Blick haftete auf den Spitzen ihrer Wildlederstiefel. Chloé hatte sie in die Galerie Lafayette begleitet, wo sie die Schuhe gekauft hatte. Damals wäre ihr niemals in den Sinn gekommen, auch nur für eine einzige Vorstellung auszufallen. Ihre Freundin rieb sich mit einer Hand über das Kinn. »Ich denke schon darüber nach.«

Halbherzig drückte Chloé den Deckel wieder auf die Pappe. »Über meine Zukunft als nächste Étoile?« Sie versuchte, es wie einen Scherz klingen zu lassen, stattdessen hörte sie selbst den ernsten Tonfall, der zwischen ihren Worten mitschwang.

Anna schien dies aber ohnehin nicht bemerkt zu haben, da sie lediglich den Kopf schüttelte. »Darüber, was ich nach der Oper machen werde.«

»Was soll das denn bedeuten?«, fragte Chloé irritiert. »Du bleibst natürlich hier, solange dich die Oper engagiert.«

»Und danach?«

Anna zuckte mit den Schultern. »Das ist doch völlig egal. Wir tanzen, solange wir können.«

Eine Touristengruppe mit Rucksäcken, festem Schuhwerk und gezückten Handys kam in den Innenhof. Der Wind wehte zusammenhanglose englische Wortfetzen zu ihnen hinüber. Chloé beobachtete, wie sie einige Fotos machten und anschließend den Eingang zur Pyramide betraten. Darunter führte ein Gang direkt ins Museum.

Anna seufzte. »Tut mir leid. Ich wollte dich nicht runterziehen. Es ist nur …«, sie sah zu, wie der letzte Besucher über den Hof huschte und den anderen folgte, »die Weihnachtszeit macht mich immer melancholisch. Die Familienfeiern, das viele Essen … Manchmal habe ich einfach den Eindruck, durch das Tanzen etwas zu verpassen.«

»Was glaubst du denn zu verpassen?« Chloé warf ihren leeren Becher in einen nahe gelegenen Mülleimer und zog sich die Mütze tiefer über die Ohren. Allmählich fror sie.

Ihrer Freundin schien es ähnlich zu ergehen. Anna zog den Reißverschluss ihrer Jacke zu und wickelte sich den Schal enger um den Hals, bis ihr Gesicht ebenso halb hinter dem Stoff verborgen lag wie Chloés. »Das Leben«, antwortete Anna etwas verspätet.

Chloé lachte auf und wandte sich winkend in die Richtung der U-Bahn-Station Palais Royal-Musée du Louvre, von wo aus sie später zurück nach Montmartre fuhr. »Vom Leben werde ich in nächster Zeit genug abbekommen. Ich lasse dich wissen, ob es wirklich besser ist als das Tanzen.«

Anstelle einer Erwiderung neigte Anna den Kopf zur Seite und sah sie fragend an.

Chloé erzählte ihr von Josettes Vorschlag, im Bistro auszuhelfen, bis sie wieder zurück zur Oper konnte. »Sie hat es zwar nicht direkt gesagt, aber ich glaube, Josette wünscht sich, dass ich mit dem Tanzen aufhöre.«

Ihre Freundin schwieg eine Weile. Erst als sie vor der Treppe standen, die in den Untergrund führte, griff Anna das Thema erneut auf. »Vielleicht ist es tatsächlich eine Chance für dich, etwas anderes kennenzulernen.«

»Ich will gar nicht …«

»Versuch es. Du hast selbst gesagt: Du bist es Josette schuldig. Wenn du es also nicht für dich tust, dann tu ihr zumindest den Gefallen. Schlimmstenfalls sind es ein paar Monate.«

Die Worte ihrer Freundin hallten auch noch in Chloés Kopf nach, als sie sich längst verabschiedet hatten und das unablässige Rattern und Rauschen der U-Bahn in ihren Ohren dröhnte. Womöglich hatte Anna recht. Es war eine Möglichkeit, die sie ausprobieren konnte. Und ihre Tante würde sich bestimmt freuen, wenn sie sich mehr im Bistro einbrachte.

***

Zurück in der gemeinsamen Wohnung entdeckte Chloé Josette vor dem Fernseher, die Füße hochgelagert und einen Teller Eclairs auf dem Schoß. Es brannte keine Lampe, sodass das Wohnzimmer lediglich vom Licht des Bildschirms erhellt wurde.

Obwohl das Les Fleurs nicht von Gästen gestürmt wurde, waren die Tage für sie doch anstrengend. Die meiste Zeit war sie auf den Beinen und fand stets etwas zu tun. Seien es die wenigen Besucher, die sich ins Bistro verirrten und bedient werden wollten oder die Lieferanten, die im Hintereingang neue Waren brachten sowie die Tische, die abgewischt oder die Vorräte, die überprüft werden mussten. Josette war nicht der Typ, der lange still sitzen konnte. Sie summte innerlich wie ein Bienenstock und war ähnlich beschäftigt.

Augenblicklich regte sich das schlechte Gewissen in Chloé. Konnte sie ihre Tante wirklich mit der Arbeit alleinlassen, während sie wegen ihrer Verletzung Trübsal blies?

Sobald Chloé die Tür öffnete, pausierte Josette ihre Serie. Es lief eine dieser spanischen Telenovelas, in denen sich herausstellte, dass der neue Liebhaber der Hauptdarstellerin ihr verschwundener Cousin war und Totgeglaubte wieder auf der Bildfläche erschienen.

»Wie war das Treffen mit Anna?« Tante Josette kannte Anna, da diese öfter das Bistro besuchte. Sie versuchte dann immer, die Weißrussin zu einer deftigen Zwiebelsuppe zu verführen, was Anna jedes Mal dankend ablehnte.

Chloé gab ihr eine kurze Zusammenfassung, verschwieg jedoch, dass Anna sich bereits Gedanken über ein Leben nach der Oper machte.

Womöglich hatte sie dabei nicht so selbstsicher geklungen wie beabsichtigt, denn Josette schaltete umgehend die Stehlampe neben dem Sofa an und setzte sich aufrecht hin, die Hände zwischen den Knien. »Hast du dir es noch einmal überlegt? Mit dem Bistro, meine ich.«