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Zwei Wege. Ein Ziel. Drei Pilger. Man sagt, der Camino gibt den Pilgern Antworten. Aber was ist, wenn man Antworten auf Fragen erhält, die man nie gestellt hat? Drei Pilger auf ihren Wegen durch das nordspanische Galicien. Pastor Vinzenz, der sein bisheriges Leben radikal in Frage stellt. Die unkonventionelle, lebenserfahrene Nonne Miriam, die weiß, dass auch kurz vor Schluss noch viel passieren kann. Mercedes, eine kluge, schöne Frau, vom Leben etwas zerzaust, aber bereit sich auf alles einzulassen, was da kommen mag. Ein Jakobsweg-Roman über Mut, Freundschaft, Liebe und die vielen wunderbaren, liebenswerten und skurrilen Menschen, die den Camino de Santiago, den Jakobsweg, ausmachen.
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Seitenzahl: 439
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Rhapsodie:
Ein Vokal- oder Instrumentalwerk, das an keine bestimmte Form in der Musik gebunden ist. Die musikalischen Themen der Rhapsodie sind regelmäßig lose miteinander verbunden, sie können flüchtige, unzusammenhängende Motive sein, die nicht unbedingt aufeinander aufbauen oder verschränkt sind.*
*Mit verbindlichstem Dank an Wikipedia
Knud Hammerschmidt, geboren 1963 im nordrheinwestfälischen Duisburg, lebt in München und schreibt aus Leidenschaft. Als erfahrener, mehrfacher Pilger kennt er einige der Jakobswege, die durch Spanien und Portugal führen. Besonders gut gefällt ihm das wildromantische Galicien. Dies ist sein erster Roman. Veröffentlicht hat er bislang den deutschsprachigen, amüsanten Caminoguide “Ohne Schmerz kein Halleluja” (BoD Verlag, 2012) und den englisch-sprachigen Guide “Dude looks like a Pilgrim” (BoD Verlag, 2014)
„Es gibt Augenblicke, in denen eine Rose wichtiger ist als ein Stück Brot“
Rainer Maria Rilke
„Some kind of happiness is measured out in miles“
Lennon/McCartney (Hey Bulldog)
„Die Not bringt einen zu seltsamen Schlafgesellen“
William Shakespeare (The Tempest)
„I don’t know who I am, but life is for learning“
Joni Mitchell (Woodstock)
Eventuelle Ähnlichkeiten der Protagonisten mit real existierenden Personen sind meistens unbeabsichtigt und rein zufällig. Es sei denn, es handelt sich um eine Hommage. Oder um eine Karikatur. Ich bedanke mich herzlich bei allen, die mir eine Inspiration waren. Wer sich karikiert fühlt, den bitte ich durchzuatmen, den Lotussitz einzunehmen und dreimal „Omm“ zu singen.
Namasté!
Aufmerksamen Lesern, die mit dem Camino vertraut sind, wird vielleicht in Einzelfällen auffallen, dass manche Örtlichkeiten und Gegebenheiten nicht ganz genau der Realität entsprechen. Das hat rein literarische Gründe. Im Wesentlichen ist alles da, wo es hingehört. Den Standort des Pilgerbüros in Santiago habe ich in der Rúa do Vilar belassen. Einfach weil´s schöner ist.
Knud Hammerschmidt
Pastor Vinzenz Baptist Ingenfeld starrte gedankenverloren in eine appetitliche Portion gebratener Lampreten. Vor noch nicht einmal einer ganzen Stunde hatte er seinen Glauben verloren. Es passierte, als er auf der Europabrücke, zwischen Portugal und Spanien, den Fluss Minho überquerte. In der Mitte der ästhetischen stählernen Konstruktion aus dem 19. Jahrhundert geschahen zwei Dinge gleichzeitig. Pastor Vinzenz trat über in eine andere, politisch bedingte, Zeitzone und befand sich sowohl umgehend eine Stunde in der Zukunft, als auch in Spanien. Parallel dazu traf ihn die Erkenntnis. Von einer Sekunde auf die andere brach sein gesamtes theologisches Weltbild in sich zusammen. Er fühlte sich wie Saulus auf dem Weg nach Damaskus. Nur umgekehrt. Nicht geblendet, sondern klar und deutlich sehend. Die gebratenen Lampreten starrten anklagend aus ihren neun Augen zurück. Das Aroma der Fische und der frische Duft des leichten Weißweines holten ihn in die Gegenwart zurück. Er tunkte ein Stück Brot in das aromatische Öl, in dem die Neunaugen schwammen und schüttelte den Kopf, ungläubig, als wollte er einen Alptraum verscheuchen. Ein Schluck Wein holte ihn endgültig aus seinen verlorenen Gedanken. Pastor Vinzenz wunderte sich ein wenig über sich selbst. Er hatte Leid, Schmerz, Verzweiflung, ja sogar eine absurde Form von Liebeskummer als Reaktion erwartet. Stattdessen fühlte er sich auf eine undefinierbare Weise erstaunt und verwundert.
Er aß mit gutem Appetit. Der Wirt des kleinen Lokals unterhalb der Kathedrale brachte ihm unaufgefordert eine weitere Karaffe des frischen Weißen. „Continuou bo apetito, el Señor“. Sein weißer Kollar und das schwarze Stehkragenhemd machten ihn leicht als Geistlichen kenntlich. Kollar und Hemd waren seine einzigen Konzessionen an seinen Beruf, hier auf dem Jakobsweg von Porto nach Santiago.
„Beruf“, dachte er. „Nicht Berufung. Nicht mehr“. Seit sechs Tagen war er nun unterwegs. Ganz bewusst hatte er sich für den ruhigen Weg durch Portugal entschieden. Vinzenz wollte zu sich kommen, des Chaos in seinem Kopf wieder Herr werden. Er legte Messer und Gabel zusammen und tupfte sich die Lippen an der Serviette ab, bevor er das Weinglas wieder zum Mund führte. Der Pastor seufzte leicht.
„Herr Du weißt, ich hab es mir nie leicht gemacht. Nie war ich einer Deiner bequemen Hirten.“ Er schmunzelte selbstironisch. Alte Gewohnheiten sterben langsam. „Eli, Eli, lema sabachthani?“1 murmelte er mit einem leisen sardonischen Lachen. Bereits im Priesterseminar, vor mehr als fünfundzwanzig Jahren, war er für seinen Galgenhumor bekannt gewesen. Er beschloss Café und Digestiv im Schatten der Kathedrale zu sich zu nehmen. Gegenüber dem gewaltigen, gotischen Hauptportal ließ er sich an einem kleinen Cafétisch nieder. Aus der Innentasche seiner Softshell-jacke holte er ein zerbeultes Zippo und eine Romeo y Julieta Nummer 1 hervor. Bei einer molligen Frau mittleren Alters mit einem brünetten Haarknoten und Plastik-Pantoletten bestellte er sich einen Café Cortado und einen Hierbas. Vinzenz prostete den Heiligen und den Propheten, die das Hauptportal zierten, zu. Er blies perfekte Rauchringe in den blauen Himmel dieses lauen galicischen Maientags und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Auf den sonnenbeschienenen Stufen des Kathedralen-Vorplatzes genossen Pilger und Touristen die Sonne. Die Pilger waren, auch ohne ihre Rucksäcke, leicht zu erkennen. Ihre Kleidung war, bei allem Individualismus, immer zweckmäßig. Ihre Gesichter waren von der Sonne und dem stetigen Wind, der vom Atlantik wehte, anders gebräunt als die Gesichter der Urlauber.
Handfester, abenteuerlicher. Auch er sah so aus. Wettergegerbt, die graumelierten, immer noch dichten Haare zerzaust und mit einem stellenweise schon weißen Sechstagebart. Er war schlank, sportlich und von durchschnittlicher Größe. Am auffälligsten an ihm waren die hellblau leuchtenden Augen in einem ungewöhnlich hübschen Gesicht. Vinzenz Baptist Ingenfeld war das, was man allgemein einen schönen Mann nennt. Auch jetzt, in seinen frühen Fünfzigern, war er eine auffallende, attraktive Erscheinung. Als jungem Kaplan hatte man ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit Giuliano Gemma2 nachgesagt.
Er spielte mit dem Cognacschwenker, ließ Zigarrenrauch in das Glas strömen und versuchte die, über dem Portal der Kathedrale, in Stein verewigten Figuren namentlich zu benennen. Bei Moses, Jesus, Petrus und natürlich seinem Zweitnamenspatron Johannes dem Täufer war er sich sicher. Die Geburt Christi über dem Türsturz mit Maria im Himmelbett sprach auch für sich. Bei einigen anderen Figuren war er sich nicht sicher. Dabei galt er ansonsten als äußerst bibelfest. In seiner Familie war es nun schon seit vielen Generationen Tradition, dass der jüngere Sohn und manchmal auch eine weniger begehrenswerte Tochter ihr Heil im Schoß der Kirche suchten. Er war ein mittlerer Sohn. Er hätte auch etwas ganz anderes studieren können als Theologie. Politik, Geschichte oder Sozialwissenschaften. Aber er fühlte sich gerufen. Bis vor zwei Jahren hatte er diese Lebensentscheidung nie in Frage gestellt. Seitdem hatte er mit niemandem über seine Zweifel gesprochen. Die Furcht mit den anderen Endvierzigern in den Midlife-Crisis Topf geworfen zu werden, war zu groß. Vinzenz lächelte bitter. Wenn es doch nur das wäre. Mit dem Gefühl etwas verpasst zu haben, mit einem wütenden, verzweifelten sich dem Alter Entgegenstemmen wäre er gut zurechtgekommen. Aber er musste ja seinen Glauben verlieren. Die Sonne des frühen Nachmittags schien warm in sein Gesicht. Er bestellte einen weiteren Hierbas, als sein Smartphone eine eingehende Nachricht signalisierte. Der Pastor setzte die Lesebrille auf und blickte auf das Display. Der Facebook Messenger. Ein Smiley von Klemens, seinem jüngeren Bruder, mit einem ganzen Rudel an Fragezeichen. Typisch Klemens. Zu faul, um in ganzen Sätzen zu schreiben und zu fragen wie es ihm ginge. Vinzenz rief seine Facebook App auf und postete ein Foto der Kathedrale von Tui. Dazu schrieb er einen lapidaren Postkartentext über das Wetter und die tolle Landschaft.
Nach ein paar Minuten gingen die ersten „Likes“ ein. Er scrollte ein wenig durch seine Timeline, übersprang die unvermeidlichen Katzenbilder und amüsierte sich über die Postings eines bekannten Kabarettisten. Er steckte das Smartphone wieder ein und schloss die Augen. Vinzenz genoss das warme Licht und blickte daher etwas verärgert auf, als sich ein Schatten zwischen ihn und die Sonne schob.
Im Gegenlicht konnte er die Person vor ihm nicht erkennen. Er sah nur, dass es sich um eine Frau handelte. „Si?“ fragte er und bekam zur Antwort ein leises Lachen. „Hallo Vinny“, sagte die Frau mit einem amüsierten Unterton.
***
„Schwester Miriam, Du willst doch bestimmt das Bett am Fenster, oder?“ Der schlaksige Junge mit den dunkelblonden Dreadlocks blickte dabei in Richtung der hochgewachsenen Nonne. Schwester Miriam lachte leise und ließ dabei beeindruckend perfekte Zähne blitzen, die ihr Alter Lügen straften. Sie ließ den 30 Liter Rucksack von ihrer Schulter gleiten und stellte ihn neben dem Fenster ab.
„Nun schau sich einer diesen schönen Ausblick an“, murmelte sie.
„Wow“, pflichtete ihr der blonde Rasta bei. Der Ausblick war in der Tat wunderschön. Unterhalb der Dächer blickte man auf den Minho und direkt rechts vom Fenster ragte eine barock verzierte Kirchenfassade empor, die in einem zierlichen Glockenturm endete.
Die Tür zum Dormitorio öffnete sich geräuschvoll und zwei junge Männer und eine junge Frau drängten in den Raum. „Wow!“ sagten alle drei gleichzeitig. „Hab ich auch schon gesagt“, grinste der Junge mit den Dreadlocks. „ Die schönste Herberge seit Fernanda!“ Alle nickten. Die junge Frau blickte die Nonne an. „Oben oder unten, Miriam?“ Schwester Miriam lachte laut auf. „Cristina, die Klettertouren überlasse ich gern dir. Ich schlafe unten.“
Die Gespräche verstummten, während jeder der fünf Pilger sich einrichtete, seinen Rucksack neu ordnete und die tägliche Herbergsroutine abspulte.
Eine dreiviertel Stunde später betraten alle fünf, erholt und frisch geduscht, die Kathedrale von Tui. Schwester Miriam war sich der Tatsache bewusst, dass sie einen Ort wie die Kathedrale mit anderen Augen sah, als ihre vier jungen Wegbegleiter. Daher beließ sie es auch bei einer kurzen viertelstündigen Besichtigung. Vielleicht würde sie später noch einmal allein die Kathedrale besuchen. Außerdem verspürte sie Hunger. Die Fünf traten aus dem Dämmerlicht des gotischen Gebäudes hinaus in den gleißenden Sonnenschein. Schwester Miriam blieb kurz vor dem gewaltigen Portal stehen, um die filigranen Steinmetzarbeiten zu betrachten. Ihre vier Begleiter ließen sich auf den Stufen zum Kirchvorplatz nieder. Das trockene Zischen eines Schwefelholzes auf der Reibfläche einer Streichholzschachtel durchbrach die frühsommerliche Stille. Ein leichter Geruch, wie von verbranntem Heu, wehte durch die Luft.
Miriam musste lächeln. Ohne sich umzudrehen, wusste sie das Nick, Eric, Jan und Cristina sich einen Joint teilten. Als sie zu Ihnen trat, schauten alle vier ein wenig schuldbewusst. Im Umgang mit einer Nonne waren sie in manchen Situationen noch unsicher.
Jan fing sich als erster. „Schwester Miriam? Du auch?“ fragte er, grinste und hielt ihr den halbgerauchten Joint entgegen. Miriam zuckte die Achseln, nahm den Joint und inhalierte tief.
Sie ließ den Rauch für die Dauer von drei Atemzügen in Ihrer Lunge, bevor sie ausatmete. „Nicht übel“ dachte sie. Die leicht ungläubigen Blicke, die auf sie gerichtet waren, nahm sie amüsiert zur Kenntnis.
„Guckt nicht so, ich bin Nonne, keine Heilige.“ Grinsend ergänzte Sie „Obwohl… in Indien kiffen die Sadhus, die heiligen Männer, die Shiva verehren, praktisch pausenlos… und in der Antike galt der Rauch des Hanf vielerorts als heilig.“ Sie zog noch einmal kräftig und reichte dann weiter an Cristina. „Jetzt hab ich aber wirklich Hunger“, sagte sie.
Zwei Straßen unterhalb des Kathedralplatzes nahmen sie in einer gemütlichen Bar Platz. Die handbeschriftete Kreidetafel an der Wand versprach eine preisgünstige und reichhaltige Auswahl an Tapas und „Raciones“. Hinter der Bar lief stumm ein Fernseher und aus den voluminösen Boxen an den Wänden klang leise, aber kraftvoll, 60er Jahre Rock. Der Wirt, ein Mittzwanziger mit wilden Locken und einem abenteuerlichen Dreitagebart, trat an den Tisch. „Si?“
Schwester Miriam lächelte ihn freundlich an.
„Dígame, señor, me puede recomendar un buen blanco de la región3?“ Der Wirt zog respektvoll die Augenbrauen nach oben und schaltete übergangslos auf ein ziemlich gutes Deutsch um.
„Eine Flasche? Wasser dazu? Und ein paar Tapas?“ Alle nickten. Er klatschte leicht in die Hände. „Ich stelle euch etwas zusammen, de acuerdo?“ Kurz darauf stellte er fünf Tumbler mit einem gelben Getränk auf Eis auf ihren Tisch. „Ein kleiner Aperitivo, Hierbas con hieló. Salud!“
Die letzten Gitarrenakkorde von „Sunshine of your love“ gingen elegant über in „Bell Bottom Blues“ und die vier jungen Menschen und die alte Nonne prosteten sich zu.
„Wieso trägst Du eigentlich nur den Schleier und sonst keine, wie nennt man das… Nonnenuniform?“ fragte Nick. Miriam lächelte. „Na ja, weil beim Wandern eine Cargo Hose und ein Shirt einfach praktischer sind als ein Habit. Abgesehen davon habe ich Dispens, ich müsste den Schleier auch nicht unbedingt tragen, aber ich bin so daran gewöhnt. Und es erleichtert das Leben unterwegs.“
„Wie das?“ fragte Eric. „Die Leute zollen einer Nonne automatisch mehr Respekt. Es ist so eine Art Glamour. Menschen lassen sich leicht von einer glamourösen Ausstrahlung blenden.“ „Also unter Glamour stelle ich mir was anderes vor.“ Die Nonne schmunzelte. „Das Wort Glamour stammt aus dem Schottischen und bedeutet eigentlich nur Glanz. So kann Glamour etwas künstliches sein, wie bei Lady Gaga oder Katy Perry, oder etwas natürliches, wie bei besonders charismatischen Menschen. David Bowie, Frank Sinatra, Pavarotti zum Beispiel. Und dann gibt es noch den geliehenen Glamour, den die Betrachter aus bestimmten Insignien oder Kleidungsstücken ableiten.
So wie mein Schleier oder das Messgewand eines Priesters.“ Sie schmunzelte erneut. „Ihr glaubt gar nicht, mit was man als Nonne bei den Leuten so durchkommt. Wenn man es drauf anlegt. Da wo andere noch Schlange stehen, sitze ich bereits vor dem zweiten Glas Prosecco.“ Eric lachte. „Stimmt, jetzt wo du es sagst, wird´s mir klar. Wir haben in den letzten Tagen ganz gut von deinem Nonnenglamour profitiert. Irgendwie lief immer alles reibungslos, die Leute waren aufmerksam und superfreundlich… Ich weiß nicht, ob man mir allein so viel Entgegenkommen gezeigt hätte.“
„Wolltest Du immer schon Nonne werden?“ fragte nun Jan und schaute dabei fragend aus seinen jungen blauen Augen, vor denen seine Rastazöpfe herumwedelten.
Die Schwester räusperte sich kurz. „Das ist eine lange Geschichte.
Wenn man es genau betrachtet hab ich mir das nicht ausgesucht. Es hat mich ausgesucht.“
Sie machte eine Pause und ihr Blick verlor sich kurz in vergangenen Zeiten. Dann blickte sie Jan an.
„Ich glaube, um euch diese Geschichte zu erzählen brauchen wir mindestens eine weitere Flasche Wein. Und Du könntest mir mal einen kleinen Spliff bauen. Ich hab etwas Arthritis in den Fingern, da kann ich nicht mehr so gut drehen wie früher.“
Mit diesen Worten legte sie einen Zip-Lock Beutel auf den Tisch und schenkte ihren vier jungen Freunden ein verwegenes Grinsen, das eher einem Rockstar als einer Nonne geziemt hätte. Jan zog eine Augenbraue hoch und drehte kurz den Kopf in Richtung des Wirts. Miriam winkte ab. „Ach wo, in Spanien gehört das fast schon zum guten Ton.“ Gedankenverloren schenkte Miriam allen noch etwas Wein nach und zündete sich den kleinen Joint an. Sie inhalierte tief, ließ den Rauch genüsslich aus der Nase strömen und seufzte leicht. Dann krempelte sie die Ärmel ihres Langarm Shirts hoch und drehte die Innenseite ihrer Arme nach außen. Auf ihrem rechten Unterarm war eine verblasste Tätowierung zu erkennen.
„Wisst ihr was das ist?“
Es war Cristina, die antwortete. „Ich glaube zu wissen was es ist. Ist es das, was ich denke?“ Sie schauderte etwas, als sie sprach, als müsse sie einen unangenehmen Gedanken verscheuchen. „193076“ entzifferte Jan die verblasste Tätowierung. Schwester Miriam nahm einen Schluck vom Weißwein. Ihre Stimme war jetzt leiser als sonst.
„Ich erhielt diese Tätowierung als ich vier Jahre alt war. Im Herbst 1944. In Auschwitz.“ Die jungen Menschen blickten Miriam erschrocken bis schockiert an. Trotz des ernsten Themas lächelte Schwester Miriam. „Guckt nicht so, es ist lange her, ich habe meinen
Frieden damit gemacht. Trotzdem. Es ist keine schöne Geschichte, wollt ihr sie dennoch hören?“
Die vier nickten. „Ja, bitte“, sagten sie unisono und leise.
***
Vinzenz verschluckte sich am Rauch seiner Zigarre und hustete. Als er wieder zu Atem kam, hatte sich die Frau bereits an seinen Tisch gesetzt und lächelte ihn an. „Ich weiß ja, dass ich eine umwerfende Wirkung auf Männer habe“, sagte sie, „aber jetzt übertreibst Du ein wenig.“
Er schluckte noch einmal und spülte den Hustenreiz mit einem Schluck Hierbas hinunter.
„Fiona!...Wie…Was?“ Er rang nach Worten.
Lange vergessene Gefühle und ein ganzer Haufen verwegener Hormone fluteten den, bis eben halbwegs in sich ruhenden, Pastor. Die Frau legte beruhigend eine Hand auf Vinzenz Handrücken.
„Entschuldige, ich konnte nicht widerstehen.“ Dabei lachte sie mädchenhaft. Sie zündete sich eine Zigarette an und redete weiter.
„Wie ich hier her komme? Ich lebe hier in der Gegend. Und ich habe dich bei Facebook abonniert. Und weil dein Profil ja so offen ist wie ein Scheunentor, konnte ich dich fast auf den Meter genau lokalisieren.“
Sie machte eine Pause und zog an ihrer Zigarette.
„Lange her, nicht wahr?“ Vinzenz hatte sich endlich gefangen.
Er stand auf, ging zu ihr hinüber und umarmte sie. „Fiona“, murmelte er. „Ich hätte nie gedacht, dass ich dich noch einmal wiedersehe.“
Fiona erwiderte die Umarmung und küsste Vinzenz auf die Wange.
Er betrachtete Fiona genauer. Sie hatte sich kaum verändert, nun gut, sie war mittlerweile auch Mitte vierzig, aber ihre ganze wilde, mädchenhafte Art, ihre strahlenden grünen Augen, ihr ansteckendes Lächeln – all das war immer noch da. Als wäre es gestern gewesen.
Dabei war es gut fünfundzwanzig Jahre her, dass sie sich zuletzt gesehen hatten.
Er hatte sich für das Priesteramt und, idealistisch wie er war, für die Missionsarbeit entschieden. Als er sich von all seinen Freunden an diesem Abend in der Bamberger Altstadt verabschiedete, fiel ihm der Abschied von Fiona besonders schwer. Sie wäre der einzige Grund gewesen, sich nicht zum Priester weihen zu lassen, aber er hatte sich nie getraut ihr die Gefühle zu gestehen, die sie in ihm weckte. Fiona strich eine ihrer ungebändigten blonden Locken aus dem Gesicht, beugte sich vor und nahm seine Hände in die ihren.
„Wie geht’s dir Vinny? Wie läuft das Heil – und Segen Business?“
Vinzenz musste lachen. Schon früher hatte sie ihn mit dem „Heil – und Segen“ Spruch gefrotzelt.
„Ach, nichts Besonderes. Alles beim alten“, schwindelte er.
„Aber du…wie und wieso? Wieso jetzt?“
Sie zündete sich eine weitere Zigarette an und bestellte beiläufig bei der Frau mit den Plastikpantoletten ein Glas Weißwein. „Du weißt schon, es war eine spontane Eingebung. Vor ein paar Wochen bin ich bei Facebook auf dein Profil gestoßen. Seitdem schaue ich immer wieder mal, was du so machst und als ich las, dass du auf dem Caminho Portuguese unterwegs bist, dachte ich mir, wenn du Halt machst in Tui, dann komm ich mal und schau, wie es dir so geht.
Und…voilá! Da bin ich!“
„Wie ist es dir ergangen?“ wollte Vinzenz wissen. „Wie kommt es dass du hier bist, in Galicien?“
„Ach, du kennst mich, Vinny. Ich muss in Bewegung bleiben. Heute hier, morgen dort. Ich folge einfach immer meinem Bauchgefühl und gehe hin, wohin mich meine Sehnsucht treibt. Ich wohne jetzt in einem kleinen Dorf, nur ein paar Kilometer entfernt, fast direkt am Fluss. Natürlich bin ich damals der Liebe wegen hergekommen. Hat sich mittlerweile erledigt, aber im Moment gefällt es mir hier noch gut. Ich bin selbstständig als Übersetzerin, kann mir meine Tage selbst einteilen und bin zufrieden. Ich lebe gerne hier. Und du? Was machst du? Außer hier durch die Gegend zu pilgern?“
Vinzenz spürte ihren sanften aber durchdringenden Blick auf sich ruhen. Fiona hatte ihn immer schon leicht durchschauen können. Er fühlte wie sein innerer Schutzwall bröckelte und verspürte das dringende Bedürfnis ihr alles zu erzählen was ihn bewegte. Um etwas Zeit zu gewinnen, zündete er sich umständlich eine weitere Zigarre an.
„Heute hier, morgen dort…“ dachte er. Das war einer der Gründe, die ihn damals davon abgehalten hatten, ihr seine Gefühle zu gestehen.
Fiona war so wunderbar gewesen, immer für eine Überraschung gut, spontan, wild und nichts und niemand konnte sie halten, wenn sie zum Aufbruch bereit war. Er blies einen Rauchring und grinste schief. „Ich bin mal wieder auf der Suche. Nach mir und dem Sinn des Lebens.“
„Und? Schon etwas gefunden?“
Er nickte. „Ja. Und nein. Eigentlich habe ich etwas verloren. Ob ich dabei etwas gefunden habe… ich bin mir noch nicht sicher. Aber das du jetzt hier sitzt – das ist schon…mir fehlen die Worte.“ Fiona leerte ihr Glas in einem Zug. „Hast du hier in Tui schon alles gesehen? Ja? Dann komm. Ich zeig dir mal was von der Gegend. Hast Du Gepäck? Nimm es mit, es wird vielleicht spät.“ Pastor Vinzenz fühlte sich augenblicklich in eine andere Zeit versetzt. Schon damals war Fiona diejenige gewesen, die den Ton angab, spontan, unkompliziert, alles ganz easy. Sie war immer noch diese Freibeuterin, das unbekümmerte Blumenkind und er und fast alle ihre Freunde folgten ihr, damals, egal wohin. Dort wo Fiona war, war Licht, Freude und Abenteuer. Also packte er kurzerhand in der Herberge seinen Rucksack zusammen.
Eine Straße unterhalb der Kathedrale wartete sie in einem uralten Mercedes. Vinzenz warf seinen Rucksack auf die Rückbank und stieg ein.
„Wohin geht’s?“ „Zu einem schönen Ort am Fluss, lass dich einfach überraschen.“
***
Miriam konzentrierte sich und versuchte ihre Gedanken zu sammeln. Das Gras, das sie geraucht hatte, spürte sie nicht. Das war weiter kein Wunder, die Schäden, die die Chemo hinterlassen hatte, absorbierten die bewusstseinserweiternde Wirkung des Marihuanas. Sie hatte im letzten Jahr mehrfach versucht eine Ausnahmegenehmigung für die medizinische Nutzung von Hanf zu erhalten, war aber an der Bürokratie gescheitert. Unkonventionell wie sie war, hatte sie sich daraufhin selbst um eine „Medikation“ gekümmert. Der Hanf linderte ihre Beschwerden und hatte keine negativen Nebenwirkungen.
Sie überlegte, wie sie ihre Geschichte am besten erzählen sollte. Nach kurzem Nachdenken kam sie zu dem Schluss, dass es besser wäre, sie würde sich auf das Wesentliche konzentrieren und die, zum Teil belastenden, Details, so gut es eben ging, wegzulassen. Sie nahm noch einen Schluck Wein und begann zu reden.
„Manches von dem, was ich euch erzähle, weiß ich auch nur aus zweiter Hand. Und manches ist, obwohl ich damals noch so klein war, tief in mein Gedächtnis gebrannt. Damals hieß ich noch Franziska…
Mein Vater war ein Berliner Geschäftsmann, meine Mutter war Jüdin. Obwohl die „Rassengesetze“ schon seit 1935 galten, gab es damals Ausnahmen. Sogenannte privilegierte Mischehen. Dennoch wurde der Druck auf die „reindeutschen“ Ehepartner im Laufe der Jahre immer stärker. Ganz besonders nach dem Attentat auf Hitler. Mein Vater war kein starker Mann, keiner, der für seine Überzeugungen einstand. Irgendwann, im Herbst 1944, gab er dem Druck der Partei nach und ließ sich scheiden. Eine Zeitlang wohnten wir noch unter demselben Dach, aber die Mutter meines Vaters übte ebenfalls einen starken Druck auf ihren Sohn aus und so standen wir eines Tages auf der Straße. Meine Mutter, meine große Schwester und ich. Mein Vater gab uns Geld, unsere Pässe und Bahnfahrkarten in die Schweiz. Vor dort aus wäre die Ausreise über Frankreich oder Italien nach Palästina noch möglich, so hieß es. Wir kamen gar nicht erst bis in die Schweiz. Der Begleitbrief, der uns angeblich Schutz zusichern sollte, war das Papier nicht wert, auf dem er geschrieben war. Als Juden ohne festen Wohnsitz wurden wir vor der Schweizer Grenze im Zug verhaftet und in ein KZ im Elsass verfrachtet.
Nur um von dort in einen weiteren Zug gesteckt zu werden, der uns in einer über siebzigstündigen Fahrt nach Auschwitz bringen sollte.
Heute weiß ich, dass wir in einem der letzten Züge saßen, die dorthin fuhren. Es muss Ende Oktober gewesen sein.
Meine Mutter versuchte uns auf der langen Fahrt in den Viehwaggons anfangs noch zu trösten, zu beschützen, uns eine Mutter zu sein, aber der Verrat meines Vaters an uns hatte sie so tief erschüttert, dass sie nach einigen Stunden nur noch wimmernd und weinend in einer Ecke des Waggons kauerte. Meine Schwester Henriette war ein hübsches dunkelhaariges Mädchen, sie war dreizehn damals. Sie hatte die Stärke und die Dummheit der Jugend, beides Eigenschäften, die sie davor schützten, sich vorzustellen, was auf uns zukommen würde.
Meine Mutter wusste vermutlich, was uns bevorstand. Sie versank in ihrem Leid, die Ungeheuerlichkeit dessen, was ihr widerfahren war, erschien ihr wohl so unbegreiflich, dass sie sich aus der Realität ausklinkte. Sie verlor einfach den Verstand. Während also die Augen meiner Mutter jeglichen Funken, dessen, was sie ausmachte, verloren, nahm Henriette die Beschützerrolle für mich ein. Sie sang mir leise Kinderlieder vor, wie „Fuchs Du hast die Gans gestohlen“ oder „Es klappert die Mühle am rauschenden Bach“ und kümmerte sich so gut um mich, wie es ihr nur möglich war. Ich erinnere mich, wir standen auf hartgefrorenem Boden an der Laderampe in Auschwitz, hunderte von Menschen, die wie Vieh hin und her getrieben wurden, ich erinnere mich an die Schreie von Familien, die auseinander gerissen wurden und ganz besonders an den unmenschlichen Schrei, den meine Mutter ausstieß, vielleicht in ihrem letzten klaren Moment, als ihr bewusst wurde, wo sie war. Ein Schrei von Verzweiflung und voller Scham, als sie uns zum letzten Mal bewusst wahrnahm. Die SS Männer fackelten nicht lange, einer hieb ihr den Gewehrkolben auf den Kopf und ihr Schrei brach ab.
Sie brachten sie fort, so wie manch andere, die ihren Schmerz und ihre Angst laut zum Ausdruck brachten und zum Schweigen gebracht wurden. Ihr von Grauen verzerrtes Gesicht, damals an der Laderampe habe ich, Gott sei Dank, vergessen. Ich bin dankbar, dass ich nicht mehr weiß, wie sie damals aussah. Ich habe sie nie wieder gesehen. Wenn ich heute an sie denke, sehe ich ein Schwarzweiß Foto, auf dem sie, mit mir auf dem Arm, mit meiner Schwester und meinem Vater vor einem Weihnachtsbaum steht.“
Schwester Miriam holte ein verblasstes, zerknittertes Foto hervor mit gezackten weißen Rändern und legte es auf den Tisch. Links vor dem Weihnachtsbaum stand ein hochgewachsener Mann in einem gutsitzenden Anzug. Sein helles Haar war zur Seite gescheitelt und in der Brusttasche seines doppelseitig geknöpften Jacketts steckte ein akkurat gefaltetes Tuch. Seine linke Hand ruhte auf der Schulter eines schlanken hübschen Mädchens mit ordentlich geflochtenen Zöpfen, das ein Matrosenkleid trug. Rechts von ihr stand eine attraktive dunkelhaarige Frau, die Haare auf Kinnlänge in die damals modischen Wellen gelegt. Auf ihrem Arm trug sie ein Kleinkind, das ebenfalls in ein Matrosen Kleidchen gesteckt worden war. Die Wachskerzen auf dem Baum brannten und Lichter spiegelten sich in den glänzenden Kugeln. Ganz rechts im Bild war ein gerahmtes Portraitfoto zur Hälfte an der Wand zu erkennen, das Adolf Hitler im Halbprofil zeigte.
„Ich habe vieles von dem vergessen, was in den nächsten Wochen geschah, aber das überall spürbare Leid hat sich mir tief eingeprägt.
Henriette war fast immer an meiner Seite und beschützte mich, obwohl sie sich kaum selbst schützen konnte. Henriette brachte mir immer wieder eine kleine extra Ration Essen, ein Stück Brot, etwas Käse oder Hartwurst. Heute glaube ich, dass sie dafür dem einen oder anderen „Kapo“ in bestimmter Hinsicht gefällig war. Wie gesagt, sie war ein hübsches Mädchen. Und der Zusammenbruch unserer Mutter hatte sie nur härter werden lassen. Ich war alles, was für sie noch von Bedeutung war.
Am 18. Januar 1945 trieben sie uns aus den Baracken. Wir mussten Aufstellung nehmen und dann sortierten sie uns in zwei Gruppen. Mich und ein paar weitere Kinder, sowie Alte und Kranke scheuchten sie wieder zurück. Alle anderen sollten aufbrechen zu einem Marsch ins Ungewisse. Heute wissen wir, dass es sich dabei um die berüchtigten Todesmärsche handelte. Die Nazis waren bereits dabei die Lager zu demontieren. Henriette rief nach mir, versuchte zu mir zu laufen. Sie schrie meinen Namen, sie rief, sie würde zurückkommen, um mich zu holen. Die SS-Männer schlugen sie, aber sie hörte nicht auf zu schreien, erst als ihr jemand mit einem Knüppel auf den Kopf schlug, wurde sie still. Sie ließen sie im Dreck liegen und die Häftlinge und ihre Bewacher zogen ab, auf den Marsch ins Nichts.
Die verbliebenen Wachen hinderten uns daran, sie zurück in die Baracke zu bringen. Henriette lag die ganze Nacht draußen in der Kälte. Sie ist nicht wieder aufgewacht.“
Am Tisch herrschte betretenes Schweigen. Miriam nahm einen Schluck Wein und lächelte leise.
„Kurze Zeit darauf, es muss ungefähr eine Woche gewesen sein, evakuierten die Nazis die Lager. Wir, Kinder, Alte, Schwache, Kranke, blieben zurück.
Die Sowjets erreichten Auschwitz am 27. Januar 1945. Ich lebte.
Nicht zuletzt, weil Henriette mich beschützt hatte.
An die Wochen und Monate darauf habe ich keine Erinnerung mehr.
Auf vielen Umwegen landete ich fast ein Jahr später in einem Kinderheim in Berlin. Die Heimleitung machte die Mutter meines Vaters, ich weigere mich heute noch, sie als Großmutter zu bezeichnen, ausfindig. Sie hatte den Krieg halbwegs gut überstanden und lebte nun in Köpenick. Sie war ein opportunistisches altes Luder, das nun sogar davon profitierte eine halbjüdische Enkelin zu haben.
Da sie in einer halben Ruine hauste, blieb ich wo ich war, bis das Kinderheim 1953 aufgelöst wurde. Dann kam ich zwangsläufig zu meiner „Großmutter“. Ich blieb nur zwei Wochen bei ihr. Ich war alt genug, um zu verstehen und ich hatte Fragen. Die Frage nach dem Warum hat diese Frau mir nie beantwortet. Aber ich konnte es mir später selbst beantworten. Sie war ein herzloser, kalter Mensch, nur auf den eigenen Vorteil bedacht. Aber sie füllte die Lücken in meinem Puzzle. Ich erfuhr von ihr nicht wieso und wie das alles geschehen konnte. Sie verschanzte sich hinter der dürren Ausrede, die damals gern benutzt wurde.
„Wir haben nur Befehle befolgt.“ Wenn sie doch nur den Mut gehabt hätte zuzugeben, dass sie meine Mutter, Henriette und mich zugunsten ihres eigenen Rufs und ihrer Bequemlichkeit verraten hatte. Dann hätte ich heute vielleicht noch einen Funken Respekt für sie übrig. So ist da nur Verachtung.
Ganz beiläufig erzählte sie mir, dass mein Vater sich, nur wenige Wochen, nachdem er uns aufgegeben hatte, das Leben genommen hatte. „Der Schwächling hat sich auf dem Speicher erhängt“, so lauteten ihre Worte. Das Grauen, das sie mit diesen wenigen, dürren Worten bei mir auslöste, zerriss mich fast innerlich. Und mir wurde an diesem Tag bewusst, wie sehr mich Henriettes Liebe und Fürsorge jetzt noch beschützte. Wäre Henriette nicht gewesen, wäre ich, selbst wenn ich das KZ überlebt hätte, vermutlich seelisch abgestumpft und verkrüppelt. Aber das Gefühl ihrer Liebe zu mir hat mich über die Jahre hinweg geschützt und mir mein Menschsein erhalten. Auch gegenüber dieser furchtbaren Frau, die meine Großmutter war. In dieser Nacht konnte ich zum ersten Mal wirklich um Henriette weinen. Ich packte ein paar Sachen in einen kleinen Pappkoffer und ging ohne Ziel davon. Ich lief einfach Richtung Berlin, in Treptow übernachtete ich auf einer Parkbank. Am Tag darauf wurde ich in Charlottenburg erwischt, als ich an einem Obststand zwei Äpfel klaute. Der Verkäufer, der mich erwischt hatte, war gerade drauf und dran mir ein paar saftige Ohrfeigen zu verpassen, als eine Nonne dazwischen ging.“
Schwester Miriam nahm einen weiteren Schluck Wein.
„Von diesem Moment an ging es aufwärts in meinem Leben.
Schwester Maria war die Mutter Oberin eines Klosters der Congregatio Jesu in Bayern. Sie verfrachtete mich in ein Café, verordnete mir einen heißen Kakao und Gebäck und zog mir Stück für Stück meine Geschichte aus der Nase. Als ich fertig war, heulte ich Rotz und Wasser. Sie gab mir ein Taschentuch, pochte auf die Tischplatte, beugte sich vor und sagte: „Alles wird gut. Wir kümmern uns jetzt um dich.“ Kurz darauf saß ich mit ihr im Zug nach Bayern.
Ich wurde Schülerin bei den „englischen Fräulein“ auf der Maria Ward Schule, die zum Kloster dazugehörte. Ich blieb dort, bis zum Abitur, als ich einundzwanzig wurde. Und die Mutter Oberin hielt Wort. Sie kümmerte sich wirklich sehr um mich. Nicht nur was meine Bildung anging. Da sie die Vormundschaft für mich übernommen hatte, hatte sie sich auch um meine wirtschaftlichen Verhältnisse gekümmert. Sie hatte Wiedergutmachungszahlungen für mich beantragt und für mich mündelsicher angelegt. So kam es, dass ich mit 21 Jahren über ein ansehnliches kleines Vermögen verfügen konnte.
Ich beschloss meiner Sehnsucht Flügel zu verleihen und zu reisen.
Gemeinsam mit der Mutter Oberin ging ich zur Bank, ließ mich mit Kreditbriefen, das waren so eine Art Vorläufer der Traveller Schecks, ausstatten, legte mir etwas Reisegepäck zu und bestieg den Zug nach München, um von dort aus nach Paris weiterzufahren. Endlich würde ich alle die Orte sehen, von denen ich in stillen Stunden immer gelesen hatte. Unterwegs auf den Spuren von Joseph Conrad, Hemingway, Jack Kerouac, Mark Twain, Sven Hedin, Humboldt, Goethe, Hesse, Kipling und wie sie alle heißen.“
Miriam hatte sich in eine begeisterte Rage geredet und begleitete ihre Erzählung mit ausufernden Gesten. Die Tragik, die den ersten Teil ihrer Geschichte ausgemacht hatte, wich der Begeisterung und Freude am Leben, die ihre vier jungen Begleiter schon von ihr kannten.
„..Und rufe die Menschen zur Reise auf, zu Fuß
oder auf dem Kamel. Und sie sollen bezeugen,
dass sie davon vielerlei Nutzen haben… So heißt es in einer Sure des Korans. Und so ist es. Paris war wundervoll. Die Lichter, die Boulevards, die eleganten Menschen, die Bistros, Restaurants, die Museen und natürlich Notre Dame. Es war fantastisch, aber nur die erste Station auf meiner Reise. Ich reiste von Paris mit dem Orientexpress nach Istanbul, ach… Istanbul… wunderbarste aller Städte, magisch, geheimnisvoll, die perfekte Schnittstelle von Orient und Okzident. Von dort ging es durch die Ägäis über Antiochia nach Damaskus, nach Bagdad, durch Persien bis nach Indien. Oh, es ist so eine Schande, dass ihr nie mehr die alte Schönheit von Damaskus und Bagdad sehen werdet. Die verdammten Barbaren haben das ja alles zerschossen und zerbombt. Wusstet Ihr übrigens, dass Damaskus die älteste, durchgehend bewohnte Stadt der Welt ist? Kinder, schaut euch die Welt an, solange sie noch steht. Tja… 1961 hieß Reisen noch wirklich Reisen, mit Zug, Schiff, Bus, Jeep und notfalls auch mal mit einem Kamel. Ich war ein ganzes Jahr unterwegs. In Indien blieb ich besonders lange und reiste umher. Von den Quellen des Ganges bis zu seiner Mündung. In Goa blieb ich dann für einige Zeit, auch um nachzudenken, was ich nun als nächstes tun wollte. Irgendetwas fehlte mir. Eines Tages saß ich auf den Stufen eines Tempels, der Krishna geweiht war, und sinnierte vor mich hin. Ein Yogi, der tief konzentriert meditierte und nur wenige Meter von mir entfernt unter einem Bodhibaum saß, hatte es mir besonders angetan. Ich geriet selbst in eine Art Versenkung während ich ihn beobachtete. Seine Haare waren lang und schwarz und auf dem Kopf zu einem Knoten gebunden. Bis auf einen einfachen Lendenschurz war er nackt. Vor ihm lag ein Bananenblatt auf dem eine fast leere Reisschale und ein Wasserkrug standen. Ich kaufte an einem Stand etwas frisches Obst und ein Bündel Räucherwerk und legte beides auf dem Bananenblatt nieder. Ich verneigte mich und als ich ging hörte ich, wie er leise sagte: „Auch ein Blatt im Wind fiel irgendwann einmal von einem Baum. Man sieht die Blüte des Lotus scheinbar schwerelos auf dem Wasser treiben, aber sie ist tief verwurzelt auf dem Grund.“ Ich glaube ja immer noch, dass es eher so eine Glückskeksweisheit war, aber es hat etwas in mir berührt. Drei Tage später packte ich meine Koffer und bestieg ein Schiff, das mich meinen Wurzeln näher bringen sollte. Das Gute an Schiffsreisen ist dieses sich gemächliche aber stetige Annähern an ein Ziel. Ähnlich wie beim Wandern. Und weil so ein Schiff immer wieder an den verschiedenen Häfen für ein bis zwei Tage anlegt, bekommt man natürlich auch noch einiges zu sehen. So lernte ich die Hafenstadt Salálah im Oman kennen, wir passierten den Golf von Aden, legten in Djibouti an und in Port Said ging ich von Bord, um ein anderes Schiff zu besteigen, das mich nach Zypern bringen würde. Direkt von Ägypten nach Israel zu reisen, war zur damaligen Zeit so gut wie unmöglich. Einen Monat nach meiner Abreise aus Indien stand ich mit zwei Koffern am Hafen von Jaffa.
Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte, vielleicht einen heiligen Schauder oder ein überirdisches Gefühl, wenn ich zum ersten Mal das gelobte Land betreten würde. Aber es passierte natürlich nichts dergleichen. Mein Ziel war Jerusalem, aber vorher wollte ich schon gern das Land bereisen. Und so machte ich mich auf eine Rundreise zu den historischen Stätten Israels. Jericho, Nazareth, Tiberias am See Genezareth, Bethlehem und schließlich Jerusalem. In Jerusalem lebte ich dann für ein halbes Jahr in einem Kibbuz. Aber das ist eine andere Geschichte. Wichtig ist, dass ich im Kibbuz eine Gemeinschaft erfuhr, die ich so vorher noch nicht kannte.
Dort fasste ich den Entschluss Ordensschwester zu werden, mir war so viel Gutes seit der Zeit im Kinderheim widerfahren, dass ich etwas zurückgeben wollte. Hinzu kam ein etwas eitler, menschlicher Gedanke. Ich fühlte mich den „normalen“ Menschen nicht mehr wirklich zugehörig. Ich war gern für mich allein, mit mir selbst.
Versteht mich nicht falsch, ich war nicht unsozial oder ungesellig, ganz im Gegenteil, aber irgendetwas in mir ließ keine allzu engen Verbindungen mit anderen Menschen zu. Die Frage nach Ehe und Kindern konnte ich mit einem dicken Ausrufezeichen verneinen.
Obwohl es im Kibbuz einen jungen Mann gegeben hat, der mir sehr viel bedeutete. Er hieß Avram. Aber auch das ist eine andere Geschichte. Ich erkannte, dass ich mich nicht wirklich zuhause fühlte in Israel. Ein Reisender, der stets in Bewegung ist, ruht in sich selbst und ist dort zuhause, wo er mal kurz seinen Koffer abstellen kann. Die Heimat eines Reisenden ist das Staunen, Erfahren und Berühren. Erst wenn er längere Zeit an einem Ort verweilt, wird er wissen, ob er angekommen ist. Ich stellte fest, dass meine wahren Wurzeln nicht im Heiligen Land lagen, meine Wurzeln lagen in dem Land der Dichter und Denker und der Richter und Henker. Und so machte ich mich auf den Weg zurück nach Deutschland. Nach einem halben Jahr als Postulantin wurde ich Novizin. Seitdem heiße ich Miriam, nach meiner Mutter. Obwohl es manchmal nicht einfach für mich war, habe ich meinen Weg nie bereut.“
Schwester Miriam schwieg und betrachtete die betroffenen, nachdenklichen Gesichter der jungen Menschen am Tisch. Dann lachte sie leise. „So, Schluss für heute mit den alten Geschichten. Ich gehe nochmal in die Kathedrale. Nein, nein, bleibt sitzen“, wehrte sie ab, als ihre Freunde sich ebenfalls erheben wollten. „Ich brauche ein wenig Zeit mit mir selbst.“
***
Der Tacho des Wagens zeigte unglaubliche 430.000 Kilometer an und im Inneren des alten Benz roch es leicht nach Gras. Im Aschenbecher lag ein jungfräulicher Joint. „Bedien´ dich, Vinny.“ Vinzenz zuckte mit den Schultern, als wollte er sich innerlich ein „Warum nicht?“ bestätigen, nahm einen tiefen Zug und blickte sich im Spiegel an.
Dann traf er eine Entscheidung, krempelte die Ärmel seines Hemdes hoch, nahm den Kollar ab und warf ihn aus dem Fenster.
Fiona stöpselte einen IPod an die Aux-Buchse des vergleichsweise modernen Autoradios. Leicht sphärische Klänge, unterlegt mit einem rhythmischen, fast kosmischen Rauschen, verwandelten sich in die ersten Takte von Pink Floyds „Shine on you crazy Diamond“.
Während sich der Song instrumental steigerte, um dann endlich, wie eine Erlösung, in Gesang überzugehen, betrachtete Vinzenz Fiona genauer. Sie fuhr konzentriert, aber entspannt und summte die Melodie mit. Um ihre schönen grünen Augen hatten sich einige Fältchen eingegraben und eine scharfe Linie entlang ihrer schlanken, geraden Nase wies darauf hin, dass auch bei ihr nicht immer alles eitel Sonnenschein gewesen war. Ihre blonden Locken hatte sie ganz locker am Hinterkopf mit einem Haarband zusammengefasst, ihre Haut hatte einen sanft goldbraunen Schimmer. Sie sah fabelhaft aus.
Der Gesang setzte ein. “Remember when you were young, you shone like the sun. Shine on you crazy diamond.” Fiona sang leise mit und irgendwie fühlte Vinzenz sich angesprochen.
“You were caught in the crossfire of childhood and stardom, blown on the steel breeze….
Come on you target for faraway laughter, come on you stranger, you legend, you martyr, and shine…” Vinzenz verlor sich in der Melodie, die nun langsam in leisen Windgeräuschen ausklang, und bemerkte daher mit etwas Verspätung, dass Fiona bereits geparkt hatte. Sie standen auf einem sandigen Parkplatz, unweit eines flachen Gebäudes aus Holz und Naturstein.
Das Gebäude entpuppte sich als eine gemütliche Kneipe mit alten Emaille Werbeschildern an den Wänden und einem wuchtigen Billardtisch, der schon bessere Tage gesehen hatte. Unter einer Pergola, auf der Terrasse des Lokals nahmen sie Platz. Kurz darauf brachte der stämmige Wirt zwei eiskalte Estrella Biere, rückte den Aschenbecher etwas zurecht, murmelte „Salud“ und begab sich zurück in den dämmerigen Schatten seiner Bar.
„Hast Du…“ setzte Vinzenz an und wurde von Fiona gleich unterbrochen. „….dich jemals gefragt was wäre wenn?“
Vinzenz nickte. „Tja, schon…“, sagte sie. „Aber was nutzt es?
Die Frage nach dem, was hätte sein können ist ja, letzten Endes, nutzlos. Wir können die Zeit nicht zurückdrehen. Was geschehen ist, ist geschehen und es hatte ja auch seinen Sinn, damals.“ Fiona beugte sich vor und sah Vinzenz intensiv an.
„Aber jetzt sind wir hier. Im Hier und Jetzt. Die Vergangenheit ist ein Land, für das wir kein Visum mehr bekommen und die Zukunft liegt im Nebel. Es gibt nur das Jetzt. Und gerade jetzt freue ich mich sehr, dass wir beide hier zusammensitzen.“ Er lächelte. „Ich freue mich auch…sehr.“
Fiona winkte dem Wirt zu und machte ein V Zeichen mit den Fingern.
Kurz darauf standen zwei frische Flaschen Estrella auf dem Tisch.
Durch das offene Fenster rief sie dem Wirt „Bajamos al rio!“4 zu.
„Komm, wir gehen runter zum Fluss“, sagte sie. Umgeben von Weiden, Pappeln und vereinzelten Eukalyptusbäumen floss der Minho gemächlich vor sich hin. An seinem Ufer, auf ihrer Seite des Flusses, lagen mächtige, vom Wasser glattgewaschene, flache Felsen. Auf einem der Felsen, der durch seine Form eine Art natürliches Giganten-Sofa bildete, ließen sie sich nieder. Die Sonne hatte bereits einen tiefen Stand erreicht und hing in abenteuerlich vielseitigen Rot und Orangetönen noch zögerlich am Horizont.
Blaue Libellen schwirrten glitzernd wie schwebender Lapislazuli über das Wasser und gelegentlich sah man wie sich konzentrische Kreise im Wasser ausdehnten, dort wo ein Fisch sich gerade eine Insektenmahlzeit gefangen hatte. Die Luft war noch angenehm warm und es wehte nur ein leichter Wind.
Fiona zündete eine Selbstgedrehte an und der heuartige Duft von Marihuana breitete sich aus. Sie reichte den Joint wortlos an Vinzenz weiter, der ein paar tiefe Züge nahm und mit einem zufriedenen Seufzer den Rauch ausatmete.
„Das ist ein wunderbarer Ort hier. So friedlich und still.“
„Ich komme immer gern hierher, wenn ich mal den Kopf freikriegen will, manchmal fahre ich auch an die Bucht von Vigo. Da wirst Du auch in den nächsten Tagen vorbeikommen.“
Fiona drehte sich auf die Seite und stützte sich auf dem Ellenbogen auf. „Und? Wo stehst Du gerade? Was beschäftigt dich?“
Vinzenz begann zu erzählen. Über die Zweifel in den letzten beiden Jahren, wie sie ihn beschäftigt hatten, bis hin zum heutigen Tag, als er auf der Europabrücke die Erkenntnis hatte.
„Stell dir vor“, sagte er, „ich laufe also über die Brücke, hänge so meinen Gedanken nach und ganz plötzlich, ohne Vorwarnung, wird mir bewusst, dass es den Gott, dem ich bisher diente, überhaupt nicht gibt.“ Fiona schwieg und blickt ihn abwartend an. „Von einem Moment auf den anderen vom Seelsorger zum Atheisten. Ich konnte es gar nicht fassen. Vor allem wollte und kann ich nicht verstehen, warum mir das irgendwie so… wenig ausmacht. Weißt Du, ich habe immer versucht im Namen Gottes Gutes zu tun, ich habe Missionsarbeit geleistet, war Entwicklungshelfer, habe Trauernde getröstet, seelischen Beistand geleistet, habe jungen Menschen Orientierungshilfe gegeben und was sonst noch alles. Und dann stelle ich fest, dass das Fundament des Ganzen nicht nur einfach wackelt, sondern gar nicht mehr da ist. Wer oder was bin ich denn nun? Wie definiere ich mich künftig? Was fange ich mit meinem Leben jetzt an?
Weitermachen, wie bisher? Als eine Art Schauspieler, der die Rolle des guten Hirten gibt? Wenn man nicht gerade Robert de Niro ist, kann daraus nur eine Schmierenkomödie werden. Ich hoffe sehr, das mir dieser Weg ein paar Antworten gibt, Fragen genug hat er ja schon aufgeworfen.“
Fiona lächelte. „Oh Vinny, du bist schon ziemlich verkopft, oder?
Was hast du denn wirklich verloren? Doch nur den Glauben an eine allgemein anerkannte Form von Mythologie.
Der Gott des alten und des neuen Testaments ist doch auch nicht mehr, als die griechischen, römischen oder ägyptischen Götter der Antike, als die Götter Asgards oder die Kino- und Comic-Helden, von den Yedi-Rittern bis hin zu Batman und Clark Kent.“ Vinzenz hustete leicht protestierend.
„Du kannst doch nicht Batman und Meister Yoda in einen Topf mit Jesus werfen!“
„Nun, mit Jesus bestimmt nicht, der hat bei mir einen eigenen Topf zusammen mit Buddha, Mohammed, Zarathustra und Krishnamurti.
Aber dein Jahwe, dein Jehova und die ganzen biblischen Geschichten, das ist doch alles Mythologie. Nimm nur so Sachen wie die Arche Noah, Abraham, den Kindermord in Ägypten, den brennenden Dornbusch, Manna, das vom Himmel regnet, die ganze König David Saga oder von mir aus auch Adam, Eva, Kain und Abel. Das sind Geschichten. Erfunden, um zu beeindrucken, Moralbegriffe und Verhaltensregeln zu vermitteln. Und natürlich auch, um die Leichtgläubigen zu unterdrücken. Du hast doch etwas sehr wertvolles dazu gewonnen, durch deinen Glaubensverlust. Du hast dich von der Religion befreit.“
Vinzenz dachte nach. So hatte er das noch nicht gesehen. Was nicht weiter verwunderlich war, war er doch gerade einmal seit einem halben Tag ein Atheist.
Er nahm einen tiefen Schluck vom Bier. „Wie ist das bei dir? Ich kann mich erinnern, du warst immer ein sehr spiritueller Mensch. An was glaubst Du? Glaubst Du? An irgendetwas?“
Fiona lachte und sprang auf. Aus dem Stand heraus nahm sie die Yoga Position des Baumes ein, stand auf einem Bein, den Fuß des rechten Beins im Winkel auf den Oberschenkel des Standbeins gestützt, beide Hände hoch über dem Kopf in einer Art Gebetshaltung. „Ich glaube an Yoga, ich glaube das Sport gesund ist, ich glaube an eine gesunde Ernährung, ich glaube an das Gute im Menschen“, rief sie lachend und ließ sich wieder neben Vinzenz fallen. „Und… ich glaube, dass du ein guter Mensch bist, Vinzenz.“ Sie machte eine Pause und nahm seine Hand. Vinzenz Finger schlossen sich um die ihren, es fühlte sich so vertraut an, als wäre gar keine Zeit vergangen. „Weißt du, Vinny, damals hab ich dich sehr bewundert und beneidet um deinen Glauben.
Ich hatte nie einen solchen Glauben. Wir alle sehnen uns nach etwas Größeren und Bedeutsamen, nach etwas was uns Wert verleiht, das uns aus der Masse der vielen anderen Lebensformen emporhebt. Als denkende Wesen erschreckt uns der Gedanke an unsere Sterblichkeit, daran, dass am Ende einfach nichts ist. Und ihr Katholiken habt das ganze natürlich auf die Spitze getrieben. Das Leben vor dem Tod als eine Art Programmvorschau und der Hauptfilm kommt später – nach dem Sterben.“ Vinzenz lächelte. „Vor gar nicht allzu langer Zeit hättest du einen wunderbaren Häretiker abgegeben. Warst du denn nie auf der Suche?“ Wieder lachte sie. „Natürlich. Ich bin auf meiner Suche bis nach Rishikesh gegangen. Am Fuße des Himalayas hab ich es dann kapiert. Seitdem suche ich nicht mehr nach den großen, bedeutenden Wahrheiten. Ich suche nach den kleinen Dingen. Den Dingen, die das Leben lebenswert machen, nach den kleinen, liebenswerten Gesten, einfach nach einem achtsamen Umgang mit mir, meinem Leben und dem der anderen.“ Sie schwieg einen Moment lang. „Es gibt doch dieses Bibelzitat“, sagte sie dann. „Gott ist Liebe.“ Er nickte. „Aus den Johannesbriefen, ja. Warum?“ Sie lächelte. „Mir reicht das. Auch etwas, was ich begriffen habe in Indien. Liebe. Zum Leben. Für andere. Für sich selbst. Mehr braucht es nicht. Keine Propheten, keinen brennenden Dornbusch und auch keinen Gott. Liebe reicht vollkommen.“ Vinzenz lächelte. Konnte es wirklich so leicht sein? Ja, verdammt, dachte er, warum denn auch nicht? Die Sonne war nun fast untergangen und sie saßen nebeneinander und hielten sich an der Hand. „Wann wirst Du in Santiago sein?“ Vinzenz überlegte kurz und zählte die Etappen an seiner Hand ab. „Hmm, morgen gehe ich bis Mós, dann Pontevedra, Caldas de Reis, wenn es gut läuft bis Teó, ansonsten Padron und dann kommt auch schon Santiago. Also in fünf Tagen.“ Sie nickte und stand auf. „Schau mal, die Sterne. Hast du Lust hier draußen zu campen? Ich hab´ Isomatten, Schlafsack und eine kleine Feuerschale im Auto.“ Vinzenz gefiel die Idee. Der Himmel changierte jetzt von einem hellen Violett über unbeschreibliche Blautöne bis hin zu einem tiefen Nachtblau. Im dunklen, ewigen Blau der Nacht hingen tausende von Sterne und funkelten wie in einem Schlaflied. Grillen zirpten leise und fanden sich mit den nachtaktiven Zikaden zu einer gemeinsamen Jamsession ein. Fiona entzündete ein kleines Feuer und Vinzenz holte beim, mittlerweile etwas schläfrigen, Wirt noch zwei Bier. Sie rauchten, auf dem Rücken liegend und schauten dabei in die Sterne.
Sie schwiegen beide und genossen einfach nur die Gesellschaft des Anderen. Vinzenz erinnerte sich an eine andere Nacht, vor vielen Jahren, in der sie ebenfalls an einem Feuer saßen. An einem See, gemeinsam mit all ihren Freunden. Er erinnerte sich wie das Feuer Glanzlichter auf ihre, vom Schwimmen nasse, Haut geworfen hatte und er dachte daran wie jung und unbekümmert sie damals alle gewesen waren. Ungewollt durchbrach er die Stille mit einem leichten Seufzer.
„Was seufzt Du, Herr Pastor?“ „Ich säufe Bier“, kalauerte Vinzenz und überhörte den „Herrn Pastor“ großzügig.
Er richtete sich halb auf. „Ich dachte gerade an diesen Abend am See, wir haben gegrillt, geschwommen, am Feuer gesessen…mir fällt gerade auf, dass ich mich nur noch an ganz wenige erinnern kann, die damals dabei waren…“ „Tröste dich“, sagte sie und wandte sich ihm zu. „Ich hab die meisten von damals auch nicht mehr auf dem Schirm. Aber – Schwimmen.
Schwimmen ist eine gute Idee!“
***
„Wow, das war ja harter Stoff.“ Jan war der erste, der Worte fand, nachdem Schwester Miriam die Bodega verlassen hatte.
Die drei anderen nickten. Cristina erhob ihr Glas. „Auf unsere Nonne!“ Nick räusperte sich. „Schon eigenartig, wir kennen uns gerade mal ein paar Tage lang und dennoch habe ich das Gefühl, jeden von euch schon ewig zu kennen.“ Eric lachte.
„Das ist eine Nebenwirkung des Camino. Die Erfahrung habe ich auch schon letztes Jahr auf dem Camino Frances gemacht. Es liegt, glaube ich, an dieser Entschleunigung. Man nimmt alles bewusster wahr und öffnet sich irgendwie mehr, als im Alltag.“ „Das geht mir ähnlich, es kommt mir vor, als sei es Wochen her, dass wir uns alle bei Fernanda getroffen haben, dabei ist es gerade mal drei Tage her“, ergänzte Cristina. „Weißt du was wirklich eigenartig ist?“, sagte Jan. „Bis vor ein paar Tagen wäre ich gar nicht auf die Idee gekommen mit einer Nonne gemeinsam zu wandern, geschweige denn mit jemandem, der so viel älter ist als ich. Aber ich mag Miriam und ihre Gesellschaft.
Schwester Miriam ist cool. Von der kann man was lernen und sie ist echt lässig.“ Dann sah er auf die Uhr. „Oh, cool, es ist erst halb neun, da haben wir ja noch Zeit bis zum Zapfenstreich. Nehmen wir noch eine Flasche?“
***
Schwester Miriam ging gemessenen Schrittes durch den Kreuzgang der Kathedrale, in ihren Gedanken benutzte sie den Begriff „Lustwandeln“ und lächelte dabei. Sie betrachtete die steinernen Sarkophage und genoss die schlichte Erhabenheit der gotischen Spitzbögen. Der Klang der Orgel drang aus dem Inneren der Kathedrale an ihr Ohr und lockte sie zurück in das Dämmerlicht des Kirchenschiffs. Der Organist spielte auf der größeren der beiden Orgeln, die San Telmo geweiht worden war, dem Schutzheiligen von Tui und dem Patron der Seefahrer. Miriam erkannte das wunderbare „Jesu bleibet meine Freude“ von Bach, setzte sich still auf eine der Bänke und summte leise mit, während sie ihre Gedanken treiben ließ.
So versunken saß sie in ihren Gedanken, dass erst eine Stimme sie in die Wirklichkeit zurückholte. “Disculpa Señora, estás bien5?“ Der Organist hatte aufgehört zu üben und stand nun neben ihr. “Oh, me perdí por totalmente en tu música. Gracias. Eso fue maravilloso6”, antwortete sie und erhob sich. Sie lächelte den jungen Organisten an und verließ, nach einem Abschied nehmenden Rundumblick das Gotteshaus. Vom Atlantik wehte ein kräftiger Wind und brachte den würzigen, frischen Geruch der See mit sich. „Noch einmal das Meer sehen“, dachte sie sich. „Das ist doch wohl nicht zu viel verlangt, Herr, oder?“ Die Antwort kam postwendend und entsprang ihren eigenen Gedanken. „Das liegt ganz bei Dir, liebe Miriam, ganz allein bei Dir…“
„Ich war schon immer eine Deiner unbescheideneren Dienerinnen, Herr, und ich befürchte, das kann ich nun nicht mehr ändern.“ Bei dem Gedanken lachte sie still in sich hinein und ging langsam die wenigen Schritte bis zur Herberge, über das wunderbare mittelalterliche Pflaster, das von so vielen Generationen blankgescheuert worden war.
***
Cristina betrachtete ihre drei Wegbegleiter, die gerade in ein lebhaftes Gespräch vertieft waren. Sie fühlte sich etwas müde und hatte keine große Lust zu reden. Miriams Erzählung hatte sie alle bewegt, aber reden wollte niemand darüber. Die Jungs reflektierten ihren bisherigen gemeinsamen Weg und waren thematisch gerade bei den hervorragenden frittierten Stockfischbällchen hängengeblieben, die sie bei Fernanda genossen hatten. Dort, in Lugar do Corgo, hatten sie sich alle kennengelernt. Sie dachte gerne und mit viel Freude an diesen wunderbaren, lauten, lustigen Abend in der Casa Fernanda zurück.
Die Gastfreundschaft, die sie dort genossen hatten, suchte seinesgleichen. Fernanda und ihre Familie waren so herzliche und