Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter - Dipesh Chakrabarty - E-Book

Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter E-Book

Dipesh Chakrabarty

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Beschreibung

Vom Globus zum Planeten! Der indische Historiker Dipesh Chakrabarty zählt zu den international einflussreichsten Wissenschaftlern, die sich in den letzten Jahren mit der Bedeutung des Klimawandels auseinandergesetzt haben. Der Klimawandel, so argumentiert er, stellt unsere althergebrachten Vorstellungen von Geschichte, Moderne und Globalisierung grundlegend in Frage. Die Aufgabe besteht daher darin, diese Konzepte auf den Prüfstand zu stellen und überhaupt die Geistes- und Sozialwissenschaften mit neuen Ideen und Begriffen zu versorgen, damit sie den Herausforderungen des Anthropozäns gewachsen sind.

In seinem Buch taucht Chakrabarty tief ein in Geschichte und Philosophie und stellt kühne Überlegungen darüber an, wie das menschliche Denken und Leben zukünftig zu gestalten ist. Insbesondere erklärt er, dass wir zu einem besseren Verständnis sowohl unserer Herkunft als auch unserer Zukunft nur dann gelangen, wenn wir in der Lage sind, uns selbst aus zwei Perspektiven gleichzeitig zu betrachten: einer globalen und einer planetarischen, wobei letztere den Menschen absichtlich dezentriert. Erst auf diese Weise wird es möglich, in geologischen Zeiträumen zu denken sowie ein angemessenes Bild von der menschlichen Handlungsfähigkeit zu gewinnen. Angesichts der drohenden Naturkatastrophen ist es dafür höchste Zeit.

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Seitenzahl: 621

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Titel

3Dipesh Chakrabarty

Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter

Aus dem Englischen von Christine Pries

Suhrkamp

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Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel The Climate of History in a Planetary Age bei The University of Chicago Press.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2022.

© dieser Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Brian Barth

Umschlagfoto: NASA Goddard

eISBN 978-3-518-77252-2

www.suhrkamp.de

Motto

5Für Rochana und Arko

In Erinnerung an die Menschen und anderen Lebewesen,

die 2019/2020 bei den Feuerstürmen in Australien und

2020 während des Zyklons »Amphan« im Golf von Bengalen umgekommen sind

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

7Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Motto

Inhalt

Einleitung: Erste Hinweise auf das Planetarische

Kapital, Technologie und das Planetarische

An den Grenzen des Politischen politisch sein

Entstehungsgeschichte und Aufbau dieses Buches

Teil I Der Globus und der Planet

Kapitel 1 Vier Thesen

Kapitel 2 Miteinander verbundene Geschichten

Wahrscheinlichkeit und radikale Ungewissheit

Klima und Kapital, das Globale und das Planetarische

Kapitel 3 Der Planet als humanistische Kategorie

Sich dem Planetarischen stellen

Der Planet und das Politische

Teil II Die Schwierigkeit, modern zu sein

Kapitel 4 Die Schwierigkeit, modern zu sein

Das Posthumane und das Postkoloniale

Die Schwierigkeit, modern zu sein

Kapitel 5 Planetarische Bestrebungen – Deutung eines Selbstmords in Indien

Die Unsichtbarkeit des Dalit-Körpers

Der Dalit-Körper als Einschreibungsfläche und Abstraktion

Eine Deutung des Anthropozäns

Kapitel 6 Bruchstücke einer anhaltenden Fabel

Zwei Klimawandel-Narrative

Die Moderne und Kants Geologie der Sitten

Die Vermengung von menschlicher Sittlichkeit und Animalität

Latours Weitblick

Teil III Sich dem Planetarischen stellen

Kapitel 7 Die Zeit des Anthropozäns

Mehrere Anthropozäne?

Die Zeit der Weltgeschichte

Die geologische Zeit denken

Menschen- und planetenzentrierte Denkweisen

Geologische Zeit, der Alltag und die Frage des Politischen

Kapitel 8 Auf eine anthropologische Lichtung zu

Untermauerung der Wechselseitigkeit

Die Besonderheit des Menschen oder: Der Mensch als Ausnahme

Der Mensch im Zentrum der Dinge

Der Mensch als Betrachter des Ganzen

Die materielle Leere der Welt der Wechselseitigkeit

In der »Erde« den Planeten sehen

Eine Beziehung zum Planeten als Erdsystem aufbauen

Die Moderne und der Verlust der Ehrfurcht

Auf eine anthropologische Lichtung zu

Staunen und Ehrfurcht

Postskriptum Im Globalen offenbart sich das Planetarische

Ein Gespräch mit Bruno Latour

Dank

Anmerkungen

Einleitung

Kapitel 1 Vier Thesen

Kapitel 2 Miteinander verbundene Geschichten

Kapitel 3 Der Planet als humanistische Kategorie

Kapitel 4 Die Schwierigkeit, modern zu sein

Kapitel 5 Planetarische Bestrebungen – Deutung eines Selbstmords in Indien

Kapitel 6 Bruchstücke einer anhaltenden Fabel

Kapitel 7 Die Zeit des Anthropozäns

Kapitel 8 Auf eine anthropologische Lichtung zu

Postskriptum Im Globalen offenbart sich das Planetarische Ein Gespräch mit Bruno Latour

Namenregister

Informationen zum Buch

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Einleitung:

9Erste Hinweise auf das Planetarische

Mich bringen diese Wirren weder zum Lachen noch zum Weinen, sondern spornen mich eher an, zu philosophieren und die menschliche Natur besser zu beobachten. Denn ich glaube nicht das Recht zu haben, die Natur zu verspotten oder gar zu beklagen, wenn ich bedenke, daß die Menschen wie alles übrige Seiende nur einen Teil der Natur bilden, und daß ich nicht weiß, wie jeder einzelne Teil der Natur mit dem Ganzen, zu dem er gehört, harmoniert und mit den anderen Teilen zusammenhängt.

Baruch Spinoza an Heinrich Oldenburg(1665)1

Wenn Hegel, der nach eigenem Bekunden ein Bewunderer von Spinoza war, noch leben würde und die Tiefen unserer Wahrnehmung der Gegenwart ausloten könnte, würde er etwas beobachten, das unmerklich, aber unaufhaltsam ins historische Alltagsbewusstsein derjenigen eingesickert ist, die täglich eine Nachrichtendosis zu sich nehmen: ein Gewahrwerden des Planeten und seiner geobiologischen Geschichte. Dies geschieht nicht überall mit der gleichen Geschwindigkeit, denn zweifellos ist und bleibt die globale Welt uneinheitlich. Die derzeitige Pandemie, die Zunahme autoritärer, rassistischer und fremdenfeindlicher Regime auf dem ganzen Globus sowie Diskussionen über erneuerbare Energien, fossile Brennstoffe, Klimawandel, Überschwemmungen, Extremwetterlagen, Wasserknappheit, Rückgang der Biodiversität, das Anthropozän und so weiter – all dies signalisiert uns, wenn auch verschwommen, dass mit unserem Planeten etwas nicht stimmt und dass dies mit menschlichem Handeln zu tun haben könnte. Bis10her sind geologische Ereignisse und die Geschehnisse, die der Geschichte des Lebens zugrunde liegen, Expert:innen und Spezialist:innen vorbehalten gewesen. Doch mittlerweile, so schemenhaft das auch empfunden wird, ist der Planet neben den uns schon vertrauteren Befürchtungen in Bezug auf den Kapitalismus, auf Ungerechtigkeit und Ungleichheit mehr und mehr zu einer Angelegenheit umfassender und tiefer menschlicher Sorge geworden. In jüngster Zeit hat die COVID-19-Pandemie auf tragische Weise illustriert, wie sich ausweitende und beschleunigende Globalisierungsprozesse Veränderungen der sehr viel längerfristigen Geschichte des Lebens auf diesem Planeten lostreten können.2 In diesem Buch geht es um diese gerade entstehende Objektkategorie menschlicher Sorge, den Planeten, und darum, welche Auswirkungen sie auf die uns vertrauten Globalisierungsgeschichten hat. Diese begriffliche Verschiebung ist während meiner Lebenszeit erfolgt, und ich hoffe, man wird mir vergeben, dass ich mit einigen autobiografischen Anmerkungen beginne.

Wie für viele andere Inder meiner Generation war für jemanden, der in den 1960er Jahren im von Ungleichheit geprägten, ungestümen, linksgerichteten Kalkutta heranwuchs, eine egalitäre und gerechte Gesellschaftsordnung etwas Schätzens- und Wünschenswertes. Akademisch schlug sich meine jugendliche Begeisterung später in meinen frühen Untersuchungen zur Geschichte der Arbeit und meiner Beteiligung an dem indischen Projekt der Subaltern Studies nieder, das die Anerkennung der Handlungsmacht (agency) sozial niedrigstehender, »subalterner« Menschen bei der Erschaffung ihrer eigenen Geschichte zum Ziel hatte. Außerdem wurde unser Denken tief beeinflusst vom weltweiten Aufstieg der Postcolonial, Gender, Cultural, Minority und Indigenous Studies sowie weiterer Wissenschaften, die der australische Gelehrte Kenneth Ruthven in den früher 1990er Jahren unter der Rubrik »neue Geisteswissenschaften« zusammengefasst hat.3

11In den Fängen des tiefgreifenden historischen Wandels, den wirbelnde Globalisierungsströme im Leben gewöhnlicher Mittelschichtsinder wie mir ausgelöst hatten, arbeitete ich zu dieser Zeit als Historiker und Gesellschaftstheoretiker an der University of Melbourne. Selbst nachdem ich 1995 an die University of Chicago gewechselt war, ließen die Fragen mich nicht los, die für die Kämpfe der einfachen Bevölkerung in meiner Jugend kennzeichnend gewesen waren: die Fragen nach Rechten, nach der Moderne, der Freiheit und nach einem Wechsel in eine vernünftigere und demokratischere Welt, als ich sie kennengelernt hatte. Mein Buch Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference (2000) war ein Produkt jener Jahre, in dem ich versuchte, anhand eines postkolonialen Rahmens ein Verständnis davon zu entwickeln, was antikoloniale und sich modernisierende Eliten in den früheren Kolonien mit ihrer Arbeit erreicht haben und erreichen konnten, die sich in einigen Fällen an der Grenze des geistigen Erbes eines imperialen Europas entlang bewegte, das sie gar nicht umhin konnten anzutreten. Dies war mein Diskussionsbeitrag zur Geschichte des Globus, den europäische Imperien, antikoloniale Modernisierer und das globale Kapital gemeinsam gestaltet hatten, und dieses Thema dominierte die Geschichtswissenschaft und andere Deutungsfächer in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts bis ins 21. Jahrhundert hinein.4

Zu Beginn dieses Jahrhunderts geschah etwas, das mich zur Verlagerung meiner eigenen Perspektive zwang. Im Jahr 2003 forderte ein verheerender Buschbrand im australischen Capital Territory mehrere Menschenleben sowie das Leben vieler nichtmenschlicher Wesen, Hunderte Häuser brannten aus, alle Wälder und Parks in der Umgebung der berühmten »Buschhauptstadt« des Landes, Canberra, wurden zerstört. Dies waren Orte, die ich liebgewonnen hatte, als ich dort an meiner Doktorarbeit schrieb. Das von diesen tragischen Verlusten verursachte Gefühl der Trauer machte mich neugierig auf die Geschichte dieser spe12ziellen Brände, und als ich anfing, mich über ihre Ursachen zu informieren, erreichte die Nachricht von einem anthropogenen Klimawandel schnell die humanozentrische Gedankenwelt, die ich bis dahin bewohnt hatte: Wissenschaftlichen Behauptungen zufolge waren die Abermillionen Menschen durch ihre Anzahl und aufgrund ihrer Technologien zu einer geophysischen Kraft geworden, die imstande wäre, das Klimasystem des Planeten insgesamt auf furchterregende Weise zu verändern. Außerdem erfuhr ich von der wachsenden wissenschaftlichen Literatur über die Anthropozän-Hypothese, das heißt die Annahme, dass die Einwirkung des Menschen auf den Planeten so groß sei, dass sie eine Abänderung der geologischen Chronologie der Erdgeschichte verlange, um deutlich zu machen, dass der Planet die Grenzen des (etwa 11 ‌700 Jahre alten) Holozäns überschritten habe und in ein neues Zeitalter eingetreten sei, das einen neuen Namen verdiene: das Anthropozän.5

Faktisch hatte die Gestalt des Menschen im Laufe meiner Lebenszeit eine Dopplung erfahren. Es gab (und gibt immer noch) den Menschen der humanistischen Geschichtsschreibung, der die Fähigkeit besitzt, gemeinsam mit anderen Menschen für Gleichheit und Fairness zu kämpfen und sich gleichzeitig um die Umwelt und bestimmte Formen nichtmenschlichen Lebens zu kümmern. Und dann war da noch jener andere Mensch, der Mensch als geologischer Handlungsträger (agent), dessen Geschichte sich nicht im Rahmen eines rein humanozentrischen Standpunkts erzählen ließ (den die meisten Kapitalismus- und Globalisierungsnarrative einnehmen). Die Verwendungsweise des Wortes Handlungsmacht in dem Ausdruck »geologische Handlungsmacht« wich stark von dem Begriff der »Handlungsmacht« ab, den meine Historikerhelden in den 1960er Jahren – E. ‌P. Thompson zum Beispiel oder unser Lehrer Ranajit Guha – geprägt und zelebriert hatten. Diese Handlungsmacht war nicht autonom und selbstbewusst, wie in Thompsons oder Guhas Sozialgeschichten, son13dern eine unpersönliche, unbewusste geophysische Kraft, die Folge kollektiven menschlichen Handelns.

Die Vorstellung von einem anthropogenen und planetarischen Klimawandel wird in der akademischen Welt heutzutage kaum noch in Frage gestellt, aber über die Idee des Anthropozäns hat es sowohl unter Natur- als auch unter Geisteswissenschaftler:innen viele Debatten gegeben.6 Außerdem ist der Ausdruck aufgrund dieser Diskussionen in den Geisteswissenschaften der Gegenwart zu einer populären und – wie häufig in solchen Diskussionen – vieldeutigen Kategorie geworden. Doch unabhängig davon, ob die Geolog:innen sich eines Tages bereiterklären werden, das Etikett »Anthropozän« formal anzuerkennen, machen die Daten, welche die von der Internationalen Kommission für Stratigraphie in London eingesetzte Anthropozän-Arbeitsgruppe in den letzten Jahren gesammelt und analysiert hat, eines klar: Wir leben nicht nur in einem globalen Zeitalter, sondern am Scheitelpunkt vom Globalen und von etwas, das man als »das Planetarische« bezeichnen kann.7 Unser Denken über die letzten Jahrhunderte menschlicher Vergangenheit und über die noch vor uns liegende Zukunft der Menschheit muss sich in beide Richtungen orientieren: Wir müssen uns dem zuwenden, was gemeinhin Globus oder Erdball genannt wird, und wir müssen uns um die neue historisch-philosophische Entität kümmern, die man als Planeten bezeichnet. Diese deckt sich nicht mit den Kategorien des Globus, der Erde oder der Welt, die wir bisher zur Organisation der modernen Geschichte herangezogen haben. Die Intensivierung der kapitalistischen Globalisierung und die daraus folgenden globalen Erwärmungskrisen haben gemeinsam mit all den Diskussionen, die mit der Untersuchung dieser Phänomene einhergegangen sind, dafür gesorgt, dass der Planet – oder besser gesagt das Erdsystem, wie ich es hier verstehe – noch über den geistigen Horizont der Geisteswissenschaftler:innen hinaus in unserem Gesichtskreis aufgetaucht ist.

14Der Globus, behaupte ich, ist eine humanozentrische Konstruktion; der Planet bzw. das Erdsystem dezentriert den Menschen. Die Doppelgestalt des Menschen verlangt mithin, dass wir darüber nachdenken, wie verschiedene Lebensformen – unsere eigene und die anderer Wesen – in historische Prozesse verwickelt sein können, in denen Globus und Planet sowohl als Entitätsprojektionen als auch als theoretische Kategorien zusammenkommen, sodass der begrenzte Zeitmaßstab, mit dessen Hilfe moderne Menschen und humanistische Historiker:innen die Geschichte betrachten, sich mit den unmenschlich weit ausholenden Zeitmaßstäben der Tiefenhistorie vermischt.

Kapital, Technologie und das Planetarische

Zwischen Globus und Planet – als den Kategorien, die für die beiden Narrative von der Globalisierung und von der globalen Erwärmung stehen – besteht eine Verbindung. Sie sind durch die Erscheinungsformen von modernem Kapitalismus (im weiten Sinne des Wortes) und Technologie miteinander verbunden, die beide globale Reichweite besitzen. Schließlich sind die Treibhausgasemissionen fast ausschließlich aufgrund des Strebens nach industriellen und postindustriellen Modernisierungs- und Wohlstandsformen angestiegen. Wie sehr sie einander auch kritisiert haben mögen, hat keine Nation dieses Entwicklungsmodell je verschmäht. Wie der Historiker John McNeill dargelegt hat, ist das 20. Jahrhundert infolge der Ausweitung der Industrialisierung zu »einer Zeit außergewöhnlichen Wandels« in der menschlichen Geschichte geworden. »Die Menschenpopulation stieg von 1,5 auf sechs Milliarden, die Weltwirtschaft wuchs um das 15-Fache, der Energieverbrauch nahm um das 13- bis 14-Fache zu, der Wasserverbrauch um das Neunfache und die Bewässerungsgebiete um das Fünffache.«8 Angesichts dieses globalen Strebens nach 15Industrie und Entwicklung versteht man gut, warum die Verfechter:innen von Klimagerechtigkeit die globale Erwärmung als Folge einer uneinheitlichen, sich nach Klasse, Geschlecht und Rasse richtenden kapitalistischen Entwicklung ansehen und sogar das Thema eines planetarischen Klimawandels argwöhnisch als einen Versuch betrachten, den weniger entwickelten Nationen den »Kohle-Anteil« zu verwehren, den sie zur Industrialisierung benötigen würden.

Doch die Geschichte des Kapitalismus, wie sie bisher erzählt worden ist, reicht in meinen Augen allein nicht aus, um der heutigen Situation der Menschheit einen Sinn abzugewinnen. Das hat damit zu tun, dass uns langsam dämmert, dass viele der heutigen »Natur«-Katastrophen Folgen von Veränderungen sind, die menschliche sozioökonomische Institutionen und Technologien in Prozessen hervorrufen, die von Erdsystemforscher:innen als planetarisch angesehen werden. Bisher sind diese Prozesse größtenteils unabhängig vom menschlichen Tun abgelaufen, sie waren aber trotzdem zentral für das Gedeihen der Menschheit und anderer Lebensformen. Je mehr wir unsere gerade entstehende planetarische Handlungsmacht anerkennen, desto deutlicher wird, dass wir jetzt über Aspekte des Planeten nachdenken müssen, die Menschen normalerweise einfach nur für selbstverständlich halten, wenn sie ihren Alltagsgeschäften nachgehen. Nehmen wir zum Beispiel die Atmosphäre und ihren Sauerstoffanteil. Die Atmosphäre ist für unser Leben genauso grundlegend wie der bloße Atmungsvorgang. Doch welche Geschichte hat diese Atmosphäre? Müssen wir heute über diese Geschichte nachdenken, wenn wir an die Zukunft der Menschheit denken? Das müssen wir. In den letzten 375 Millionen Jahren – also seit der Entwicklung großer Wälder – ist die Sauerstoffkonzentration auf dem Planeten durch bestimmte Prozesse auf einem Niveau gehalten worden, das dafür gesorgt hat, dass Tiere nicht aufgrund von Sauerstoffmangel erstickt und Wälder nicht verbrannt sind, weil 16zu viel davon vorhanden war. Verschiedene dynamische Prozesse halten die Atmosphäre in ihrem derzeitigen Gleichgewicht. Da Sauerstoff ein reaktives Gas ist, muss der Luft ständig neuer Sauerstoff zugeführt werden. Ein Teil dieses Sauerstoffs stammt von so winzigen Meeresbewohnern wie dem Plankton. Wenn dieses Plankton durch menschliches Handeln, das die Meere in Mitleidenschaft zieht, vernichtet wird, würden wir dadurch eine wesentliche Sauerstoffquelle vernichten. Kurz gesagt, haben die Menschen die Fähigkeit erlangt, in planetarische Prozesse einzugreifen, sie sind aber nicht unbedingt – zumindest noch nicht – in der Lage, sie wieder in Ordnung zu bringen.

Da unser Gestaltungsvermögen des Planeten weitestgehend technologischer Natur ist, macht Technologie auch einen intrinsischen Bestandteil dieser sich gerade entfaltenden Geschichte über Menschen aus. Zur Wesensbestimmung des globalen Systems menschlicher Technologie hat der Geologe Peter Haff vor kurzem den Begriff der »Technosphäre« eingeführt:

Der technologische Wildwuchs auf dem ganzen Globus definiert die Technosphäre – die großformatigen, vernetzten Technologien, die zusammen der raschen Extraktion großer Mengen von freier Energie aus der Erde und der sich anschließenden Stromerzeugung ebenso zugrunde liegen und sie möglich machen, wie der nahezu unmittelbaren Kommunikation über weite Strecken, dem schnellen Energie- und Massentransport über weite Strecken, der Existenz moderner Regierungs- und anderer bürokratischer Apparate, den hochverdichteten Industrie- und Herstellungsabläufen, darunter die regionale, kontinentale und globale Verteilung von Nahrungsmitteln und anderen Waren, sowie den unzähligen zusätzlichen ›künstlichen‹ oder ›nichtnatürlichen‹ Prozessen, ohne welche die moderne Zivilisation und ihre gegenwärtig 7 ‌× ‌10⁹ menschlichen Komponenten nicht existieren könnten.9

Laut Haffs Argumentation ist die Menschenpopulation in ihrem derzeitigen Umfang »zutiefst auf die Existenz der Technosphäre angewiesen«, ohne die sie »schnell auf ihren steinzeitlichen Grundwert von nicht mehr als zehn Millionen […] Personen zurückge17hen würde«.10 Mit Haff könnte man also sagen, dass Technologie zu einer Bedingung von Biologie, zur Bedingung für die Existenz einer so großen Zahl von Menschen auf dem Planeten geworden ist.11

Haffs Annahme einer Technosphäre versetzt uns in die Lage zu sehen, wie »entfesselt«, mit Carl Schmitt gesprochen, Technologie heute geworden ist – und wie die Menschen dank technologischer Macht die »Erde« bereits in ein Raumschiff für sich und für andere Lebensformen verwandelt haben, deren eigene Existenz auf das menschliche Gedeihen angewiesen ist. In seinem »Gespräch über den neuen Raum« von 1955 legte Schmitt einem fiktiven Charakter, Herrn Altmann (einem Althistoriker), eine grundlegende Unterscheidung zwischen einem Leben an Land und dem Leben auf einem Schiff auf See in den Mund. »Kern einer terranen Existenz«, behauptete er, seien »Haus und Eigentum, Ehe, Familie und Erbrecht« an der Seite von gezähmten und anderen Tieren. Die in dieser Art von Leben überhaupt vorhandene Technik werde durch all das gehemmt, was ein solches Leben mit sich bringe. Per se sei Technologie in solch einem Leben niemals federführend. Im Zuge der Eroberung der Meere wird nun aber das Schiff zur Verkörperung dessen, was Schmitt als »entfesselte Technik« bezeichnet hat. Im Unterschied zum Haus der terranen Existenz bilde das Schiff, das »schon in sich selbst viel mehr und viel intensiver ein technisches Mittel ist als das Haus«, den Kern der »maritimen Existenz«. Auf einem Schiff (heute an Bord eines Flugzeuges) ist das Leben entscheidend auf das einwandfreie Funktionieren von Technologie angewiesen.12 Wenn die Technologie versagt, steht das Leben vor einer Katastrophe. Wenn Haffs Argumentation stimmt, dass die Technosphäre heute zur Grundbedingung des Überlebens von sieben (bald neun) Milliarden Menschen geworden ist, könnte man sagen, dass wir die »Erde« bereits zu so etwas wie Schmitts Schiff gemacht haben, insofern ihr Vermögen, die vielen Milliarden 18Menschen zu versorgen, mittlerweile von der Existenz der Technosphäre selbst abhängt. In einem späteren Aufsatz, in dem er unterscheidet zwischen einem »sozialen Anthropozän« – das »sich mit den Bedingungen, Zielsetzungen und Geschichten der Völker der Welt befasst, auch mit der Rolle der Politik« – und einem »geologischen Anthropozän«, wiederholt Haff mehrfach, wie wichtig es für die Menschen sei, »anzuerkennen, dass die Technosphäre Handlungsmacht besitzt, diese Handlungsmacht sich aber nicht mit unserer eigenen deckt«.13

»Durch Minen, Bohrlöcher und andere unterirdische Konstruktionen« reicht die Technosphäre tief in die »Gesteinsmasse unter der Erde« und in die »Meereswelt« hinein – nicht nur durch Schiffe und Unterseeboote, sondern auch durch »Ölplattformen und Pipelines, Molen, Docks [und] Aquakulturanlagen«.14 Auf dem Festland umfasst sie unsere »Häuser, Fabriken und Bauernhöfe« zusammen mit »Computersystemen, Smartphones und CDs« sowie »dem Abfall in Mülldeponien und Abraumhalden«. Die »Größenordnung« der Technosphäre »ist schwindelerregend: Mit etwa 30 Trillionen Tonnen steht sie für eine Masse von mehr als 50 Kilo pro Quadratmeter der Erdoberfläche.« »Man kann sagen«, stellt der Geologe Mark Williams fest, »dass die Technosphäre auf der Biosphäre Knospen getrieben hat und mittlerweile zumindest zum Teil zu ihren Parasiten gehört.« Und im Vergleich zur Biosphäre »recycelt sie ihre eigenen Materialien erstaunlich schlecht, wie unsere wachsenden Mülldeponien zeigen«.15

Genauso eindrucksvoll sind die Zahlen, die die Rolle anschaulich machen, die Menschen bei der Umgestaltung der Landschaft des Planeten nicht nur auf seiner Oberfläche, sondern bis hinunter in die Kontinentalplatten gespielt haben. Die Menschen haben die Landfläche und den Meeresboden des Planeten transformiert. »Spätestens Ende des 20. Jahrhunderts wurden jährlich auf einem Areal von etwa 15 Millionen Quadratkilometern Schleppnetze in der Tiefseefischerei eingesetzt. Dies schließt mittlerwei19le einen Großteil der Kontinentalplatten der Welt und bedeutende Bereiche der oberen Kontinentalhänge sowie die Oberseiten der Tiefseeberge ein.«16 Einer Schätzung von 1994 zufolge »wurden auf Veranlassung des Menschen weltweit jährlich 30 Milliarden Tonnen Erde bewegt«. Eine Schätzung von 2001 nennt eine Zahl von 57 Milliarden Tonnen pro Jahr. Zum Vergleich: Die Sedimentmenge, die jedes Jahr weltweit von den Flüssen in die Ozeane getragen wird, liegt zwischen 8,3 und 51,1 Milliarden Tonnen.17 Die Menschen, sagen der Geologe Colin Waters und seine Kollegen, »setzen auf diese Weise [Bergbau und Steinbrüche] inzwischen mehr Sedimente in Bewegung als alle natürlichen Prozesse zusammen (26 Gt/j.)«.18 Diese beträchtliche biologische und geomorphologische Rolle des Menschen lässt sich nicht von der Geschichte trennen, die Kapitalismus und globale Erwärmung verbindet.

Wenn schon all dies und noch viele weitere Faktoren der Einwirkung des Menschen auf den Planeten die Erdsystemforscher:innen darauf schließen lassen, dass der Planet möglicherweise die Grenzen des Holozäns überschritten hat und in ein ganz neues geologisches Zeitalter eingetreten ist, kann man sagen, dass wir Menschen gegenwärtig gleichzeitig in zwei verschiedenen Ausprägungen der Zeit leben, die im Deutschen »Jetztzeit« heißt: In unserer Selbstwahrnehmung hat sich das »Jetzt« der menschlichen Geschichte mit dem langen »Jetzt« der geologischen und biologischen Zeitmaßstäbe vermengt, was in der Menschheitsgeschichte bisher noch nie vorgekommen ist.19 Zwar sind zweifellos Phänomene im Erdmaßstab – zum Beispiel Erdbeben – über unsere humanistischen Narrative hereingebrochen, aber in den meisten Fällen liefen geologische Ereignisse wie etwa die Auffaltung oder Erosion eines Gebirges so allmählich ab, dass Berge als beständiger, unveränderlicher Hintergrund für menschliche Geschichten galten. In unserer Lebenszeit sind wir uns nun aber bewusst geworden, dass der Hintergrund kein bloßer Hintergrund 20mehr ist. Wir sind ein Teil von ihm, weil wir als geologische Kraft agieren und zu einem Rückgang der Biodiversität beitragen, der sich in wenigen Jahrhunderten zum sechsten großen Massensterben entwickeln könnte. Unabhängig davon, ob der Begriff je formal anerkannt wird, steht das Anthropozän für das Ausmaß und die Dauer der Veränderungen, die unsere Spezies an der Geologie, Chemie und Biologie der Erde vornimmt.20

Wenn wir in einem Zeitalter, in dem durch intensive kapitalistische Globalisierung globale Erwärmung und massenhaftes Aussterben drohen, historisch über die Menschheit nachdenken, müssen wir begriffliche Kategorien miteinander vereinbaren, die wir in der Vergangenheit gewöhnlich getrennt voneinander und als nahezu unverbunden behandelt haben. Wir müssen Tiefenhistorie und überlieferte Geschichtsschreibung miteinander verbinden und die geologische und biologische Zeit der Evolution mit der Zeit der menschlichen Geschichte und Erfahrung ins Gespräch bringen. Das bedeutet, dass man die Geschichte der menschlichen Imperien – von kolonialer, rassistischer und geschlechtsbedingter Unterdrückung – in Verbindung mit der weiter ausholenden Geschichte erzählt, wie es dazu gekommen ist, dass eine bestimmte biologische Spezies, Homo sapiens, deren Technosphäre und andere Arten, die sich gleichzeitig mit dem bzw. in Abhängigkeit vom Homo sapiens entwickelt haben, die Biosphäre, Lithosphäre und Atmosphäre dieses Planeten dominieren. All dies müssen wir überdies tun, ohne das menschliche Individuum auch nur einen Augenblick aus den Augen zu verlieren, das weiterhin seine oder ihre persönlichen phänomenologischen und alltäglichen Erfahrungen mit Leben und Tod und mit der Welt bewältigen muss – Erfahrungen, für die eine »Welt« selbstverständlich ist, die heute ironischerweise keine einfache Gegebenheit mehr darstellt.21 Die auf planetarischer Ebene angesiedelte Krise sickert in vermittelter Form in unser Alltagsleben ein und man könnte die These vertreten, dass sie sogar teilweise auf Ent21scheidungen zurückgeht, die wir in unserem Alltagsleben treffen (wie etwa ob wir fliegen, Fleisch essen oder anders mit Energie aus fossilen Brennstoffen umgehen). Das heißt aber nicht, dass des Menschen phänomenologische Erfahrung der Welt an ein Ende gelangt ist. Wir entfernen uns zwar niemals weit von Tiefenzeit und Tiefenhistorie. Sie verlaufen mitten durch unsere Körper und Leben. Es mag sein, dass die Menschen im Alltagsleben nicht an ihre evolutionären Wesensmerkmale denken, aber die Gestaltung aller menschlichen Artefakte wird zum Beispiel immer auf der Annahme beruhen, dass Menschen binokular sehen und opponierbare Daumen haben. Dass wir große und komplexe Gehirne haben, kann durchaus bedeuten, dass unsere Big History und Deep History neben den Untiefen unserer jüngeren Vergangenheit und durch sie hindurch Bestand hatten und dass unser inneres Zeitgefühl – das zum Beispiel Phänomenolog:innen untersuchen – nicht immer mit der evolutionären oder geologischen Chronologie übereinstimmen wird.22

An den Grenzen des Politischen politisch sein

Das Politische, das aus dem Zusammentreffen von menschlichen und nichtmenschlichen Maßstäben hervorgeht, nimmt die Form eines Paradoxons an, das frühere Denkweisen über diese Kategorie und ihre früheren Verwendungsweisen in Frage stellt.23 In leichter Abwandlung durch meine Carl-Schmitt-Lektüre ist mein Verständnis der Rede vom Politischen Hannah Arendts Denken verpflichtet. Die unverbrüchliche Verbindung, die zwischen generationenübergreifender Zeit und Arendts Verständnis des Politischen besteht, vermittelt uns einen Eindruck, warum jedes in einer sich über das Leben mehrerer Generationen erstreckenden Zeitspanne auf den Klimawandel reagierende Handeln politisch ist (obwohl keine einzige Lösung jeden zufriedenstellen wird).24

22Leser:innen von Vita activa werden sich erinnern, dass Arendt die menschliche Fähigkeit, sich individuelle Differenzen – Pluralität, heißt es bei ihr – zunutze zu machen, um im menschlichen Miteinander Neues oder Neuartiges zu erschaffen, als Quelle des »Handelns« ausgemacht hat. »Handeln« ist grundlegend für ihre Definition des Politischen. Dem Handeln, schrieb Arendt, entspricht die »Grundbedingung […] der Pluralität, nämlich die Tatsache, daß nicht ein Mensch, sondern viele Menschen auf der Erde leben und die Welt bevölkern«.25 Handeln sei »die politische Tätigkeit par excellence«. Außerdem ist das Handeln an die Grundbedingung der Natalität gebunden – daran, dass wir alle als Neuankömmlinge und einzigartige Individuen auf die Welt kommen. »[D]as Handeln […], soweit es der Gründung und Erhaltung politischer Gemeinwesen dient«, schreibt Arendt, »ist […] an die Grundbedingung der Natalität enger gebunden als Arbeiten und Herstellen. Der Neubeginn, der mit jeder Geburt in die Welt kommt, kann sich in der Welt nur darum zur Geltung bringen, weil dem Neuankömmling die Fähigkeit zukommt, selbst einen neuen Anfang zu machen, d. ‌h. zu handeln.«26 Die Möglichkeit von Neuheit, das heißt Natalität, »könnte«, fügt Arendt hinzu, »für politisches Denken ein so entscheidendes […] Faktum darstell[en], wie Sterblichkeit seit eh und je […] der Tatbestand war, an dem metaphysisch-philosophisches Denken sich entzündete«.27 In ihrem späteren Buch Das Leben des Geistes kam Arendt auf den Gedanken der Natalität zurück: »Jeder Mensch [anders als Tiere bzw. Gattungswesen, meint Arendt], in der Einzahl geschaffen, ist ein neuer Anfang kraft seiner Geburt.«28 Und in »Fragment I« von Was ist Politik? wird der Punkt noch einmal wiederholt: »[D]er Mensch ist a-politisch. Politik entsteht in dem Zwischen-den-Menschen, also durchaus außerhalb des Menschen. Es gibt daher keine eigentliche politische Substanz. Politik entsteht im Zwischen und etabliert sich als der Bezug.«29

23Arendts Vorstellungen vom Politischen sind gelegentlich kritisiert worden, weil ihnen scheinbar jedes Interesse an Herrschaftsbeziehungen, Ungerechtigkeit, Ungleichheit und im weiteren Sinne Demokratie abgeht.30 Man kann ihr Verständnis »des Politischen« aber auf ihre Vorstellungen vom »Handeln« und »Herstellen« beziehen, wodurch ein begrifflicher Raum entsteht, der ein Interesse an genau den Fragen erlaubt, über die Arendt nach Meinung ihrer Kritiker:innen die Nase rümpfte.31 Die Dreifachunterscheidung zwischen Arbeiten, Herstellen und Handeln, mit der Arendt ihr Buch Vita activa eröffnet, ermöglicht uns eine klarere Sicht auf diesen Punkt.32 »Die Grundbedingung […] des Arbeitens«, schreibt Arendt, »ist das Leben selbst.« Dabei geht es buchstäblich um Konsumption – um den Stoffwechsel, den wir benötigen, um unsere biologischen Körper am Leben zu erhalten, und um deren schlussendlichen, unvermeidlichen Verfall. Was die Arbeit am Leben erhält – den individuellen Körper –, überdauert die individuelle Lebenszeit nicht. Dagegen hat »Herstellen« mit allen möglichen menschlichen Vorrichtungen zu tun – von Sprache über Institutionen zu menschengemachten Dingen –, die notwendigerweise generationenübergreifend sind.33 »Das Herstellen produziert eine künstliche Welt von Dingen.« Jedes individuelle Leben sei »in dem Maße« »[i]n dieser Dingwelt« »zuhause«, »in dem sie menschliches Leben überdauert«. Das Herstellen bringt mithin die für es selbst konstitutive, generationenübergreifende Zeit hervor. Der Gedanke generationenübergreifender Zeit ist in dem Argument enthalten, dass durch das Herstellen Sachen erzeugt werden, die von Dauer sind, obwohl sich ihre Dauerhaftigkeit und Haltbarkeit durch den Gebrauch »abnutzt«.34 Die Welt, die uns zeitlich vorausgeht und uns trotzdem dauerhafte Institutionen, Gedanken, Praktiken und Dinge hinterlässt, muss generationenübergreifend ausgerichtet sein. Arendt verbindet dies mit dem Gedanken der Wohnstätte: »[D]ie Welt [ist] eine wirkliche Heimat für sterbliche Menschen nur in dem Maße«, als 24sie »Sprechen und Handeln […] eine bleibende Stätte sichert.«35 Damit menschliche Vorrichtungen als eine solche Stätte fungieren können, müssen sie die Logik reiner Konsumption und Nützlichkeit überdauern.36

In diesem Sinne ist politisches Handeln etwas, das Menschen dazu verhilft, über die Lebenszeit hinaus auf der Erde zuhause zu sein. Ein konsumgesteuerter Kapitalismus, in dem alle Artefakte in der Gegenwart konsumiert werden sollen, wäre insofern ein antipolitischer Apparat, als er letztendlich der menschlichen Wohnstättenlogik entgegenarbeiten würde, da eine Wohnstätte Artefakte verlangt, welche die Lebenszeit überdauern. Er würde Arendts Kategorie der »Arbeit« als der Tätigkeit ähneln, der alle Tiere nachgehen müssen, um sich Nahrung zu verschaffen, die das biologische Leben in Gang hält. Generationenübergreifende Belange, wie schwierig sie auch dadurch werden, dass die Ungeborenen, weil sie nicht da sind, ihren Ansprüchen gegenüber den Lebenden keinen Nachdruck verleihen können, sind mithin zentral für Arendts Verständnis des Politischen.37 So gesehen, fallen Fragen der Klimagerechtigkeit – nicht nur zwischen Reichen und Armen, sondern auch zwischen Lebenden und Ungeborenen – mit Sicherheit in die Kategorie des Politischen. Wie Menschen auf erneuerbare Energien umsteigen oder nachhaltige Gesellschaften bilden können und andere Fragen dieser Art wären aus dem gleichen Grund ebenfalls politisch. Es versteht sich von selbst, dass eine solche Rede vom Politischen auf alle Tätigkeiten – von wissenschaftlichen, technologischen und Geoengineering-Experimenten bis zu politischer Arbeit und Aktivismus über das ganze Spektrum der vorhandenen Ideologien – verweist, die unternommen werden, um die Folgen der globalen Erwärmung zu bewältigen und sich folglich mit der Zukunft, die sie bietet, zu befassen.

Welche Vorstellung sollen wir uns, versehen mit dem Rüstzeug dieses Verständnisses des Politischen (das ich gleich um eine 25Schmitt'sche Abwandlung ergänzen werde), von unserer eigenen Zeit machen, wenn wir die postkolonialen, postimperialen und globalen Belange des letzten Jahrhunderts um Fragen des anthropogenen Klimawandels und des Anthropozäns ergänzen wollen? Das Aufkommen dieser Fragen bedeutet mit Sicherheit nicht, dass die Fragen, die allem Anschein nach in der postkolonialen Welt und im Zusammenhang mit der Globalisierung wichtig gewesen sind, sich erledigt haben. Schließlich leben wir immer noch in Zeiten, in denen die Repräsentation der Geschichten von »Menschen ohne Geschichte« weiterhin zu den umstrittenen Fragen gehört, in denen die Frage der Souveränität derer, die ihr Land und ihre Zivilisation durch europäische Besatzungsmächte und Eindringlinge verloren haben, ohne Antwort bleibt (und beunruhigenderweise vielleicht unbeantwortbar ist), in denen Ungleichheiten zwischen den Klassen sich zuspitzen und der Wohlstand sich in den Händen der sogenannten ein Prozent konzentriert und in denen die Zahl der Flüchtlinge oder staatenlosen Menschen auf der Welt weiter steigt, während das globale Kapital nach Technologien strebt, welche die Zukunft der menschlichen Arbeit drastisch verändern und bedrohen. Dieselbe Digitaltechnologie, die für intelligente Maschinen sorgt, nimmt im demokratischen Leben eine janusköpfige Gestalt an: Social Media Apps wie WhatsApp und Facebook können zur Mobilisierung der Bevölkerung beitragen, sind aber nicht notwendigerweise den nuancierten Debatten und Diskussionen zuträglich, die in einer deliberativen Demokratie auch erforderlich sind.

Über das Planetarische und das Anthropozän zu sprechen, heißt nicht, dass man diese Probleme leugnet. Man gibt sie vielmehr sowohl im bildlichen wie auch im eigentlichen Sinne schichtweise wieder. Die geologische Zeit des Anthropozäns und die Zeit unseres Alltagslebens im Schatten des globalen Kapitals sind miteinander verwoben. Die geologische Zeit läuft durch die menschlich-historische Zeit hindurch und geht über 26sie hinaus. Einige Folgen der Einwirkung des Menschen auf den Planeten – Städte, die zu Hitzeinseln werden, zunehmende Häufigkeit und Stärke von Wirbelstürmen, Übersäuerung der Meere – sind in der historischen Zeit erkennbar. Andere – wie die Auswirkung, den der anthropogene Klimawandel auf die Glazial-Interglazial-Zyklen haben könnte, die mehr als zwei Millionen Jahre für die Geschichte dieses Planeten prägend waren – nicht.

Abbildung 1: Theo, im Alter von zwei Jahren.

Manche Resultate unserer Fähigkeit, Erde von der Stelle zu bewegen, sind sichtbar und oftmals hässlich. Die 31 Hügel, die im indischen Bundesstaat Rajasthan »abhandengekommen« sind – das heißt von verbrecherischen Geschäftsleuten auf der Suche nach »Rohstoffen« illegalerweise dem Erdboden gleichgemacht 27wurden, um mit dem landesweiten Bauboom Schritt zu halten –, demonstrieren auf hässliche Weise die Fähigkeit des modernen Menschen, mit seinen Maschinen Erde von der Stelle zu bewegen.38 Doch wenn ich in einem nahegelegenen Park ein Kind ganz unbefangen um einen die Erde bewegenden Schaufelbagger herumlaufen sehe und dann dasselbe Kind beobachte, wie es mit Hilfe einer Miniaturversion derselben Maschine – Anthropozän-Spielzeug! – Sand in einer Sandkiste hin und her schaufelt, wird mir klar, wie sehr unsere geomorphologische Handlungsmacht sich schon »naturalisiert« hat (Abb. 1 und 2). Es steht nicht in Frage, die Zeit des Anthropozäns auf künstliche Weise von der Zeit unserer Menschenleben und -geschichte zu trennen. In vielen Hinsichten ist unsere Handlungsfähigkeit als geophysische Kraft mit einer ganzen Reihe von modernen Vergnügungsformen verbunden.

Abbildung 2: Theo und seine Freunde.

28Eher werden viele der Probleme, die wir für Probleme der kapitalistischen Globalisierung halten, sich noch verstärken, wenn die globale Erwärmung zunimmt. Die abnehmende Bewohnbarkeit des Planeten, eine steigende Zahl von Klimaflüchtlingen und »illegalen Einwanderern«, Wasserknappheit, häufige Extremwetterlagen, die Aussicht auf Geoengineering und so weiter sind mit Sicherheit kein gutes Rezept für globalen Frieden.39 Hinzu kommt, dass unser globales Versagen in Bezug auf die Schaffung eines Steuerungsmechanismus für den planetarischen Klimawandel ebenfalls nahelegt, dass wir es hier nicht mit der Art von »globalem« Problem zu tun haben, für deren Bewältigung unser globaler Steuerungsapparat, die Vereinten Nationen, eingerichtet wurde.

Daran zeigt sich ein interessantes zeitliches Problem. Verhandlungen zwischen Nationen auf UN-Ebene unterstellen gewöhnlich einen offenen, unbefristeten Zeitplan. Wir wissen zum Beispiel nicht, wann der Staat Israel und die palästinensische Bevölkerung Frieden schließen werden oder ob die Menschen in Kaschmir jemals in einem ungeteilten Land leben werden. Derartige Fragen sind Teil eines offenen, unbefristeten Zeitplans. Gleichermaßen wissen wir nicht, wann es den Menschen gelingt, das Zeitalter einer fairen und gerechten Welt einzuläuten. Der Kampf gegen den Kapitalismus unterstellt, dass für unsere historischen Ungerechtigkeitsfragen Zeit in Hülle und Fülle vorhanden ist. Beim Klimaproblem und in der ganzen Diskussion über die »Gefährlichkeit« des Klimawandels sind wir dagegen mit einem begrenzten Zeitplan und Sofortmaßnahmen konfrontiert. Und doch haben mächtige Weltnationen versucht, das Problem mit einem Apparat zu bewältigen, der für Maßnahmen nach einem unbefristeten Zeitplan gedacht gewesen war. Im Anschluss an den Erfolg des Montreal-Protokolls von 1987 haben die UN den anthropogenen Klimawandel als »globales« – und nicht als planetarisches –, durch den UN-Mechanismus zu lösendes Problem be29handelt. Aus diesem Grund haben die UN 1988 als eine Art »Weltklimarat« den Zwischenstaatlichen Ausschuss für Klimaveränderung (IPCC, Intergovernmental Panel on Climate Change) ins Leben gerufen. Interessanterweise unterstellen die Maßnahmen, die der IPCC – zum Beispiel im Hinblick auf das globale Kohlenstoffbudget – empfiehlt, nun aber einen endlichen, befristeten Zeitplan, der dann zum Gegenstand globaler Verhandlungen wird. Die Zahl »zwei Grad«, die normalerweise als Schwelle zur »Gefährlichkeit« des Klimawandels gilt, stellt zum Beispiel einen politisch ausgehandelten Kompromiss zwischen den zu einem unbefristeten Handlungszeitplan tendierenden UN und dem begrenzten Zeitplan dar, von dem die Wissenschaftler:innen sprechen. Es ist durchaus möglich, dass der planetarische Klimawandel ein Problem ist, für dessen Bewältigung die UN nicht geeignet sind. Gegenwärtig haben wir allerdings keine bessere demokratische Alternative. Klimawandel und Anthropozän sind mithin zutiefst politische Probleme, die unsere überkommenen politischen Institutionen und unsere Fantasie zugleich herausfordern.40

Auch wenn wir uns von Arendts Vorstellungen über das Politische leiten lassen, ist es wichtig, Schmitts Einsicht nicht aus den Augen zu verlieren, dass Menschen zwar zu Rationalität und Kreativität fähig sein mögen, die Menschheit aber nicht als Träger eines einzigen, rationalen Konsenses fungieren könne. »Die politische Welt«, schreibt Schmitt, »ist ein Pluriversum, kein Universum.«41 Man weiß nicht, wo und wie die Geschichte der Menschheit weitergehen wird. In unseren Zeiten ist es außerdem erforderlich, noch einen weiteren Punkt anzusprechen, mit dem weder Schmitt noch Arendt sich je befasst haben. Für ein umfassendes Verständnis des Politischen sind beide hilfreich, aber leider ist dieses Verständnis nicht umfassend genug, weil es sein Augenmerk ausschließlich auf Menschen richtet. Arendts oder Schmitts Schema zufolge können Tiere und andere nichtmensch30liche Wesen nicht Teil des Politischen sein. Die planetarische Umweltkrise fordert uns nun aber dazu auf, unsere Vorstellungen von Politik und Gerechtigkeit auf nichtmenschliche Wesen auszuweiten, und zwar sowohl auf lebendige als auch auf nichtlebendige. Je deutlicher wir dies erkennen, desto stärker realisieren wir, wie unwiderruflich humanozentrisch alle unsere politischen Institutionen und Begriffe sind. Wichtig daran ist, dass Klimawandel und Anthropozän-Hypothese zusammengenommen für den Menschen eine intellektuelle und politische Zwickmühle darstellen und neue Deutungen der Tragweite und der Bedeutungen dessen rechtfertigen, was ich früher einmal »politische Moderne« genannt habe.42 Deshalb ist die Arbeit von Vordenker:innen wie Bruno Latour, Isabelle Stengers, Donna Haraway, Jane Bennett und anderen, die lange über die Frage der Ausweitung des Politischen über die Menschheit hinaus geforscht haben, relevant und wichtig für dieses Projekt. Ich werde zu diesem Problem Stellung beziehen müssen, ohne auf irgendeine Weise behaupten zu können, es gelöst zu haben.

Mittlerweile sollte deutlich geworden sein, dass es für meine Argumentation keine Rolle spielt, ob Geolog:innen das Etikett Anthropozän eines Tages formal als Namen für unsere derzeitige geologische Epoche anerkennen oder nicht. Wie Zalasiewicz und seine Kollegen meinen, kann der »zukünftige Status« des Ausdrucks »als Begriff« »im Allgemeinen als gesichert betrachtet werden, formal gesehen, ist er aber ungewiss.«43 Jeremy Davies, Eva Horn, Hannes Bergthaller und andere haben recht, dass der Hauptnutzen der Diskussion über das Anthropozän für Geisteswissenschaftler:innen darin besteht, das Geobiologische in unser Blickfeld gerückt zu haben. Mir war es ein besonderes Anliegen herauszufinden, was der Rückgriff auf die Erforschung des Klimawandels und die Erdsystemwissenschaft für Geisteswissenschaftler:innen bedeuten könnte, die über die historische Zeit, die wir gerade erleben, nachdenken. Ich sollte jedoch klarstellen, 31dass meine Herangehensweise an die Naturwissenschaft nicht aus den Traditionen heraus erfolgt, die in einigen Zweigen der Wissenschaftsgeschichte entwickelt wurden und häufig, wie Bernard Williams es ausgedrückt hat, von der »bemerkenswerte[n] Annahme« ausgehen, »die Befähigung der Wissenssoziologie zur Aufstellung wahrer Behauptungen über die Naturwissenschaften sei größer als die Befähigung der Naturwissenschaften zur Aufstellung wahrer Behauptungen über die Welt«.44 Meines Erachtens lässt sich nicht bestreiten, dass das Betreiben von Wissenschaft mit Klassen-, Geschlechter- und Rassenpolitik, Wirtschaftssystemen und wissenschaftlichen Institutionen verwoben ist und bleibt. Deshalb sind Bedenken in Bezug auf die Macht und Autorität, die bestimmte Wissenschaftler:innen tatsächlich in bestimmten historischen Kontexten ausüben können, voll und ganz gerechtfertigt. Ich glaube jedoch nicht, dass eine solche Verstrickung die Befunde der naturwissenschaftlichen Fächer noch willkürlicher, falscher oder auch nur politischer macht als die empirischen Behauptungen und Analysen von Kolleg:innen aus der Geschichts- oder Sozialwissenschaft.45 Die Erwärmung der Atmosphäre und die Wetterkapriolen würde es auch ohne die Naturwissenschaften weiterhin geben, aber wir hätten kein intellektuelles Problem namens »planetarischer Klimawandel«, »globale Erwärmung« oder gar Anthropozän. Damit will ich nicht leugnen, dass wir stellenweise in beide Richtungen praktische Übersetzungen zwischen lokalem Wissen, Sitten, Traditionen, Praktiken und einer Wissenschaft von planetarischer Reichweite vornehmen müssen, sondern schlicht und einfach einräumen, dass wir allein durch »das Lokale« die Rolle niemals verstanden hätten, die spärlich oder überhaupt nicht von Menschen bewohnte Erdteile – wie etwa die Regionen des sibirischen Permafrosts oder die Ozeane selbst – für die Prozesse spielen, die über die Abkühlung oder Erwärmung des ganzen Planeten entscheiden.46

32Entstehungsgeschichte und Aufbau dieses Buches

Von meinen eigenen Überlegungen zum planetarischen Klimawandel beunruhigt, aber auch angeregt durch die methodologischen Herausforderungen, vor die das Problem der geologischen Handlungsmacht des Menschen meine üblichen humanistisch-historischen Denkgewohnheiten stellte, habe ich 2009 einen Aufsatz veröffentlicht: »Das Klima der Geschichte: Vier Thesen.« Darin habe ich mich gefragt, was die Menschheit in dem besagten Zeitalter des Anthropozäns ausmacht. Wir sind eine gespaltene Menschheit und gleichzeitig dominanter Partner in einem sozioökonomisch-biologischen Technikkomplex, der auch andere Arten umfasst. Dieser Komplex treibt das Artensterben voran und ist deshalb seinerseits ein Teil der Geschichte des Lebens auf diesem Planeten. Dadurch wird auch er zu einem geologischen Handlungsträger. Durch das Zusammenfallen verschiedenartiger Chronologien – der Gattungsgeschichte und geologischer Zeiten seit Menschengedenken – hat sich die Condition humaine, das heißt die Lage der Menschheit verändert. Diese veränderte Lage bedeutet nicht, dass die miteinander zusammenhängenden, aber verschiedenen Geschichten der Menschen als einer gespaltenen Menschheit, als Spezies und als geologischem Handlungsträger alle zu einer großen Geogeschichte miteinander verschmolzen sind und eine einzige Geschichte über den Planeten und die Geschichte des Lebens auf ihm jetzt die humanistische Geschichtsschreibung ersetzen kann. Als Menschen, habe ich behauptet, ist es uns nicht möglich, diese anderen Weisen des Menschseins, von denen wir auf abstrakter Ebene kognitiv wissen, in unvermittelter Form zu erleben. Menschen in ihrer sich intern ausdifferenzierenden Pluralität, Menschen als Spezies und Menschen als Verursacher des Anthropozäns stellen drei miteinander verbundene, aber analytisch unterscheidbare Kategorien dar. Ihre Archive sind unterschiedlich aufgebaut und um 33sie sich uns als historische Handlungsträger vorzustellen, setzen wir auf unterschiedliche Ausbildungsformen, Forschungsmethoden und -instrumente sowie analytische Strategien. Zudem handelt es sich um ganz unterschiedliche Arten von Handlungsträgern.47

Diese bewusste Vereinigung von Chronologien, die verschiedene Maßstäbe anlegen, löste in mir ein Gefühl aus, das ich häufig mit einem Sturz verglichen habe. Es war, als wäre ich als humanistischer, politisch an Rechts-, Gerechtigkeits- und Demokratie-Fragen interessierter Historiker in die »Tiefenhistorie«, in den Abgrund tiefer geologischer Zeitlichkeit gestürzt. Dieser Sturz in die »Tiefenhistorie« ist mit einem leichten Schock verbunden, wenn man die Andersartigkeit des Planeten und seiner sehr großformatigen räumlichen und zeitlichen Prozesse erkennt, von denen die Menschen unfreiwillig ein Teil geworden sind. Da ich vom indischen Subkontinent stamme, auf dem Diabetes epidemische Ausmaße angenommen hat, erkläre ich diese Erfahrung manchmal, indem ich eine Analogie zu der Art und Weise ziehe, wie bei einem Inder oder einer Inderin die Wahrnehmung der eigenen Vergangenheit plötzlich, von einem Augenblick auf den anderen eine Erweiterung erfährt, wenn bei ihm oder ihr Diabetes diagnostiziert wird. Man geht mit einem (potenziell) historischen Blick auf die eigene Vergangenheit und einer Biografie zum Arzt, die sich in bestimmte soziale und historische Kontexte einordnen lässt und die sich über zwei bis drei Generationen erstreckt. Doch durch die Diagnose eröffnen sich vollständig neue, unpersönliche und weit zurückliegende Vergangenheiten, die man nicht in dem besitzindividualistischen Sinne sein Eigen nennen kann, den der Politologe C. ‌B. Macpherson so brillant beschrieben hat.48 Menschen vom Subkontinent wird höchstwahrscheinlich mitgeteilt, dass sie eine genetische Veranlagung für Diabetes besitzen, weil sie (mittlerweile mindestens einige Jahrtausende lang) zu den Reisesser:innen ge34hören. Wenn sie dann noch Akademiker:innen sind und aus einer Brahmanen-Familie oder oberen Kaste stammen, haben sie mindestens seit ein paar Jahrhunderten einen sesshaften Lebensstil gepflegt, sodass ihnen vielleicht auch erklärt werden würde, dass das Vermögen der menschlichen Muskeln, Zucker zu speichern und freizusetzen, mit der Tatsache zusammenhinge, dass die Menschen den überwiegenden Teil ihrer Geschichte Jäger und Sammler gewesen seien – auf einmal Evolution und Tiefenhistorie!49 Die eigene Erfahrung hat keinen Zugang zu einer dieser längerfristigen Geschichten, aber man wird sich ihrer plötzlich bewusst.

Den vielen zustimmenden Reaktionen, die mein Aufsatz von 2009 erfahren hat, stand freilich auch ein Mahlstrom an Kritik gegenüber. Meine Kritiker:innen behaupteten, mit der Bezugnahme auf den Menschen als »dominanter Spezies« und der Verwendung des schönfärbenden Wortes Anthropozän (statt so etwas wie Kapitalozän) liefe ich Gefahr, den Klimawandel zu »entpolitisieren«, weil so die Aufmerksamkeit von Fragen nach der Verantwortung, der Rolle des Kapitalismus, den Imperien, der Ungleichentwicklung und dem kapitalistischen Akkumulationstrieb abgelenkt werden würde. Sie wiesen zu Recht darauf hin, dass die Reichen in weit größerem Maße für die Klimakrise verantwortlich seien und ihr immer in geringerem Maße zum Opfer fallen würden als die Armen. Auf einzelne Kritikpunkte habe ich an anderer Stelle geantwortet.50 Ohne noch einmal detailliert darauf einzugehen, möchte ich lediglich sagen, dass ich der jüngsten Einschätzung des Literaturwissenschaftlers Gillen D'Arcy Wood zustimme, dass einige Kritikpunkte am eigentlichen Kern der Sache vorbeigeredet haben.51

Es könnte sich allerdings insofern lohnen, über die Tragfähigkeit der Kritik an mir nachzudenken, als sie uns etwas über die jüngere Geschichte der humanwissenschaftlichen Deutungsdisziplinen verrät. Auf dem Gebiet der postkolonialen Geschichts35wissenschaft und Theorie wurde relativ zögerlich auf die Erderwärmungskrise reagiert, obwohl die Naturwissenschaften bereits in den späten 1980er Jahren damit Schlagzeilen machten. Nehmen wir das Jahr 1988, als der damalige Leiter des Goddard Space Flight Centers der NASA, James Hansen, vor dem US-amerikanischen Senat aussagte und dort im Wesentlichen drei Feststellungen traf: »Erstens ist die Erde im Jahr 1988 wärmer als jemals zuvor in der Geschichte ihrer instrumentellen Messung. Zweitens ist die globale Erwärmung inzwischen stark genug, dass wir dem Treibhauseffekt mit einem hohen Grad an Zuverlässigkeit einen Kausalzusammenhang zuschreiben können. Und drittens weisen unsere computergestützten Klimasimulationen darauf hin, dass der Treibhauseffekt bereits so groß ist, dass er sich auf die Wahrscheinlichkeit extremer Wetterlagen wie etwa sommerlicher Hitzewellen [auszuwirken] beginnt.«52 Im selben Jahr wurde der IPCC der Vereinten Nationen ins Leben gerufen.

Man kann sagen, dass postkoloniales Denken und postkoloniale Kritik – als ein Zweig der Geisteswissenschaften, der im späten 20. Jahrhundert großen Einfluss auf kritische Theorie genommen hat – ihre Reise zehn Jahre vor diesen Ereignissen angetreten haben, als nämlich 1978 Edward Saids polemischer Klassiker Orientalismus erschien.53 In den 1980er Jahren und danach haben viele Denkströmungen – Critical Race Theory, feministische Kritik, anti- und postkoloniale Kritik, Cultural Studies, Minority Studies – die Geisteswissenschaften mit vereinten Kräften von dem aristokratischen Sockel gestoßen, in dem Textexegese, Rhetorik, Philologie, Grammatik, Verslehre und so weiter seit Ewigkeiten verankert gewesen waren.54 Als ein Wissenszweig, in dem es einstmals um Persönlichkeitsbildung und um die Begründung des kulturellen Herrschaftsanspruchs von imperialen und anderen Eliten gegangen war, verwandelten sich die Geisteswissenschaften in diesen Jahrzehnten in einen Wissenszweig, der 36das untersuchte und gleichzeitig hervorbrachte, was James Scott einmal mit denkwürdigen Worten als »Waffen der Schwachen« bezeichnet hat.55 Die ab 1982 erscheinende Publikationsreihe Subaltern Studies war in hohem Maße auf diese geisteswissenschaftliche Neuorientierung ausgelegt.56 1988 erschien Gayatri Chakravorty Spivaks berühmter Essay »Can the Subaltern Speak?«.57 Und nur wenige Jahre nach dem Erscheinen dieses Essays kuratierten Homi Bhabha, Stuart Hall, Kobena Mercer und andere 1995 zusammen die erste postkoloniale Ausstellung und Tagung über Frantz Fanon, aus der das Buch The Fact of Blackness hervorging.58 Bhabhas eigene klassische Aufsatzsammlung zu Fragen postkolonialer Kritik und postkolonialen Denkens, Die Verortung der Kultur, erschien 1994.59

Diese neuen Denkrichtungen in den Geisteswissenschaften brachten aufschlussreiche Erkenntnisse hervor, blieben aber, wenn ich das einmal ganz ungeschützt so sagen darf, in Bezug auf die Umwelt blind. Da eine solche Behauptung übertrieben klingen könnte, möchte ich kurz erläutern, was ich meine. Natürlich hatten die Umweltschutzbewegungen in den späten 1960er und in den 1970er Jahren in verschiedenen Teilen der Welt einen rasanten Aufschwung erlebt. In Europa begann der Aufstieg grüner Parteien und Politik. In vielen Fällen führten Umweltschutzbewegungen und ökologisches Denken zu bestimmten Kritikpunkten an den kapitalistischen Wachstumsmodellen (wie man in den Schriften der bekannten indischen Umweltschützerin Vandana Shiva sieht). Die Alarmglocke, die Rachel Carson 1962 in ihrem Buch Der stumme Frühling läutete, mündete – in nicht geringem Maße dank des Bildes von der Erde als »Blauer Murmel«, das amerikanische Astronauten 1972 populär machten – in der Vorstellung, dass die Menschen nur über diese »eine Welt« verfügten – über eine Atmosphäre, eine große Menge Meerwasser, ein kugelförmiges Zuhause –, die sowohl zerbrechlich als auch endlich und den Verwüstungen des Rohstoff-Kapitalismus und 37der postindustriellen Lebensform schutzlos ausgeliefert war. Eine der bekanntesten Äußerungsformen dieser Auffassung von der »Endlichkeit der Erde« war der von Donella und Dennis Meadows und ihren Kolleg:innen verfasste Bericht Die Grenzen des Wachstums von 1972, der auch unter dem Namen »Bericht des Club of Rome« bekannt ist.60

Doch dieses »Eine-Welt-Denken« verfing nicht recht in den geisteswissenschaftlichen Traditionen, aus denen die postkoloniale Kritik stammte. In den Geisteswissenschaften (zu denen ich auch die deutenden Zweige der Geschichtswissenschaft und der Anthropologie zähle) waren im Wesentlichen keine »Lumper«, sondern »Splitter« der menschlichen Geschichte vertreten, das heißt Gelehrte, nach deren Einschätzung alle Behauptungen eines »Einsseins« der Welt insofern radikal hinterfragt werden mussten, als sie sich gegenüber all dem zu bewähren hatten, was die Menschen realiter spaltete oder entzweite und die Grundlage für verschiedene Unterdrückungsregime bildete: Kolonialherrschaft, Rasse, Klasse, Geschlecht, Sexualität, Ideologien, Interessen und so weiter. Argumentationslinien, die versuchten, die Verschiedenartigkeit der menschlichen Welten auf das Einssein einer endlichen »Erde« herunterzubrechen, standen sie skeptisch gegenüber. Ein solch vereinheitlichender Schritt galt als ideologisch suspekt und schien immer den Interessen der Macht zu gehorchen. Diese Gelehrten glaubten, der Weg, der eines Tages die Emanzipation aller Menschen erlauben werde, ließe sich nur finden, wenn man zuerst die Konflikte und Ungerechtigkeiten angehe und durcharbeite, die solche Entzweiungen nach sich zögen. Dass sich ein solcher Gegensatz zwischen Lumpers/Verfechter:innen des Eine-Welt-Denkens und Splitters/Vertreter:innen des Postkolonialismus durch die berechtigten Forderungen zieht, die heute im Namen der Umwelt- oder Klimagerechtigkeit erhoben werden, ist tatsächlich unübersehbar.61 Der Spaltungsreflex sitzt mittlerweile tief und ist durchaus verständlich: 38Schließlich sind Geisteswissenschaftler:innen seit mehr als fünf Jahrzehnten – mit guten Gründen – darin ausgebildet worden, alle Totalitäts- und Universalitätsansprüche mit extremem Argwohn zu betrachten. Ich bin selbst ein Kind dieser Tradition gewesen.

In Anbetracht dieser Spannung zwischen »Splitters« und »Lumpers«, der auch mein eigenes Denken unterworfen war, habe ich die letzten zehn Jahre mit dem Versuch zugebracht, mir einen Weg durch die Implikationen der vier Thesen – und durch die Kontroversen, die sie hervorgerufen haben – zu bahnen, die ich in dem gleichnamigen Aufsatz aufgestellt hatte. Deshalb bleibt der viel diskutierte und kritisierte Aufsatz »Das Klima der Geschichte: Vier Thesen« in überarbeiteter Form und unter dem neuen Namen »Vier Thesen« gleichwohl der unausweichliche Ausgangspunkt dieses Projekts und bietet er sich als erstes Kapitel dieses Buches an. Ich habe dieses Kapitel um einen kurzen Anhang erweitert, um meine Verwendungsweise von Wörtern und Ausdrücken wie Spezies und »negative Universalgeschichte« zu verdeutlichen, an denen einige Leser:innen des ursprünglichen, diesem Kapitel zugrunde liegenden Aufsatzes sich gestört hatten.

In methodischer Hinsicht entfaltet dieses Buch seine Argumentation, indem es die Leser:innen auf den Weg mitnimmt, den ich selbst bei seiner Ausarbeitung und Fertigstellung eingeschlagen habe. Ein Schlüsselmoment auf dieser Entdeckungsreise war für mich das Stolpern über die Erkenntnis, dass der Begriff Globus im Wort Globalisierung nicht deckungsgleich mit dem Begriff Globus in dem Ausdruck globale Erwärmung ist. Dasselbe Wort hat zwei verschiedene Referenten. Diesen Gedanken habe ich nach und nach zu einer Unterscheidung von Globus und Planet weiterentwickelt. Keine binäre Gegenüberstellung, das sei ausdrücklich unterstrichen, sondern zwei verwandte, analytisch unterschiedliche Begriffe. Je weiter ich mich in die Erdsystem39wissenschaft einlas und je gründlicher ich über den Vorwurf nachdachte, dass meine vier Thesen den Kapitalismus ungeschoren davonkommen lassen würden, desto wichtiger erschien mir diese Unterscheidung. Darum geht es im gesamten ersten Teil des Buches. Mein zweites Kapitel über »Miteinander verbundene Geschichten«, in dem ich erste Überlegungen anstelle, warum die nur wenige Jahrhunderte währende Geschichte des Kapitalismus uns keinen hinreichenden denkerischen Zugriff auf die durch den anthropogenen Klimawandel aufgeworfenen Probleme der menschlichen Geschichte verschafft hat, baut die Unterscheidung von Globus und Planet weiter aus. Und in Kapitel 3, »Der Planet als humanistische Kategorie«, wird die Unterscheidung dann voll ausgearbeitet. Denkerisch stellt dieses Kapitel den Dreh- und Angelpunkt der Argumentation dieses Buches dar. Mit Hilfe der Kategorie »Planet« konnte ich erkennen – und schließlich auch aussprechen –, dass wir uns in Überlegungen über unsere eigene Zeit aus zwei Perspektiven gleichzeitig betrachten müssen: aus planetarischer und aus globaler Perspektive. Das Globale ist eine humanozentrische Konstruktion; der Planet dezentriert den Menschen.

Der zweite Teil des Buches, der den Titel »Die Schwierigkeit, modern zu sein« trägt, besteht aus drei Kapiteln, die auf unterschiedliche Weise der Frage nachgehen, warum moderne Freiheitsvorstellungen – unabhängig davon, ob man dabei an Einzelpersonen, Nationen oder die Menschheit im Allgemeinen denkt – ihre Anziehungskraft auch dann noch behalten, wenn viele der ihnen zugrunde liegenden Unterstellungen zu Recht durch eine Reihe von Moderne- und Modernisierungskritiker:innen in Frage gestellt worden sind. Im ersten dieser drei Kapitel (Kap. 4), »Die Schwierigkeit, modern zu sein«, analysiere ich den engen Zusammenhang zwischen den Freiheitsvorstellungen in postkolonialen Nationen und dem gestiegenen Energiebedarf, der historisch in der Hauptsache durch fossile Brennstoffe und 40viele verschiedene Projekte zur »Naturbeherrschung« (wie dem Aufstauen von Flüssen) befriedigt wurde. Das zweite Kapitel (Kap. 5), »Planetarische Bestrebungen – Deutung eines Selbstmords in Indien«, nimmt eine Deutung der Vorstellungen von Humanität und Freiheit vor, die ein als »unberührbar« geltender junger Mann, der sich 2016 das Leben nahm, in seinem Abschiedsbrief hinterließ. In dem Kapitel wird die Geschichte des Stigmas und des Ekels, die den »Körper eines Unberührbaren« in den Augen der oberen Kasten umgeben, als Hinweis darauf interpretiert, dass das Bild des menschlichen Körpers in den vorherrschenden Konzeptionen des Politischen bestimmte Grenzen aufweist. Das letzte Kapitel dieses Teils (Kap. 6), das Kants Aufsatz über den »Mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte« von 1786 interpretiert, stellt im Grunde genommen eine dem Anthropozän verpflichtete Kritik dar, die versucht zu zeigen, inwiefern die für die Moderne grundlegende Unterscheidung zwischen menschlicher Moralität und Animalität, die der große Philosoph vorgenommen hat, durch die gegenwärtige Krise der Biosphäre hinfällig geworden ist.

Den letzten Teil des Buches habe ich unter anderem als Hommage an das gleichnamige Buch des Politologen William Connolly »Sich dem Planetarischen stellen« genannt. Er beginnt mit einem Kapitel, das den Titel »Die Zeit des Anthropozäns« trägt – Kapitel 7 – und in dem ich versuche, das zu erläutern, was der Geologe Jan Zalasiewicz als planetenzentrierte Denkweise bezeichnet, um diese von einem Denken zu unterscheiden, das ausschließlich menschliche Belange in den Mittelpunkt gestellt hat. In einem Kapitel mit dem Titel »Auf eine anthropologische Lichtung zu« (Kap. 8) fahre ich dann fort, einige der Implikationen weiterzuentwickeln, die unsere neue Offenheit für das Planetarische und Geologische für unser Verständnis der heutigen Condition humaine hat. Ich betrachte die gegenwärtige Krise als Gelegenheit, auf Karl Jaspers' Gedanken eines »epocha41len Bewusstseins« hinzuarbeiten, also auf eine Form der Argumentation, die versucht, der Condition humaine gedanklichen und begrifflichen Raum zu verschaffen, bevor man sich auf eine spezielle Variante von politischer Praxis oder politischem Kampf festlegt. Dass der Planet – als eine Kategorie, die im ersten Teil erklärt wurde – im Alltagsleben in das Blickfeld der Menschen gerät, führt uns zu der Frage, ob die Wechselbeziehung zwischen Menschen und Erde/Welt, die viele Denker:innen des 20. Jahrhunderts aus der Tradition übernommen, vorausgesetzt und zelebriert haben, heute noch haltbar ist. Wie kann es uns angesichts der momentanen ökologischen Krise gelingen, uns auf den Entwurf eines neuen Gemeinguts im Sinne einer »Allmende« zuzubewegen, auf so etwas wie eine neue Anthropologie, die sich auf die Suche nach einer Neubestimmung der menschlichen Beziehung zum Nichtmenschlichen, einschließlich des Planeten macht? An dieser Stelle endet dieses Buch, wie ich hoffe, mit Ansätzen zu einer Schlussfolgerung, die historisch bisher nicht erreicht wurde.

Als Postskriptum kommt noch ein Gespräch mit Bruno Latour hinzu, in dem viele der in diesem Buch angesprochenen Punkte erörtert werden.

Wie aus der obenstehenden Beschreibung des Buches ersichtlich wird, zielt meine Darstellung der menschlichen Welten und ihrer Beziehung zu dem Planeten, auf dem die Menschen wohnen, nicht darauf ab, in irgendeinem unmittelbaren und praktischen Sinne zu möglichen Lösungen der mit dem Klima zusammenhängenden Konflikte auf der Welt beizutragen. Diese Konflikte könnten sich, wie gesagt, durch die planetarische Umweltkrise und die verschiedenen Spannungen im Zusammenhang mit Grenzen, Wasser, Nahrung und Unterbringung, die durch die Krise hervorgerufen werden, sogar noch verschärfen. Ich hoffe, dass die Geschichten, die unsere Tiefenhistorie und überlieferte Geschichtsschreibung zusammenbringen, für die Entwick42lung neuer Perspektiven hilfreich sind, aus denen diese Konflikte sich betrachten lassen, und so indirekt zu deren Linderung beitragen. Je gründlicher wir erkennen, dass trotz all unserer Entzweiungen und Ungleichheiten das Überleben der Zivilisation, wie wir sie kennen, auf dem Spiel steht, desto eher werden wir hoffentlich die Unzulänglichkeit unserer zwangsläufig voreingenommenen Herangehensweisen an das erkennen, was man mit einem Seitenblick auf Arendt die heutige Condition humaine nennen kann.