Das Kloster der Ketzer - Rainer M. Schröder - E-Book

Das Kloster der Ketzer E-Book

Rainer M. Schröder

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Beschreibung

Mord hinter Klostermauern

Sebastian ist auf der Flucht vor den Häschern des Domherrn zu Passau. Warum genau, weiß er selbst nicht. Nur dass im Wittenbergischen ein Fremder auf ihn wartet, der Licht ins Dunkel seiner Vergangenheit bringen wird. Das – und eine alte Reisebibel – hat ihm seine Ziehmutter vor der überstürzten Abreise mit auf den Weg geben können.
Sebastian findet Unterschlupf in einem Zisterzienserkloster. Als die Reisebibel gestohlen wird und er hilflos mit ansehen muss, wie zwei Mönche ums Leben kommen, begreift er, dass in der Auseinandersetzung um den richtigen Glauben christliche Gebote nichts gelten. Nur knapp entgeht auch er einem Mordanschlag, aber dann enthüllt ein Klosterbruder Sebastians wahre Identität. Jetzt werden Sebastian die Hintergründe klar, und er erkennt, wem er nun zu helfen hat. Und wessen Hilfe er vertrauen kann …


cbj-Leserstimmen:

Die Geschichte besteht aus genau der richtigen Mischung von Abenteuer, Liebe und Dokumentation. Also, kurz und knackig: Alles in einem, und die Mischung stimmt! Quadratisch, praktisch, gut!
Janina, 15

Wieder ein brillantes Werk von Herrn Schröder!!! Besser kann man eine Geschichte rund um die Reformation nicht erzählen, wenn man den Roman einerseits spannend machen möchte aber dem Leser gleichzeitig etwas über diese Zeit vermitteln will. Er schafft es wieder einmal mit sehr gut recherchiertem Hintergrundwissen die Geschichte so aufzupeppen, das man denkt, das alles sei wirklich so passiert. Durch seinen Schreibstil schafft es der Autor, dass man sich wirklich so fühlt, als würde man neben Sebastian stehen.
Florian, 15

Als erstes hab ich natürlich gedacht: ein Buch das um das Christentum in Martin Luthers Zeiten spielt; kann das spannend sein? Andauernd ist Gott im Spiel, auf jeder Seite wird seine Macht gepriesen... wenn man nicht religiös ist, nervt einen das nicht? Nach ein paar Seiten ließ ich meine Zweifel hinter mir. Denn egal, ob religiös oder nicht: die Schreibweise ist super, die Geschichte spannend und die Hauptfiguren wieder mal perfekt ausgewählt. Ein junger, mutiger Mann, der um sein Leben kämpft, und um seine Existenz. Dann der Junge "Lukas", der sich als Mädchen herausstellt; was natürlich total unerwartet ist und auch perfekt, denn eine Liebesgeschichte darf in so einem Buch nicht fehlen.
Jasmine, 19

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EPUB
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Seitenzahl: 515

Veröffentlichungsjahr: 2009

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Inhaltsverzeichnis
 
Inschrift
Widmung
 
ERSTER TEIL – Auf der Flucht
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
 
ZWEITER TEIL – Das Kloster der Ketzer JUNI 1527
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
 
DRITTER TEIL – Die uneinnehmbare Festung JULI 1527
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
 
Nachwort
Zeittafel
Martin Luthers 95 Thesen
Tagesablauf und Horen
Quellenverzeichnis
Copyright
Rainer M. Schröder, 1951 in Rostock geboren, hat vieles studiert und ausprobiert, bevor er sich für ein Leben als freier Autor entschied. Seit Jahren begeistert er seine Leser mit seinen exakt recherchierten und spannend erzählten historischen Abenteuerromanen. Seine Bücher wurden in zehn Sprachen übersetzt und erreichten allein in Deutschland eine Auflage von über 5 Millionen. Nachdem Rainer M. Schröder lange Zeit ein wahres Nomadenleben mit zahlreichen Abenteuerreisen in alle Erdteile führte, lebt er heute mit seiner Frau in den USA.
 
Von Rainer M. Schröder ist bei cbj und cbt erschienen:
Abby Lynn – Verbannt ans Ende der Welt (30098)
Abby Lynn – Verschollen in der Wildnis (30099)
Abby Lynn – Verraten und Verfolgt (30224)
Abby Lynn – Verborgen im Niemandsland (12646)
Die lange Reise des Jakob Stern (12645)
Becky Brown – Versprich, nach mir zu suchen! (30391)
Der geheime Auftrag des Jona von Judäa (30427)
Im Zeichen des Falken (30033)
Auf der Spur des Falken (30034)
Im Banne des Falken (30035)
Im Tal des Falken (30036)
Dschingis Khan – König der Steppe (30037)
Goldrausch in Kalifornien (30038)
Kommissar Klicker (zehn Bände 20665, 20666, 20667, 20668, 20669, 20670, 20677, 20678, 20679, 20680)
Sir Francis Drake – Pirat der sieben Meere (20126)
cbt – C. Bertelsmann Taschenbuch Der Taschenbuchverlag für Jugendliche Verlagsgruppe Random House
»Wo unsere Vorgänger von einem neuen Himmel träumten, ist unsere größte Hoffnung, dass es uns vergönnt sein möge, die alte Erde zu retten.«
DAG HAMMARSKJÖLD
 
 
 
»Ich glaube an die fundamentale Wahrheitaller großen Religionen der Welt.Ich glaube, dass sie alle gottgegeben sind.Und ich glaube, dass jede von ihnen notwendig warfür das Volk, in dem sie offenbart wurde.«
MAHATMA GANDHI
Für Helga in Liebe
ERSTER TEIL
Auf der Flucht
APRIL 1527
1
Der Hufschlag von mindestens einem halben Dutzend Pferden und das Rattern von eisenbeschlagenen Wagenrädern drangen vom Ende der lang gezogenen Allee zum Landgut Erlenhof herauf. Was als schwaches, dumpfes Trommeln in der Ferne jenseits der nebelverhangenen Hügel begann, schwoll innerhalb weniger Augenblicke zu einem immer lauter werdenden Galopp der Bedrohung an.
Elmar Gramisch, der stämmige und an den Schläfen allmählich schon grau werdende Verwalter des bescheidenen Gutes im oberen Ilztal, war mit einem Satz am Fenster des Krankenzimmers seiner Herrin. Angestrengt starrte er in die neblig feuchte Abenddämmerung hinaus und versuchte zu erkennen, wer sich da dem Gutshof in fliegendem Galopp näherte – und in welcher Mannesstärke. Der rasende Hufschlag so vieler Pferde signalisierte Gefahr. Dennoch hoffte er wider alle Vernunft, dass sich in den nächsten Augenblicken nicht als wahr herausstellte, was das anonyme Warnschreiben an drohendem Unheil angekündigt hatte.
Ein Bote aus Passau hatte den Brief mit der alarmierenden Nachricht erst vor wenigen Minuten auf Erlenhof abgegeben. Wem Gisa von Berbeck, die todsieche Herrin des Landgutes, die Warnung verdankte, ließ sich nicht feststellen. Ihr Verfasser hatte sich weder im Text noch am Ende der sichtlich hastig niedergeschriebenen Zeilen zu erkennen gegeben. Auch hatte sich im rotbraunen Lack, mit dem das Schreiben verschlossen gewesen war, kein Abdruck einer Petschaft, eines Siegelrings gefunden. Und der unscheinbare jugendliche Bote, der zweifellos zum einfachen Passauer Stadtvolk gehörte, hatte ebenso wenig zu sagen gewusst, von wem genau das Schreiben stammte. Er war für seine Dienste gut bezahlt worden und hatte nicht lange gefragt, wer seinen Meister damit beauftragt hatte, ihn den Brief so schnell wie möglich nach Erlenhof im oberen Ilztal bringen zu lassen.
»Wer ist es? … Was seht Ihr, Elmar? … Müssen wir wirklich mit dem Schlimmsten rechnen?« Die kraftlose Stimme der Gutsherrin Gisa von Berbeck zitterte vor Anspannung.
»Ja, ich fürchte, das müssen wir! … Und da sind sie schon!«, rief Elmar Gramisch bestürzt, als die länger werdenden Schatten zwischen den alten, knorrigen Bäumen im nächsten Moment den Blick auf eine Gruppe Reiter und eine Kutsche freigaben, die von einem Vierergespann fast schneeweißer Schimmel gezogen wurde. »Das muss die Kutsche des Domherrn sein! Und er hat sieben … nein, acht bewaffnete Dienstmänner in seinem Gefolge!«
»Barmherzige Muttergottes! Es stimmt also, was hier in dem Brief geschrieben steht! Tassilo schreckt offenbar wirklich nicht davor zurück, sich jetzt auch noch an dem Jungen zu vergreifen! Schnell, den Brief! Werft ihn ins Feuer! Wer immer ihn geschrieben hat, seine Warnung darf hier nicht gefunden werden!«
Elmar Gramisch fuhr vom Fenster herum und trat schnell wieder zu seiner Herrin, die seit Monaten an das Krankenbett gefesselt war. Der unabwendbar nahende Tod stand ihr ins Gesicht geschrieben, das unter einer bestickten Haube hervorlugte. Die Haut, die sich über den Knochen spannte, schien zum Zerreißen dünn und fast durchsichtig zu sein. Es schmerzte ihn jeden Tag aufs Neue, sie so hinfällig und kraftlos zu sehen, kannte er sie bis zum Ausbruch der verzehrenden Krankheit doch jahrzehntelang nur als eine bewunderungswürdige Person von großer Güte, außerordentlicher Tatkraft, heiterer Bodenständigkeit und bezaubernder Anmut. Ihr körperlicher Verfall vermochte seiner Verehrung und unerschütterlichen Treue jedoch nicht das Geringste anzuhaben.
»Gottes Fluch über Tassilo, dass er nicht einmal vor der Ungeheuerlichkeit zurückschreckt, Sebastian zu verschleppen und ihn für seine Machtspiele missbrauchen zu wollen!«, zischte Gisa von Berbeck und ballte die knochige Hand zu einer Geste ohnmächtigen Zorns.
»Das dürfen wir nicht zulassen!«, rief Elmar Gramisch, während er ihr die anonyme Warnung abnahm, das Blatt zusammenknüllte und ins Kaminfeuer warf. »Ich werde Sebastian dem Domherrn jedenfalls nicht ausliefern!«
Gisa von Berbeck hatte sich in dem hohen Bett unter dem brokatverzierten Baldachin mit großer Kraftanstrengung zwischen all den Kissen in eine halb aufrechte Stellung gebracht. »Dann kann ich auf Eure Hilfe bauen?« Ein Hoffnungsschimmer leuchtete in ihren fiebrigen Augen auf, während von unten aus dem Hof eine herrische Stimme zu hören war, die barsche, knappe Befehle erteilte.
»Müsst Ihr das noch fragen? Wisst Ihr denn nicht, wie sehr auch ich an dem Jungen hänge?«, fragte der Verwalter leise zurück, während die Flammen im Kamin aufloderten und den Brief verzehrten.
Ein schwaches Lächeln huschte über ihr ausgemergeltes Gesicht. »Verzeiht, Elmar«, sagte sie hastig. »Ich suchte nur eine Bestätigung dessen, was ich schon wusste. Aber wenn für den Jungen noch eine Chance bestehen soll, müssen wir jetzt schnell handeln!«
»Redet Ihr von mir, Mutter?«
Elmar Gramisch und Gisa von Berbeck wandten den Kopf und sahen zu der halb offen stehenden, doppelflügeligen Kassettentür. Dort stand Sebastian, er hatte einen bauchigen Weidenkorb geschultert, der bis obenhin mit Holzscheiten beladen war.
»Ja, das tun wir«, sagte Gisa von Berbeck. »Stell den Korb ab und komm zu mir. Wir müssen jetzt rasch Abschied voneinander nehmen. Die Zeit drängt!«
Elmar Gramisch nickte nachdrücklich. »Ja, redet mit dem Jungen! Ich hole inzwischen rasch meinen Waffengurt!«, rief er und eilte aus dem Zimmer. Dabei rief er nach Ansgar Brake, seinem Neffen und seiner rechten Hand bei der Verwaltung des Gutes.
Bestürzung zeigte sich auf dem markanten, gut geschnittenen Gesicht von Sebastian, der von kräftiger, mittelgroßer Gestalt war und älter als seine sechzehn Jahre wirkte. Fahrig wischte er sich eine Strähne seines blonden, widerspenstig kraus gelockten Haares aus der Stirn, während er den Korb abstellte und dann schnell zu ihr ans Bett eilte.
»Abschied? Wovon redet Ihr, Mutter?«, fragte er und ergriff ihre Hand, deren Kälte ihn schaudern ließ. »Und was will Elmar mit dem Waffengurt? Ist …«
»Jetzt keine Fragen, mein Junge! Für lange Erklärungen fehlt uns die Zeit!«, fiel sie ihm ins Wort. »Auch habe ich nicht die Kraft dazu. Also hör gut zu, was ich sage! Tassilo von Wittgenstein, der mit seinen bewaffneten Männern gerade unten im Hof eingetroffen ist, hat es auf dich abgesehen. Er ist ein einflussreicher Domherr aus Passau, der Scholasticus1 der Domschule und ein Mann, der keine Skrupel kennt.«
»Ein Domherr aus Passau hat es auf mich abgesehen? Die Männer sind wegen mir gekommen?« Sebastian schüttelte den Kopf. »Mutter, das kann unmöglich sein! Ihr müsst Euch irren! Ich kenne keinen Tassilo von Wittgenstein! Ich kenne überhaupt keinen dieser mächtigen Herrn des Domkapitels2! Und ich wüsste auch nicht, was ich mit diesen Leuten zu tun hätte. Es muss das böse Fieber sein, das Euch …«
»Ich wünschte, es wäre so«, fiel sie ihm erneut und mit beschwörender Eindringlichkeit ins Wort. »Aber leider ist das, was dir von Tassilo droht, keine Ausgeburt meiner Fieberträume, sondern Wirklichkeit. Du musst mir glauben! Das Schreiben, das der Bote vorhin gebracht hat, sollte mich vor Tassilos hinterhältigem Vorhaben warnen. Gebe Gott, dass die Warnung uns nicht zu spät erreicht hat. Elmar wird dich in Sicherheit bringen, und wenn es jetzt noch jemand schaffen kann, dann er. Er wird dir später alles erklären, mein Junge. Bei ihm bist du in guten Händen!«
»Und ich werde ihn begleiten!«, rief da Ansgar Brake von der Tür her, bevor Sebastian noch Gelegenheit zu einer Erwiderung erhielt. Der hagere Hofknecht hielt einen Waffengurt mit einem Degen in seinen Händen, während Elmar Gramisch hinter ihm gleich zwei Klingen mitbrachte, sollte sich doch auch Sebastian notfalls seiner Haut erwehren können.
»Diese Gefahr willst du wirklich auf dich nehmen?«, sagte Gisa von Berbeck sichtlich berührt.
Ansgar Brake nickte nachdrücklich. »Wenn Ihr und der selige Herr von Berbeck damals nicht gewesen wäret und Ihr Euch nicht für mich bei Graf Molitor eingesetzt hättet, als mich der Hunger zur Wilderei in seinem Wald verleitet hat, dann wäre ich sogar bei einem gnädigen Urteil schon längst in einem stinkenden Kerker zu Grunde gegangen. Jetzt kann ich meinen Dank für Eure Güte erweisen! Aber es wird knapp werden! Die Männer des Domherrn sind auf seinen Befehl hin ausgeschwärmt. Je zwei von ihnen haben schon vor dem Portal sowie auf der Rückfront vor dem Hinterausgang Posten bezogen! Und die anderen werden mit dem Domherrn jeden Moment hier oben sein!«
Elmar Gramisch schloss hastig die schwere Kassettentür aus dicken Eichenbohlen hinter sich und schob den breiten Eisenriegel vor. »So schnell werden sie diese Tür nicht aufbrechen«, sagte er grimmig. »Und die kostbaren Minuten bis dahin werden wir zu nutzen wissen!«
Verstört blickte Sebastian von einem zum andern. »Ja, aber … auch wenn es stimmt, was Ihr sagt, Mutter, wie soll uns denn die Flucht gelingen? Ohne Pferde haben wir doch nicht den Schimmer einer Chance, diesem Tassilo und seinen Männern zu entkommen!«
Elmar Gramisch warf ihm ein Lächeln zu, das ihm wohl Mut machen sollte, jedoch reichlich gezwungen ausfiel. »Ja, Pferde brauchen wir – und wir werden sie uns holen! Ich habe auch schon eine Idee, wie wir ihnen ein Schnippchen schlagen können. Wir klettern nämlich hinten von einer der Dienstbotenkammern auf das rückwärtige Dach. Von dort kommen wir ohne große Schwierigkeiten hinüber auf das Dach des Wirtschaftstraktes und zur Dachluke des Heubodens, durch die wir hinunter in den Stall gelangen können. Wir haben glücklicherweise die einbrechende Dunkelheit auf unserer Seite. Bevor die Schergen des Domherrn hier die Tür aufgebrochen haben und merken, dass wir gar nicht mehr bei Euch sind, haben wir auch schon drei Pferde gesattelt und jagen aus dem Hof! Ich weiß, es ist riskant und bedarf eines Quäntchens Glück, um zu gelingen, aber wir müssen es wagen! Eine andere Möglichkeit haben wir nicht!«
Ansgar Brake nickte. »Und jetzt nichts wie weg! Da kommen sie schon!«
Stiefel polterten die Treppe zu ihnen ins Obergeschoss hoch. Und im nächsten Moment rüttelte jemand vergeblich am Türknauf, sogleich gefolgt von einer Faust, die grob gegen die Eichenbohlen hämmerte.
»Aufmachen!«, brüllte jemand herrisch. »Im Namen des hochwohlgeborenen Domherrn Tassilo von Wittgenstein! Öffnet augenblicklich die Tür! Wer sich dem Befehl widersetzt, wird es bitter bereuen und als Ketzerfreund zur Rechenschaft gezogen!«
»Was redet der da von Ketzern?«, flüsterte Sebastian erschrocken, der bei den Faustschlägen von der Bettkante aufgesprungen war.
Elmar Gramisch ignorierte die Frage. »Lass sie hören, dass du hier bei uns im Zimmer bist, Sebastian!«, raunte er ihm zu. »Nun mach schon! Es ist wichtig, dass er weiß, dass du hier im Zimmer bist, damit er seine Männer nicht ausschickt, um anderswo auf dem Hof nach dir zu suchen!«
Sebastian schluckte, um den Kloß hinunterzuwürgen, der ihm in der Kehle saß. Dann rief er laut zurück: »Was wollt ihr von uns? Wir haben nichts mit euch zu schaffen! Und meine Mutter ist schwer krank! Verschwindet gefälligst vom Erlenhof!«
»Und wer sich mit Gewalt Zugang zu diesem Zimmer zu verschaffen sucht, wird unsere Klingen zu spüren bekommen!«, fügte nun Ansgar drohend hinzu.
Höhnisches Gelächter antwortete ihm von der anderen Seite. Und dann befahl eine harsche Stimme, bei der es sich nur um die des Domherrn handeln konnte: »Genug palavert! Brecht die Tür auf! … Na los, an die Arbeit, Jodok! … Holt irgendetwas, was ihr als Rammbock benützen könnt! … Einen Tisch oder die schwere Truhe da drüben! … Und wer von den Kerlen mit der blanken Klinge Widerstand leistet, der wird ohne Erbarmen niedergemacht! Man muss die ketzerische Brut ausrotten, bevor ihr noch mehr Giftzähne gewachsen sind! … Aber den jungen von Berbeck will ich lebend!«
»Verschwinden wir!«, raunte Elmar und wollte schon zur Tür hinüber, durch die man über einen schmalen Gang und eine kurze, steile Stiege zu den rückwärtigen Kammern der Dienstboten gelangte.
»Wartet!«, flüsterte Gisa von Berbeck erschrocken. »Ihr müsst unbedingt das Buch mitnehmen! Allmächtiger, fast hätte ich das in der Aufregung vergessen!«
Verwirrt sah Elmar Gramisch sie an. »Was für ein Buch?«
»Eine Reisebibel mit gehämmerten Kupferdeckeln und zwei soliden Schlössern. Sie liegt dort in der Truhe neben dem Kamin, eingewickelt in einer alten ledernen Umhängetasche. Fragt nicht lange, sondern tut, was ich gesagt habe!«, teilte sie ihm hastig mit, während von der anderen Seite der Tür wieder wütende, drohende Stimmen zu ihnen drangen, die Einlass verlangten. »In der Ledertasche findet Ihr auch eine gut gefüllte Geldbörse.«
»Sei beruhigt, ich habe meinen Geldbeutel dabei, Mutter«, sagte Sebastian, der noch nicht recht begriffen hatte, dass es für absehbare Zeit keine Rückkehr nach Erlenhof gab – eine erfolgreiche Flucht vorausgesetzt.
Sie bedachte ihn mit einem nachsichtigen Lächeln. »Ihr werdet viel mehr als eine Hand voll Münzen für das brauchen, was vor euch liegt.« Ihr Blick ging zu ihrem Verwalter hinüber. »Bringt meinen Sohn nach Wittenberg, Elmar! In Wittenberg ist er vor Tassilo sicher! Fragt dort nach dem Druckherrn Leonius Seeböck. Sagt, dass Gisa von Berbeck Euch schickt. Alles Weitere werdet Ihr dort erfahren. Habt nur Vertrauen! Und du, Sebastian, gib auf die Heilige Schrift gut Acht, hörst du? Gib das Buch nie aus der Hand und hüte es wie deinen eigenen Augapfel! Lass dich nicht davon täuschen, dass die Deckel übel verkratzt sind und das Buch auch sonst nicht sonderlich wertvoll aussieht. Eines Tages, so Gott will, wird dir diese Reisebibel kostbarer sein, als du jetzt ahnen kannst!«
Sebastian fühlte sich wie benommen. Nichts, was seine Mutter sagte und von ihnen verlangte, machte auch nur im Entferntesten Sinn. »Was sollen wir in Wittenberg, der Hochburg der Ketzer, wo dieser Martin Luther mit seinen Schriften und Predigen gegen den Papst und den wahren Glauben zu Felde zieht?«, stieß er hervor, während Elmar Gramisch sich schon über die Truhe beugte und die abgewetzte, alte Ledertasche mit der Bibel und einem prall gefüllten Geldbeutel an sich nahm. »Und was habt Ihr mit diesem Druckherrn namens Leonius Seeböck zu schaffen?«
»Vertrau mir, mein Junge!«, hauchte sie. »Und jetzt gib mir zum Abschied einen Kuss. Ihr müsst los!«
Alles in Sebastian sträubte sich dagegen, seine sterbenskranke Mutter allein auf Erlenhof zurückzulassen und mit Elmar und Ansgar sein Heil in der Flucht zu suchen – ohne zu wissen, wovor er eigentlich flüchtete. »Mutter, ich kann Euch unmöglich …«
»Sei still und tu endlich, was ich gesagt habe!«, fuhr sie ihm heftig ins Wort, während Tränen ihre Augen füllten. »Ich flehe dich an, gehorche jetzt und geh! Und sorge dich nicht um mich, mein Junge. Mir kann Tassilo nichts mehr anhaben, meine Erdentage sind gezählt. Sieh mich nicht so verzweifelt an, Sebastian. Schon bei unserer Geburt liegt der Schatten der Vergänglichkeit über unserem Leben. Aber die Auferstehung Jesu gibt uns Hoffnung auf Unsterblichkeit. Das soll dich trösten und dir die nötige Kraft geben, die du nun brauchst! Und nun geh!« Sie stieß ihn mit einer Kraft von sich, die Sebastian nicht mehr in ihr vermutet hätte.
Im selben Augenblick krachte etwas Schweres gegen die Tür und ließ sie erzittern. Die Schergen des Domherrn hatten damit begonnen, mit Hilfe irgendeines primitiven Rammbocks die Tür aufzubrechen! Die Flügel ächzten im Rahmen, hielten dem Ansturm jedoch stand – noch. Aber allzu lange würden sie dieser rohen Gewalt nicht widerstehen können.
Elmar Gramisch fasste Sebastian an der Schulter und schob ihn vom Bett weg. »Um Himmels willen, genug geredet! Wir müssen los, so bitter es auch sein mag, so von ihr zu gehen, Sebastian!«, ermahnte er ihn. »Aber wenn wir uns jetzt nicht sputen, sind wir alle verloren!«
Ansgar Brake wartete schon in der schmalen Hintertür auf sie. »Ja, jetzt geht es auch um unseren Kopf!«
»Rettet meinen Jungen, Elmar!«, rief Gisa von Berbeck den beiden älteren Männern leise nach, als sie schon fast durch die Tür waren. »Wenn er dem Domherrn in die Hände fällt, ist auch sein Vater verloren!«
Sebastian erstarrte und fuhr zu ihr herum. »Was sagt Ihr da? Aber Vater ist doch schon vor sechs Jahren gestorben! Wie kann er da heute in Gefahr sein?«, hielt er ihr vor, plötzlich von einer dunklen Ahnung erfüllt. »Es sei denn … Nein, das ist unmöglich! Ich war doch dabei, als ihn der Schlag auf dem Feld bei der Heuernte getroffen hat!«
Ein schmerzlicher, gequälter Ausdruck erschien auf dem Gesicht der Frau, die Sebastian sechzehn sorglose Jahre für seine leibliche Mutter gehalten hatte. »Wir haben dich geliebt, als wärst du unser eigen Fleisch und Blut gewesen, mein Junge. Du warst das größte Geschenk, mit dem Gott unser Leben gesegnet hat. Vergiss das nie, was immer du auch denken magst, wenn du die ganze Wahrheit erfährst. Aber nicht ich habe dich zur Welt gebracht, sondern eine Frau, die mir sehr nahe gestanden hat und die bei deiner Geburt gestorben ist. Alles Weitere wirst du von Elmar erfahren, wenn er dich in Sicherheit gebracht hat. Verzeih mir, dass ich nicht die Kraft gehabt habe, dir schon eher die Wahrheit zu sagen!«
Sebastian war, als hätte ihn ein unsichtbarer Schlag getroffen, der ihn bis ins Mark erschütterte. Das Blut wich aus seinem Gesicht und ein Gefühl von Übelkeit breitete sich in ihm aus. Er sah sie nur fassungslos an, unfähig, auch nur ein Wort herauszubringen.
Wieder ließ ein wuchtiger Rammstoß die Türflügel erzittern.
»Um Gottes willen, die Zeit zerrinnt uns zwischen den Fingern!«, zischte Ansgar Brake beschwörend. »Wenn wir uns nicht endlich beeilen und aufs Dach kommen, können wir uns auch gleich selbst die Klinge an die Kehle setzen!«
»Recht hast du! Also komm!« Elmar packte Sebastian mit eisernem Griff am Unterarm und stieß ihn hinaus in den dunklen Gang.
Sebastian versuchte, sich zu widersetzen und sich aus der Umklammerung zu befreien, doch gegen die Kräfte des Verwalters kam er nicht an.
»Reiß dich gefälligst zusammen und beweise, dass du Manns genug bist, um jetzt nicht die Nerven zu verlieren!«, herrschte Elmar ihn an.
Sebastians Widerstand brach jäh in sich zusammen. Bleich wie ein Leichentuch, wortlos und wie in Trance, taumelte er mit ihnen durch den schmalen Gang, stolperte die Stiege hinauf und gelangte in die Dienstbotenkammer, von der aus man auf das rückwärtige Dach steigen konnte. Und während er den Anweisungen der beiden Männer folgte wie eine Marionette den Bewegungen ihres Puppenspielers, jagten sich die Fragen hinter seiner Stirn wie die Blitze bei einem heftigen Gewitter. Und ganz besonders eine Frage wollte ihn nicht mehr loslassen: Wenn er nicht Sebastian von Berbeck war, wer war er dann?
2
Bäuchlings lagen sie auf den Dachschindeln, holten Atem und horchten. Aus dem Haus kamen noch immer die wütenden Stimmen des Domherrn und seiner Schergen sowie das laute, fast rhythmische Krachen von Holz, das mit Wucht gegen die verriegelte Eichentür gerammt wurde. Am Himmel trieb ein nasskalter Wind dunkle, tief hängende Wolken wie ein Wolf eine Herde dreckiger Schafe vor sich her. Das letzte Tageslicht versickerte schon hinter den Baumspitzen des Waldes, der im Westen die Felder und Äcker des Landgutes begrenzte.
Niemand hatte sie bemerkt, als sie vor wenigen Augenblicken aus dem kleinen Fenster der Kammer gestiegen und auf dem schmalen, rückseitigen Vordach des Haupthauses zu seinem westlichen Ende gekrochen waren, wo sich der niedrigere Trakt der Stallungen mit dem Heuboden in einem rechten Winkel anschloss. Sie hatten ihre Stiefel ausgezogen und die Schuhbänder zusammengebunden, um sie sich um den Nacken zu legen.
»Lasst bloß die Köpfe unten!«, raunte Elmar. »Und pass auf die Waffen auf, Ansgar! Schon das leiseste Scheppern könnte uns verraten, wenn wir uns gleich auf das Dach des Heubodens hinablassen und unten im Hof zufällig ein aufmerksamer Wachposten Augen und Ohren offen hält!«
»Habe alles fest im Griff!«, kam es leise von Ansgar zurück, der die Waffengurte mit den Degen an sich genommen hatte. »Von mir aus können wir es wagen.«
Elmar wandte den Kopf nun Sebastian zu und sah ihn forschend an. »Ich kann mir gut vorstellen, was in dir vorgehen muss und dass dir sicherlich tausend Fragen auf der Zunge brennen. Aber all das muss warten! Jetzt musst du dich allein auf das konzentrieren, was vor uns liegt! Wenn uns die Flucht nicht gelingt, fließt unser Blut, Ansgars und meines, und du wirst verschleppt, eingekerkert und womöglich der Folter unterzogen! Hast du das verstanden?« Er machte eine kurze Pause, um seine Worte einwirken zu lassen. Dann legte er ihm seine Hand auf den Arm und fragte: »Also bist du bereit und auch wirklich ganz bei der Sache?«
Sebastian presste die Lippen zusammen und nickte nur stumm. Aber die Erwähnung der Folter, die ihm womöglich drohte, wenn er Tassilo in die Hände fiel, hatte seine Sinne plötzlich wieder geschärft.
»Gut, dann nichts wie hinunter auf das Dach der Stallungen! Aber nicht alle gleichzeitig, sondern einer nach dem andern und möglichst so leichtfüßig wie eine Katze!«, ermahnte Elmar sie. »Ich steige zuerst hinunter! Und dann gebt ihr mir die Waffen, die Stiefel und die Ledertasche!«
Er glitt, auf dem Bauch liegend, seitlich an den Rand des Daches, schwenkte die Beine über die Kante, ließ sie vorsichtig hinunterbaumeln und rutschte dann langsam mit dem Oberkörper nach, während er sich mit den Händen an der Dachkante festhielt und sich so lang wie möglich machte. Dennoch vermochte er das Dach des westlichen Wirtschaftstraktes nicht mit den Zehenspitzen zu erreichen. Es fehlte eine gute halbe Armlänge. Und so ließ er los und ging beim Aufkommen sofort in die Knie, um den Aufprall abzufedern und möglichst kein verräterisches Geräusch zu verursachen. Bis auf ein leises Knarren unter seinen Füßen, das unmöglich bis in den Hof hinunterdringen konnte, war auch nichts zu hören.
Ansgar und Sebastian reichten ihm nun nacheinander die Degen, dann die drei Paar Stiefel und zum Schluss die Ledertasche mit der Bibel.
»Jetzt du!«, forderte Ansgar Sebastian auf.
Sebastian ließ sich genau so auf das angrenzende Dach hinab, wie Elmar es ihnen vorgemacht hatte. Dabei wandte er den Kopf und wagte einen raschen Blick nach rechts in den Hof hinunter. Er sah zwei Schergen vor dem Portal stehen, die mit Armbrüsten bewehrt waren, die vierspännige Kutsche des Domherrn und weiter rechts beim Stall die Hinterteile von mehreren Pferden, die dort wohl vor der Tränke am Stall angebunden standen. Dann spürte er auch schon Elmars Hände, die nach ihm griffen, um ihm Halt zu geben, bevor seine Hände die Dachkante losließen. Im nächsten Augenblick hockte er neben ihm auf dem Dach der Stallungen und machte sich wieder ganz flach. Auch Ansgar glitt vom höher liegenden Dach des Hauptgebäudes, ohne dabei von den Wachen im Hof bemerkt zu werden.
Sie hängten sich ihre Stiefel wieder um den Hals, griffen zu ihren Waffen und zur Ledertasche mit dem breiten Umhängeriemen und schlichen nun auf Elmars Zeichen hin zur Dachluke, die hinunter auf den Heuboden führte.
»Gebe Gott, dass sie nicht von innen verriegelt ist!«, flüsterte Elmar, schlug hastig das Kreuzzeichen und fasste nach dem hölzernen Griff. Im ersten Moment schien es, als sollte sich ihre Hoffnung nicht erfüllen. Aber die Luke klemmte nur und nach einem kräftigeren Ruck ließ sie sich aufklappen.
»Dem Allmächtigen sei Lob und Dank!«, stieß Ansgar gepresst hervor.
»Nichts wie runter!«, raunte Elmar, kletterte über den Rand, hielt sich kurz mit den Händen rechts und links am Lukenrand fest und ließ sich dann in die Dunkelheit fallen.
Nacheinander landeten sie weich und lautlos im Heu.
»Damit haben wir den gefährlichsten Teil gemeistert«, sagte Elmar mit großer Erleichterung in der Stimme und griff nach seinem Waffengurt, um ihn sich umzuschnallen. Sebastian und Ansgar folgten seinem Beispiel. »Der Rest wird dagegen ein Kinderspiel sein, weil die Schergen sicherlich nicht damit rechnen, dass wir aus dem Stall und dann auch noch zu Pferd ausbrechen.«
»Das mag sein, aber sie werden natürlich sofort unsere Verfolgung aufnehmen«, wandte Ansgar ein, während sie vom Heuberg rutschten und sich im Dunkeln vorsichtig dem Ende des Heubodens entgegentasteten, wo sich die Holzstiege hinunter zum Stall befand. »Und wie wollen wir acht Reiter abschütteln?«
»Ihre Pferde haben schon einen langen und offenbar scharfen Ritt von Passau hierher hinter sich, während unsere Pferde ausgeruht sind. Das verschafft uns einen Vorsprung«, erwiderte Elmar, der mittlerweile die Stiege erreicht hatte. »Und wir werden die Landstraßen meiden, gleich hinter der Allee im Schutz der Wälder einen Haken schlagen, scharf nach Norden hinauf zum Weiler Kreutersroth reiten und von dort den Weg durch die Hochmoore an der böhmischen Grenze nehmen. Dort werden wir sie bestimmt abschütteln!«
»Bei Nacht und zu Pferd durch die Moore?« Ansgar klang erschrocken.
»Keine Sorge, ich kenne mich da oben gut aus«, beruhigte ihn Elmar. »Und jetzt kommt! Wir müssen uns mit dem Satteln der Pferde beeilen! Lange kann es nicht mehr dauern, bis sie drüben die Tür aufgebrochen haben und feststellen, dass wir uns längst aus dem Staub gemacht haben!«
Sie kletterten die Stiege in den weitläufigen Stall hinunter, in dem es um einiges heller war als oben auf dem finsteren Dachboden, fiel doch ein Rest Tageslicht durch einige der noch offen stehenden Schlagläden.
Es war Sebastian, der die schlanke, schemenhafte Gestalt zuerst bemerkte, die links neben der großen, zweiteiligen Stalltür auf einer Futterkiste saß. Ihm fuhr der Schreck in die Glieder, hielt er die Gestalt im ersten Moment doch für einen der Männer des Domherrn. Dass die schmale Körperstatur kaum die eines Schergen sein konnte, kam ihm im ersten Schreck nicht zu Bewusstsein.
»Da ist jemand!«, stieß er warnend hervor. »Da auf der Kiste!«
Elmar und Ansgar fuhren herum und zogen augenblicklich ihre Degen blank.
»Nur mit der Ruhe! Von mir habt Ihr nichts zu befürchten!«, kam es da ohne große Hast oder gar Angst von der Kiste. Es war eine helle, jugendliche Stimme.
»Wer bist du?«, fragte Elmar leise, aber scharf – die Klinge bereit zum tödlichen Stich.
»Lukas Malberg ist mein Name! Ich bin der Bote aus Passau, der das Schreiben gebracht hat! Mit dem Domherrn und seinen Leuten habe ich nichts zu tun!«, versicherte der Fremde, stellte einen klobigen Holzteller ab und rutschte von der Kiste, sichtlich unbeeindruckt von den Klingen, die auf ihn gerichtet waren. »Eure Köchin hat mir eine warme Suppe gegeben, und als die Reiter in den Hof geprescht sind, habe ich mich schnell hierher verzogen. Der Braune dort drüben ist mein Pferd! Schien mir ratsamer, diesen Männern nicht in die Quere zu kommen.«
Sebastian trat mit Elmar und Ansgar näher, die ihre Klingen nun wieder in die Scheide zurückgleiten ließen. Das Licht war nicht gut genug, um die Gesichtszüge des Boten ausmachen zu können, saß ihm doch ein verbeultes, breitkrempiges und mit bunten Federn geschmücktes Barett auf dem Kopf, wie es gern von Landsknechten getragen wurde. Doch als er in den schmalen Lichtstreifen trat, der hinter ihm durch eines der Fenster fiel, konnten sie sehen, dass er alte, rissige Stiefel und einen erdbraunen Umhang trug, unter dem ein gestepptes Wams sowie pludrige schwarze, mit Flicken besetzte Kniehosen hervorlugten. Und bei der Bewegung ins Licht kam rotes Futter in den zahlreichen Schlitzen der Hosenbeine zum Vorschein. Links am Gürtel baumelte ein Messer mit breiter und fast unterarmlanger Klinge, das sicherlich nicht geschaffen worden war, um einem Kanten Dinkelbrot zu Leibe zu rücken oder eine wurmstichige Stelle aus einem Apfel zu schneiden.
»Du machst besser, dass du dich hier irgendwo versteckst!«, riet Elmar. »Und wehe dir, du kommst uns in die Quere oder versuchst gar, die Wachen im Hof auf uns aufmerksam zu machen! Wir haben nichts zu verlieren!«
»Nichts liegt mir ferner. Im Gegenteil, ich biete Euch sogar meine Hilfe an, sofern auch für mich etwas dabei herausspringt«, bot sich der Bote mutig an. »Ihr seid auf der Flucht, nicht wahr? Und da kommt es doch auf jede Minute an.«
Elmar zögerte kurz, dann lachte er trocken auf. »Du scheinst mir ja ein ganz Abgebrühter zu sein! Aber gut, wir können jetzt wirklich jede Hilfe gebrauchen. Du kannst uns beim Satteln der Pferde zur Hand gehen.« Rasch öffnete er die Schlaufe der Ledertasche, schlug sie auf und zog den Geldbeutel hervor. Er entnahm dem bestickten Samtbeutel eine Silbermünze und warf sie ihm zu. »Hier, damit bist du gut bezahlt!«
Der Junge fing die Münze auf und hielt sie kurz ins Licht des Hoffensters. »Ein Silberling! Ja, dafür kann man schon was riskieren«, sagte er mit einem zufriedenen Grinsen und ließ das Geldstück blitzschnell unter seinem weiten Umhang verschwinden.
Unter großer Eile holten sie nun aus der Sattelkammer alles Nötige, um drei Pferde zu satteln. Gerade hatte Elmar dem letzten Tier das Zaumzeug umgelegt, als Lukas zu ihm trat und ihm ein weiteres, überraschendes Angebot machte.
»Wenn Ihr nichts unternehmt, damit man Euch nicht sofort folgen kann, werdet Ihr es schwer haben, einen genügend großen Vorsprung zu bekommen! Da hilft es Euch auch nicht, den Weg über die Moore nördlich von Kreutersroth zu nehmen. Man wird euch schon lange vorher eingeholt haben.«
»Verdammt, der Bursche hat uns belauscht!«, stieß Ansgar hervor und legte seine Hand sofort auf den Griff seiner Waffe.
»Der Teufel soll mich holen, wenn ich gelauscht habe! Ihr habt da oben auf dem Heuboden zu laut geredet und ich habe nur gute Ohren, nichts weiter!«, erwiderte Lukas mit keckem Selbstbewusstsein und schob seine Hand gleichfalls unter den Umhang, um jeden Moment sein Messer ziehen zu können. »Wollt Ihr mich dafür abstechen wie ein Mastschwein am Schlachttag?«
»Wenn es sein muss – ja!«, drohte Ansgar und wollte schon seinen Degen ziehen.
»Da wird meine Klinge aber noch ein schneidendes Wort mitzureden haben!«, zischte Lukas. »Und auch wenn Ihr in der Überzahl seid, so wird der Lärm, den ich gleich veranstalten werde, Euch schlecht bekommen. Eure Flucht könnt Ihr dann vergessen!«
Elmar fiel seinem Neffen augenblicklich in den Arm. »Warte!« Und obwohl er es eilig hatte, in den Sattel zu steigen und mit Sebastian und Ansgar aus dem Stall zu preschen, fragte er zu Lukas gewandt: »Und was sollten wir deiner Meinung noch unternehmen, um einen Vorsprung zu gewinnen?«
»Habt Ihr mal durch das Stallfenster auf den Hof geschaut?«, fragte der Bote zurück. »Ich habe es mehrfach getan, schon um vor bösen Überraschungen gefeit zu sein. Schaut Euch doch mal die Kutsche des Domherrn an! Sie steht so, dass die beiden Wachen vor dem Portal des Hauses ihre Pferde hier beim Stall nicht sehen können. Noch stehen sie sicher angebunden am Zügelbalken vor der Tränke. Aber wenn man ihnen nun heimlich die Zügel durchschneidet und ihnen brennendes Stroh zwischen die Hufe schleudert, wird es ein wildes Durcheinander geben, wenn Ihr mich fragt. Und die Männer werden erst mal alle Hände voll zu tun haben, um die Pferde wieder einzufangen und zu beruhigen, bevor sie Euch folgen können. Im Galopp könnte das einen hübschen Vorsprung von einigen Meilen ergeben.«
»Keine schlechte Idee!«, räumte Elmar ein.
»Und wenn Ihr wollt, schleiche ich mich hinaus und übernehme das Durchschneiden der Zügel!«, fügte Lukas hinzu und zog sein beidseitig geschliffenes Messer unter dem Umhang hervor. »Dafür müsst Ihr aber zwei von Euren Silberstücken springen lassen!«
Elmar sah den Boten sichtlich verblüfft an. »Du wirst mir ja richtig sympathisch, Kleiner!«, sagte er. »Und die beiden Silberlinge sollst du bekommen!« Während er noch mit dem Geldbeutel hantierte, forderte er Ansgar schon auf, noch einmal in die Sattelkammer zu laufen, wo stets Zunder, Zündsteine und Kerzen zum Entzünden von Stalllaternen bereitlagen. »Und du bindest schon mal drei dicke Strohbündel zusammen, so dass wir sie als Fackeln benützen können, Sebastian! Beeilt euch!«
Lukas führte sein Pferd zu den drei anderen, um selbst auch gleich in den Sattel des Braunen springen und davongaloppieren zu können, und schlich dann durch einen Spalt in der Stalltür hinaus auf den Hof.
Elmar beobachtete ihn durch das Fenster mit angehaltenem Atem, wie er sich geduckt und ganz langsam an den runden Balken über der Tränke schlich, um die Pferde nicht nervös zu machen. Vorsichtig trennte er mit seinem Messer einen Zügel nach dem anderen durch. Einige der Tiere hoben den Kopf, beäugten ihn und blähten die Nüstern, doch keines wieherte ängstlich oder scheute gar zurück.
Augenblicke später huschte Lukas wieder zu ihnen in den Stall zurück und schwang sich behände auf sein Pferd. »Nach dem, was ich für Euch getan habe, werdet Ihr mir doch sicherlich den Vortritt lassen, wenn wir uns jetzt davonmachen!«, sagte er auf seine kecke, selbstbewusste Art.
Elmar nickte. »Den Vorzug hast du dir redlich verdient«, sagte er, nahm Sebastian eines der armlangen, hastig zusammengeschnürten Strohbündel ab, ging zur Stalltür und zog einen der Flügel weit auf. Schnell lief er zu seinem Pferd und schwang sich als Letzter in den Sattel. »Nun gilt es! Entzündet das Stroh!«
Sie hielten die Enden der drei Strohbündel unter die Flamme der Kerze, und augenblicklich fraß sich das Feuer hell lodernd durch die trockenen Gebinde.
Dann gab Elmar das Kommando. »Los! … Raus!«
Lukas stieß seinem Braunen die Stiefelhacken in die Flanken und preschte aus dem Stall hinaus in die abendliche Dunkelheit. Elmar, Sebastian und Ansgar folgten ihm hintereinander. Sie schleuderten die lichterloh brennenden Strohbündel nach links zwischen die ahnungslosen Pferde der Schergen.
Die Tiere brachen augenblicklich in Panik aus, als die Feuerbündel Funken stiebend zwischen ihren Hufen landeten, und suchten schrill wiehernd das Weite. Auch das Viergespann bäumte sich in seinem Geschirr auf und riss die herrschaftliche Kutsche, die auf dem Wagenschlag das Wappen des Domherrn trug, mit einem jähen Ruck auf das Haus zu.
Die gellenden Alarmschreie der beiden Wachposten auf der Steintreppe vor dem Portal mischten sich in das lärmende Chaos aus Schnauben, Wiehern und galoppierendem Hufschlag.
Die vier Reiter jagten aus dem Hof, tief über die Hälse ihrer Pferde gebeugt.
Die beiden Schergen des Domherrn rannten ihnen laut schreiend nach, legten ihre Armbrüste an und feuerten noch im Lauf ihre Pfeile ab. Eines der Geschosse sirrte haarscharf an Sebastians linker Schulter vorbei. Ein zweiter Pfeil bohrte sich in die Ledertasche mit der Reisebibel, auf deren Mitnahme die Herrin vom Erlenhof bestanden und die Elmar sich über die Schulter gehängt hatte. Dann lag der Gutshof auch schon hinter ihnen und im gestreckten Galopp jagten sie die dunkle Allee hinunter.
3
Längst hatte Sebastian das Gefühl für die Zeit verloren, die sie nun schon im Sattel saßen. Der mutige Bote hatte sich bereits kurz hinter der Allee von ihnen getrennt und war seiner eigenen Wege geritten. Seitdem drangen sie immer tiefer in die dichten Wälder ein, die das ansteigende Gelände wie ein unendliches Meer aus Bäumen bedeckten.
Ihm war, als bewegten sie sich durch Urwälder, die vor ihnen noch niemand zu betreten gewagt hatte und in denen namenlose Geisterwesen hausten. Er wusste, dass dieser Gedanke unsinnig und reiner Aberglaube war. Dennoch fiel es ihm schwer, sich von diesen beklemmenden Gedanken völlig freizumachen.
Dann und wann lichtete sich der Wald jedoch für eine kurze Strecke, und vor ihnen blitzten im fahlen Mondlicht Schachten auf, von Menschenhand geschaffene Weideflächen. Diese freien, hellen Flecken, teilweise mit Granitblöcken durchsetzt, nahmen sich in dem finsteren Waldmeer mit ihrem jungen Frühlingswuchs wie hellgrüne Inseln aus. Hier ging Sebastians Atem ein wenig freier.
Auf diese hoch gelegenen Schachten trieb man an Sankt Georgi, der am 23. April gefeiert wurde, vor allem Jungtiere zum Grasen hinauf, wo sie unter der Obhut eines Waldhirten bis zu Sankt Michaeli am 29. September verblieben. Jedes der Tiere trug eine aus Blech gefertigte Schelle um den Hals, damit man es wiederfand, wenn es sich im Wald verlief. Der Hirte, der in diesen langen Monaten allein in einer primitiven Hütte lebte und nur alle paar Wochen mit dem Allernotwendigsten zum Leben versorgt wurde, erkannte jedes Tier am Klang ihrer Schellen, die sich in Größe und Blechstärke voneinander unterschieden.
An zwei dieser einsam gelegenen, niedrigen Hütten führte sie der Weg durch die Bergzüge des Bayerischen Waldes an der Grenze zum Böhmerwald vorbei. Noch hauste dort keiner, denn bis zum Viehtrieb auf die Schachten war es noch eine gute Woche hin. Der Anblick der primitiven Behausungen hatte dennoch etwas Beruhigendes für Sebastian, sagten sie ihm doch, dass sie kein von Menschen unberührtes Geisterland durchquerten.
Indessen zogen sich am Nachthimmel immer mehr dunkle Wolken zusammen und ließen kaum noch Mondlicht durch. Aus der Ferne rollte schon bald unheilvolles Grollen heran. Ein Unwetter zog herauf. Und dann fielen auch schon die ersten Regentropfen aus der klammen Schwärze der Nacht.
Sebastian dachte flüchtig an den Köhler zurück, dem sie hinter dem Weiler Kreutersroth am Rande einer Waldlichtung begegnet waren und der ihnen reglos und ohne Gruß nachgeblickt hatte, als sie im Galopp an seiner schäbigen, mit Baumrinde gedeckten Kate vorbeigeritten und am Ende der Lichtung wieder im Wald untergetaucht waren.
Würde der Kohlenbrenner sie verraten, wenn die Männer des Domherrn aller Hoffnung zum Trotz auch in dieser Richtung nach ihnen suchten und in Kreutersroth ihre Spur fanden? Sebastian betete stumm zu Gott, dass ihre Verfolger nicht Elmars Plan durchschauten und stattdessen im Süden oder Westen nach ihnen suchten. Und dann drängten sich auch schon wieder die quälenden Fragen in seine Gedanken, wer seine wirklichen Eltern waren und warum ein mächtiger Domherr wie dieser Tassilo von Wittgenstein es auf ihn abgesehen hatte. Was hatte es zu bedeuten, dass sein Vater verloren war, wenn er, Sebastian, dem Leiter der Domschule in die Hände fiel? All das machte nur Sinn, wenn sein leiblicher Vater noch lebte! Wer aber war sein Vater? Welchen Namen trug er? Wo hielt er sich auf? Was machte ihn zum Feind des Domherrn und veranlasste diesen, von Ketzerei zu sprechen? Und welche Rolle spielte er, Sebastian, in diesem Rätsel, bei dem es um Leben und Tod ging? Und was sollten sie in Wittenberg? Was hatte Gisa von Berbeck mit einem Druckherrn aus der Hochburg der Neugläubigen zu schaffen? Und wieso würden sie ausgerechnet dort sicher sein? Wie hing das alles miteinander zusammen?
Fragen über Fragen, auf die er keine Antwort wusste. Und Elmar war nicht geneigt, schon jetzt darüber zu sprechen. Als er ihn zum wiederholten Mal bedrängte, rief er ihm schroff zu, dass er seinen kostbaren Atem und seine Aufmerksamkeit gerade einer viel wichtigeren Sache widmen müsse, nämlich der Rettung ihres Lebens.
Sebastian schreckte aus dem wilden Strudel seines Gegrübels auf, als ein Blitz aus den Wolken zuckte, begleitet von einem ohrenbetäubenden Krachen, und Elmars Pferd erschrocken scheute. Es galoppierte an, kam dabei vom Pfad ab und geriet im nächsten Moment mit dem rechten Vorderhuf in eine tiefe, moosige Spalte. Jäh und mit einem schrillen, schmerzerfüllten Wiehern knickte es vorn ein, stürzte mit brechendem Knöchel zur Seite und warf dabei seinen Reiter aus dem Sattel.
Elmar wurde zwischen zwei niedrige, dafür aber scharfkantige Granitblöcke geschleudert. Ein gellender Schrei, der Sebastian durch Mark und Bein ging, drang ihm aus der Kehle. Er versuchte sich aufzurichten, fiel jedoch wieder zurück.
»Mein Arm!«, stöhnte der Verwalter gepresst und fasste sich an den linken Unterarm, dessen untere Hälfte in einem entsetzlich unnatürlichen Winkel vom oberen Teil abstand.
Wieder erhellte ein scharf gezackter Blitz die Nacht und nun begann der Regen wie aus Kübeln aus der tief hängenden Wolkendecke zur Erde zu stürzen.
Entsetzt zügelten Sebastian und Ansgar ihre Pferde, sprangen aus dem Sattel und liefen zu ihm.
»Verdammt! Verdammt! Verdammt!«, fluchte Elmar, das Gesicht eine einzige Maske des Schmerzes.
Ansgar riss sein Messer aus dem Gürtel und schnitt den Ärmel von Elmars Hemd auf. »Barmherziger Samariter!«, stieß er hervor, als er die spitzen Knochen sah, die an der Bruchstelle aus dem Fleisch herausragten. Blut strömte aus der offenen, rissigen Wunde.
Sebastian wurde es flau im Magen und er würgte – nicht allein wegen des schauerlichen Anblicks. Ohne Elmars Ortskenntnis waren sie hier oben in den Wäldern und Mooren verloren!
Elmar kroch rückwärts gegen den nächsten Granitblock und lehnte sich dagegen. »Du musst... den Bruch richten und... und die Wunde verbinden, Ansgar!«, stieß er abgehackt hervor, während er seine Hand auf die Wunde presste, um den Blutfluss so gut es ging zu verlangsamen. »Der gebrochene... Knochen muss zurück!«
»Mein Gott, ich weiß nicht, ob ich...«, begann Ansgar abwehrend und zuckte unwillkürlich zurück.
»Du musst!«, fiel Elmar ihm scharf ins Wort. »Wir müssen weiter, so schnell es geht! … Besorg zwei, drei... fingerdicke Äste zum Schienen des Bruches! … Etwas kürzer als mein Unterarm müssen sie sein! … Da drüben vom Busch kannst du sie schlagen! … Und aus dem Zügel meines … Pferdes lassen sich Riemen zum Zuschnüren schneiden! … Und gebt dem armen Tier den Gnadenstoß! Es ist nicht mehr zu retten.«
»Heilige Muttergottes, steh mir bei!«, murmelte Ansgar beklommen.
Sebastian sprang auf. »Ich kümmere mich um die Stöcke zum Schienen!«, rief er hastig und lief im strömenden Regen zum Busch hinüber, bevor Elmar oder Ansgar ihm die grausige Aufgabe übertragen konnten, das noch immer schrill wiehernde Pferd mit einem raschen Schnitt zu erlösen.
Elmar brüllte auf vor Schmerz und verlor das Bewusstsein, als Ansgar wenig später den gebrochenen Unterarm packte und die gesplitterten Knochen mit einem beherzten Griff mehr schlecht als recht wieder zusammendrückte. Hastig verband er die noch immer heftig blutende Wunde mit Stoffstreifen, die Sebastian unterdessen aus Elmars Umhang geschnitten hatte, legte die kurzen Stöcke an und verschnürte alles mit vier kurzen Lederriemen aus dem Zügel des toten Pferdes.
Als Elmar endlich wieder zu sich kam, hievten sie ihn auf Ansgars Pferd und setzten ihren Weg durch die düstere, unheimliche Landschaft fort, begleitet von fast unaufhörlichen Donnerschlägen und wild zuckenden Blitzen.
Ansgar führte das Pferd mit Elmar im Sattel. Doch schon nach wenigen Minuten mussten sie wieder anhalten, denn den Verwalter hielt es vor Schmerzen nicht länger im Sattel.
»Die Erschütterungen… bringen mich um!«, keuchte er. Bei jedem Schritt, den das Pferd machte, jagte eine Welle des Schmerzes durch seinen Körper. »Ich muss es … zu Fuß… versuchen!«
»Aber...« Ansgar setzte zu einem Einwand ein, um jedoch sofort wieder zu verstummen.
»Ich werde...mich mit der anderen Hand am Sattelgurt... festhalten!«, stieß Elmar keuchend hervor. »Es muss... es wird schon gehen. Und jetzt weiter!«
Elmar schritt erst zügig aus. Doch er verlor noch immer Blut, und sosehr er auch die Zähne zusammenbiss und sich an den Sattelgurt klammerte, das anfänglich scharfe Tempo vermochte er nicht beizubehalten. Bald kamen sie nur noch quälend langsam voran.
In strömendem Gewitterregen durchquerten sie ein unheimliches Gelände, das mit schief gewachsenen Latschen, Krüppelfichten und Beerengestrüpp bewachsen war. Die starken Winterwinde hatten sie alle in eine Richtung niedergedrückt und ihnen ihre merkwürdig schiefwüchsige Form aufgezwungen. Hier und da ragte das Skelett eines allein stehenden Baumriesen in großen Inseln von kniehohem Riedund Seegras auf. Der Geruch von Moder und Fäulnis lag in der Luft.
Sie hatten das Reich der Moore erreicht.
Als vor ihnen die ersten dunklen, unergründlichen Moorseen auftauchten, musste Elmar wieder einmal eine längere Pause einlegen, weil ihn die Kräfte verließen und er sich nicht länger auf den Beinen zu halten vermochte. Zitternd sackte er in die nassen Mooskissen.
Sebastian und Ansgar warfen sich einen stummen Blick zu, als sie hastig von den Pferden sprangen und die Tiere an die Äste einer Krüppelfichte banden. In ihrem Blick lag die unausgesprochene Angst, dass Elmar den Marsch durch die Moore und hinüber in den Böhmerwald nicht schaffen würde. Der stete Blutverlust sowie die Schmerzen schwächten ihn immer mehr. Und wenn er endgültig zusammenbrach, was würde dann aus ihnen?
»Es geht gleich wieder«, versuchte Elmar sie zu beruhigen. »Jetzt ist es nicht mehr...«
Weiter kam er nicht. Denn in diesem Augenblick rief hinter ihnen aus der Dunkelheit eine triumphierende Stimme. »Da! … Da sind sie, Jodok! … Da drüben am Moorsee! … Ich wusste doch, dass die Hunde über die Moore zu fliehen versuchen! … Die Belohnung gehört uns! … Also, holen wir sie uns, Männer!«
Und eine zweite Stimme brüllte: »Hanno, wo bleibst du? … Wir haben die verfluchte Ketzerbande!«
Zu Tode erschrocken fuhren Sebastian und Ansgar herum. Schergen des Domherrn jagten aus den tiefen, regengetränkten Schatten der Nacht auf sie zu.
4
Die achtköpfige Abteilung der bewaffneten Schergen des Domherrn musste sich in mehrere Gruppen aufgeteilt haben, denn es waren nur drei Reiter, die im strömenden Nachtregen herangaloppierten.
Noch immer wütete das Unwetter. Wie Kanonenschläge rollte der Donner über das Land, fuhren blendend helle Blitze in wild gezackter Bahn zur Erde und rissen die triefnasse Finsternis für Sekundenbruchteile auf. Und in dem Wechsel aus Dunkelheit und kurzem grellen Licht wirkten die Reiter mit ihren wehenden Umhängen wie Geisterwesen, die mit rasenden, aber irgendwie abgehackten Bewegungen auf sie zu flogen. Die Schergen des Domherrn hatten ihre Klingen gezogen, und der Stahl leuchtete im Schein der Blitze auf, als bestände er aus weißblauer Glut.
»Alles vergeblich! Und nur weil ich nicht besser aufgepasst habe!«, stöhnte Elmar gequält und kam mühsam auf die Beine. »Jetzt geht es auf Leben und Tod!«
»Das verdanken wir dem Kohlenbrenner! Er muss ihnen den Weg gewiesen haben! Nur so haben sie uns finden können! Möge seine schwarze Seele auf ewig im Höllenfeuer brennen!«, fluchte Ansgar und riss seinen Degen heraus.
»Niemand entgeht seinem Schicksal! Aber leicht werden wir es ihnen nicht machen! Noch ist nicht alles verloren!«, presste Elmar hervor und zog blank. »Los, auseinander, damit sie uns nicht zusammen erwischen und einfach über den Haufen reiten!« Und Sebastian rief er zu: »Jetzt kannst du zeigen, was du von deinem Vater und mir gelernt hast!«
Nach Elmars Sturz vom Pferd hatte Sebastian die Ledertasche an sich genommen und sie sich mit dem langen Ledergurt quer über die Brust gehängt. Nun befreite er sich hastig davon, während er mehrere Schritte zwischen sich und seine Gefährten brachte. Die Tasche würde ihn im Kampf nur behindern. Und so warf er sie mit der linken Hand achtlos von sich in das hohe Gras, während seine Rechte den Degen aus der Scheide zog.
Der scharfe, metallische Klang jagte ihm einen Schauer durch den Körper, und bei dem Gedanken, dass die gleich aufeinander treffenden Klingen am Ende des Gefechtes blutbefleckt sein würden, krampfte sich sein Magen zusammen.
»Ich nehme mir den Burschen hier rechts außen vor! Ihr kümmert euch um die beiden anderen!«, schrie der Reiter, der eine gute Pferdelänge vor seinen Kameraden ritt, riss seinen Apfelschimmel zu Sebastian herum und hieb aus dem Lauf heraus nach seinen Beinen.
Geistesgegenwärtig riss Sebastian seinen Degen hoch und sprang gleichzeitig zur Seite, um sich aus der Reichweite der gegnerischen Waffe zu bringen. Dabei stolperte er jedoch über eine Wurzel und stürzte rücklings zu Boden. Noch im Fallen sah er, wie die beiden anderen Schergen von ihren Pferden sprangen und mit Ansgar und Elmar die Klingen kreuzten.
Schnell warf er sich herum, tastete im hohen Gras nach seiner Waffe, die ihm beim Sturz aus der Hand geprellt worden war, und bekam sie endlich zu fassen. Keine Sekunde zu früh kam er wieder auf die Beine. Denn der Mann, der ihn aus dem Galopp heraus angegriffen hatte, wollte die günstige Situation nutzen und ihn wohl am Boden liegend überwältigen. Denn mit einem abrupten Zügelkommando brachte er sein Pferd brutal zum Stehen, rutschte noch im Aufbäumen des Apfelschimmels aus dem Sattel und stürzte auf ihn zu, um ihm die Klinge an die Kehle zu setzen.
Sebastian wehrte den Stich ab. Die Waffen klirrten aufeinander und die scharfe Klinge seines Gegners stach links an ihm vorbei ins Leere. Mit einer blitzschnellen Drehung des Handgelenks richtete nun er seinen Degen auf die Brust des Angreifers und machte dabei einen Ausfallschritt. Sein Waffenarm schoss vor, so wie er es gelernt hatte.
Doch der Scherge ließ sich so leicht nicht übertölpeln. Er schien mit dem Gegenangriff gerechnet zu haben. Denn mit einer wieselflinken Bewegung wich er zurück, riss seine Waffe hoch und parierte den Stoß. Wieder trafen die Klingen mit lautem, scharfen Klirren aufeinander.
»Da musst du schon mehr aufbieten, wenn du mir das Fell ritzen willst, Bürschchen!«, höhnte der Waffenknecht des Domherrn. Und während er vor ihm leichtfüßig hin und her tänzelte, schlug er mehrfach spielerisch gegen Sebastians Klinge, als wollte er ihn auffordern, doch endlich zur Sache zu kommen. »Na los, leg dich mal ordentlich ins Zeug, damit ich nicht nur solche Anfängerattacken abwehren muss. Zeig mir schon, was du Wickelkind mit der Waffe eines Mannes ausrichten kannst! Sonst muss ich dich mit links fertigmachen, damit es mir nicht gar zu langweilig wird.«
Im Licht eines Blitzes sah Sebastian, dass mehrere helle, wulstige Narben das plattnasige, abfällig grinsende Gesicht des Schergen verunstalteten. »Dir wird das Grinsen noch vergehen, wenn dir mein Stahl in die Rippen fährt, du Schweinsnase!«, erwiderte er und schlug eine Finte, die auf den Unterleib des Schergen zielte.
Elmar zu seiner Rechten gab einen unterdrückten Schrei von sich, als sein Gegner einen Treffer anbrachte und ihn an der linken Schulter traf. Er taumelte und vermochte gerade noch rechtzeitig einem zweiten Stich auszuweichen, der seiner Kehle galt. Angeschlagen wankte er vor seinem Angreifer zurück. Doch er erwehrte sich mit der todesmutigen Verzweiflung eines Mannes, der sich über den Ausgang dieses Gefechtes keine Illusionen machte. Und dasselbe galt für Ansgar.
Im selben Augenblick fuhr die Waffe von Sebastians Gegner hinunter, um den Angriff abzuwehren, doch noch bevor ihre Klingen aufeinander treffen konnten, lenkte Sebastian seinen Degen mit einer abrupten Bewegung schräg nach oben und machte dabei einen Satz nach vorn.
Der Scherge sah den Stich zwar noch kommen, war diesmal jedoch nicht schnell genug auf den Beinen, um der Klingenspitze gänzlich zu entkommen. Sie fuhr ihm über der rechten Hüfte in den Leib, wenn auch nicht tief genug, um ihm eine ernstliche Verletzung zuzufügen.
Mehr vor Wut als vor Schmerz brüllte der Mann auf. »Du Furz willst mir an die Haut? Na warte!« Mit einer rasenden Serie von Schlägen und Hieben drang er nun auf ihn ein.
Todesangst erfasste Sebastian, der Mühe hatte, sich mit blitzschnellen Paraden dem Hagel von wuchtigen Schlägen und Stichen zu erwehren. Zu einem Gegenangriff kam er gar nicht mehr. Dieser Mann wusste eine Klinge zu führen und kämpfte offensichtlich nicht zum ersten Mal auf Leben und Tod mit einem Gegner. Während er, Sebastian, noch nie zuvor gezwungen gewesen war, sein Leben mit einer Waffe in der Hand zu verteidigen. Und in diesem Moment wusste er schon, dass er keine Chance hatte, als Sieger aus diesem blutigen Zweikampf hervorzugehen. Der Mann hatte bisher nur mit ihm gespielt und nun machte er blutigen Ernst.
Gerade als Elmar von einem tödlichen Hieb getroffen und zu Boden gestreckt wurde, gelang es Sebastian nur mit allergrößter Mühe, einen Hieb abzuwehren, der auf seine rechte Schulter gerichtet war. Er vermochte eben noch, seinen Degen hochzureißen. Doch es lag nicht genug Kraft und Schnelligkeit in seiner Parade. Zwar lenkte er den Stich mit dem Handschutz seiner Waffe noch rechtzeitig ab. Aber der Degen des Schergen rutschte über seine nachgebende Klinge nach oben und traf ihn dabei seitlich am Kopf. Hätte ihn die Schneide waagerecht und mit voller Wucht erwischt, wäre das auf der Stelle sein Tod gewesen. Doch die Degenhand des Schergen hatte sich bei der Parade leicht verdreht, auch hatte der Handschutz einen Großteil der Schlagkraft aufgefangen.
Dennoch lag noch genug Schwung in der abgleitenden Klinge, um ihm eine klaffende Wunde zuzufügen, aus der augenblicklich Blut hervorschoss und ihm über das Gesicht lief.
Sebastian war, als hätte ihn der Huf eines Pferdes am Kopf getroffen. Er wankte und spürte, wie ihn die Bewusstlosigkeit zu übermannen drohte.
Ein vierter Reiter, bewaffnet mit einer Armbrust, tauchte hinter dem plattnasigen Schergen auf.
Ein entsetzlicher Schrei, der aus Ansgars Kehle stieg, gellte in die stürmische Nacht, begleitet von dem triumphierenden Ruf seines Gegners: »So schickt man Rattenbrut wie euch zur Hölle! Bestell dem Teufel einen Gruß von mir, wenn du ihn gleich siehst!«
Das ist das Ende!, fuhr es Sebastian durch den Kopf. Aber wenn er schon an diesem grässlichen Ort sterben sollte, dann wollte er seinen Gegner mit in den Tod nehmen! Deshalb musste er einen letzten, todesmutigen Angriff wagen, bevor ihm die Sinne schwanden. Die Klinge des Mannes mochte ihm dabei in den Leib fahren, aber mit ein wenig Glück würde auch die seine ihr Ziel nicht verfehlen!
Ohne auf seine Deckung zu achten, stürzte Sebastian auf den Plattnasigen zu, der offensichtlich nicht mehr mit einer Gegenwehr gerechnet hatte und gerade den Kopf in Richtung des nahenden Reiters wandte. Seine Waffe zuckte in einem Reflex hoch, und er wich hastig nach links, doch da traf ihn auch schon Sebastians Klinge. Sie fuhr dem Schergen zwar nicht wie erhofft zwischen die Rippen, aber doch tief in den Oberarm.
Im selben Augenblick riss der vierte Reiter seine Armbrust hoch und drückte ab.
Sebastian verspürte einen gewaltigen Schlag vor die Brust, als der Pfeil ihn traf, und stürzte mit einem erstickten Schrei zu Boden. Der Degen entglitt seiner kraftlosen Hand.
»Du verdammter Idiot!«, hörte er den Plattnasigen noch wütend und wie aus weiter Ferne brüllen, während eine bleierne Schwere seinen Körper erfüllte und er verzweifelt versuchte, bei Bewusstsein zu bleiben. »Warum hast du bloß geschossen? Der Domherr wollte den Burschen doch lebend! Und ich hatte ihn schon so gut wie außer Gefecht gesetzt! Jetzt krepiert er auch!«
»Und wenn schon! Außerdem solltest du mir dankbar sein, Jodok. Denn um ein Haar hätte er doch dich...«, antwortete ihm eine zweite Stimme ärgerlich.
Die sich streitenden Stimmen erstarben, als eine Welle glühenden Schmerzes durch Sebastians Brust raste und ihm den letzten Rest Bewusstsein raubte. Dass raue Hände ihn hochzerrten, schüttelten und dann wieder fallen ließen, bekam er schon nicht mehr mit.
5
Eisige Kälte umschloss seine Hand, kroch den Arm hinauf und stieß an der Schulter mit einer Woge feurigen Schmerzes zusammen. Ihm war, als steckte glühendes Eisen in seiner Brust, das sich mit jedem Augenblick tiefer in ihn brannte. Dazu gesellten sich bohrende Stiche in seinem Kopf, als stäche ihm jemand unaufhörlich mit langen Nadeln in den Schädel.
Als Sebastian stöhnend aus der Ohnmacht erwachte und die Augen aufschlug, dauerte es einige Zeit, bis klare Gedanken durch die Wand der Schmerzen gelangten und er sich erinnerte, wo er sich befand und was ihm widerfahren war.
Er lebte!
Aber sofort stellte sich die Angst ein, als er sich fragte, wie lange er wohl ohne Bewusstsein gewesen sein mochte. Vielleicht nur einen kurzen Moment? In dem Fall gab es kein Entkommen für ihn und die Schergen würden ihm entweder sogleich den Todesstoß versetzen oder ihn verschleppen. In jedem Fall wäre sein Schicksal dann besiegelt. Dann lieber jetzt den schnellen Tod als lange, qualvolle Folter in einem dunklen Kerker!
Oder hatten die Männer des Domherrn ihn für tot gehalten und den Ort ihres blutigen Überfalls schon längst verlassen? Wieso lebte er überhaupt noch, obwohl ihn der Pfeil des Armbrustschützen doch mitten in die Brust getroffen hatte?
Er lauschte mit flachem, stoßhaftem Atem und mühsam unterdrücktem Stöhnen in die Dunkelheit. Er hörte weder Stimmen noch andere Geräusche, die auf die Gegenwart von Menschen schließen ließen. Dann wurde ihm bewusst, dass der heftige Regen aufgehört und das Unwetter sich verzogen hatte. Nur aus weiter Ferne ließ sich noch schwaches Donnergrollen vernehmen.
Als er schließlich die Kraft aufbrachte, trotz der Schmerzen den Kopf zu drehen, stellte er fest, dass er zwischen hohen Gräsern am Rand des Moorsees lag. Sein rechter Arm hing fast bis zum Ellenbogen im eisigen Wasser.
»Elmar? … Ansgar?« Er rief mit schwacher, verzweifelter Stimme die Namen seiner treuen und mutigen Begleiter, die nicht gezögert hatten, ihr Leben für ihn aufs Spiel zu setzen. Dabei wusste er nur zu gut, wie sinnlos es war, darauf zu hoffen, dass auch sie noch nicht den letzten Atemzug getan hatten.
Die Nacht antwortete ihm dann auch mit kaltem Schweigen.
Sebastian zog seinen Arm aus dem modrigen Wasser, tastete vorsichtig nach der heftig pochenden Wunde an seinem Kopf und zuckte sofort zurück, als seine Fingerspitzen in die Nähe der klaffenden Wunde gelangten und bei der Berührung zusätzliche Schmerzen auslösten. Überall stieß er auf sein eigenes Blut. Es hatte seine Haare verklebt, bedeckte seine linke Gesichtshälfte und war ihm am Hals entlang unter die Kleidung gelaufen. Nach der Wunde zu tasten, wo ihm der Pfeil in der Brust steckte, wagte er erst gar nicht. Die Schmerzen, die von dort kamen, waren auch so kaum zu ertragen.
Er versuchte, sich aufzurichten, aber es gelang ihm nicht. Ihm fehlte die Kraft, und die Schmerzen, die durch seinen Körper fluteten, raubten ihm fast das Bewusstsein. Doch er wollte nicht hier am Rand des Moorsees liegen bleiben, sich aufgeben und auf den Tod warten. Und so zwang er sich, durch das Gras zu kriechen und nach seinen Kameraden zu suchen. Das war das Mindeste, was er ihnen schuldig war.
Nur ganz langsam und mit vielen Pausen gelangte er vorwärts. Auf Elmar stieß er zuerst. Der einstige Verwalter vom Erlenhof lag mit verrenkten Gliedern rücklings im Moorgras und starrte mit leblosen Augen in den wolkenverhangenen Nachthimmel. Nicht weit von ihm entfernt lag der Leichnam von Ansgar. Beide hatten sie an diesem schaurigen, einsamen Ort den Tod gefunden, hatten für ihn, Sebastian, ihr Leben gelassen, obwohl er gar kein richtiger von Berbeck war.
Er schrie seine Verzweiflung und sein ohnmächtiges Aufbegehren gegen das bittere Schicksal in die Nacht hinaus. Ein langer gellender Schrei, der schließlich in Stöhnen und Wimmern überging.
Keuchend wand er sich weiter durch Gras und Gestrüpp – ohne zu wissen, wohin ihn sein armseliges Kriechen bringen sollte und was es überhaupt noch für einen Sinn machte, sich für ein paar wenige Körperlängen abzuquälen, wo doch das nächste Dorf ohne Pferd Stunden entfernt lag – und das auch nur, wenn man gut zu Fuß war. Er aber vermochte nicht einmal auf die Beine zu kommen! Er war verdammt, hier im Moor zu sterben!
Plötzlich stießen seine Hände auf etwas. Er packte zu, zog den Gegenstand zu sich und betastete ihn. Es war die alte Ledertasche, in der sich die Geldbörse und die Reisebibel befanden, die sie auf Geheiß seiner Mutter unbedingt hatten mitnehmen müssen – und die er wie seinen eigenen Augapfel hüten sollte.
»Ja, Mutter, das werde ich!«, schluchzte er, und Tränen füllten seine Augen. Kraftlos fiel sein Kopf auf die Ledertasche mit der Bibel, deren Bedeutung ihm ebenso unerschlossen bleiben würde wie seine wahre Herkunft und die Hintergründe, die einen Domherrn wie Tassilo von Wittgenstein veranlasst hatten, ihn festnehmen und einkerkern zu wollen. Keines dieser Geheimnisse würde sich für ihn auflösen. Denn er würde hier oben im Hochmoor einsam sein Leben aushauchen. Wer immer die Frau sein mochte, die ihm das Leben geschenkt hatte, für ihn gab es nur einen geliebten Menschen, den sein Herz als Mutter anerkannte. Das war Gisa von Berbeck. Und mit diesem Gedanken versank er erneut in den bodenlosen Abgrund der Ohnmacht.
6
Wie lange er dort so gelegen hatte, wusste er hinterher nicht zu sagen. Irgendwann brachte ihn jedoch heftiges Gezerre an seinem linken Bein wieder zu sich. Stöhnend versuchte er sich der unbekannten Kraft, die an ihm zog und zerrte, zu erwehren.