Das klerikale Kartell - Helmut Ortner - E-Book

Das klerikale Kartell E-Book

Helmut Ortner

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Beschreibung

DEUTSCHLAND IST KEIN KIRCHENSTAAT. Jedenfalls in der Theorie. Wir leben in einem säkularen Verfassungs-Staat. Es herrscht Glaubensfreiheit. Gläubige, Andersgläubige und Ungläubige müssen miteinander auskommen. Alle Bürger dürfen ihren Gott, auch ihre Götter haben, der Staat selbst aber muss gottlos sein. Doch genau daran hapert es. Obwohl die Kirchen hierzulande seit Jahrzehnten rapide an Mitgliedern verlieren und inzwischen weniger als die Hälfte der Bevölkerung Mitglied in einer der beiden christlichen Großkirchen ist, bestehen die Kirchen auf jahrhundertealten Privilegien. Und der Staat gewährt sie ihnen – in Form von Sonderrechten, zweifelhaften Subventionen und steuerlichen Vergünstigungen. Helmut Ortner beschreibt faktenreich die andauernde Verletzung des Verfassungsgebots staatlicher Neutralität – und was dagegen zu tun ist. Darüber hinaus wirft er einen Blick auf kirchliche Kuriositäten, die überdeutlich zeigen, wie weit die Kirche vom aufgeklärten Geist des 21. Jahrhunderts entfernt ist.

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Helmut Ortner

DAS KLERIKALE KARTELL

Warum die Trennung von Kirche und Staat überfällig ist

Mit einem Nachwort von Ingrid Matthäus-Maier

nomen

1. Auflage 2024

Copyright © Nomen Verlag, Frankfurt am Main

Alle Rechte vorbehalten

www.nomen-verlag.de

Covergestaltung: Stefanie Kuttig, München

Satz + Layout: Blazek Grafik, Frankfurt am Main

Gesetzt aus der Adobe Caslon Pro

Druck und Bindung: CPI Clausen & Bosse, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-939816-95-9

eISBN 978-3-939816-96-6

»Sonst war die Religion, ich gesteh’s,

die Stütze des Staates,

aber jetzt ist der Staat Stütze der Religion«

Ludwig Feuerbach

Editorischer Hinweis

Das klerikale Kartell schließt sich thematisch an frühere Bücher des Autors an, unter anderem Politik ohne Gott (gemeinsam herausgegeben mit Stefana Sabin), Zu Klampen Verlag, Springe 2014, sowie EXIT – Warum wir weniger Religion brauchen, Nomen Verlag, Frankfurt am Main 2020.

Die in diesem Buch versammelten Aufsätze, Essays und Kommentare erschienen zwischen 2020 und 2023 in verschiedenen Tageszeitungen, Magazinen und Online-Formaten. Mit wenigen Korrekturen werden sie in der Originalfassung publiziert. Einigen Beiträgen wurden aktuelle Entwicklungen in einem Nachtrag angefügt. Erscheinungsdatum und Veröffentlichungsort der Texte finden sich im Anhang des Buches.

Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, machen sich der Autor und der Verlag nicht zu eigen.

Eine Haftung übernehmen der Autor und der Verlag nicht.

INHALT

PROLOG

Götterglaube und Seelenheil

DER GLAUBE, DIE KIRCHE UND DER STAAT

Erst der Bürger, dann der Gläubige

Herr Steinmeier, der Garten Eden und der Kirchentag

Flucht aus der Kirche

Seid umschlungen, Milliarden!

Der permanente Verfassungsbruch

Klerikale Vertuschung

Lautes Schweigen

Kniefall des Rechtsstaats

Ratzingers Wahrheit

Ethik statt Religionsunterricht – ohne Kruzifix und Kopftuch

Karfreitag – nicht mit Heidi

Der Amtsrichter, die Verfassung und das Kreuz

Der »Dritte Weg« ins Abseits

Im Täuschungslabyrinth

Lob des Laizismus

Ein imaginäres Verbrechen

Allah, der Staat, die Linke und die Aufklärung

EPILOG

Das klerikale Kartell und der gottlose Staat

NACHWORT

Staatskirche oder Rechtsstaat?

ANHANG

Manifest

Anmerkungen und Quellen

Abdruckhinweise

Literatur

Mitarbeit und Textbeiträge

Dank

Finis

Der Begriff KARTELL gilt in der Wirtschaft als Bezeichnung für Absprachen zwischen zwei oder mehr Wettbewerbern zur Abstimmung ihres Verhaltens auf einem Markt.

Weltliche Macht und organisierter Glaube stellten in der Geschichte über Jahrtausende eine Einheit dar – zur beiderseitigen Legitimation. Daran hat sich im Kern bis heute wenig geändert: Religion und Staat bilden noch immer ein Netzwerk – zum beiderseitigen Vorteil.

Noch immer beanspruchen die Kirchen Mitsprache bei zahlreichen Gesetzesvorhaben, möchten sich als »moralische Instanz« wahrgenommen wissen und darüber mitreden, was erlaubt ist und was nicht.

Noch immer üben sie Kontrolle über staatlich subventionierte Einrichtungen wie Schulen, Universitäten und Bildungsstätten aus, noch immer genießen sie staatliche Sonderrechte und Privilegien – kurzum: sie mischen mit im politisch-weltlichen Machtapparat. Die permanente Verpartnerung von Staat und Gott aber ist verfassungswidrig.

Wir leben in keinem Gottesstaat, sondern in einem Verfassungsstaat. DAS KLERIKALE KARTELL untergräbt unsere Demokratie.

PROLOG

Götterglaube und Seelenheil

Die Apfelgeschichte aus dem Paradies, die Leihmutter Maria und der liebe Herrgott. Vorberkungen über Religion, Götter und Kleriker. Und warum es höchste Zeit ist, die unheilige Komplizenschaft von Staat und Kirche zu beenden.

Gleich vorweg: Ich bin gottlos glücklich! Schon als Siebzehnjähriger habe ich den Hort der »heiligen Kirche« auf schnellstem Weg verlassen. Zu viel kam da zusammen: die absurde Apfelgeschichte aus dem Paradies, die kruden Erzählungen von Gottes Leihmutter Maria, vom Heiligen Geist und einem doppelten Schöpfer, der aus Jesus und seinem Vater bestand; allerlei abstruse Auferstehungs- und Wundergeschichten, dazu die ständige Sündendrohung samt (freilich nicht mehr funktionierender) Erzeugung und Nutzbarmachung des schlechten Gewissens. Und dass der Vatikan tatsächlich noch immer Bücher auf den Index setzte, die die braven Schäfchen nicht lesen sollten, auch das ärgerte mich. Selbst Karl May fand sich auf dem Index. Karl May, der Antichrist?1

*

Zwei schmale Taschenbücher begleiteten mich bei der Flucht aus »meiner« Kirche: Joachim Kahls längst vergessenes Bändchen Das Elend des Christentums und, vor allem, Bertrand Russells Textsammlung Warum ich kein Christ bin, beide 1968 bei Rowohlt erschienen.2 Russell, britischer Philosoph, Mathematiker und Literaturnobelpreisträger, widerlegt darin geistreich und unterhaltsam religiösen Irrglauben, dazu liefert er Thesen, die mich damals zum Grübeln brachten. Russell hat den Text, der ursprünglich 1927 als Vortrag vor der National Secular Society gehalten wurde, erstmals 1957 zusammen mit etlichen anderen seiner religionskritischen Schriften herausgebracht. Seither ist er in immer neuen Auflagen und Ausgaben zu einem Klassiker der modernen Religionskritik avanciert. Russell beschreibt die Geschichte des Christentums als eine Abfolge von flächendeckender körperlicher und seelischer Grausamkeit, von gnadenloser Machtpolitik und Unterdrückung. »Es ergibt die seltsame Tatsache, dass die Grausamkeit umso größer und die allgemeine Lage umso schlimmer waren, je stärker die Religion und je fester der dogmatische Glaube war.« Dass es beinahe 100 Jahre nach Russells Befund kein Ende damit hat, zeigen die jüngsten Aufdeckungen weltweit verübter Missbrauchsverbrechen von Priestern an Schutzbefohlenen. Eine Kontinuität des Grauens: die Kirche ein religiöses Schreckenshaus, in dem grässliche Dinge passiert sind und passieren.

Für Russell ist die christliche Gottesidee mit ihren Moralgeboten und Erlösungsversprechen »eine Lehre der Grausamkeit«, verwurzelt in altorientalischer Despotie und eines freien, selbstbestimmten Menschen unwürdig. Am Beispiel der katholischen Sexualmoral zeigt er uns die Fortschrittsfeindlichkeit der katholischen Kirche und ihr Verhindern von Lebensglück. Vollends mit seinem Rationalismus unvereinbar ist die Angst als Fundament der Religion. Wissen statt Glauben, das ist Russells Credo. Statt auf metaphysischen Wahrheitsanspruch setzt er auf rationale Wirklichkeitswahrnehmung.

Die Lektüre von Russells Religionskritik wurde zu meinem atheistischen Erweckungserlebnis. Nicht zuletzt: Ich ärgerte mich darüber, dass die katholische Kirche immer verlässlich Seit’ an Seit’ mit Tyrannen und Diktatoren zu finden war. Kurzum: Ich wollte mein Leben nicht mehr unter der Schirmherrschaft von Jesus und seiner Kirche leben. Ich verabschiedete mich aus »meiner« Kirche.

Über den Glauben wurde und wird immer gestritten. Wenn es um unser aller Anfang geht, um den Beginn des Lebens, und um unser Ende, dann kommt der religiöse Glaube ins Spiel – unausrottbar wie Christopher Hitchens3 konstatiert, zumindest so lange, »wie wir unsere Angst vor dem Tod, vor der Dunkelheit, vor dem Unbekannten« nicht überwunden haben. Oft wird ja vermutet, Religion existiere allein, um das Diesseits und die Angst vor dem Tod zu überwinden. Gott sei eine Projektion. Der liebe Herrgott als Wegbegleiter, Hoffnungsträger und Sinnstifter. Eine schöne Vorstellung, vor allem für jene, die nicht gerne allein unterwegs sind. Wer Gott neben sich wünscht, der sollte dazu bereit sein, den eigenen Verstand auszuknipsen. Da ist zum Beispiel die ungelöste Grundfrage, warum es so viel Grausamkeit und Ungerechtigkeit, Barbarei und Elend auf der Welt gibt, wenn doch alles von einem liebenden und allmächtigen Gott geschaffen wurde. Selbst die intensiv Religiösen tun sich hier mit einer plausiblen Antwort schwer. Sie sind gezwungen, sich tatsächlich dümmer zu stellen, als ihr lieber Herrgott sie geschaffen hat.

*

Religionen erzählen von Mythen, Legenden, Fabeln und Märchen. Es sind Erzählungen über Götter, Geister, Propheten und Heilige. Sie haben meistens eines gemeinsam: Sie sind überwiegend unhaltbar, kaum belegbar und widersprechen allen Regeln der Logik. Das jenseitige Seelenheil wird beschworen, obwohl es allein um diesseitige Besitzstände geht, die sich mit religiöser Etikettierung noch eindrucksvoller darstellen lassen. Gott als universeller, sinnstiftender Platzhalter.

Glaube ist das unbedingte Anerkennen von Informationen und Erzählungen, für die es keinerlei Belege gibt. Gewissermaßen ist das die Voraussetzung, denn wären diese belegbar, müssten sie ja nicht geglaubt werden. Das Glaubensuniversum ist deshalb so nebelig und unendlich, weil Belege nicht vorhanden sind. Glauben statt Wissen, das ist die konstitutive Voraussetzung aller Religionen.

Und so wird und darf kein Gläubiger in Betracht ziehen, dass vielleicht nicht Gott den Menschen, sondern der Mensch Gott erschaffen hat. Es gibt heute Orte auf dieser Welt, dort wird – wer so frevelhaft, gotteslästerlich, blasphemisch denkt – mit dem Tod bestraft.

*

Zwischen Glauben, Esoterik und Aberglaube besteht ohnehin kein prinzipieller Unterschied. Gemeinsam ist allen, dass sie »dazu dienen, die profane Welt des Alltags phantasievoll zu erweitern«.4 Ja, der Glaube kann dem Menschen Trost, Halt, Erleichterung und Orientierung geben, ihm sagen, wo’s langgeht in Richtung Himmelreich, wo ein Leben nach dem Leben auf ihn wartet. Fernab von metaphysischen Spekulationen, was das Leben sei und wozu es zu leben sich lohne, nährt die Religion die Hoffnung auf reiche Belohnung für allerlei irdischen Verzicht und Verdruss. Die Sehnsucht nach den Götterboten, dem Garten Eden und anderen himmlischen Wohlfühloasen, sie wird verlässlich und unablässig geweckt. Gott ist immer bei dir. Den Glauben zu leben ist wie ein Märchen. Er schafft Sehnsüchte, um sie zu stillen.5 Seelenheil forever.

*

»Die Geschichte kann bezeugen, wie viel Unmengen Blut die drei Monotheismen im Laufe der Jahrhunderte im Namen Gottes fließen ließen: Kriege, Gemetzel, Völkermord, Kreuzzüge, Inquisition bis hin zum weltweiten Terrorismus der Gegenwart«, schreibt Michel Onfray6 und zitiert den portugiesischen Jesuiten Christóvão Ferreira, der 1636 in einem dünnen, aber explosiven und radikalen Buch mit dem Titel La supercherie dévoilée (dt. Die Täuschung wurde aufgedeckt) seinem Glauben abschwört. Auf nicht mal 30 Seiten schreibt der abtrünnige Priester:

»Gott hat die Welt nicht erschaffen. Die Welt wurde überhaupt nie erschaffen. Es gibt weder eine Hölle noch ein Paradies. Tote Kinder sind frei von Erbsünde, die es ohnehin gar nicht gibt. Das Christentum ist eine Erfindung, und die zehn Gebote ein nicht einzuhaltender Blödsinn. Der Papst eine unmoralische, gefährliche Person. Bezahlte Messen, Ablass, Exkommunikation, verbotene Speisen, die Jungfräulichkeit Marias. Die Heiligen Drei Könige – alles Belanglosigkeiten. Die Auferstehung, ein lächerliches, dummes Märchen und ein skandalöser Betrug. Die Sakramente und die Beichte, ebenfalls Humbug. Die Eucharistie, nichts anderes als eine Metapher und das jüngste Gericht, eine unfassbare Wahnvorstellung. …«7

Kann man schwereres Geschütz auffahren? Beinahe 100 Jahre später wird ein katholischer Priester in Frankreich ebenfalls ein radikal antireligiöses Manifest schreiben – mit ähnlicher Wucht. Wolfgang Sofsky erinnert an die Geschichte des abtrünnigen französischen Landpredigers Jean Meslier, der einst – vor bald 300 Jahren – den örtlichen Grundherrn von der Segnung mit Weihwasser ausschloss, weil dieser die hungernden Bauern statt zur Ernte zum Bau seines Schlosses befohlen hatte. Daraufhin wurde er zum Erzbischof von Reims zitiert, wo man ihm nicht nur die klerikalen Leviten las, sondern ihn gleich für einen Monat festhielt. In der Abgeschiedenheit seiner Zelle schrieb er eine über 1.000 Seiten umfassende Religions- und Kirchenkritik – das erste Testament des radikalen Atheismus: »Die Existenz Gottes, eine menschliche Erfindung! Die Religion: Priesterbetrug, Volksverdummung! Das Paradies: ein leeres Versprechen! Die Hölle: ein Hirngespinst zur Einschüchterung! Könige, Adelige, Kleriker: Schmarotzer! Was tun? Aufruhr, Revolution!«8

Jean Mesliers zornige Aufzeichnungen kursierten erst nach seinem Tod 1729, als Voltaire sie 1761 in gemäßigter Version erneut publizierte. Es dauerte weitere 100 Jahre, ehe Mesliers Mémoire contra la religion in Amsterdam vollständig veröffentlicht wurde. Lesen wir kurz hinein in seine radikale Götter- und Religionsbeschimpfung:

»Wißt also, meine lieben Freunde, wißt, daß all dies, was in der Welt als Gottesdienst und Andacht feilgeboten und praktiziert wird, nichts als Irrtum, Täuschung, Einbildung und Betrug ist: alle Gesetze, alle Vorschriften, die im Namen und mit der Autorität Gottes oder der Götter erlassen werden, sind in Wahrheit nichts als menschliche Erfindungen, nicht weniger als alle diese schöne Schauspiele der Festlichkeiten und Meßopfer oder Gottesdienste und alle diese anderen abergläubigen Verrichtungen, die von Religion und Frömmigkeit den Gönnern zu Ehren vorgeschrieben sind.

Alle diese Dinge, sage ich Euch, sind nur menschliche Erfindungen, von schlauen und durchtriebenen Politikern erfunden, dann vonlügnerischen Verführern und Betrügern gepflegt und vermehrt, schließlich von den Unwissenden blind übernommen und dann endlich aufrechterhalten und gutgeheißen durch die Gesetze der Fürsten und der Großen dieser Erde, die sich solcher menschlicher Erfindungen bedient haben, um das Volk dadurch leichter im Zaum zu halten und mit ihm zu machen, was sie wollten. …

Und was ich hier im allgemeinen über die Hohlheit und Falschheit der Religionen der Welt sage, trifft nicht nur auf die heidnischen und fremden Religionen zu, die Ihr bereits als falsch betrachtet, sondern es betrifft gleichfalls Eure christliche Religion, da sie in der Tat nicht weniger eitel und nicht weniger falsch ist, als irgendeine andere, und ich würde sagen, daß sie in einem Sinne noch unnützer und falscher ist als jede andere, weil es vielleicht überhaupt keine andere gibt, die in ihren Grundsätzen und ihren wichtigsten Lehren so lächerlich und so absurd ist wie die, noch der Natur und dem gesunden Menschenverstand so zuwider. …«9

*

Religionsgeschichte ist eine Wahn- und Gewaltgeschichte: der christliche Verweis auf einen von Paulus gefärbten Jesus, der vorgeblich kommt, um das Schwert zu bringen, das als Rechtfertigungsgrund gilt für Kreuzzüge, die Inquisition, die Religionskriege, die Bartholomäusnacht, die Hinrichtungen auf dem Scheiterhaufen bis hinein ins 20. Jahrhundert – da kommt vieles zusammen. Eine Kontinuität des Wahns, der Gewalt, der Barbarei.

Religionen durchdringen Gesellschaften als Konstruktion der Wirklichkeit. Und es ist für den Einzelnen keine leichte Sache, sich von der Wirklichkeit des gläubigen Kollektivs zu verabschieden, darauf weist Niko Alm hin und zitiert Michail Bakunin, dessen politischer Weltinterpretation man nicht unbedingt vorbehaltlos zustimmen möchte. Hier soll er dennoch zu Wort kommen:

»Nun, die Religion ist ein gemeinsamer Wahnsinn, der umso mächtiger ist, weil es ein überlieferter Wahnsinn ist, dessen Ursprung sich indas entfernteste Altertum verliert. Als allgemeiner Wahnsinn drang sie in alle öffentlichen und privaten Einzelheiten des sozialen Daseins eines Volkes ein, verkörperte sich in der Gesellschaft, wurde sozusagen deren Seele und gemeinsamer Gedanke. Jeder Mensch ist von Geburt an von ihr umringt, nimmt sie mit der Muttermilch in sich auf, nimmt sie auf mit allem, was er hört und sieht. Er wurde damit so sehr genährt, vergiftet und in seinem ganzen Wesen durchdrungen, dass er später, wie mächtig auch sein natürlicher Verstand sein mag, unerhörte Anstrengungen machen muss, sich von ihr zu befreien, und nie gelingt ihm dies vollständig.«10

*

»Unerbittlich jagen die Agenten des rechten Glaubens die Häretiker, Abtrünnigen, Ketzer. Sie werden der Folter unterworfen, zu Geständnissen gezwungen oder aber sogleich geköpft oder verbrannt. Viele Jahrhunderte des organisierten Christentums und Islams sind geprägt von brutaler Rechtgläubigkeit«, konstatiert Wolfgang Sofsky.11

Der Aufklärer und Historiker Karlheinz Deschner hat diese 2.000 Jahre währende Kriminalgeschichte des Christentums umfassend und profund dokumentiert.12 Da will Mohammeds Gefolgschaft nicht nachstehen. Auf fast allen Seiten des Korans finden sich Aufforderungen, die Ungläubigen (und Andersgläubigen) samt deren Kultur und Zivilisation zu zerstören – im Namen eines barmherzigen Allahs.13 Und der jüdische Wahn vom auserwählten Volk? Dito.

Moses, Paulus, Mohammed – ihre Biographien sind schauderhafte Belege für den rasenden religiösen Irrsinn. Für Gewalt, Missachtung, Bosheit, Hinterlist, Niedertracht, Perversion und Verbrechen – eifernd und gnadenlos im Namen ihres Gottes.14

*

Wir dürfen festhalten: Die Geschichte der Religionen ist eine Serie von flächendeckender körperlicher und seelischer Grausamkeit, von gnadenloser Machtpolitik und Unterdrückung. Und dass es kein Ende damit hat, belegen exemplarisch die jüngsten Aufdeckungen weltweit verübten Missbrauchs von Priestern an Schutzbefohlenen. Doch nicht nur die Fassade bröckelt. Die Grundmauern ihrer Autorität sind unübersehbar in Schieflage, vor allem in der katholischen Kirche hierzulande. Wie Thomas Assheuer feststellt, »betreibt sie gerade mit gefalteten Händen ihre Selbstabschaffung, angeführt von Kardinal Woelki, dem Ministranten des Untergangs. Es scheint so sicher wie das Amen in der Kirche: nach all den Schandtaten, nach Tausenden missbrauchter Kinder, wird der scheinheilige sakrale Komplex keine moralische Autorität mehr beanspruchen können. …«15

*

Angesichts der Blindheit gegen die eigene Vorgeschichte und die heutigen monströsen Gräuel, die weltweit im Namen irgendwelcher Götter begangen werden, reklamieren alle Religionen und deren Vertreter noch immer anmaßend einen Alleinvertretungsanspruch ethischen Handelns, eine höhere, gottgesalbte Moral. Ungebrochen werkeln und metzeln sich die Religionen weiter durch die Weltgeschichte. Priester, Rabbiner und Imame, das eifernde Bodenpersonal Gottes, führt diese Elends- und Wahngeschichte fort. Wir müssen nicht allzu weit in der Geschichte zurückgehen (dazu bräuchte es eine mehrbändige Enzyklopädie) – nein, nur in die 1980er Jahre, als das multiethnische und multireligiöse Jugoslawien unter einer Hasslawine begraben wurde und mörderische Banden aus religiösen Eiferern und faschistoiden Vaterlandskämpfern sich gegenseitig massakrierten: »Säuberungen«, Vergewaltigungen und Massenmord im Namen des jeweiligen Gottes. Millionen verloren und gaben dabei ihr Leben, fielen dem Religionswahn und den »ewigen Wahrheiten« zum Opfer. Der religiöse Wahn- und Irrsinn ist grenzenlos.

Im Oktober 2023 trieb er Hamas-Mörder unter dem Schlachtruf »Allahu Akbar, Gott ist groß!« dazu, im Blutrausch Massentötungen an jüdischen Zivilisten zu begehen, Menschen als Geiseln zu verschleppen und Kinder zu massakrieren. Das alles wurde auch noch gefilmt und ins Internet gestellt. Es gab Menschen, die diese entfesselte Bestialität und Mordlust als »gerechten Widerstand« beklatschten und in Straßenkorsos feierten. Und welchen Vergehens hatten die jungen Konzertbesucher im Bataclan in Paris sich schuldig gemacht, als sie 2015 ebenfalls von islamistischen Gotteskämpfern exekutiert wurden? Religiöser Wahn schreckt vor keiner Barbarei zurück, nicht vor Jahrhunderten, nicht heute. »Immer mithilfe der Folgsamen, all jener, die lieber nicht denken und lieber nicht fühlen. Aber geflissentlich Ja sagen und das Holz für die Scheiterhaufen holen.«16

*

Doch die Glaubens-Advokaten geben sich nicht mit ihren Versprechungen und Verheißungen zufrieden, sie versuchen, sich in das Leben ihrer Kritiker, der Nichtgläubigen und Andersgläubigen einzumischen. Diese Einmischung wird dann besonders anmaßend und giftig, wenn sich der Staat zum Komplizen macht. Mittel und Wege sind variabel, die Absicht konstant: Religionen propagieren die Glückseligkeit im Jenseits, wollen aber die Macht im Diesseits. Dabei kann die klerikale Oligarchie mit vielfältiger Unterstützung und Kooperationsbereitschaft irdischer Machtverwalter rechnen: eine gewinnbringende Komplizenschaft.

*

Auf den folgenden Seiten geht es um die allgegenwärtige Allianz von Staat und Kirche in unserem Land. Es geht um vielfältige und vielfache anachronistische Verpartnerung, um religiöse Privilegien und Vorteilsnahmen in unserem eigentlich doch säkular verfassten Gemeinwesen. Konkret und exemplarisch: um die skandalöse Nichtverfolgung klerikaler Missbrauchstäter, um fragwürdige Sonderrechte und Subventionen, die unser Staat den Kirchen gewährt, um den zweifelhaften Einfluss der Gotteslobbyisten in Politik und Medien, um die arrogante Selbstgefälligkeit einer klerikalen Oligarchie – und es geht um die irritierende Langmut gläubiger Mitglieder, die trotz allem auf den schalen Schein ihrer Kirche nicht verzichten möchten.

*

Deutschland ist kein Kirchenstaat. Jedenfalls in der Theorie. Wir leben in einem säkularen Verfassungsstaat. Es herrscht Glaubensfreiheit. Gläubige, Andersgläubige und Ungläubige müssen miteinander auskommen. Jeder Bürger darf seinen Gott, auch mehrere Götter haben. Jeder darf glauben, was er will, beten, zu wem er will. Jeder darf sich seinen Sehnsüchten und Paradiesträumen hingeben, wodurch er sein immerwährendes Seelenheil zu erlangen erhofft. Das private Illusionsglück steht unter staatlichem Schutz – solange es Privatsache bleibt. »In einer freien Gesellschaft gibt es keine Eintracht der Glaubensbekenntnisse. Die Glaubensfreiheit des einen endet, wo jene des anderen beginnt. Das ist das Prinzip der Religionsfreiheit.«17

Der Staat selbst aber muss in Glaubensdingen – gewissermaßen zum Schutz der Menschen und ihrer Freiheit – neutral sein. Er muss gottlos sein. Doch genau daran hapert es. Obwohl die Kirchen hierzulande seit Jahrzehnten rapide Mitglieder verlieren und inzwischen weniger als die Hälfte der Bevölkerung einer der beiden christlichen Großkirchen angehört, bestehen sie auf jahrhundertealten Privilegien. Und der Staat gewährt sie ihnen – in Form von Sonderrechten, zweifelhaften Subventionen und steuerlichen Vergünstigungen. Diese Komplizenschaft zwischen Staat und Kirche ist nicht mehr zeitgemäß. Das klerikale Kartell muss ein Ende haben. Die Errungenschaften der Aufklärung müssen verteidigt werden, damit Gott nicht in die Politik zurückkehrt.18

*

Ob Menschen, gerade geboren, durch das Entfernen der Vorhaut traktiert werden, andere sich auf den beschwerlichen Weg nach Lourdes machen, wieder andere in die richtige Himmelsrichtung beten oder eine Hostie zu sich nehmen, um »errettet« zu werden – es darf – und sollte – nur für den Einzelnen bedeutungsvoll sein. Die Welt dreht sich weiter – auch ohne Himmelsgötter, welche auch immer sich für die Gegenwart zuständig fühlen. Nur noch 48 Prozent der Deutschen waren 2022 Mitglied einer der beiden christlichen Großkirchen, der Bevölkerungsanteil der Konfessionsfreien ist dagegen auf 44 Prozent gestiegen.19 Deutliches Anzeichen dafür, dass das klerikale Monopol erodiert. Höchste Zeit also, die »unheilige Allianz« von Staat und Kirche zu beenden. Das klerikale Kartell hat ausgedient. Es verstößt gegen unsere Verfassung. Es gefährdet unsere Demokratie.20

*

Dieses Buch vereint Essays, Kommentare und Lesestücke zur Kritik der Religion, zur Komplizenschaft von Kirche und Staat, erweitert um aktuelle Nachträge. Die Texte beschreiben exemplarisch die klerikale Doppelbödigkeit und andauernden Verletzungen des Verfassungsgebots staatlicher Neutralität und was dagegen zu tun ist. Darüber hinaus werfen sie einen Blick auf kirchliche Kuriositäten, die überdeutlich zeigen, wie weit die Kirche vom aufgeklärten Geist des 21. Jahrhunderts entfernt ist. Kurzum: journalistische Texte, die inhaltliche Redundanzen ebenso in Kauf nehmen wie den Vorwurf, in allzu polemischer, voreingenommener und böswilliger Absicht verfasst worden zu sein. Der Autor gesteht freimütig: viele Beiträge entstanden in einem langanhaltenden Anfall von rationalen Waschzwängen. Ganz nach Joachim Kahls Feststellung, »wer sich über das Christentum nicht empört, kennt es nicht«.21

*

Ich bin – wie gesagt – gottlos glücklich. Ich stimme Christoper Hitchens zu, wenn er sagt, »dass Religion die Welt vergiftet«.22 Nach wie vor lehren Religionen das Fürchten, stehen als Quell von Intoleranz, Gewalt und körperlichem und seelischem Missbrauch einem menschenwürdigen Zusammenleben im Wege. Ihr Einfluss auf Politik und Gesellschaft ist hierzulande stark und unheilvoll und der Glaube an die Leistungen der Religion für die Gesellschaft und den Staat – das ist trotz massenhafter Kirchenaustritte zu konstatieren – noch immer mehrheitsfähig. So bleiben die Vorteile religiöser Sonderrechte weiterhin unangetastet und die religiösen Problemzonen werden toleriert.

Noch einmal: Glauben kann jeder, was er will, doch wenn dieser Glaube zu Religionsgesetzen führt, die für andere nachteilig sind, dann müssen diese für nichtig erklärt werden. Das ist Gegenstand der folgenden Seiten.

*

Nein, es geht nicht darum, die Kirchen aus dem gesellschaftlichen Leben zu verbannen. Religionsfreiheit und Kirchenexistenz sind Teil unseres demokratischen Gemeinwesens. Ziel ist allein, die verfassungswidrige Verknüpfung mit dem Staat endlich zu beseitigen, mit der die Kirchen sich Sondervorteile vor anderen Gruppen in der pluralistischen Konkurrenz um gesellschaftlichen und politischen Einfluss verschaffen. Aber die mantrahaft vorgetragenen Beschwörungen der »Verantwortung der Kirche in unserem Land« sollten wir nicht mehr hinnehmen. Es geht der klerikalen Oligarchie allein darum, den Status quo, also ihre Privilegien und Sondervorteile, zu verteidigen. Diese »unheilige Allianz«23 (Schüller) muss ein Ende haben.

*

Welche Rolle soll Religion heute spielen? Keine öffentliche – wenn es nach mir ginge. Schon gar keine Sonderrolle, weil dazu unsere Welt in jeder Hinsicht zu klein geworden ist. Religion durchwirkt noch immer unsere Gesetze. Auch Gott selbst wird in unserer Verfassung noch immer direkt angerufen und aufgerufen: »Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, und von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.« So lautet die Präambel des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland.

Doch es gibt keinen Verfassungsgott – auch nicht in einem verdeckten Schrein unseres Grundgesetzes. Gott mag für einige Menschen ein sinnhaftes Zukunftsversprechen sein, für andere eine attraktive Möglichkeit, die Gegenwart zu bewältigen. Doch die Deutungshoheit über metaphysische Wahrheitsfragen gehört nicht unbedingt in den Aufgabenkatalog des Staates. Glaube und Religion sind Privatsache, staatlich geschützt. Darauf sollten wir uns einigen. Und was mich betrifft, halte ich es mit Blaise Pascal, der an Leute wie mich dachte, als er einem Brieffreund schrieb: »Ich bin so geschaffen, dass ich nicht glauben kann.«24

Erst der Bürger, dann der Gläubige

Deutschland ist ein Verfassungsstaat und kein Gottesstaat. Alle Bürger dürfen ihren Gott, auch ihre Götter haben – der Staat aber muss in einer modernen, säkularen Grundrechtsdemokratie gottlos sein.

Unser Land darf weiterhin auf göttlichen Beistand hoffen. Im Dezember 2021 verwendeten im Berliner Reichstag neun der 16 Minister und Ministerinnen den freiwilligen religiösen Zusatz »So wahr mir Gott helfe«. Auch Kanzler Olaf Scholz verzichtete als zweiter Amtsinhaber nach Gerhard Schröder bei seiner Vereidigung zum Bundeskanzler auf den Gottesbezug in der Eidesformel. Und: Anders als Ex-Kanzler Schröder ist Scholz nach seinem Austritt aus der evangelischen Kirche der erste konfessionslose Regierungschef in Deutschland. Mit oder ohne Gottesschwur: Gott mischt kräftig mit in der deutschen Politik. In den Parlamenten, den Parteien, den Institutionen. Dabei wird so getan, als hätte er ein ganz natürliches Anrecht darauf, als gehörte er zur politischen Grundausstattung, zum politischen Personal der Bundesrepublik, zur deutschen Demokratie. Dass unsere heutige Demokratie unbestritten auf einem Menschenbild gründet, das viel mit dem Christentum zu tun hat, will niemand infrage stellen. Aber die Geschichte zeigt, dass die christlichen Kirchen nicht unbedingt Trägerinnen der Demokratie waren – und sind. Was heute Staat und Staatsbürger ausmacht, ist gegen die christlichen Kirchen erkämpft worden. Das wollen wir festhalten.

Hierzulande herrscht Glaubensfreiheit. Ob jemand Christ oder Muslim, Buddhist oder Jude ist, darf keine Rolle dabei spielen, ob er als Bürger dieses Landes willkommen ist. Das Ideal eines Staatsbürgers sieht so aus: Er sollte die abendländische Trennungsgeschichte von Staat und Kirche akzeptieren, die Werte der Aufklärung respektieren und die Gesetze dieses Staates achten. Das reicht. Wer Beamter, Staatsanwalt oder Richter werden möchte, schwört auf die Verfassung, nicht auf die Bibel oder den Koran.

Deutschland, darauf hat der Rechtsphilosoph und Staatsrechtler Horst Dreier hingewiesen, ist ein Verfassungs- und kein Gottesstaat, und das ist die Voraussetzung für Religionsfreiheit. Alle Bürger dürfen ihren Gott, auch ihre Götter haben – der Staat aber muss in einer modernen, säkularen Grundrechtsdemokratie gottlos sein.1 Wenn Verfassungsrechtler vom »säkularen Staat« sprechen, dann meinen sie keineswegs einen areligiösen, laizistischen Staat (wie etwa in Frankreich), sondern einen Staat, der Religions- und Weltanschauungsfreiheit garantiert und religiös-weltanschauliche Neutralität praktiziert. Entscheidend sind nicht religiöse Präferenzen, sondern Verfassungstreue. Die Zeiten, als die beiden großen christlichen Konfessionen über Jahrzehnte das gesellschaftliche, politische Leben hierzulande beherrschten und Religion aufgrund der kulturellen Harmonie eine integrierende und stabilisierende Größe war, gehören der Vergangenheit an. Die großen Konfessionen verlieren stetig an Mitgliedern – und an Vertrauen. Im Jahr 2022 kehrten danach 522.821 Menschen ihrer Kirche den Rücken. 2021 – im bisherigen Rekordjahr – waren es 359.000 Personen, die aus der katholischen Kirche austraten. Auch die von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) veröffentlichten Mitgliederzahlen belegen, dass mit 380.000 die Zahl der Ausgetretenen rund ein Drittel höher ist als im Vorjahreszeitraum. Damit sind erstmals die Mitglieder der beiden großen Kirchen in Deutschland in der Minderheit.2

Deutschland ist ein pluralistisches, multiethnisches, multireligiöses Land. Gläubige, Andersgläubige und Ungläubige müssen miteinander auskommen. In unserem Grundgesetz heißt es: »Es besteht keine Staatskirche.« Dieser entscheidende Satz in Artikel 137 Absatz 1 der Weimarer Reichsverfassung ist in unser Grundgesetz durch Artikel 140 übernommen worden. Er ist die Grundlage für das Verhältnis von Kirche und Staat in Deutschland. Das Bundesverfassungsgericht hat diesen Artikel dahingehend präzisiert, dass das Grundgesetz »dem Staat als Heimstatt aller Bürger ohne Ansehen der Person weltanschaulich-religiöse Neutralität auferlegt. Es verwehrt die Einführung staatskirchlicher Rechtsformen und untersagt auch die Privilegierung bestimmter Bekenntnisse.«3

Dennoch: Die beiden großen Kirchen genießen nach wie vor eine Vielzahl von Privilegien, die eklatant gegen das staatliche Neutralitätsgebot verstoßen. Die Trennung von Kirche und Staat findet nicht statt: nicht in der Gesetzgebung, nicht in der Fiskalpolitik, nicht in der Medienpolitik, schon gar nicht in den Hochämtern und Niederungen der Politik.

Aktuelles Beispiel? In Berlin, dem letzten noch konkordatfreien Bundesland, steht ein neuer Staatsvertrag mit dem »Heiligen Stuhl« kurz vor seinem Abschluss. Dazu der Hinweis: Die Idee von Staatsverträgen zwischen Kirchen und Nationalstaaten oder einzelnen Gliederungen davon stammt noch aus einer Zeit, in der Kirche und Staat gemeinhin als eine Einheit betrachtet wurden. Kaiser und König galten als »Herrscher von Gottes Gnaden«. Solche historischen Überbleibsel haben auch heute noch Gültigkeit und erlauben es den Kirchen, weltliche Gesetze – wie etwa das Arbeits- und Streikrecht – in ihren Einrichtungen nicht vollumfänglich umzusetzen. Religiöse Gemeinschaften berufen sich hier gerne auf »kirchliches Selbstbestimmungsrecht«. Allerlei Privilegien wie zum Beispiel bei Vermögensangelegenheiten sind häufig noch einmal gesondert festgehalten.

Auch im pädagogischen und schulischen Bereich garantiert der Berliner Staatsvertrag der katholischen Kirche zahlreiche Privilegien und sichert ihren Einfluss, etwa durch vertraglich festgehaltene Erziehungsziele wie: »Die Jugend ist in der Ehrfurcht vor Gott und im Geiste der christlichen Nächstenliebe zu erziehen.« Ein an der staatlichen Humboldt-Universität geplantes Zentralinstitut für Katholische Theologie ist ebenfalls Gegenstand des ersten katholischen Staatsvertrags des Landes. Dort sollen das »Studienangebot, die organisatorische Verankerung des Instituts an der Universität sowie die Berufung von Professorinnen und Professoren« fortan unter Federführung der christlichen Organisation stattfinden. Das Verfassungsgebot der Trennung von Kirche und Staat, wird also auch hier von der rot-grünen Landesregierung ignoriert.

Keine Frage: Das staatliche Neutralitätsgebot wird massiv und beständig missachtet. Ob Subventionen für Kirchentage, Finanzierung theologischer Fakultäten an staatlichen Universitäten, Kirchenredaktionen in Landesrundfunkanstalten bis hin zum wöchentlichen »Wort zum Sonntag« – eines der ältesten Fernsehformate des deutschen Fernsehens. Jeden Samstagabend, meist nach den Tagesthemen und vor dem Spätfilm, gibt es für die christlich-abendländische TV-Nation vier Minuten geistige Durchlüftung. Mal darf ein evangelischer Pfarrer über die Wohltaten Luthers referieren, mal ein katholischer Kollege die Jungfrau Maria loben. Rabbiner, Imame, Buddhisten, Atheisten haben kein Rederecht. Der ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider hielt die Sendung für eine »wohltuende Unterbrechung im Getriebe des Alltags« und einen »niedrigschwelligen Berührungspunkt mit dem Evangelium«.4 Sie gleicht eher einem vierminütigen religiösen Frontalunterricht. Das alles ist in unseren Rundfunkgesetzen geregelt. Diese verpflichten die Sender dazu, Gottesdienste, Morgenandachten und allerlei andere Kirchenbotschaften auszustrahlen. Die Öffentlich-Rechtlichen produzieren und finanzieren diese Sendungen selbst – will heißen: mit Geldern aus GEZ-Gebühren, die alle bezahlen, auch Konfessionslose und Ungläubige.

Noch einmal: Deutschland ist ein säkularer Verfassungsstaat. Ob eine religiöse Gemeinschaft oder ein Einzelner dennoch Sonderrechte beanspruchen kann, darüber herrscht mitunter Unstimmigkeit. Ist eine rituelle Genitalbeschneidung bei Jungen ein akzeptables religiöses Ritual oder eine schmerzhafte Körperverletzung?

So hatte das Landgericht Köln im Mai 2012 über einen operativen Notfall zu urteilen, bei dem es nach einer Beschneidung aufgrund von Nachblutungen zu Komplikationen gekommen war. Die Richter hatten entschieden: »Die operative Entfernung der Penisvorhaut des minderjährigen Patienten hatte ohne medizinische Notwendigkeit stattgefunden.« Und weil die Amputation eines gesunden Körperteils zwingend der Aufklärung und schriftlichen Einwilligung des Patienten bedarf, der in diesem Fall nicht einwilligungsfähig war, warf die Staatsanwaltschaft dem »Beschneider« vor, »eine andere Person mittels eines gefährlichen Werkzeugs körperlich misshandelt und an der Gesundheit geschädigt zu haben«. Das Gericht folgte der Anklage und entschied: Die rituelle Beschneidung erfüllt den Tatbestand einer Körperverletzung.5

Ein Sturm der Entrüstung brach los – im Epizentrum die brisante Frage: Was wird in Deutschland höher bewertet – das Recht männlicher Kinder, die religiöse Eltern haben, auf körperliche Unversehrtheit oder das Recht religiöser Eltern, ihre Rituale auf ihre Söhne zu übertragen, auch wenn dies einen schmerzhaften Eingriff zur Folge hat? Kindeswohl contra Religionsfreiheit? Diese sahen die religiösen Eltern mit dem Kölner Urteilsspruch in Gefahr und sie bekamen lautstarke Unterstützung von Seiten ihrer offiziellen Religionsfunktionäre – ob Zentralrat der Juden, muslimische Gemeinden, deutsche Bischöfe. … Sie alle werteten das Urteil als eklatanten Angriff auf die Ausübung ihres Glaubens. Jüdische Glaubensfunktionäre behaupteten, die ganze Welt akzeptiere die Beschneidungspraxis, nur die Deutschen nicht. Wer sich für das Kindeswohl einsetzte, galt schnell als Antisemit. Auch wenn es hier nicht um ein generelles Beschneidungsverbot, sondern um ein Verbot der Zwangsbeschneidung Minderjähriger ging – in der Gottescommunity rumorte es kräftig.

Der Deutsche Bundestag verabschiedete im Rekordtempo auf Initiative der Bundesregierung (und mit Mehrheit) ein »Gesetz über den Umfang der Personensorge und die Rechte des männlichen Kindes bei einer Beschneidung« und legalisierte damit rituelle Beschneidungen. Und so sind hierzulande nur Mädchen vor rituellen Genitalbeschneidungen geschützt, Jungen indes darf aus religiösen Gründen weiterhin straffrei die Vorhaut amputiert werden, auch wenn die Ausführenden keine Ärzte sind, sondern von Religionsgemeinschaften dazu intern ausgebildet wurden. Zwar heißt es in der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen, die 1992 auch in Deutschland in Kraft trat, im Artikel 19, »die Staaten treffen alle Maßnahmen, um Kinder vor jeglicher Form von Gewaltanwendung, Schadenszufügung oder Misshandlung zu schützen« – die schmerzhaften Beschneidungen scheinen hiervon aber ausgenommen zu sein.

Tatsache ist: Was Religion ist und wie sie praktiziert wird, liegt nach Auffassung des Bundestags (und auch des Bundesverfassungsgerichts) teilweise noch immer in der Definitionshoheit der Religionsgemeinschaften selbst. Man kann dieses expansive Verständnis von Religionsfreiheit – das einerseits die Standards unseres liberalen Verfassungssystems in Anspruch nimmt, andererseits auf Sonderrechte pocht – als Ausdruck einer konstanten Missachtung des staatlichen Neutralitätsbegriffs sehen.

Die Frage drängt sich auf: Wie säkular soll, ja muss die Justiz selbst sein? Wie viele religiöse Symbole verträgt die dritte Gewalt in einer multireligiösen Gesellschaft? Das Bundesverfassungsgericht hat im Zusammenhang mit dem Urteil zum Kopftuchverbot für Lehrerinnen 2003 angemahnt, die »Pflicht des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität« strenger zu handhaben, um Konflikte zwischen Religionen zu vermeiden. Für Richterinnen oder Staatsanwältinnen ist die Rechtslage hier eindeutig: Landesgesetze wie das Berliner »Weltanschauungssymbolgesetz« schreiben vor, keine »sichtbaren religiösen oder weltanschaulichen Symbole zu tragen«. In Hessen ist Musliminnen während der Referendarzeit das Tragen von Kopftüchern innerhalb von Dienstgebäuden untersagt, bei Schöffinnen mit Kopftuch zeigt sich die Justiz mal tolerant, mal ablehnend. Die Justiz reagiert eher hilf- und orientierungslos. Zwei Wege sind möglich: Einübung von Toleranz, etwa wenn im Gerichtssaal ein jüdischer Angeklagter mit Kippa vor einer muslimischen Schöffin mit Kopftuch steht – unter einem christlichen Kreuz. Oder aber, wie im laizistischen Frankreich, das Verbot jeglicher religiöser Symbolik im Gerichtssaal – selbstredend auch des obligaten Kruzifixes an der Wand.

Niederländische Polizistinnen und Polizisten dürfen seit Juli 2023 beim Dienst in der Öffentlichkeit keinerlei religiöse Symbole tragen. Das entschied das dortige Justizministerium. Während Kritiker die Verordnung als diskriminierend verurteilen, sieht die Justizministerin darin ein Signal für die weltanschauliche Neutralität der Polizei. Das Verbot umfasst unter anderem das christliche Kruzifix, die Kippa jüdischer Männer und das Kopftuch bei muslimischen Frauen. Es gilt für Polizeiangehörige, die ihren Dienst in der Öffentlichkeit versehen.6

Oder: Wie säkular sollen unsere Schulen sein? Religionsunterricht gibt es flächendeckend in staatlichen Schulen, zunehmend auch muslimischen, unterrichtet von eignes dazu ausgebildeten muslimischen Religionspädagogen. In den Kultusministerien sieht man darin ein zeitgemäßes Spiegelbild unserer multireligiösen Gesellschaft.7 Zu fordern wäre Religionskunde statt Religionsunterricht. Hier könnte vermittelt werden, was es mit den Religionen auf sich hat, woher sie kommen, wie sie entstanden sind, wie sie unsere Gesellschaft, unseren Alltag geprägt haben und noch immer prägen. Es ist zu befürchten, dass es hierzulande vorerst beim bekenntnisorientierten Religionsunterricht bleibt, ordentlich separiert nach Konfessionen.

Ob im Gerichtssaal oder im Klassenzimmer: Es geht nicht um die »Austreibung« Gottes aus der Welt. Glaubens- und Religionsfreiheit ist Menschenrecht. Im Gegenteil: Demokratische Staaten garantieren religiösen Gruppen, Gemeinschaften oder Kirchen, dass sie frei agieren können, soweit sie nicht die Freiheiten anderer gefährden oder die Gesetze verletzen. Aber wir hätten keinerlei Einwände, wenn das Neutralitätsgebot endlich Anwendung fände und der Einfluss der Religionen – hierzulande vor allem der der beiden großen christlichen Konfessionen – entscheidend eingeschränkt und zurückgedrängt würde, inklusive aller Privilegien und Ressourcen, Subventionen und Ordnungsfelder. Und der Gottesbezug in der Präambel unseres Grundgesetzes? Auch der darf gerne gestrichen werden. Unser Grundgesetz sollte gottlos sein.

Es geht darum, einen konsequent weltanschaulich neutralen Staat einzufordern, so wie ihn die Verfassung vorsieht. Dies betrifft nicht nur die beiden großen Kirchen, sondern auch ein riesiges Geflecht von Religionsgemeinschaften, die den Kirchen nacheifern und ebenso staatliche Fördermittel, Steuergeschenke und eigene Gesetze anstreben. Die politischen Entscheidungsträger und Verantwortlichen wollen – so scheint es – auch ihnen diese Privilegien zusprechen, weil sie wissen: Die verfassungsrechtlichen und teils aberwitzigen Privilegien der Kirchen lassen sich nur dann noch gegen die Säkularisierung durchdrücken, wenn anderen religiösen Gemeinschaften die gleichen Privilegien gewährt werden. Und so bemühen die Kirchen sich auffällig oft darum, für die Muslime in Deutschland einen ähnlichen Status zu erreichen, um dann Arm in Arm Reformen zu verhindern.8 Da laut Grundgesetz alle gleichbehandelt werden, manövriert sich der Staat hier in ein religionspolitisches Dilemma. »Wird neben der Kirchensteuer dann auch eine Moscheesteuer erhoben – die dann unter staatlicher Verwaltung organisiert und eingezogen wird? … Dürfen Kirchenglocken nur dann weiterhin die Öffentlichkeit beschallen, wenn am Freitag auch der Muezzin zum Gebet rufen darf?«, heißt es in einer Stellungnahme des Zentralrats der Konfessionsfreien, eines im September 2021 gegründeten Zusammenschlusses säkularer Organisationen in Deutschland, der sich vorgenommen hat, für die Umsetzung der säkularen Werte in unserer Verfassung zu kämpfen, als Teil des »unvollendeten Projekts der Aufklärung«.9

Der Zentralrat der Konfessionsfreien verweist in seiner »säkularen Agenda« auf aktuelle Umfrageergebnisse (2022): 88 Prozent finden, dass jede Frau selbst darüber entscheiden können muss, ob sie eine Schwangerschaft fortsetzt. 74 Prozent sind für die Abschaffung der Kirchensteuer. 64 Prozent sind gegen Kruzifixe in Behörden. 75 Prozent sind für die Straffreiheit der Suizidhilfe. Schließlich sprechen sich 72 Prozent für die Einführung eines gemeinsamen Ethikunterrichts aus.10

Die säkulare Agenda fordert mehr: ein Gesetz zur Suizidhilfe, eine Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung, die darüber befinden soll, ob und wie der Schwangerschaftsabbruch entkriminalisiert werden kann. Auch die Ablösung der altrechtlichen Staatsleistungen (immerhin rund 600 Millionen Euro im Jahr 2023) wird als überfällig kritisiert und soll endlich mit den Kirchen verhandelt werden. Schließlich: es soll ein Ende haben mit dem kirchlichen Arbeitsrecht. Kurzum: Es gibt viel zu tun.

Noch einmal: Es geht dabei nicht um die Austreibung Gottes aus der Welt – persönlicher Glaube und individuelle Spiritualität sind in einer modernen Demokratie Grundrechte eines jeden Menschen. Es geht um die Austreibung Gottes aus der Politik. Wir leben in einem säkularen Verfassungsstaat. Alle Bürger dürfen ihren Gott, auch ihre Götter haben, der Staat aber ist in einer modernen Grundrechtsdemokratie gottlos. Als Sinnstiftungsangebot für den Privatgebrauch kann der Glaube Gläubige im Sinne des Wortes glückselig machen. Er kann für Menschen etwas Wunderbares sein – als Privatsache. Für unser Gemeinwesen aber gilt: Erst die Bürger, dann die Gläubigen!

Nachtrag

Nach den Rekordzahlen an Kirchenaustritten in den beiden Jahren 2021 und 2022 prognostiziert die Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland (fowid) auf der Basis der Austrittzahlen der ersten drei Quartale für das Jahr 2023, dass die Anzahl der Austritte wahrscheinlich in der Größenordnung von 2021 liegen wird. Das wären ca. 640.000 Kirchenmitglieder.11

Herr Steinmeier, der Garten Eden und der Kirchentag

Ob bei der Eröffnung der Bundesgartenschau oder auf dem Kirchentag: Der deutsche Bundespräsident spricht gerne als bibelfester Christ, obschon er – gewissermaßen als lebendes Verfassungsorgan – zur religiösen Neutralität verpflichtet ist.

Viele behaupten, dass die Kirche eine Glaubensangelegenheit sei. Vielleicht trifft das zu, was die Aspekte der Sünde, des Verzichts, der Schuld und der Sühne betrifft. Die Angst ist ein Motiv, das die Kirche seit jeher vehement vertritt, um absolute Gefügigkeit der »Gläubigen« zu erlangen. Das große Versprechen der klerikalen Angstmacher ist die Erlösung, die Aussicht auf immerwährende »jenseitige« Glückseligkeit. Ein zeitloses und lukratives Geschäftsmodell.

Dann wollen wir doch hier kurz den Blick schweifen lassen: diesmal nicht so sehr auf das große Ganze, das Überirdische, das Heilige; auf das, was Menschen nun einmal gerne glauben wollen – das Licht des Glaubens, das für den Frommen alles so hell, gut und warm macht und sich in Fest- und Feiertagsreden aller Art zeitlos als Stimmungs- und Sinnstiftungsaufheller verlässlich eignet.

Vor allem Angehörige der politischen Klasse berufen sich gerne öffentlich auf ihren Gott. Das hört sich gut an, wirkt seriös und demütig. Politikjob und Gottesverkündung gleichen sich: Beide verkaufen ein Versprechen. Die einen tun das mit einem 2.000 Jahre alten Programm, die anderen mit zeitgeistig kompatiblen Partei-Slogans. Als Grundsatzprogramm wird von beiden gerne die Bergpredigt gezückt, sie ist die Mutter aller Sonntagsreden. Phrasen und Pathos verschmelzen hier zu einem perfekten Glaubensnebel. Auch ein rhetorischer Ausflug in den Garten Eden erfreut sich bei Politikerauftritten großer Beliebtheit. Wie viel Heuchelei im öffentlichen Glaubensbekenntnis steckt, das wollen wir hier gerne ignorieren.