Das Labyrinth der Lichter - Carlos Ruiz Zafón - E-Book
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Das Labyrinth der Lichter E-Book

Carlos Ruiz Zafón

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Beschreibung

Packend, rasant und voller Magie - der neue Zafón! Carlos Ruiz Zafón, Autor des Weltbestsellers ›Der Schatten des Windes‹, ist zurück! Mit seinen Romanen rund um den Friedhof der Vergessenen Bücher schuf der spanische Bestsellerautor eine der faszinierendsten Erzählwelten aller Zeiten. Die Verheißung, die mit ›Der Schatten des Windes‹ begann, findet mit seinem neuen großen Roman ›Das Labyrinth der Lichter‹ ihre Vollendung. Spanien in den dunklen Tagen des Franco-Regimes: Ein Auftrag der Politischen Polizei führt die eigenwillige Alicia Gris von Madrid zurück in ihre Heimatstadt Barcelona. Unter größter Geheimhaltung soll sie das plötzliche Verschwinden des Ministers Mauricio Valls aufklären, dessen dunkle Vergangenheit als Direktor des Gefängnisses von Montjuïc ihn nun einzuholen scheint. In seinem Besitz befand sich ein geheimnisvolles Buch aus der Serie ›Das Labyrinth der Lichter‹, das Alicia auf schmerzliche Weise an ihr eigenes Schicksal erinnert. Es führt sie in die Buchhandlung Sempere & Söhne, tief in Barcelonas Herz. Der Zauber dieses Ortes schlägt sie in seinen Bann, und wie durch einen Nebel steigen Bilder ihrer Kindheit in ihr auf. Doch die Antworten, die Alicia dort findet, bringen nicht nur ihr Leben in allerhöchste Gefahr, sondern auch das der Menschen, die sie am meisten liebt. Meisterlich verknüpft Carlos Ruiz Zafón die Erzählfäden seiner Weltbestseller ›Der Schatten des Windes‹, ›Das Spiel des Engels‹ und ›Der Gefangene des Himmels‹ zu einem spannenden Finale.

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Seitenzahl: 1246

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Carlos Ruiz Zafón

Das Labyrinth der Lichter

Roman

 

Aus dem Spanischen von Peter Schwaar

 

Über dieses Buch

 

 

Barcelona in den kalten Wintertagen des Jahres 1959. Die junge Alicia Gris kehrt in ihre Heimatstadt zurück, um das überraschende Verschwinden des einflussreichen Ministers Mauricio Valls aufzuklären. In dessen Besitz befand sich ein geheimnisvolles Buch, das sie in die Buchhandlung Sempere & Söhne führt, tief ins Herz Barcelonas. Der Zauber dieses Ortes nimmt sie gefangen, und wie durch dichten Nebel steigen Bilder ihrer Kindheit in ihr auf. Doch die Antworten, die Alicia dort findet, öffnen die Tür zu einer finsteren Intrige und bringen all jene in Gefahr, die Alicia am meisten liebt.

 

Mit seinem meisterhaften neuen Roman führt uns Carlos Ruiz Zafón noch einmal in den Friedhof der Vergessenen Bücher – in eine Welt voller Zauber, Abenteuer und Spannung: der beste Zafón aller Zeiten!

 

»Carlos Ruiz Zafón ist wieder da – mit einem Paukenschlag! Ein Roman voller erzählerischer Wucht, Magie und großartiger Figuren.« La Vanguardia

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Carlos Ruiz Zafón begeisterte mit seinen Barcelona-Romanen um den Friedhof der Vergessenen Bücher ein Millionenpublikum auf der ganzen Welt. ›Der Schatten des Windes‹, ›Das Spiel des Engels‹, ›Der Gefangene des Himmels‹ und ›Das Labyrinth der Lichter‹ waren allesamt internationale Bestseller. Auch ›Marina‹, der Roman, den er kurz vor den großen Barcelona-Romanen schuf, stand wochenlang auf den Bestsellerlisten. Seine ersten Erfolge feierte Carlos Ruiz Zafón mit den drei phantastischen Schauerromanen ›Der Fürst des Nebels‹, ›Mitternachtspalast‹ und ›Der dunkle Wächter‹.

Carlos Ruiz Zafón wurde 1964 in Barcelona geboren und starb 2020 in seiner Wahlheimat Los Angeles.

Inhalt

Vorbemerkung

DER FRIEDHOF DER VERGESSENEN [...]

Daniels Buch

1. Kapitel

2. Kapitel

Dies Irae

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

Maskenball

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

Kyrie

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

Die Stadt der Spiegel

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

Die Vergessenen

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

Agnus Dei

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

Isabellas Heft

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

Libera Me

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

In Paradisum

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

Barcelona

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

1964. Kapitel

Eine Geschichte hat weder [...]

Juliáns Buch

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

Epilog

Bildnachweise

Dank

Jeder Roman ist ein Werk der Fiktion. Das gilt auch für die vier Bände rund um den Friedhof der Vergessenen Bücher. Sie sind inspiriert vom Barcelona des 20. Jahrhunderts, an manchen Stellen wurden jedoch das Erscheinungsbild realer Schauplätze, die Zeitrechnung oder andere Umstände an die erzählerischen Abläufe angepasst.

DER FRIEDHOF DER VERGESSENEN BÜCHER

Dieses Buch gehört zu einem Zyklus von Romanen, die sich im literarischen Universum des Friedhofs der Vergessenen Bücher überkreuzen. Sie sind miteinander durch Figuren und Handlungsstränge verbunden, die erzählerische und thematische Brücken schlagen, aber jeder enthält eine in sich geschlossene, von den anderen unabhängige Geschichte.

Die Romane können in beliebiger Abfolge – oder auch jeder für sich allein – gelesen werden, so dass der Leser über verschiedene Wege in dieses literarische Universum gelangen und es auskundschaften kann; miteinander verknüpft, werden sie ihn ins Zentrum der Geschichte führen.

Daniels Buch

1

In jener Nacht träumte ich, ich kehrte in den Friedhof der Vergessenen Bücher zurück. Ich war wieder zehn Jahre alt und erwachte in meinem alten Zimmer in dem Bewusstsein, dass mir die Erinnerung an das Gesicht meiner Mutter abhandengekommen war. Und so, wie man im Traum alles weiß, wusste ich, dass die Schuld bei mir lag und nur bei mir, weil ich es nicht verdient hatte, mich daran zu erinnern, weil ich unfähig gewesen war, ihr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Kurz danach kam mein Vater herein, alarmiert durch meine Angstschreie. Im Traum war er noch jung, war er es, der auf alle Fragen der Welt eine Antwort hatte. Jetzt umarmte er mich tröstend. Danach, als die ersten Lichter ein Barcelona im Dunst zeichneten, wollten wir auf die Straße hinaustreten, aber aus einem mir unerfindlichen Grund begleitete er mich nur bis zur Haustür. Dort ließ er meine Hand los, als wollte er mir zu verstehen geben, dass ich diese Reise allein antreten müsse.

Ich zog los, erinnere mich aber, dass die Kleider, die Schuhe und selbst die Haut schwer an mir zogen. Ein Schritt war anstrengender als der andere. Als ich auf die Ramblas gelangte, sah ich, dass die Stadt in einem Augenblick der Unendlichkeit verharrte. Die Menschen waren stehen geblieben, eingefroren wie die Gestalten auf einer alten Fotografie. Der Flügelschlag einer auffliegenden Taube war nur gerade eine verschwommene Skizze. Pollenfäserchen hingen unbeweglich wie pulverisiertes Licht in der Luft. Das Wasser des Canaletas-Brunnens glitzerte im Leeren gleich einem Kollier aus gläsernen Tränen.

Ganz langsam, als versuchte ich mich unter Wasser fortzubewegen, gelang es mir, in die Beschwörung dieses in der Zeit eingefrorenen Barcelonas einzudringen, bis ich den Eingang des Friedhofs der Vergessenen Bücher erreichte. Dort blieb ich erschöpft stehen. Ich begriff nicht, was für eine unsichtbare Last ich da mitschleppte, unter der ich mich kaum bewegen konnte. Ich packte den Türklopfer und ließ ihn aufs Portal fallen, aber niemand öffnete mir. Immer wieder hämmerte ich mit den Fäusten auf das große Holztor ein, doch der Wärter überhörte mein Drängen. Schließlich sank ich entkräftet in die Knie. Erst jetzt, als ich den Zauber betrachtete, den ich mitgeschleppt hatte, befiel mich die schreckliche Gewissheit, dass die Stadt und mein Schicksal für immer in diesem Spuk festgefroren bleiben würden und ich mir das Gesicht meiner Mutter nie wieder würde vergegenwärtigen können.

 

Als ich bereits jede Hoffnung fahrenlassen wollte, entdeckte ich es. Das Stück Metall war in der Innentasche meines Schülerjacketts mit den blau aufgestickten Initialen verborgen. Ein Schlüssel. Ich fragte mich, wie lange er da ohne mein Wissen schon stecken mochte. Er war rostig und wog fast so schwer wie mein Gewissen. Mit Müh und Not konnte ich ihn zum Schloss emporstemmen, und ihn zu drehen kostete mich fast den letzten Atem. Als ich schon dachte, ich würde es nie schaffen, gab das Schloss nach, und das Tor glitt nach innen auf.

Eine gewundene Galerie führte in den alten Palast hinein, mit einer Spur brennender Kerzen, die den Weg markierten. Ich tauchte in die Dunkelheit ein und hörte, wie sich die Tür hinter mir wieder verriegelte. Da erkannte ich den von Fresken mit Engeln und Fabelwesen gesäumten Gang wieder, die aus dem Schatten spähten und sich gleichzeitig mit mir zu bewegen schienen. Ich durchschritt den Gang bis zu einem Bogen, hinter dem sich ein mächtiges Gewölbe auftat, und blieb hier stehen. Vor mir erhob sich das große Labyrinth wie eine unendliche Luftspiegelung. Eine Spirale aus Treppen, Tunneln, Brücken und Bögen verflocht sich zu einer ewigen, aus sämtlichen Büchern der Welt errichteten Stadt und stieg zu einer riesigen Glaskuppel an.

Dort, am Fuß dieses Gefüges, wartete meine Mutter. Die Hände auf der Brust verschränkt, lag sie in einem offenen Sarg, die Haut so blass wie das weiße Kleid, das ihren Körper verhüllte. Ihre Lippen waren wie versiegelt, die Augen geschlossen. Leblos lag sie in der abwesenden Ruhe der toten Dinge und verlorenen Seelen. Ich tastete mich mit einer Hand vor, um ihr Gesicht zu streicheln. Ihre Haut war kalt wie Marmor. Da schlug sie die Augen auf, und ihr von Erinnerungen verhexter Blick bohrte sich in meine Augen. Als sie ihre überschatteten Lippen öffnete und sprach, klang ihre Stimme so donnernd, dass sie auf mich zuraste wie ein Güterzug, mich vom Boden riss und in einem endlosen Fall in der Schwebe hielt, während das Echo ihrer Worte die Welt zum Schmelzen brachte.

Du musst die Wahrheit erzählen, Daniel.

 

Schlagartig erwachte ich, in kalten Schweiß gebadet, im Dämmerlicht meines Zimmers und sah Bea neben mir liegen. Sie umarmte mich und streichelte mein Gesicht.

»Schon wieder?«, flüsterte sie.

Ich nickte und atmete tief.

»Du hast gesprochen – im Traum.«

»Was hab ich gesagt?«

»Unverständliche Dinge«, log sie.

Ich betrachtete sie, und sie lächelte mich an, mitleidig, wie mir schien, aber vielleicht auch nur geduldig.

»Schlaf noch ein bisschen. Der Wecker klingelt erst in anderthalb Stunden, und heute ist Dienstag.«

Dienstag hieß, dass es an mir war, Julián in die Schule zu bringen. Ich schloss die Augen und tat so, als schliefe ich ein. Als ich sie nach ein paar Minuten wieder öffnete, sah ich, dass Bea mich beobachtete.

»Was ist?«, fragte ich.

Sie beugte sich über mich und küsste mich zärtlich auf die Lippen. Ihr Mund schmeckte nach Zimt.

»Ich bin auch nicht mehr müde«, sagte sie leise.

Ich begann sie ohne Hast auszuziehen. Eben wollte ich die Laken wegziehen und auf den Boden werfen, als ich vor der Tür des Schlafzimmers leise Schritte hörte. Bea hielt meine Hand zurück, die zwischen ihren Schenkeln vordrang, und stützte sich auf den Ellbogen.

»Was ist denn, mein Herz?«

Der kleine Julián beobachtete uns in der Tür stehend mit einem Anflug von Scham und Ungeduld.

»Da ist jemand in meinem Zimmer«, flüsterte er.

Bea seufzte und streckte ihm die Arme entgegen. Eilig flüchtete er sich in die Umarmung seiner Mutter, und ich musste jede Hoffnung auf in Sünde empfangen fahren lassen.

»Der Scharlachprinz?«, fragte Bea.

Julián nickte zerknirscht.

»Papa geht jetzt sofort in dein Zimmer und verpasst ihm ein paar ordentliche Fußtritte, so dass er nie mehr wiederkommt.«

Julián warf mir einen verzweifelten Blick zu. Wozu ist ein Vater gut, wenn nicht für derlei Heldentaten. Ich lächelte ihm augenzwinkernd zu.

»Ordentliche Fußtritte«, wiederholte ich und setzte meine finsterste Miene auf.

Julián ließ den Anflug eines Lächelns sehen. Ich sprang aus dem Bett und lief durch den Gang zu seinem Zimmer. Es erinnerte mich so sehr an dasjenige, das ich in seinem Alter einige Stockwerke tiefer bewohnt hatte, dass ich mich einen Moment fragte, ob ich nicht doch noch im Traum gefangen war. Ich setzte mich auf die Bettkante und knipste die Nachttischlampe an. Julián lebte inmitten von Spielzeugen – darunter einigen Erbstücken von mir –, vor allem aber von Büchern. Sogleich fand ich den Verdächtigen, der sich unter der Matratze versteckt hatte. Ich ergriff das kleine, schwarz eingebundene Buch und schlug es auf der ersten Seite auf.

Das Labyrinth der Lichter VII

Ariadna und der Scharlachprinz

Text und Illustration von Víctor Mataix

Ich wusste einfach nicht mehr, wohin noch mit diesen Büchern. Sosehr ich mir auch das Hirn zermarterte, um neue Verstecke zu finden, spürte mein Sohn sie doch unfehlbar auf. Schnell blätterte ich das Buch durch, und wieder bestürmten mich die Erinnerungen.

Als ich ins Schlafzimmer zurückkam, nachdem ich den Band einmal mehr zuoberst in den Küchenschrank verbannt hatte – wo ihn der Kleine über kurz oder lang finden würde, das wusste ich genau –, fand ich Julián in den Armen seiner Mutter vor. Beide waren wieder eingeschlafen. Ich betrachtete sie von der Türschwelle aus. Ich vernahm ihr tiefes Atmen und fragte mich, was der größte Glückspilz auf Erden geleistet haben mochte, um sein Glück zu verdienen. Ich sah sie schlafen, ineinander verschlungen, weit weg von der Welt, und unwillkürlich erinnerte ich mich an die Angst, die ich verspürt hatte, als ich sie das erste Mal in dieser Umarmung sah.

2

In der Nacht, in der mein Sohn Julián geboren wurde und ich ihn zum ersten Mal in den Armen seiner Mutter sah, ganz in der gesegneten Ruhe derer, die noch nicht recht wissen, an was für einen Ort es sie verschlagen hat, verspürte ich den Drang, davonzurennen, immer weiter, bis ans Ende der Welt. Damals war ich selbst noch fast ein Kind, und sicherlich war das Leben einige Nummern zu groß für mich, aber wie viele Entschuldigungen ich auch vorbringen mag, ich spüre noch immer einen bitteren Nachgeschmack von Scham, wenn ich an diesen Anflug von Feigheit zurückdenke, die derjenigen zu beichten, der ich es am meisten schuldig war, ich auch nach all diesen Jahren noch nicht den Mut hatte.

 

Die Erinnerungen, die man im Schweigen begräbt, sind die, die einen unaufhörlich verfolgen. Die meine besteht in einem Raum mit unendlich hohen Decken und einem Hauch ockerfarbenen Lichts von einer herabhängenden Lampe, das die Umrisse eines Bettes erahnen ließ, auf dem ein erst siebzehn Jahre altes Mädchen mit einem Kind in den Armen lag. Als Bea, halb im Schlaf, aufschaute und mich anlächelte, füllten sich meine Augen mit Tränen. Ich kniete neben dem Bett nieder und vergrub das Gesicht in ihrem Schoß. Ich spürte, wie sie meine Hand ergriff und mit einem letzten Rest Kraft drückte.

»Hab keine Angst«, flüsterte sie.

Aber ich hatte Angst, und einen Augenblick lang, für den ich mich bis zum heutigen Tag schäme, hätte ich lieber an einem x-beliebigen Ort gesteckt als in diesem Zimmer und in dieser Haut. Fermín hatte die Szene von der Tür aus beobachtet, und wie üblich musste er meine Gedanken gelesen haben, ehe ich sie formulierte. Noch bevor ich den Mund öffnen konnte, nahm er mich am Arm, überließ Bea und den Kleinen der guten Gesellschaft seiner Verlobten Bernarda und führte mich zum Gang, einer langen Galerie, die sich im Halbdunkel verlor.

»Leben Sie noch, Daniel?«, fragte er.

Ich nickte vage, während ich versuchte, die Luft wiederzuerlangen, die ich unterwegs verloren hatte. Als ich Anstalten machte, ins Zimmer zurückzugehen, hielt er mich fest.

»Passen Sie auf: Wenn Sie das nächste Mal da hineingehen, dann bitte mit etwas besserer Laune. Zum Glück ist Señora Bea noch ein wenig weggetreten, so dass sie vermutlich nichts mitbekommen hat. Aber wenn Sie mir die Anregung gestatten, würde uns jetzt ein frisches Lüftchen gut bekommen, um den Schrecken loszuwerden und die zweite Gelegenheit feuriger anzupacken.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm mich Fermín beim Arm und führte mich durch den Gang auf einen zwischen Barcelona und dem Himmel schwebenden Balkon. Eine frische Brise, die ich dankbar empfing, umschmeichelte mir das Gesicht.

»Schließen Sie die Augen und atmen Sie dreimal tief ein. Ganz ruhig, als würde Ihre Lunge bis auf die Schuhe hinunterreichen«, riet er. »Das ist ein Trick, den mir ein höchst durchtriebener tibetanischer Mönch gezeigt hat, den ich in meiner Zeit als Empfangschef und Buchhalter eines kleinen Hafenbordells kennengelernt habe. Ein cleveres Kerlchen …«

Ich atmete dreimal tief ein wie verordnet und als Zugabe gleich noch dreimal, saugte die von Fermín und seinem tibetanischen Guru verheißenen Wohltaten der reinen Luft ein. Mir wurde ein wenig schwindelig, aber Fermín stützte mich.

»Sie müssen jetzt nicht in sich versinken. Kommen Sie wieder zu sich – die Lage verlangt Ruhe, aber nicht Entrückung.«

Ich öffnete die Augen, und mein Blick fiel auf die menschenleeren Straßen und die schlafende Stadt zu meinen Füßen. Es war etwa drei Uhr früh, und das San-Pablo-Krankenhaus lag in schwarzer Lethargie da, seine Zitadelle aus Kuppeln, Türmen und Bögen bildete Arabesken in dem Dunst, der vom Carmelo-Hügel herabstieg. Schweigend betrachtete ich dieses gleichgültige Barcelona, das nur von den Krankenhäusern aus zu sehen ist, so fern von den Ängsten und Hoffnungen des Beobachters, und ließ die Kälte langsam in mich eindringen, bis mein Geist wieder klar wurde.

»Sie halten mich bestimmt für einen Feigling«, sagte ich.

Fermín schaute mich unverwandt an und zuckte mit den Schultern.

»Dramatisieren Sie nicht. Ich denke viel eher, Sie haben einen niedrigen Blutdruck und einen hohen Beklemmungspegel, was auf dasselbe hinausläuft, Sie aber nicht der Verantwortung und des Spottes enthebt. Zum Glück habe ich die Lösung bei mir.«

Er knöpfte die Gabardine auf, einen unergründlichen Basar an Wunderdingen, der als ambulante Kräutersammlung, Raritätenkabinett und Aufbewahrungsort für Gerätschaften und Reliquien diente, welche er auf tausend Trödelmärkten oder bei halbseidenen Versteigerungen geborgen hatte.

»Es ist mir ein Rätsel, wie Sie so viel Kram mitschleppen können, Fermín.«

»Fortgeschrittene Physik. Da meine magere Anatomie mehrheitlich aus Muskel- und Knorpelfasern besteht, verstärkt dieses kleine Arsenal mein Gravitationsfeld und gewährt mir bei Wind und Gezeiten eine stabile Verankerung. Und glauben Sie nicht, dass Sie mich mit diesen Randbemerkungen, mit denen Sie neben den Topf urinieren, so leicht aus dem Konzept bringen – wir sind nicht hier heraufgekommen, um Abziehbildchen auszutauschen oder Süßholz zu raspeln.«

Nach dieser Klarstellung zog Fermín aus einer seiner unzähligen Taschen einen blechernen Flachmann und schraubte den Deckel ab. Er schnupperte daran, als handle es sich um die Ausströmungen des Paradieses, und lächelte zufrieden. Dann reichte er mir die Flasche, schaute mich feierlich an und nickte.

»Trinken Sie jetzt, oder es soll Ihnen ewig leidtun.«

Widerwillig ergriff ich den Flachmann.

»Was ist das? Es riecht nach angereichertem Uran …«

»Dummes Zeug. Es ist bloß ein Cocktail, dank dessen Zusammensetzung Tote und feige Milchgesichter ins Leben zurückgerufen werden, die die vom Schicksal auferlegte Verantwortung scheuen. Es ist eine auf meinem Mist gewachsene Magistralformel auf der Basis von Branntwein und Affenanis, die einem ordinären Brandy zugesetzt werden, den ich beim einäugigen Zigeuner vom Schnapskiosk kaufe, das Ganze mit einigen Tropfen Nuss- und Montserratlikör abgeschmeckt, um ihm das unvergleichliche Bouquet des katalanischen Schwemmlandes zu verleihen.«

»Du lieber Gott!«

»Kommen Sie schon, hier zeigt sich, wer Mumm hat oder wer nichts taugt. Und zwar ex, als wären Sie ein bei einem Hochzeitsmahl eingeschleuster Legionär.«

Ich gehorchte und schluckte dieses Höllengebräu hinunter, das nach gezuckertem Benzinhack schmeckte. Der Likör entzündete meine Innereien, und noch bevor ich wieder zu Verstand kam, hieß mich Fermín mit einer auffordernden Handbewegung das Ganze wiederholen. Trotz der Proteste und meiner erdbebenden Gedärme schluckte ich auch die zweite Dosis, dankbar für die Benommenheit und die Stimmungsaufhellung, die mir das Gesöff bescherte.

»Na?«, fragte Fermín. »Besser, nicht wahr? Das ist die Wegzehrung der Sieger.«

Ich nickte überzeugt, während ich schnaubend die Kragenknöpfe öffnete. Fermín nutzte die Chance und trank einen Schluck von seinem Mix; dann verwahrte er die Flasche wieder in seiner Gabardine.

»Es geht nichts über die Chemie, um die Lyrik zu zähmen. Aber kommen Sie mir ja nicht auf den Geschmack – mit dem Schnaps ist es wie mit dem Rattengift oder der Großzügigkeit: Je häufiger die Anwendung, desto geringer die Wirkung.«

»Seien Sie unbesorgt.«

Er deutete auf die beiden Havannazigarren, die aus einer anderen Tasche hervorlugten, schüttelte aber gleich mit einem Augenzwinkern den Kopf.

»Diese beiden als letzte Rettung aus dem Humidor meines amtierenden künftigen Schwiegervaters Don Gustavo Barceló stibitzten Cohibas hatte ich eigentlich für heute reserviert, aber ich glaube, wir verschieben sie besser auf einen anderen Tag, denn wie ich sehe, sind Sie nicht in Form, und es darf ja nicht sein, dass das Baby bei seiner Uraufführung schon zur Halbwaise wird.«

Fermín tätschelte mir liebevoll den Rücken und ließ einige Sekunden verstreichen, damit sich die Elemente seines Cocktails in meinem Blut verteilten und eine Wolke alkoholischer Gelassenheit das Gefühl dumpfer Panik verschleiern konnte, das mich im Bann hielt. Sowie er den glasigen Ton in meinem Blick und die geweiteten Pupillen bemerkte, die die Gesamtverblödung der Sinne einleiten, stürzte er sich in den Vortrag, an dem er zweifellos den ganzen Abend schon geschmiedet hatte.

»Mein lieber Daniel, Gott – oder wer immer in dessen Ermangelung dieses Amt bekleidet – hat gewollt, dass Vater werden und ein Kind zur Welt bringen leichter ist, als den Führerschein zu erwerben. Dieser unheilvolle Umstand führt dazu, dass sich Trottel, Armleuchter und Leichtfüße sonder Zahl zur Fortpflanzung bemüßigt fühlen und, das Banner der Vaterschaft vor sich hertragend, die armen Geschöpfe, die sie mit ihren Genitalien erzeugen, auf ewig ins Unglück stürzen. Aus diesem Grund muss ich mit der Autorität behaupten, die darauf fußt, dass auch ich meine geliebte Bernarda schwängern werde, sobald die Keimdrüse und der heilige Ehestand, welchen sie von mir als conditio sine qua non fordert, es erlauben, und Ihnen damit auf dieser Reise der großen Vaterverantwortung folgen werde, muss ich also behaupten, und ich behaupte es auch, dass Sie, Daniel Sempere Gispert, Grünschnabel auf der Schwelle zum Erwachsenenalter, trotz Ihres derzeitigen kümmerlichen Selbstvertrauens und fehlenden Glaubens an Ihre Tauglichkeit als pater familias zwar ein etwas ungeschickter Novize, aber dennoch ein beispielhafter Vater sind und sein werden.«

Schon in der Hälfte seines Vortrags war ich auf der Strecke geblieben, entweder wegen der Wirkung seines explosiven Rezepts oder wegen des grammatischen Feuerwerks, das mein guter Freund gezündet hatte.

»Fermín, ich weiß nicht genau, was Sie meinen.«

Er seufzte.

»Ich wollte sagen, dass ich natürlich weiß, dass Sie jetzt gerade die Kontrolle über Ihren Schließmuskel zu verlieren drohen und dass das alles zu viel für Sie ist, Daniel, aber wie Ihnen die Heilige, die Ihre Frau Gemahlin ist, zu verstehen gegeben hat, brauchen Sie sich nicht zu fürchten. Dass die Kinder, wenigstens Ihres, mit einem Brot und einem Lot unter dem Arm daherkommen und dass, wenn man in seiner Seele ein Minimum an Anstand und Schicklichkeit hat und dazu noch etwas im Oberstübchen, sich Mittel und Wege finden werden, ihr Leben nicht zu ruinieren und ein Vater zu sein, dessen Sie sich nie zu schämen brauchen.«

Verstohlen schaute ich dieses Männchen an, das sein Leben für mich hergegeben hätte und immer ein Wort oder auch zehntausend hatte, um alle Schwierigkeiten und meinen gelegentlichen Hang zur existentiellen Erschlaffung aus dem Weg zu räumen.

»Wäre es doch so einfach, wie Sie es darstellen, Fermín.«

»Nichts, was in diesem Leben die Mühe lohnt, ist einfach, Daniel. Als ich jung war, dachte ich, um durch die Welt zu ziehen, müsse man nur drei Dinge beherrschen lernen. Eins: die Schnürsenkel binden. Zwei: eine Frau gewissenhaft ausziehen. Und drei: lesen, um jeden Tag einige mit Geist und Geschick komponierte Seiten zu genießen. Ich dachte, ein Mensch, der selbstbewusst auftritt, zärtlich sein und der Musik der Wörter lauschen kann, lebe länger und lebe vor allen Dingen besser. Doch mit den Jahren habe ich gelernt, dass das nicht genügt und dass uns das Leben manchmal die Chance gibt, etwas Höheres anzustreben, als nur ein Zweibeiner zu sein, der isst, defäkiert und für eine gewisse Zeit einen Raum auf dem Planeten einnimmt. Und heute hat Ihnen das Schicksal in seiner unendlichen Unbewusstheit diese Chance bieten wollen.«

Ich nickte, nicht sehr überzeugt.

»Und wenn ich dem nicht gewachsen bin?«

»Daniel, wenn wir uns in einem ähnlich sind, dann darin, dass Ihnen und mir das Glück zuteilgeworden ist, eine Frau zu finden, die wir gar nicht verdienen. Es ist sonnenklar, dass auf dieser Reise sie den Ton angibt, und wir müssen einfach versuchen, dabei nicht zu versagen. Was meinen Sie?«

»Dass ich Ihnen liebend gern aufs Wort glauben würde, aber es fällt mir schwer.«

Fermín schüttelte langsam den Kopf, um das Ganze herunterzuspielen.

»Haben Sie keine Angst. Das ist der Spirituosenverschnitt, mit dem ich Sie abgefüllt habe und der nun Ihr beschränktes Verständnis für meine hochfliegende Rhetorik noch mehr vernebelt. Aber wie Sie wissen, habe ich in diesen Kämpfen mehr Kilometer auf dem Buckel als Sie, und normalerweise trage ich mehr Grips mit mir herum als ein Fuhrwerk voller Heiliger.«

»Das will ich nicht in Abrede stellen.«

»Und Sie tun gut daran, denn Sie würden schon beim ersten Angriff verlieren. Haben Sie Vertrauen zu mir?«

»Aber natürlich, Fermín. Mit Ihnen würde ich bis ans Ende der Welt gehen, das wissen Sie doch.«

»Dann hören Sie auf mich, und haben Sie auch zu sich selbst Vertrauen, so wie ich.«

Ich schaute ihn an und nickte langsam.

»Sind Sie wieder bei Verstand?«, fragte er.

»Ich glaube schon.«

»Dann bringen Sie diese traurige Gestalt in Ordnung, vergewissern Sie sich, dass Ihre Hodenmasse am richtigen Ort hängt, und gehen Sie ins Zimmer zurück, um Señora Bea und den Sprössling zu umarmen als der Mann, den die beiden eben aus Ihnen gemacht haben. Denn zweifeln Sie nicht daran, dass der junge Bursche, den ich vor Jahren eines Nachts unter den Bögen der Plaza Real kennenzulernen die Ehre hatte und der mir seither so viele Schrecken eingejagt hat, im Präludium dieses Abenteuers zurückzubleiben hat. Wir haben noch viel Geschichte zu durchleben, Daniel, und die, die uns erwartet, ist kein Kinderspiel mehr. Sind Sie an meiner Seite? Bis zu diesem Ende der Welt, das vielleicht gleich um die Ecke lauert?«

Ich konnte nicht anders, als ihn zu umarmen.

»Was würde ich ohne Sie tun, Fermín?«

»Sich oft täuschen. Und wenn wir bereits auf dieser Spur der Vorsicht sind: Bedenken Sie, dass das Einnehmen dieses Mischmaschs als eine der häufigsten Nebenwirkungen eine vorübergehende Lockerung des Schamgefühls sowie ein gewisses Überschäumen im Gefühlsmuskel nach sich zieht. Wenn also Señora Bea Sie jetzt eintreten sieht, dann schauen Sie ihr in die Augen, damit Sie weiß, dass Sie sie wirklich lieben.«

»Das weiß sie bereits.«

Geduldig schüttelte er den Kopf.

»Hören Sie auf mich. Sie brauchen es ja nicht unbedingt auszusprechen, wenn Sie sich genieren, wir Männer sind so, und das Testosteron befördert nicht unbedingt das Wort. Aber sie soll es spüren. Solche Dinge soll man weniger aussprechen als zeigen. Und zwar nicht nur hie und da, sondern jeden Tag.«

»Ich werd’s versuchen.«

»Tun Sie etwas Besseres als versuchen, Daniel.«

Und dergestalt von Fermín der ewigen, zerbrechlichen Zuflucht meiner Jugend beraubt, ging ich ins Zimmer zurück, wo mich mein Schicksal erwartete.

 

Viele Jahre später sollte ich mich wieder an diese Nachtstunden erinnern, als ich, zurückgezogen im Hinterraum der alten Buchhandlung in der Calle Santa Ana, ein weiteres Mal den Kampf mit der weißen Seite aufnehmen wollte und nicht wusste, wo ich anfangen sollte, mir selbst die wahre Geschichte meiner Familie zu erklären – ein Unterfangen, mit dem ich mich seit Monaten oder Jahren herumschlug, ohne auch nur eine einzige brauchbare Zeile zustande gebracht zu haben.

Fermín, eine aufkeimende Schlaflosigkeit nutzend, hatte beschlossen, mir einen nächtlichen Besuch abzustatten. Als er mich, bewaffnet mit einer Füllfeder, aus der es tropfte wie aus einem Gebrauchtwagen, dahinsiechend vor einem weißen Blatt sitzen sah, nahm er neben mir Platz und betrachtete das Meer zerknüllter Blätter zu meinen Füßen.

»Nehmen Sie es mir nicht übel, Daniel, aber haben Sie auch nur die geringste Vorstellung von dem, was Sie da tun?«

»Nein«, gab ich zu. »Vielleicht wäre alles anders, wenn ich’s mit einer Schreibmaschine versuchte. Laut den Annoncen soll die Underwood die Wahl der Profis sein.«

Fermín erwog die Verheißung der Werbung, schüttelte aber langsam den Kopf.

»Zwischen Tippen und Schreiben liegen Lichtjahre.«

»Danke für die Ermutigung. Und was tun eigentlich Sie hier zu dieser Stunde?«

Er betastete seinen Bauch.

»Die Einnahme eines ganzen frittierten Spanferkels hat mir den Magen durcheinandergebracht.«

»Möchten Sie ein wenig Bikarbonat?«

»Besser nicht, das beschert mir eine Nachtlatte, mit Verlaub, und dann kann ich erst recht kein Auge zutun.«

Ich legte den Füller weg und mit ihm meinen x-ten Versuch, einen brauchbaren Satz niederzuschreiben. Ich suchte den Blick meines Freundes.

»Alles in Ordnung hier, Daniel? Abgesehen von Ihrer fruchtlosen Kampagne gegen die Erzählkunst, meine ich.«

Ich zuckte mit den Schultern. Wie immer war Fermín in einem schicksalhaften Moment erschienen und machte seiner Eigenschaft als Schalcus ex Machina alle Ehre.

»Ich weiß nicht recht, wie ich Sie etwas fragen soll, was mir seit längerem durch den Kopf geht«, sagte ich.

Er hielt sich die Hand vor den Mund, um einen kurzen, aber innigen Rülpser fahrenzulassen.

»Wenn es um eine spezielle Technik im Schlafgemach geht, dann nur zu, ohne Scham – ich erinnere Sie daran, dass ich auf diesem Gebiet so was wie ein diplomierter Arzt bin.«

»Nein, es ist kein Bettthema.«

»Schade, ich habe frische Informationen zu ein paar neuen Kniffs, die …«

»Fermín«, unterbrach ich ihn, »glauben Sie, ich habe das Leben gelebt, das ich leben musste, dass ich ihm gewachsen war?«

Fermín blieb das Wort im Mund stecken. Seufzend senkte er den Blick.

»Sagen Sie mir nicht, das sei das, wovon in Wirklichkeit diese Ihre Phrase vom gestrandeten Balzac handelt. Die Suche nach dem Geist und so …«

»Schreibt man denn nicht, um sich selbst und die Welt besser zu verstehen?«

»Nicht, wenn man weiß, was man tut, etwas, was Sie …«

»Sie sind ein denkbar schlechter Beichtvater, Fermín. Helfen Sie mir doch ein wenig.«

»Ich dachte, Sie würden Romancier, nicht ein Frömmler.«

»Sagen Sie mir die Wahrheit. Sie, der Sie mich von Kindesbeinen an kennen – habe ich Sie enttäuscht? Bin ich der Daniel gewesen, den Sie erwartet haben? Der, den sich meine Mutter gewünscht hätte? Sagen Sie mir die Wahrheit.«

Er verdrehte die Augen.

»Die Wahrheit, das sind die Dummheiten, die die Leute von sich geben, wenn sie etwas zu wissen meinen, Daniel. Ich weiß von der Wahrheit etwa so viel wie von der Größe des Büstenhalters, den dieses großartige Weib mit spitzem Namen und Busen verwendet, das wir neulich im Kino Capitol gesehen haben.«

»Kim Novak.«

»Die Gott und das Gesetz der Schwerkraft selig haben mögen. Nein, Sie haben mich nicht enttäuscht, Daniel. Nie. Sie sind ein guter Mensch und ein guter Freund. Und wenn Sie meine Meinung wissen wollen, ja, ich glaube, dass Ihre verstorbene Mutter Isabella stolz auf Sie gewesen wäre und Sie für einen guten Sohn gehalten hätte.«

»Aber nicht für einen guten Romancier«, sagte ich lächelnd.

»Schauen Sie, Daniel, von einem Romancier haben Sie etwa so viel wie ich von einem Dominikanermönch. Und Sie wissen es auch. Das ändert keine Füllfeder oder Underwood unter der Sonne.«

Ich seufzte und versank in einem langen Schweigen. Fermín betrachtete mich nachdenklich.

»Wissen Sie, was, Daniel? Was ich wirklich denke, ist, dass nach allem, was Sie und ich durchgemacht haben, ich noch immer der arme Pechvogel bin, den Sie auf der Straße liegend gefunden und aus Nächstenliebe zu sich mitgenommen haben, und dass Sie noch immer dieser hilflose Junge sind, der verloren durch die Welt ging und über ein Geheimnis nach dem anderen stolperte im Glauben, wenn er sie löste, würde er vielleicht wie durch ein Wunder das Antlitz seiner Mutter wiederfinden und die Erinnerung an die Wahrheit, die die Welt ihm gestohlen hatte.«

Ich wog seine Worte ab, die mir bis ins Mark gedrungen waren.

»Und wäre es so schrecklich, wenn das zuträfe?«

»Es könnte schlimmer sein. Sie könnten ein Romancier sein, wie Ihr Freund Carax.«

»Vielleicht müsste ich ihn finden und dazu bringen, dass er diese Geschichte schreibt. Unsere Geschichte.«

»Das sagt manchmal Ihr Sohn Julián.«

Ich schaute ihn argwöhnisch an.

»Was sagt Julián? Was weiß Julián von Carax? Haben Sie mit meinem Sohn über Carax gesprochen?«

Er setzte sein offizielles Gesicht eines geschlachteten Lämmleins auf.

»Ich?«

»Was haben Sie ihm erzählt?«

Er schnaubte verharmlosend.

»Kleinigkeiten. Höchstens ganz unbedeutende Fußnoten. Aber der Junge ist eine Forschernatur und hat einen blendenden Verstand, und so schnappt er natürlich alles auf und macht sich seinen Reim darauf. Es ist nicht meine Schuld, wenn der Kleine aufgeweckt ist. Ganz offensichtlich schlägt er nicht nach Ihnen.«

»Mein Gott … Und weiß Bea schon, dass Sie mit ihm über Carax gesprochen haben?«

»In Ihr Eheleben mische ich mich nicht ein. Aber ich bezweifle, dass es viel gibt, was Señora Bea nicht weiß oder ahnt.«

»Ich verbiete Ihnen strikt, mit meinem Sohn über Carax zu sprechen, Fermín.«

Er legte sich die Hand auf die Brust und nickte feierlich.

»Meine Lippen sind versiegelt. Es möge die schwärzeste Schande auf mich fallen, sollte ich in einem Moment geistiger Umnachtung dieses feierliche Schweigegelübde brechen.«

»Und da wir schon dabei sind, lassen Sie auch Kim Novak aus dem Spiel – ich kenne Sie.«

»Da bin ich so unschuldig wie das Lämmchen, das die Sünde der Welt auf sich nimmt, denn dieses Thema bringt der Junge zur Sprache, der alles andere als auf den Kopf gefallen ist.«

»Sie sind unmöglich.«

»Ich akzeptiere selbstlos Ihre ungerechten Sticheleien, denn ich weiß, dass sie der Frustration über Ihre eigene magere Erfindungsgabe entspringen. Haben Euer Exzellenz der Liste der nicht zu Erwähnenden außer Carax noch einen weiteren Namen beizufügen? Bakunin? Estrellita Castro?«

»Warum gehen Sie nicht schlafen und lassen mich in Frieden, Fermín?«

»Und Sie hier alleinlassen, Auge in Auge mit der Gefahr? Kommt nicht in Frage, wenigstens ein vernünftiger Erwachsener muss sich unter den Anwesenden befinden.«

Er taxierte fasziniert den Füllfederhalter und den Stapel weißer Blätter auf dem Schreibtisch, als handle es sich um ein Arsenal chirurgischer Instrumente.

»Und wissen Sie schon, wie Sie das Ganze angehen wollen?«

»Nein. Ich war eben dabei, als Sie kamen und angefangen haben, dummes Zeug zu quasseln.«

»Unsinn. Ohne mich können Sie nicht mal die Einkaufsliste erstellen.«

Schließlich war er überzeugt, riss sich angesichts der titanischen Aufgabe, die unser harrte, zusammen, pflanzte sich auf einen Stuhl neben mir und sah mir so intensiv in die Augen, wie es nur Menschen tun, die sich fast wortlos verständigen können.

»Wenn wir schon bei Listen sind: Schauen Sie, von der Romanproduktion verstehe ich weniger als von der Herstellung und Verwendung des Büßergürtels, aber ich denke, ehe man überhaupt etwas zu erzählen beginnt, sollte man eine Liste dessen anlegen, was man erzählen will, also ein Inventar.«

»Eine Marschroute?«

»Eine Marschroute entwirft man, wenn man nicht recht weiß, wohin man gehen will, und so sich selbst und ein paar weitere Dummköpfe überzeugt, dass man irgendwohin geht.«

»Das ist gar keine so schlechte Idee. Selbsttäuschung ist das Geheimnis jedes unmöglichen Unterfangens.«

»Sehen Sie? Wir sind ein unschlagbares Team. Sie schreiben, und ich denke.«

»Dann denken Sie laut.«

»Und befindet sich genug Tinte in diesem Dings da für die Hin- und Rückfahrt zur Hölle?«

»Genug, um loszumarschieren.«

»Jetzt müssen wir nur noch entscheiden, wo wir mit dem Erstellen der Liste beginnen sollen.«

»Wie wär’s, damit, wie Sie sie kennengelernt haben?«

»Wen?«

»Wen wohl, Fermín? Unsere Alicia im Wunderbarcelona.«

Ein Schatten wanderte über Fermíns Gesicht.

»Ich glaube, diese Geschichte habe ich niemandem erzählt, nicht einmal Ihnen, Daniel.«

»Durch welche Tür könnte man also besser ins Labyrinth einsteigen?«

»Ein Mensch müsste, wenn er stirbt, das eine oder andere Geheimnis mitnehmen dürfen«, warf Fermín ein.

»Allzu viele Geheimnisse bringen einen Menschen vorzeitig ins Grab.«

Überrascht hob Fermín die Brauen.

»Wer hat das gesagt? Sokrates? Ich?«

»Nein. Ausnahmsweise Daniel Sempere Gispert, der Homo Naivus Naivi, vor wenigen Sekunden.«

Fermín lächelte zufrieden, schälte ein Zitronensugus aus dem Papier und steckte es sich in den Mund.

»Es hat Sie zwar Jahre gekostet, aber allmählich lernen Sie vom Meister, Sie kleiner Gauner. Wollen Sie auch eins?«

Ich nahm das Sugus, weil ich wusste, dass es von allen Besitztümern meines Freundes Fermín das wertvollste Stück war und es mich ehrte, seinen Schatz zu teilen.

»Haben Sie diesen abgedroschenen Satz auch einmal gehört, dass in der Liebe und im Krieg alles erlaubt ist, Daniel?«

»Ein paarmal. Normalerweise aus dem Mund derer, die eher für den Krieg sind als für die Liebe.«

»So ist es, denn im Grunde ist es eine faule Lüge.«

»Ist das nun also eine Liebes- oder eine Kriegsgeschichte?«

Fermín zuckte mit den Schultern.

»Worin besteht der Unterschied?«

Und so begann Fermín im Schutz der Mitternacht, zweier Sugus und eines Zaubers der Erinnerungen, die sich im Nebel der Zeit zu verflüchtigen drohten, die Fäden zu spinnen, aus denen das Gewebe von Ende und Anfang unserer Geschichte gewirkt werden sollte.

Auszug aus

Das Labyrinth der Lichter

(Der Friedhof der Vergessenen Bücher, Band IV)

von Julián Carax

Éditions de la Lumière, Paris 1992

Herausgegeben von Émile de Rosiers Castellaine

Dies Irae

BarcelonaMärz 1938

1

Er wurde von den Attacken des Meers geweckt. Als der blinde Passagier die Augen öffnete, blickte er in ein Dunkel, das sich in der Unendlichkeit verlor. Das Schaukeln des Schiffs, der Salpetergestank und das Scheuern des Wassers am Rumpf riefen ihm in Erinnerung, dass er sich nicht auf dem Festland befand. Er warf die Säcke von sich, die ihm als Lager gedient hatten, richtete sich langsam auf und versuchte, die Flucht von Säulen und Bögen zu ergründen, die den Laderaum des Schiffs bildeten. Es kam ihm vor wie ein Traum, eine versunkene Kathedrale, gefüllt mit der in hundert Museen und Palästen geraubten Beute. Zwischen einer Batterie von Skulpturen und Gemälden zeichneten sich die Umrisse zahlreicher Luxuswagen unter halb durchsichtigen Planen ab. Neben einer riesigen Uhr mit Glockenspiel erkannte man einen Käfig, zwischen dessen Stäben hindurch ihn ein prächtig gefiederter Papagei streng musterte, seinen Status als blinder Passagier offenbar missbilligend. Etwas weiter entfernt erspähte er eine Replik von Michelangelos David, den ein Spaßvogel mit einem Dreispitz der Guardia Civil gekrönt hatte. Dahinter eine geisterhafte Armee von Schaufensterpuppen, die in Kleidern der Epoche steckten und in einem endlosen Wiener Walzer festgefroren schienen. An einer Seite lehnte ein Stapel gerahmter Plakate an einer Luxustrauerkutsche mit verglaster Karosserie samt Sarg. Eines der Plakate, noch aus Vorkriegszeiten, kündigte einen Stierkampf in Las Arenas an. Auf der Liste der Stierkämpfer zu Pferd figurierte der Name eines gewissen Fermín Romero de Torres. Seine Augen strichen liebevoll über die Buchstaben, und der blinde Passagier, damals noch unter anderem Namen bekannt, den er in der Asche dieses Krieges bald würde zurücklassen müssen, bildete stumm mit den Lippen die Wörter:

Fermín Romero de Torres

Ein guter Name, dachte er. Musikalisch. Opernhaft. Ganz der epischen, vom Leben zerrissenen Existenz des ewigen blinden Passagiers entsprechend. Fermín Romero de Torres oder das hagere, an einer riesigen Nase hängende Männchen, das eines nicht so fernen Tages diesen Namen annehmen sollte, hatte die letzten beiden Tage im Bauch dieses Frachters verbracht, der vor zwei Nächten in Valencia ausgelaufen war. Wie durch ein Wunder war es ihm gelungen, sich an Bord zu schmuggeln, versteckt in einer riesigen Kiste voller alter Gewehre, die getarnt zwischen allen möglichen anderen Waren stand. Teilweise schützten zugeknotete Säcke die Gewehre vor der Feuchtigkeit, aber die meisten waren unverpackt aufeinandergeschichtet, so dass er den Eindruck hatte, eher als den Feind zu Fall bringen, würden sie einem unglücklichen Milizangehörigen oder auch ihm selbst, wenn er sich am falschen Ort abstützte, ins Gesicht hinein explodieren.

Um sich die Beine zu vertreten und die von der Kälte und der aus den Wänden des Rumpfs sickernden Feuchtigkeit taub gewordenen Glieder zum Leben zu erwecken, wagte sich Fermín jede halbe Stunde ins Gewirr von Containern und Versorgungsmaterial auf der Suche nach etwas Essbarem oder doch zumindest einem Zeitvertreib. Auf einem seiner Gänge hatte er mit einem Mäuschen Freundschaft geschlossen, das schon lange in diesem abenteuerlichen Geschäft war und sich ihm nach anfänglichem Misstrauen scheu näherte und mit ihm in der Wärme seines Schoßes einige Stückchen herben Käse teilte, den Fermín in einer der Lebensmittelkisten gefunden hatte. Der Käse – oder was immer diese schwammig-fette Substanz sein mochte – schmeckte nach Seife, und soweit Fermíns gastronomische Kompetenz reichte, gab es keinen Hinweis darauf, dass bei seiner Herstellung eine Kuh, oder sonst ein Wiederkäuer, ihre Hand oder Klaue im Spiel gehabt hätte. Aber weise Menschen wussten, dass sich über Geschmack nicht streiten ließ, und sollte dem doch so sein, änderte das Elend jener Tage diese Aussage nachdrücklich, so dass die beiden ihr Festmahl mit einer Begeisterung genossen, wie sie nur in Monaten chronischen Hungers möglich ist.

»Mein lieber Nager, einer der Vorteile von Kriegen ist, dass einem der Schlangenfraß von einem Tag auf den anderen wie eine Götterspeise vorkommt, und sogar eine klug aufgespießte Scheiße beginnt ein sensationelles Bouquet von Pariser Boulangerie zu verströmen. Diese halbmilitärische Kost von auf Schmutzwasser und mit Sägemehl gestreckten Brotkrumen basierenden Suppen härtet den Geist ab und fördert die Sensibilität des Gaumens bis zu dem Punkt, an dem man eines Tages merkt, dass selbst der Kork an den Wänden nach iberischer Schweineschwarte schmecken kann, wenn uns das Glück nicht lacht.«

Das Mäuschen hörte Fermín geduldig zu. Manchmal schlief es, wenn es satt war, zu seinen Füßen ein. Fermín betrachtete es und vermutete, sie beide hätten sich angefreundet, weil sie sich im Grunde ähnlich waren.

»Sie und ich, wir sind einer wie der andere, Herr Kollege, wir erdulden stoisch die Plage des aufrecht gehenden Affen und kratzen zusammen, was möglich ist, um sie zu überleben. So Gott will, sterben die Primaten eines nicht allzu fernen Tages auf einen kräftigen Backenstreich hin aus und besehen sich alsdann, zusammen mit dem Diplodocus, dem Mammut und dem Riesenpinguin, die Radieschen von unten, damit Sie, arbeitsame, friedliche Wesen, die sich mit Essen, Bumsen und Schlafen begnügen, die Erde erben oder wenigstens mit der Schabe und dem einen oder anderen Käfer teilen können.«

Falls das Mäuschen Einwände hatte, ließ es nichts davon verlauten. Es wollte bloß ein freundschaftliches und unverstelltes Zusammenleben, ein Gentlemen’s Agreement. Tagsüber hörten sie das Echo der Schritte und die Stimmen der Matrosen im Kielraum widerhallen. In den seltenen Momenten, da sich ein Besatzungsmitglied herunterwagte – fast immer, um etwas zu stehlen –, versteckte sich Fermín wieder in der Gewehrkiste und machte, eingelullt von Meer und Schießpulverduft, ein Nickerchen. Als er an seinem zweiten Tag an Bord das Sortiment an Wunderdingen auskundschaftete, die im Bauch dieses Leviathans verborgen waren, fand er, ganz moderner Jonas und Teilgelehrter der heiligen Schriften, eine Kiste voller Bibeln in erlesenen Einbänden. Der Fund erschien ihm zumindest kühn und pittoresk, aber mangels eines anderen literarischen Menüs lieh er sich ein Exemplar aus und las im Licht einer ebenfalls stibitzten Kerze sich selbst und seinem Reisegefährten ausgewählte Teile des Alten Testaments vor, das ihm immer sehr viel ansprechender und blutrünstiger vorgekommen war als das Neue.

»Passen Sie auf, Offizier, jetzt kommt eine unsagbare Parabel von tiefer Symbolik, angerichtet mit Inzesten und Verstümmelungen, die sogar den Brüdern Grimm einen blitzschnellen Wechsel der Unterhosen nahelegen.«

So vergingen die Stunden und Tage des Asyls auf See, bis am frühen Morgen des 17. März 1938 Fermín die Augen öffnete und feststellte, dass sein Freund, der Nager, verschwunden war. Vielleicht war es die Lesung einiger Abschnitte aus der Offenbarung des Johannes am Vorabend gewesen, die das Mäuschen erschreckt hatte, oder vielleicht auch die Vorahnung, dass die Überfahrt zu Ende ging und dass es angezeigt war, sich dünnzumachen.

Fermín, dessen Glieder nach einer weiteren Nacht in der knochendurchbohrenden Kälte taub waren, wankte zum Aussichtspunkt, als der ihm eines der Bullaugen diente, durch die der Hauch einer scharlachroten Morgendämmerung drang. Die runde Luke lag nur zwei Handbreit über der Wasserlinie, und Fermín konnte die Sonne über einem weinfarbenen Meer aufgehen sehen. Den Munitionskisten und einem Schwarm rostiger, zusammengebundener Fahrräder ausweichend, ging er quer durch den Laderaum auf die andere Seite und warf einen Blick hinaus. Der dunstige Strahl des Hafenleuchtturms bestrich den Schiffsrumpf und projizierte momentweise eine Garbe von Lichtnadeln durch sämtliche Bullaugen des Laderaums. Etwas weiter entfernt breitete sich die Stadt Barcelona aus, ein Blendwerk aus Dunst, der sich zwischen Wachtürmen, Kuppeln und Türmen hindurchwand. Fermín lächelte vor sich hin und vergaß für einen Augenblick die Kälte und die Quetschungen, die er sich in den Geplänkeln und unglücklichen Begegnungen in seinem letzten Durchgangshafen eingehandelt hatte.

»Lucía …«, flüsterte er und vergegenwärtigte sich die Zeichnung dieses Gesichts. Die Erinnerung daran hatte ihn in den kritischsten Situationen am Leben erhalten.

Aus der Innentasche seines Jacketts zog er den Brief hervor, den er seit seiner Abfahrt aus Valencia dort aufbewahrte, und seufzte. Der Traum verflüchtigte sich fast auf der Stelle. Das Schiff befand sich schon sehr viel näher am Hafen, als er angenommen hatte. Jeder blinde Passagier, der etwas auf sich hält, weiß, dass die Schwierigkeit nicht darin besteht, sich an Bord zu schmuggeln, sondern die Überfahrt heil zu überstehen und das Schiff ungesehen wieder zu verlassen. Wenn er die Hoffnung hatte, eigenen Fußes und mit sämtlichen Knochen an Ort und Stelle festen Boden zu betreten, dann war es höchste Zeit, sich jetzt eine Fluchtstrategie zurechtzulegen. Während er die Schritte und Aktivitäten der Besatzung auf dem Deck sich verdoppeln hörte, spürte er, dass das Schiff beizudrehen begann und die Motoren beim Passieren der Hafeneinfahrt gedrosselt wurden. Er steckte den Brief wieder ein und beseitigte eilig die Spuren seiner Anwesenheit, versteckte die niedergebrannten Kerzenstümpfe, die Säcke, die ihm als Lager gedient hatten, die Bibel seiner kontemplativen Lesungen und die Krumen von Käseersatz und ranzigen Plätzchen, die noch übrig geblieben waren. Dann verschloss er die Kisten, die er auf der Suche nach Lebensmitteln geöffnet hatte, indem er die Nägel mit dem nackten Absatz seiner entseelten Stiefel wieder einschlug. Als er so sein karges Schuhwerk betrachtete, sagte er sich, sobald er festen Boden unter den Füßen und sein Versprechen eingelöst hätte, wäre sein nächstes Ziel die Beschaffung von Schuhen, die nicht wie aus einem Leichenhaus entwendet aussähen. Während der blinde Passagier im Schiffsbauch zugange war, konnte er durch die Bullaugen sehen, wie das Schiff langsam ins Barceloner Hafenwasser einfuhr. Noch einmal drückte er die Nase ans Glas, und es lief ihm kalt den Rücken hinunter, als er oben auf dem Hügel die Umrisse des Kastells und Militärgefängnisses Montjuïc erblickte, das wie ein Raubvogel über der Stadt dräute.

»Wenn du dich nicht vorsiehst, landest du dort …«, sagte er zu sich.

In der Ferne zeichnete sich die Nadel des Kolumbusdenkmals ab, der Zeigefinger wie immer in die falsche Richtung gereckt, als wäre der balearische Archipel der amerikanische Kontinent. Hinter dem orientierungslosen Entdecker öffneten sich die Ramblas und stiegen sanft zum Zentrum der Altstadt an, wo Lucía wartete. Einen Augenblick stellte er sie sich parfümiert zwischen den Laken vor. Schuld- und Schamgefühle verdrängten das Bild aus seinen Gedanken. Er hatte sein Versprechen gebrochen.

»Schuft«, sagte er zu sich selbst.

Dreizehn Monate und sieben Tage waren vergangen, seit er sie zum letzten Mal gesehen hatte – dreizehn Monate, die auf ihm lasteten wie dreizehn Jahre. Das letzte Bild, das er vor der Rückkehr in sein Versteck noch aufschnappen konnte, war das der Jungfrau de la Merced, der Stadtheiligen, oben auf der Kuppel ihrer Basilika gegenüber dem Hafen und in dauernder Bereitschaft, gleich über die Dächer Barcelonas davonzufliegen. In ihre Hände legte er seine Seele und seine traurige Gestalt; zwar hatte er keinen Fuß mehr in eine Kirche gesetzt, seit er als Neunjähriger die Kapelle seines Geburtsdorfs mit der Gemeindebibliothek verwechselt hatte, doch jetzt schwor Fermín jedem, der es hören konnte und wollte, dass er, wenn sich die Jungfrau (oder irgendein in Himmelsangelegenheiten befugter Delegierter) für ihn verwende und ihm helfe, ohne schweren Zwischenfall und zwangsläufig tödliche Verletzungen den sicheren Hafen zu erreichen, sein Leben auf die geistige Kontemplation hin neu ausrichten und beflissener Kunde der Messbuchindustrie werden würde. Nach getanem Gelübde bekreuzigte er sich zweimal und verschwand eilends wieder in der Gewehrkiste, wo er auf dem Bett aus Waffen lag wie ein Toter in seinem Sarg. Als er eben den Deckel schließen wollte, erblickte er seinen Reisegefährten, das Mäuschen, das ihn von der Höhe der bis zur Decke des Laderaums aufeinandergestapelten Truhen beobachtete.

»Bonne chance, mon ami«, sagte es leise.

Eine Sekunde später versank er in der nach Schießpulver riechenden Dunkelheit, an der Haut das kalte Metall der Gewehre. Die Würfel seines Schicksals waren unwiderruflich gefallen.

2

Nach einer Weile bemerkte Fermín, dass das Motorengeräusch allmählich verstummte und das Schiff sich im sanften Hafenwasser wiegte. Nach seinen Berechnungen war es noch zu früh, um schon die Mole erreicht zu haben. Nach den zwei, drei Zwischenhalten auf der Fahrt hatten seine Ohren das Protokoll und die Kakophonie des Anlegemanövers deuten gelernt, von den rollenden Ankertauen und der hämmernden Ankerkette bis zum Ächzen des Schiffsgerippes unter dem Druck des Rumpfes, wenn er gegen die Mole prallte. Außer einem ungewöhnlichen Gewirr von Schritten und Stimmen auf Deck konnte er kein solches Anzeichen erkennen. Aus irgendeinem Grund hatte der Kapitän offensichtlich beschlossen, das Schiff vorzeitig zu stoppen, und Fermín, der in den fast zwei vorangegangenen Kriegsjahren gelernt hatte, dass das Unerwartete oft mit dem Bedauerlichen Hand in Hand ging, presste die Zähne zusammen und bekreuzigte sich erneut.

»Liebste Jungfrau, ich verzichte auf meinen unbezähmbaren Agnostizismus und die tückischen Anregungen der modernen Physik«, flüsterte er in seinem sargähnlichen Versteck, das er mit Gewehren aus dritter Hand teilte.

Sein Flehen wurde rasch beantwortet. Er hörte, wie sich etwas näherte, das ein anderes, kleineres Boot zu sein schien, und den Schiffsrumpf berührte. Augenblicke später fielen schwere, fast martialische Schritte aufs Deck und brachten die Besatzung in Aufruhr. Fermín erschrak. Sie waren geentert worden.

3

Dreißig Jahre zur See, und immer ist das Schlimmste bei der Landung passiert, dachte Kapitän Arráez, während er von der Brücke aus die Gruppe Männer betrachtete, die eben das Backbordfallreep heraufgeklettert waren. Sie fuchtelten drohend mit Gewehren und stießen die Besatzung beiseite, so dass der Weg frei war für den, in dem der Kapitän ihren Anführer vermutete. Arráez war einer dieser Seebären, deren Gesicht und Haar von Sonne und Salpeter flambiert und deren flüssiger Blick immer wie von einem Tränenschleier getrübt ist. Als junger Mann hatte er geglaubt, dass man zur See geht, um Abenteuer zu erleben, doch die Jahre hatten ihn gelehrt, dass einen das Abenteuer immer im Hafen erwartete, und zwar auf hinterhältige Art. Auf dem Meer gab es nichts, was er fürchtete; auf dem Festland jedoch wurde er, vor allem in diesen Tagen, von Übelkeit gepackt.

»Bermejo, gehen Sie ans Funkgerät und benachrichtigen Sie den Hafen, dass wir einstweilen angehalten worden sind und mit einiger Verspätung eintreffen.«

Bermejo, sein erster Offizier, erblasste neben ihm und verfiel in das Zittern, das er in den letzten Monaten der Bombardierungen und Gefechte entwickelt hatte. Ehemals Obermaat auf Kreuzfahrten auf dem Guadalquivir, fehlte dem armen Bermejo jetzt der Magen für diese Art Tätigkeit.

»Was soll ich sagen, wer uns angehalten hat, Käpt’n?«

Arráez fasste den Mann ins Auge, der gerade sein Deck betreten hatte. In einem schwarzen Regenmantel steckend und mit Handschuhen und breitkrempigem Hut ausgerüstet, schien er als Einziger unbewaffnet zu sein. Arráez beobachtete, wie er langsam übers Deck schritt. Seine Bewegungen verrieten eine perfekt einstudierte Bedächtigkeit und Gleichgültigkeit. Obwohl seine Augen hinter dunklen Gläsern verborgen waren, bemerkte man, dass sie über die Gesichter der Besatzung glitten, wobei sein eigenes nicht den geringsten Ausdruck zeigte. Schließlich blieb er mitten auf dem Deck stehen, schaute zur Brücke hinauf, zog zur Begrüßung den Hut und stellte ein reptilhaftes Grinsen zur Schau.

»Fumero«, sagte der Kapitän leise.

Bermejo, der um zehn Zentimeter geschrumpft war, seit dieser Mann übers Deck geschlängelt war, schaute ihn an, weiß wie Gips.

»Wer?«, brachte er knapp heraus.

»Politische Polizei. Gehen Sie runter und sagen Sie den Männern, es soll sich keiner dumm anstellen. Und dann geben Sie die Meldung an den Hafen durch, wie ich Ihnen gesagt habe.«

Bermejo nickte, machte aber keine Anstalten, sich vom Fleck zu rühren. Arráez sah ihn scharf an.

»Bermejo. Sie sollen runtergehen. Und versuchen Sie bitte sehr, sich nicht in die Hose zu machen.«

»Jawohl, Käpt’n.«

Arráez blieb einige Momente allein auf der Brücke. Es war ein klarer Tag mit kristallenem Himmel, an dem wie Pinselstriche einige Wolken zogen, die jeden Aquarellisten entzückt hätten. Einen Augenblick zog er in Erwägung, den im Spind seiner Kajüte eingeschlossenen Revolver zu holen, doch der Gedanke war so naiv, dass ein bitteres Lächeln auf seine Lippen trat. Er atmete tief ein, knöpfte sein abgetragenes Jackett zu und stieg von der Brücke die Treppe hinunter aufs Deck, wo ihn sein alter Bekannter mit einer Zigarette zwischen den Fingern erwartete.

4

»Willkommen in Barcelona, Kapitän Arráez.«

»Danke, Oberleutnant.«

Fumero lächelte.

»Jetzt Kommandant.«

Arráez nickte und hielt dem Blick dieser dunklen Gläser stand, hinter denen man schwer ausmachen konnte, wohin Fumeros scharfe Augen schauten.

»Glückwunsch.«

Fumero bot ihm eine Zigarette an.

»Nein, danke.«

»Es ist Qualitätsware. Blonder amerikanischer Tabak.«

Arráez nahm die Zigarette entgegen und steckte sie in die Tasche.

»Möchten Sie die Papiere und Lizenzen prüfen, Kommandant? Es ist alles à jour mit den Genehmigungen und Stempeln der Regierung der Generalitat …«

Fumero zuckte mit den Schultern, stieß desinteressiert einen Mundvoll Rauch aus und betrachtete mit leichtem Lächeln die Glut seiner Zigarette.

»Ich bin überzeugt, dass Ihre Papiere in Ordnung sind. Sagen Sie, was für eine Art Ware haben Sie an Bord?«

»Versorgungsartikel. Medikamente, Waffen und Munition. Und mehrere Posten konfisziertes Privateigentum zur Versteigerung. Das Inventar mit dem Regierungsstempel des Zollamts Valencia steht zu Ihrer Verfügung.«

»Ich habe nichts anderes von Ihnen erwartet, Kapitän. Aber das ist eine Sache zwischen Ihnen und den Hafen- und Zollbehörden. Ich bin ein schlichter Diener des Volkes.«

Arráez nickte ruhig und rief sich ständig in Erinnerung, dass er seine Augen keinen Moment lang von diesen beiden undurchdringlichen schwarzen Gläsern abwenden durfte.

»Wenn der Kommandant so freundlich wäre, mir zu sagen, was er sucht – mit größtem Vergnügen …«

Fumero lud ihn mit einer Handbewegung ein, ihm zu folgen, und unter den erwartungsvollen Augen der Besatzung schritten sie übers Deck. Schließlich blieb Fumero stehen, zog noch einmal an der Zigarette und warf den Stummel über Bord. Er stützte sich auf die Reling und betrachtete Barcelona, als hätte er die Stadt zuvor noch nie gesehen.

»Riechen Sie es, Kapitän?«

Arráez wartete einen Augenblick, bevor er antwortete.

»Ich weiß nicht genau, was Sie meinen, Kommandant.«

Fumero klopfte ihm freundschaftlich auf den Arm.

»Atmen Sie tief ein. Ganz ohne Eile. Dann werden Sie es schon merken.«

Arráez wechselte einen Blick mit Bermejo. Verwirrt schauten sich die Besatzungsmitglieder an. Fumero wandte sich um und forderte sie mit einer Handbewegung auf einzuatmen.

»Nein? Keiner?«

Der Kapitän versuchte ein Lächeln zustande zu bringen, aber es gelangte ihm nicht bis auf die Lippen.

»Ich kann es aber sehr wohl riechen«, sagte Fumero. »Sagen Sie nicht, Sie hätten es nicht bemerkt.«

Arráez nickte vage.

»Aber natürlich doch«, drängte Fumero. »Natürlich riechen Sie es. Genauso wie ich und wie alle, die sich hier befinden. Es stinkt nach Ratte. Nach dieser ekelhaften Ratte, die Sie an Bord verstecken.«

Bestürzt runzelte Arráez die Stirn.

»Ich kann Ihnen versichern …«

Mit einer Handbewegung brachte ihn Fumero zum Schweigen.

»Wenn sich eine Ratte einschmuggelt, gibt es keine Möglichkeit, sie loszuwerden. Man gibt ihr Gift, und sie frisst es. Man stellt ihr Fallen auf, und sie scheißt rein. Nichts ist so schwierig zu beseitigen wie eine Ratte. Weil sie feige ist. Weil sie sich verbirgt. Weil sie sich cleverer fühlt als alle anderen.«

Einige Sekunden genoss Fumero seine Worte.

»Und wissen Sie, was die einzige Methode ist, eine Ratte zu beseitigen, Kapitän? Wie man sie wirklich und ein für alle Mal beseitigt?«

Arráez schüttelte den Kopf.

»Ich weiß es nicht, Kommandant.«

Fumero grinste und entblößte seine Zähne.

»Natürlich nicht. Denn Sie sind ein Mann der See und haben keine Veranlassung, es zu wissen. Das ist meine Arbeit. Das ist der Grund, warum mich die Revolution in die Welt gesetzt hat. Schauen Sie zu, Kapitän. Schauen Sie zu und lernen Sie.«

Bevor Arráez etwas sagen konnte, ging Fumero Richtung Bug, gefolgt von seinen Leuten. Da sah der Kapitän, dass er sich geirrt hatte – Fumero war doch bewaffnet. Er spielte mit einem blitzenden Revolver, einem Sammlerstück. Er ging quer über das Deck und stieß rücksichtslos jedes Besatzungsmitglied beiseite, das ihm begegnete; den Eingang zu den Kajüten ignorierte er. Er wusste, wohin er wollte. Auf ein Zeichen von ihm hin bauten sich seine Leute um die Schottentür herum auf, die den Laderaum verschloss, und warteten auf weitere Anweisungen. Fumero beugte sich über die Metallplatte und klopfte sanft daran, als stünde er an der Tür eines alten Freundes.

»Überraschung«, ließ er hören.

Als seine Leute die Schottentür sozusagen aus den Angeln rissen und das Innere des Schiffs dem Tageslicht ausgesetzt war, ging Arráez auf die Brücke zurück und versteckte sich dort. Er hatte in den beiden bisherigen Kriegsjahren genug gesehen und gelernt. Das Letzte, was er eben noch sah, war, wie sich Fumero wie eine Katze die Lippen leckte, eine Sekunde bevor er mit dem Revolver in der Hand im Schiffsbauch verschwand.

5

Nachdem er tagelang in der Verbannung des Laderaums dieselbe verbrauchte Luft geatmet hatte, spürte Fermín, wie der Duft der frischen, durch die Schottentür eindringenden Brise zwischen den Ritzen seiner Waffenkiste zu ihm durchsickerte. Er neigte den Kopf leicht auf eine Seite und sah durch den Spalt zwischen Deckel und Seitenwand einen Fächer stauberfüllter Lichtstrahlen durch den Laderaum streichen. Laternen. Das milchig weiße Licht wanderte über die Ladung und machte die Planen stellenweise durchsichtig, die Autos und Kunstwerke verhüllten. Das Geräusch der Schritte und das metallene Echo im Kielraum kamen langsam näher. Fermín presste die Zähne zusammen und ging im Geist sämtliche Schritte noch einmal durch, die er unternommen hatte, bevor er in sein Versteck zurückgekehrt war. Die Säcke, die Kerzen, die Speisereste oder die Fußspuren, die er vielleicht längs der Galerie der Ladung hinterlassen hatte. Er glaubte nicht, dass er etwas vergessen hatte. Nie würde man ihn hier finden. Nie.

Und genau da hörte er diese saure, vertraute Stimme seinen Namen aussprechen, als würde sie eine Melodie summen, und seine Knie wurden zu Gelatine.

Fumero.

Die Stimme und die Schritte klangen nahe. Fermín schloss die Augen wie ein Kind, wenn ein seltsames Geräusch im Zimmer es erschreckt. Nicht, weil es denkt, das würde es schützen, sondern weil es die Gestalt nicht sehen will, die am Bett steht und sich über es beugt. In diesem Augenblick hörte er die langsamen Schritte wenige Zentimeter neben ihm. Die behandschuhten Finger strichen über den Deckel der Kiste, als glitte eine Schlange darüber hinweg. Fumero pfiff eine Melodie. Fermín hielt den Atem an und die Augen geschlossen. Kalter Schweiß rann ihm in großen Tropfen über die Stirn, und er musste die Fäuste ballen, damit seine Hände nicht zitterten. Er traute sich nicht, auch nur einen Muskel zu bewegen, da er fürchtete, die Berührung seines Körpers mit den Säcken, in denen einige der Gewehre steckten, könnte ein wenn auch nur minimales Geräusch erzeugen.

Vielleicht hatte er sich geirrt. Vielleicht würde man ihn tatsächlich finden. Vielleicht gab es auf der ganzen Welt keinen Winkel, wo er sich verstecken und einen weiteren Tag überleben konnte. Vielleicht war das letzten Endes ein Tag so gut wie jeder andere, um die Bühne zu verlassen. Und wenn es schon einmal so weit war, konnte ihn niemand daran hindern, den Deckel mit Fußtritten von der Kiste zu sprengen und sich der Herausforderung zu stellen, indem er eines dieser Gewehre schwang, auf denen er lag. Besser, in zwei Sekunden von Schüssen durchsiebt zu sterben als durch die Hand von Fumero und dessen Spielzeug, nachdem er zwei Wochen an der Decke eines Verlieses im Kastell von Montjuïc gehangen hatte.