Das Lächeln der Frauen - Nicolas Barreau - E-Book
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Nicolas Barreau

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Beschreibung

Die junge Restaurantbesitzerin Aurélie hat Liebeskummer: Von einem Tag auf den anderen wurde sie von ihrem Freund verlassen. Unglücklich streift sie durch Paris und stößt in einer kleinen Buchhandlung auf einen Roman, der gleich in den ersten Sätzen nicht nur ihr Lokal, sondern auch sie selbst beschreibt. Begeistert von der Lektüre, möchte Aurélie den Autor des Buchs kennenlernen, doch der ist leider sehr menschenscheu, erfährt sie vom Lektor des französischen Verlags. Aber Aurélie gibt nicht auf …

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Nicolas Barreau

Das Lächeln der Frauen

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Die junge Restaurantbesitzerin Aurélie hat Liebeskummer: Von einem Tag auf den anderen wurde sie von ihrem Freund verlassen. Unglücklich streift sie durch Paris und stößt in einer kleinen Buchhandlung auf einen Roman, der gleich in den ersten Sätzen nicht nur ihr Lokal, sondern auch sie selbst beschreibt. Begeistert von der Lektüre, möchte Aurélie den Autor des Buchs kennenlernen, doch der ist leider sehr menschenscheu, erfährt sie vom Lektor des französischen Verlags. Aber Aurélie gibt nicht auf …

Vita

Nicolas Barreau hat sich mit seinen charmanten Frankreich-Romanen ein begeistertes Publikum erobert. Sein Buch «Das Lächeln der Frauen» brachte ihm den internationalen Durchbruch. Es erschien in 36 Ländern, war in Deutschland mit weit über einer Million verkauften Exemplaren Jahresbestseller und wurde anschließend verfilmt sowie in unterschiedlichen Inszenierungen an deutschen Bühnen gespielt.

Das Glück ist ein roter Mantel

mit zerrissenem Futter.

 

Julian Barnes

1

Letztes Jahr im November hat ein Buch mein Leben gerettet. Ich weiß, das klingt jetzt sehr unwahrscheinlich. Manche mögen es gar für überspannt halten, wenn ich so etwas sage, oder melodramatisch. Und doch war es genau so.

Dabei hatte nicht einmal jemand auf mein Herz gezielt, und die Kugel wäre wundersamerweise in den Seiten einer dicken, in Leder gebundenen Ausgabe von Baudelaires Gedichten stecken geblieben, wie man es manchmal in Filmen sehen kann. So ein aufregendes Leben führe ich nicht.

Nein, mein dummes Herz war bereits vorher verwundet worden. An einem Tag, der wie jeder andere zu sein schien.

Ich erinnere mich noch genau. Die letzten Gäste im Restaurant – eine Gruppe von ziemlich lauten Amerikanern, ein diskretes japanisches Paar und ein paar diskutierwütige Franzosen – waren wie immer lange sitzen geblieben, und die Amerikaner hatten sich nach dem Gâteau au chocolat mit vielen «Aaahs» und «Ooohs» die Lippen geleckt.

Suzette hatte, nachdem der Nachtisch serviert war, wie immer gefragt, ob ich sie wirklich noch brauche, und war dann glücklich davongeeilt. Und Jacquie war wie immer schlecht gelaunt gewesen. Dieses Mal hatte er sich über die Essgewohnheiten der Touristen ereifert und die Augen verdreht, während er die leergefegten Teller scheppernd in die Spülmaschine warf.

«Ah, les Américains! Verstehen nichts von französischer Cuisine, rien du tout! Essen immer die Dekoration mit – warum muss ich für Barbaren kochen, ich hätte gute Lust, alles hinzuschmeißen, es macht mir schlechte Laune!»

Er hatte sich die Schürze losgebunden und mir beim Hinausgehen sein bonne nuit entgegengebrummt, bevor er sich auf sein altes Fahrrad schwang und in der kalten Nacht verschwand. Jacquie ist ein großartiger Koch, und ich mag ihn sehr, auch wenn er seine Griesgrämigkeit vor sich herträgt wie einen Topf Bouillabaisse. Er war schon Koch im Temps des Cerises, als das kleine Restaurant mit den rot-weiß gewürfelten Tischdecken, das etwas abseits vom belebten Boulevard Saint-Germain in der Rue Princesse liegt, noch meinem Vater gehörte. Mein Vater liebte das Chanson von der «Zeit der Kirschen», die so schön ist und so schnell vorbei, dieses zugleich lebensbejahende und etwas wehmütige Lied über Liebende, die sich finden und wieder verlieren. Und obwohl sich die französische Linke dieses alte Lied später zur inoffiziellen Hymne erkoren hat, als ein Bild für Aufbruch und Fortschritt, glaube ich, dass der wahre Grund, weshalb Papa sein Restaurant so nannte, weniger dem Gedenken an die Pariser Kommune geschuldet war, sondern ganz persönlichen Erinnerungen.

Dies ist der Ort, an dem ich aufgewachsen bin, und wenn ich nach der Schule mit meinen Heften in der Küche saß, umgeben vom Geklapper der Töpfe und Pfannen und von tausend verheißungsvollen Gerüchen, konnte ich sicher sein, dass Jacquie immer eine kleine Leckerei für mich hatte.

Jacquie, der eigentlich Jacques Auguste Berton heißt, kommt aus der Normandie, wo man bis zum Horizont sehen kann, wo die Luft nach Salz schmeckt und das endlose Meer, über dem Wind und Wolken ihr rastloses Spiel treiben, dem Auge nicht den Blick verstellt. Mehr als einmal am Tag versichert er mir, dass er es liebt, weit zu gucken, weit! Manchmal wird ihm Paris zu eng und zu laut, und dann sehnt er sich an die Küste zurück.

«Wer einmal den Geruch der Côte Fleurie in der Nase hat, wie kann der sich in den Pariser Abgasen wohlfühlen, sag mir das!?»

Er wedelt mit dem Fleischmesser und schaut mich vorwurfsvoll mit seinen großen braunen Augen an, bevor er sich mit einer ungeduldigen Bewegung die dunklen Haare aus der Stirn wischt, die mehr und mehr – ich sehe es mit einer gewissen Rührung – von silbrigen Fäden durchzogen sind.

Es ist doch erst ein paar Jahre her, dass dieser stämmige Mann mit den großen Händen einem vierzehnjährigen Mädchen mit langen dunkelblonden Zöpfen gezeigt hat, wie man die vollkommene Crème brûlée zubereitet. Es war das erste Gericht, mit dem ich meine Freundinnen beeindruckte.

Jacquie ist natürlich nicht irgendein Koch. Als junger Mann hat er in der berühmten Ferme Saint-Siméon gearbeitet, in Honfleur, der kleinen Stadt am Atlantik mit diesem ganz besonderen Licht – Fluchtpunkt der Maler und Künstler. «Das hatte schon etwas mehr Stil, meine liebe Aurélie.»

Doch soviel Jacquie auch schimpft – ich lächle still, weil ich weiß, dass er mich nie im Stich lassen würde. Und so war es auch in jenem letzten November, in dem der Himmel über Paris weiß wie Milch war und die Menschen mit dicken Wollschals durch die Straßen hasteten. Ein November, der so viel kälter war als alle anderen, die ich in Paris erlebt hatte. Oder kam mir das nur so vor?

Wenige Wochen zuvor war mein Vater gestorben. Einfach so, ohne Vorwarnung, hatte sein Herz eines Tages beschlossen, nicht mehr zu schlagen. Jacquie fand ihn, als er nachmittags das Restaurant aufschloss.

Papa lag friedlich auf dem Fußboden – umgeben von frischen Gemüsen, Lammkeulen, Jakobsmuscheln und Kräutern, die er morgens auf dem Markt gekauft hatte.

Er hinterließ mir sein Restaurant, das Rezept für sein berühmtes Menu d’amour, mit dem er angeblich vor vielen Jahren die Liebe meiner Mutter gewonnen hatte (sie starb, als ich noch sehr klein war, deswegen werde ich nie wissen, ob er nicht doch geschwindelt hat), und einige kluge Sätze über das Leben. Er war achtundsechzig Jahre alt, und ich fand das viel zu früh. Aber Menschen, die man liebt, sterben immer zu früh, nicht wahr, egal, wie alt sie werden.

«Die Jahre bedeuten nichts. Nur was in ihnen geschieht», hatte mein Vater einmal gesagt, als er Rosen auf das Grab meiner Mutter legte.

Und als ich im Herbst etwas verzagt, aber doch entschlossen in seine Fußstapfen trat, traf mich die Erkenntnis, dass ich nun ziemlich allein auf der Welt war, mit voller Wucht.

 

Gott sei Dank hatte ich Claude. Er arbeitete als Bühnenbildner am Theater, und der riesige Schreibtisch, der in seiner kleinen Atelierwohnung im Bastilleviertel unter dem Fenster stand, quoll stets über von Zeichnungen und kleinen Modellen aus Karton. Wenn er einen größeren Auftrag hatte, tauchte er manchmal für ein paar Tage ab. «Ich bin nächste Woche nicht vorhanden», sagte er dann, und ich musste mich erst daran gewöhnen, dass er tatsächlich weder ans Telefon ging noch die Tür öffnete, obwohl ich Sturm klingelte. Kurze Zeit später war er wieder da, als wäre nichts gewesen. Er schien am Himmel auf wie ein Regenbogen, nicht zu fassen und wunderschön, küsste mich übermütig auf den Mund, nannte mich «meine Kleine», und die Sonne spielte in seinen goldblonden Locken Versteck.

Dann nahm er mich an der Hand, zog mich mit sich fort und präsentierte mir mit flackerndem Blick seine Entwürfe.

Sagen durfte man nichts.

Als ich Claude erst einige Monate kannte, hatte ich einmal den Fehler begangen, meine Meinung unbefangen zu äußern, und mit schief gelegtem Kopf laut überlegt, was man noch verbessern könnte. Claude hatte mich fassungslos angestarrt, seine wasserblauen Augen schienen fast überzulaufen, und mit einer einzigen heftigen Handbewegung hatte er seinen Schreibtisch leergefegt. Farben, Stifte, Blätter, Gläser, Pinsel und kleine Kartonstücke wirbelten durch die Luft wie Konfetti, und das filigrane, in sorgsamer Arbeit gefertigte Bühnenmodell für Shakespeares Sommernachtstraum zerbrach in tausend Stücke.

Seither hielt ich mich mit kritischen Bemerkungen zurück.

Claude war sehr impulsiv, sehr wechselhaft in seinen Stimmungen, sehr zärtlich und sehr besonders. Alles an ihm war «sehr», ein wohltemperiertes Mittelmaß schien es nicht zu geben.

Wir waren damals ungefähr zwei Jahre zusammen, und es wäre mir nie in den Sinn gekommen, die Beziehung zu diesem komplizierten und höchst eigenwilligen Menschen infrage zu stellen. Wenn man genau hinsieht, hat doch jeder von uns seine Kompliziertheiten, seine Empfindlichkeiten und Spleens. Es gibt Dinge, die wir tun, oder Dinge, die wir niemals tun würden oder nur unter ganz bestimmten Umständen. Dinge, über die andere lachen, den Kopf schütteln, sich wundern.

Merkwürdige Dinge, die nur zu uns gehören.

Ich zum Beispiel sammle Gedanken. In meinem Schlafzimmer gibt es eine Wand mit bunten Zetteln voller Gedanken, die ich festgehalten habe, damit sie mir in ihrer Flüchtigkeit nicht verloren gehen. Gedanken über belauschte Gespräche im Café, über Rituale und warum sie so wichtig sind, Gedanken über Küsse im Park bei Nacht, über das Herz und über Hotelzimmer, über Hände, Gartenbänke, Fotos, über Geheimnisse und wann man sie preisgibt, über das Licht in den Bäumen und über die Zeit, wenn sie stillsteht.

Meine kleinen Notizen haften an der hellen Tapete wie tropische Schmetterlinge, eingefangene Momente, die keinem Zweck dienen außer dem, in meiner Nähe zu bleiben, und wenn ich die Balkontür öffne und ein leichter Luftzug durch das Zimmer streicht, zittern sie ein wenig, so als wollten sie davonfliegen.

«Was ist das?!» Claude hatte ungläubig die Augenbrauen hochgezogen, als er meine Schmetterlingssammlung zum ersten Mal sah. Er war vor der Wand stehen geblieben und hatte interessiert einige Notizen gelesen. «Willst du ein Buch schreiben?»

Ich wurde rot und schüttelte den Kopf.

«Um Gottes willen, nein! Ich mache das …», ich musste selbst einen Moment überlegen, fand aber keine wirklich überzeugende Erklärung, «weißt du, ich mache das einfach so. Kein Grund. So wie andere Leute Fotos machen.»

«Kann es sein, dass du ein kleines bisschen versponnen bist, ma petite?», hatte Claude gefragt, und dann hatte er die Hand unter meinen Rock geschoben. «Aber das macht nichts, gar nichts, ich bin ja auch ein bisschen verrückt …», er strich mit den Lippen über meinen Hals, und mir wurde ganz heiß, «… nach dir.»

Wenige Minuten später lagen wir auf dem Bett, meine Haare gerieten in ein wundervolles Durcheinander, die Sonne schien durch die halb zugezogenen Gardinen und malte kleine zitternde Kreise auf den Holzfußboden, und anschließend hätte ich einen weiteren Zettel an die Wand heften können Über die Liebe am Nachmittag. Ich tat es nicht.

Claude hatte Hunger, und ich machte Omelettes für uns, und er sagte, ein Mädchen, das solche Omelettes machen könne, dürfe sich jeden Spleen erlauben. Also hier noch etwas:

Immer wenn ich unglücklich oder unruhig bin, gehe ich los und kaufe Blumen. Natürlich mag ich Blumen auch, wenn ich glücklich bin, aber an diesen Tagen, wenn alles schiefläuft, sind Blumen für mich wie der Beginn einer neuen Ordnung, etwas, das immer vollkommen ist, egal, was passiert.

Ich stelle ein paar blaue Glockenblumen in die Vase, und es geht mir besser. Ich pflanze Blumen auf meinem alten Steinbalkon, der zum Hof hinausgeht, und habe sofort das befriedigende Gefühl, etwas ganz Sinnvolles zu tun. Ich verliere mich darin, die Pflanzen aus dem Zeitungspapier zu wickeln, sie behutsam aus den Plastikbehältern zu lösen und in die Töpfe zu setzen. Wenn ich mit den Fingern in die feuchte Erde greife und darin herumwühle, wird alles ganz einfach, und ich setze meinem Kummer wahre Kaskaden aus Rosen, Hortensien und Glyzinien entgegen.

Ich mag keine Veränderungen in meinem Leben. Ich nehme immer dieselben Wege, wenn ich zur Arbeit gehe, ich habe eine ganz bestimmte Bank in den Tuilerien, die ich heimlich als meine Bank betrachte.

Und ich würde mich niemals im Dunkeln auf einer Treppe umdrehen, weil ich das unbestimmte Gefühl hätte, dass hinter mir etwas lauert, das nach mir greift, wenn ich nur zurückschaue.

Das mit der Treppe habe ich übrigens niemandem erzählt, nicht einmal Claude. Ich glaube, er hat mir damals auch nicht alles erzählt.

Tagsüber gingen wir beide unserer Wege. Was Claude abends machte, wenn ich im Restaurant arbeitete, wusste ich nicht immer so genau. Vielleicht wollte ich es auch nicht wissen. Aber nachts, wenn die Einsamkeit sich über Paris senkte, wenn die letzten Bars schlossen und ein paar Nachtschwärmer fröstelnd auf die Straße traten, lag ich in seinen Armen und fühlte mich sicher.

 

Als ich an jenem Abend die Lichter im Restaurant löschte und mich mit einer Schachtel voller Himbeer-Macarons auf den Weg nach Hause machte, ahnte ich noch nicht, dass meine Wohnung genauso leer sein würde wie mein Restaurant. Es war, wie gesagt, ein Tag wie jeder andere.

Nur dass Claude sich mit drei Sätzen aus meinem Leben verabschiedet hatte.

 

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, wusste ich, dass etwas nicht in Ordnung war. Leider gehöre ich nicht zu den Menschen, die mit einem Schlag hellwach sind, und so war es zunächst auch mehr ein merkwürdiges unbestimmtes Unwohlsein als dieser eine konkrete Gedanke, der sich allmählich in mein Bewusstsein schob. Ich lag in den weichen, nach Lavendel duftenden Kissen, von draußen drangen gedämpft die Geräusche des Hofes hinein. Ein weinendes Kind, die beschwichtigende Stimme einer Mutter, schwere Schritte, die sich langsam entfernten, das Hoftor, das quietschend ins Schloss fiel. Ich blinzelte und drehte mich zur Seite. Halb im Schlaf noch streckte ich meine Hand aus und tastete nach etwas, das nicht mehr da war.

«Claude?», murmelte ich.

Und dann war der Gedanke angekommen. Claude hatte mich verlassen!

Was gestern Nacht noch seltsam unwirklich erschienen war und nach mehreren Gläsern Rotwein so unwirklich wurde, dass ich es auch hätte geträumt haben können, wurde mit Anbruch dieses grauen Novembermorgens unwiderruflich. Reglos lag ich da und lauschte, aber die Wohnung blieb still. Aus der Küche kam kein Geräusch. Keiner, der mit den großen dunkelblauen Tassen herumklapperte und leise fluchte, weil die Milch übergekocht war. Kein Duft nach Kaffee, der die Müdigkeit vertrieb. Kein leises Surren eines elektrischen Rasierers. Kein Wort.

Ich wandte den Kopf und sah zur Balkontür hinüber, die leichten, weißen Vorhänge waren nicht zugezogen und ein kalter Morgen drückte sich gegen die Scheiben. Ich zog die Decke fester um mich und dachte daran, wie ich gestern mit meinen Macarons nichts ahnend in die leere, dunkle Wohnung getreten war.

Nur das Licht in der Küche brannte, und ich hatte einen Moment verständnislos auf das einsame Stillleben gestarrt, das sich im Schein der schwarzmetallenen Hängelampe meinem Blick darbot.

Ein handgeschriebener Brief, der offen auf dem alten Küchentisch lag, darauf das Glas Aprikosenmarmelade, mit der Claude sich am Morgen sein Croissant bestrichen hatte. Eine Schale mit Obst. Eine Kerze, zur Hälfte abgebrannt. Zwei Stoffservietten, die nachlässig zusammengerollt waren und in silbernen Serviettenringen steckten.

Claude schrieb mir nie, nicht einmal einen Zettel. Er hatte eine manische Beziehung zu seinem Mobiltelefon, und wenn sich seine Pläne änderten, rief er mich an oder hinterließ eine Nachricht auf meiner Mailbox.

«Claude?», rief ich und hoffte noch irgendwie auf eine Antwort, aber da griff schon die kalte Hand der Angst nach mir. Ich ließ die Arme sinken, die Macarons rutschten aus der Schachtel und fielen in Zeitlupe auf den Boden. Mir wurde ein bisschen schwindlig. Ich setzte mich auf einen der vier Holzstühle und zog das Blatt unglaublich vorsichtig zu mir heran, als ob das etwas hätte ändern können.

Wieder und wieder hatte ich die wenigen Worte gelesen, die Claude in seiner großen, steilen Schrift zu Papier gebracht hatte, und am Ende meinte ich seine raue Stimme zu hören, ganz nah an meinem Ohr, wie ein Flüstern in der Nacht:

Aurélie,

ich habe die Frau meines Lebens kennengelernt. Es tut mir leid, dass es gerade jetzt passiert ist, aber irgendwann wäre es sowieso geschehen.

Pass gut auf dich auf,

Claude

Erst war ich reglos sitzen geblieben. Nur mein Herz klopfte wie verrückt. So also fühlte es sich an, wenn einem der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Am Vormittag hatte Claude sich noch mit einem Kuss im Flur von mir verabschiedet, der mir besonders zärtlich schien. Ich wusste nicht, dass es ein Kuss war, der mich verriet. Eine Lüge! Wie erbärmlich, sich auf diese Weise davonzustehlen!

In einer Aufwallung von ohnmächtiger Wut zerknüllte ich das Papier und warf es in eine Ecke. Sekunden später hockte ich laut aufschluchzend davor und strich den Bogen wieder glatt. Ich trank ein Glas Rotwein und dann noch eines. Ich zog mein Telefon aus der Tasche und rief Claude immer wieder an. Ich hinterließ verzweifelte Bitten und wilde Beschimpfungen. Ich ging in der Wohnung auf und ab, nahm wieder einen Schluck, um mir Mut zu machen, und schrie in den Hörer, er solle mich auf der Stelle zurückrufen. Ich glaube, ich habe es ungefähr fünfundzwanzigmal probiert, bevor ich mit der dumpfen Klarsichtigkeit, die der Alkohol einem bisweilen beschert, zu der Erkenntnis kam, dass meine Versuche vergeblich bleiben würden. Claude war bereits Lichtjahre entfernt, und meine Worte konnten ihn nicht mehr erreichen.

 

Mein Kopf schmerzte. Ich stand auf und tappte in meinem kurzen Nachthemd – eigentlich war es das viel zu große blau-weiß gestreifte Oberteil von Claudes Pyjama, das ich mir in der Nacht noch irgendwie übergezogen hatte – durch die Wohnung wie eine Somnambule.

Die Tür zum Badezimmer stand auf. Ich ließ meinen Blick schweifen, um mich zu vergewissern. Der Rasierapparat war verschwunden, ebenso wie die Zahnbürste und das Aramis-Parfum.

Im Wohnzimmer fehlte die weinrote Kaschmirdecke, die ich Claude zum Geburtstag geschenkt hatte, und über dem Stuhl hing nicht wie sonst achtlos hingeworfen sein dunkler Pullover. Der Regenmantel an der Garderobe links neben der Eingangstür war fort. Ich riss den Kleiderschrank auf, der im Flur stand. Ein paar leere Kleiderbügel schlugen mit leisem Klirren gegeneinander. Ich holte tief Luft. Alles ausgeräumt. Selbst an die Socken in der untersten Schublade hatte Claude gedacht. Er musste seinen Abgang sehr sorgfältig geplant haben, und ich fragte mich, wie es sein konnte, dass ich nichts gemerkt hatte, nichts. Davon, dass er vorhatte zu gehen. Davon, dass er sich verliebt hatte. Davon, dass er bereits eine andere Frau küsste, während er mich küsste.

In dem hohen goldgerahmten Spiegel, der im Flur über der Kommode hing, spiegelte sich mein blasses verweintes Gesicht wie ein bleicher Mond, der von zitternden, dunkelblonden Wellen umgeben war. Meine langen, in der Mitte gescheitelten Haare waren zerzaust wie nach einer wilden Liebesnacht, nur dass es keine heftigen Umarmungen und geflüsterten Schwüre gegeben hatte. «Du hast Haare wie eine Märchenprinzessin», hatte Claude gesagt. «Du bist meine Titania.»

Ich lachte bitter auf, trat ganz nah an den Spiegel heran und musterte mich mit dem unerbittlichen Blick der Verzweifelten. In meiner Verfassung und mit den tiefen Schatten unter meinen Augen erinnerte ich eher an die Irre von Chaillot, fand ich. Rechts über mir steckte im Rahmen des Spiegels das Foto von Claude und mir, das ich so sehr mochte. Es war an einem lauen Sommerabend entstanden, als wir über den Pont des Arts schlenderten. Ein beleibter Afrikaner, der auf der Brücke seine Taschen zum Verkauf ausgebreitet hatte, hatte es von uns gemacht. Ich erinnere mich noch, dass er unglaublich große Hände hatte – zwischen seinen Fingern wirkte meine kleine Kamera wie ein Puppenspielzeug – und dass es eine Weile dauerte, bis er endlich auf den Auslöser drückte.

Wir lachen beide auf diesem Foto, unsere Köpfe eng aneinandergeschmiegt, vor einem tiefblauen Himmel, der die Silhouette von Paris zärtlich einhüllt.

Lügen Fotos oder sagen sie die Wahrheit? Im Schmerz wird man philosophisch.

Ich nahm das Bild herunter, legte es auf das dunkle Holz und stützte mich mit beiden Händen auf die Kommode. «Que ça dure!», hatte der schwarze Mann aus Afrika uns mit tiefer Stimme und rollendem «r» lachend nachgerufen. «Que ça dure!» Möge es so bleiben!

Ich merkte, wie sich meine Augen erneut mit Tränen füllten. Sie liefen mir die Wangen hinunter und platschten wie dicke Regentropfen auf Claude und mich und unser Lächeln und diesen ganzen Paris-für-Verliebte-Quatsch, bis alles zur Unkenntlichkeit verschwamm.

Ich zog die Schublade auf und stopfte das Foto zwischen die Schals und Handschuhe. «So», sagte ich. Und dann noch einmal: «So.»

Dann drückte ich die Schublade zu und dachte darüber nach, wie einfach es doch war, aus dem Leben eines anderen zu verschwinden. Für Claude hatten ein paar Stunden gereicht. Und wie es aussah, war das gestreifte Hemd eines Herrenpyjamas, das wohl eher absichtslos unter meinem Kopfkissen vergessen worden war, das Einzige, was mir von ihm blieb.

 

Glück und Unglück liegen oft sehr nahe beieinander. Anders formuliert könnte man auch sagen, dass das Glück bisweilen seltsame Umwege nimmt.

Hätte Claude mich damals nicht verlassen, hätte ich mich an diesem trüben kalten Novembermontag wahrscheinlich mit Bernadette getroffen. Ich wäre nicht als einsamster Mensch von der Welt durch Paris geirrt, ich wäre bei Anbruch der Dämmerung nicht lange Zeit auf dem Pont Louis-Philippe stehen geblieben und hätte von Selbstmitleid überwältigt ins Wasser gestarrt, ich wäre nicht vor diesem besorgten jungen Polizisten in die kleine Buchhandlung auf der Île Saint-Louis geflüchtet, und ich hätte niemals dieses Buch gefunden, das mein Leben in ein so wunderbares Abenteuer verwandeln sollte. Aber der Reihe nach.

Es war zumindest sehr rücksichtsvoll von Claude, mich an einem Sonntag zu verlassen. Montags bleibt das Temps des Cerises nämlich immer geschlossen. Das ist mein freier Tag, und an diesem Tag mache ich stets irgendetwas Schönes. Ich gehe in eine Ausstellung. Ich verbringe Stunden im Bon Marché, meinem Lieblingskaufhaus. Oder ich sehe Bernadette.

Bernadette ist meine beste Freundin. Wir haben uns vor acht Jahren auf einer Zugfahrt kennengelernt, als ihre kleine Tochter Marie stolpernd auf mich zulief und schwungvoll einen Becher Kakao über meinem crèmefarbenen Strickkleid entleerte. Die Flecken sind nie ganz herausgegangen, aber am Ende dieser sehr kurzweiligen Zugfahrt von Avignon nach Paris und nach dem gemeinsamen und nicht sehr erfolgreichen Versuch, das Kleid in einer schwankenden Zugtoilette mit Wasser und Papiertaschentüchern zu reinigen, waren wir fast schon Freundinnen.

Bernadette ist alles, was ich nicht bin. Sie ist schwer zu beeindrucken, unerschütterlich in ihrer guten Laune, sehr patent. Mit bemerkenswerter Gelassenheit nimmt sie die Dinge, die da kommen, und versucht, das Beste daraus zu machen. Sie ist diejenige, die das, was ich manchmal für fürchterlich verworren halte, mit ein paar Sätzen zurechtrückt und ganz einfach macht.

«Du liebe Güte, Aurélie», sagt sie dann und schaut mich belustigt aus ihren dunkelblauen Augen an. «Was du dir immer für Gedanken machst! Das ist doch alles ganz einfach …»

Bernadette wohnt auf der Île Saint-Louis und ist Lehrerin an der École Primaire, aber sie könnte ohne weiteres auch Beraterin für kompliziert denkende Menschen sein.

Wenn ich in ihr klares, schönes Gesicht schaue, denke ich oft, dass sie eine der wenigen Frauen ist, denen es wirklich gut steht, die Haare in einem schlichten Chignon zu tragen. Und wenn sie ihre blonden, schulterlangen Haare offen trägt, sehen ihr die Männer hinterher.

Sie hat ein lautes, ansteckendes Lachen. Und sie sagt immer, was sie denkt.

Das war auch der Grund, weshalb ich sie an diesem Montagmorgen nicht treffen wollte. Bernadette konnte Claude von Anfang an nicht leiden.

«Das ist ein Freak», hatte sie gesagt, nachdem ich ihr Claude bei einem Glas Wein vorgestellt hatte. «Ich kenne solche Typen. Egozentrisch und guckt einem nicht richtig in die Augen.»

«Also mir guckt er in die Augen», erwiderte ich und lachte.

«Mit so einem wirst du nicht glücklich», beharrte sie.

Ich fand das damals ein bisschen vorschnell, aber als ich jetzt das Kaffeepulver in meine Glaskanne löffelte und das kochende Wasser darübergoss, musste ich mir eingestehen, dass Bernadette recht gehabt hatte.

Ich schickte ihr eine SMS und sagte unser gemeinsames Mittagessen mit kryptischen Worten ab. Dann trank ich meinen Kaffee, zog Mantel, Schal und Handschuhe an und trat hinaus in den kalten Pariser Morgen.

 

Manchmal geht man los, um irgendwo anzukommen. Und manchmal geht man einfach nur los, um zu gehen und zu gehen und immer weiter zu gehen, bis die Nebel sich lichten, die Verzweiflung sich legt oder man einen Gedanken zu Ende gedacht hat.

Ich hatte kein Ziel an diesem Morgen, mein Kopf war seltsam leer und mein Herz so schwer, dass ich sein Gewicht spürte und unwillkürlich meine Hand gegen den rauen Mantel drückte. Es waren noch nicht viele Leute unterwegs, und die Absätze meiner Stiefel klackten verloren auf dem alten Pflaster, als ich auf den steinernen Torbogen zuging, der die Rue de L’Ancienne Comédie mit dem Boulevard Saint-Germain verbindet. Ich war so froh, als ich vor vier Jahren meine Wohnung in dieser Straße gefunden hatte. Ich mag dieses kleine, lebendige Viertel, das sich jenseits des großen Boulevards mit seinen verwinkelten Straßen und Gassen, Gemüse-, Austern- und Blumenständen, Cafés und Geschäften bis zum Seineufer erstreckt. Ich wohne im dritten Stock, in einem alten Haus mit ausgetretenen Steintreppen und ohne Aufzug, und wenn ich aus dem Fenster schaue, kann ich hinübersehen zu dem berühmten Procope, jenem Restaurant, das schon seit Jahrhunderten dort steht und das erste Kaffeehaus von Paris gewesen sein soll. Dort hatten sich Literaten und Philosophen getroffen. Voltaire, Rousseau, Balzac, Hugo und Anatole France. Große Namen, deren spirituelle Gesellschaft die meisten Gäste, die dort unter riesigen Kronleuchtern auf roten Lederbänken sitzen und essen, mit einem angenehmen Schauer erfüllen.

«Hast du ein Glück», hatte Bernadette gesagt, als ich ihr mein neues Zuhause zeigte und wir zur Feier des Tages abends im Procope einen wirklich köstlichen Coq au vin aßen. «Wenn man bedenkt, wer hier alles schon gesessen hat – und du wohnst nur ein paar Schritte entfernt … toll!»

Sie schaute sich begeistert um, während ich ein Stück weingetränktes Huhn auf meine Gabel aufspießte, es versonnen anstarrte und einen Moment überlegte, ob ich vielleicht ein Kulturbanause war.

Ehrlicherweise muss ich gestehen, dass mich der Gedanke, dass man im Procope damals die erste Eiscrème von Paris essen konnte, weitaus mehr entzückte als bärtige Männer, die ihre klugen Gedanken zu Papier brachten, aber das hätte meine Freundin vielleicht nicht verstanden.

Bernadettes Wohnung ist voller Bücher. Sie stehen in meterhohen Regalen, die sich über Türrahmen hinwegziehen, sie liegen auf Esstischen, Schreibtischen, Couchtischen und Nachttischen, und selbst im Bad habe ich zu meinem Erstaunen auf einem kleinen Tischchen neben der Toilette ein paar Bücher gefunden.

«Ein Leben ohne Bücher könnte ich mir überhaupt nicht vorstellen», hat Bernadette einmal gesagt, und ich habe ein wenig beschämt genickt.

Im Prinzip lese ich auch. Aber meistens kommt etwas dazwischen. Und wenn ich die Wahl habe, mache ich am Ende doch lieber einen langen Spaziergang, oder ich backe eine Aprikosentarte, und der wunderbare Duft aus diesem Gemisch aus Mehl, Butter, Vanille, Eiern, Früchten und Sahne, der dann durch die Wohnung zieht, ist es, der meine Phantasie beflügelt und mich zum Träumen bringt.

Wahrscheinlich liegt es an diesem mit einem Kochlöffel und zwei Rosen verzierten Metallschild, das heute noch in der Küche des Temps des Cerises hängt.

Als ich in der Grundschule lesen lernte und sich Buchstabe für Buchstabe zu einem großen, sinngebenden Ganzen zusammenfügte, stand ich in meiner dunkelblauen Schuluniform davor und entzifferte die Worte, die darauf standen:

«Streng genommen hat nur eine Sorte Bücher das Glück unserer Erde vermehrt: die Kochbücher.»

Der Spruch war von einem Joseph Conrad, und ich weiß noch, dass ich lange Zeit ganz selbstverständlich angenommen hatte, dass dieser Mann ein berühmter deutscher Koch sein müsse. Umso erstaunter war ich, als ich später durch einen Zufall auf seinen Roman Herz der Finsternis stieß, den ich mir aus alter Verbundenheit sogar kaufte, aber dann doch nicht las.

Jedenfalls klang der Titel so düster wie meine Stimmung an diesem Tag. Vielleicht wäre jetzt der passende Zeitpunkt gewesen, dieses Buch hervorzuholen, überlegte ich voller Bitterkeit. Aber ich lese keine Bücher, wenn ich unglücklich bin; ich pflanze Blumen.

Das dachte ich zumindest in diesem Moment, nicht wissend, dass ich in derselben Nacht noch mit begehrlicher Hast die Seiten eines Romans umblättern würde, der sich mir sozusagen in den Weg geworfen hatte. Zufall? Bis heute glaube ich nicht daran, dass es ein Zufall war.

Ich grüßte Philippe, einen der Kellner aus dem Procope, der mir freundlich durch die Scheibe zuwinkte, ging achtlos vorbei an den funkelnden Auslagen des kleinen Schmuckladens Harem und bog auf den Boulevard Saint-Germain ein. Es hatte angefangen zu regnen, die Autos fuhren wasserspritzend an mir vorbei, und ich zog den Schal enger um mich, während ich unbeirrt den Boulevard entlangmarschierte.

Warum müssen schreckliche oder deprimierende Dinge immer im November passieren? Der November war für mich die denkbar schlechteste Zeit, um unglücklich zu sein. Die Auswahl der Blumen, die man pflanzen konnte, hielt sich in Grenzen.

Ich stieß mit meinem Fuß gegen eine leere Coladose, die scheppernd über den Bürgersteig rollte und schließlich im Rinnstein liegen blieb.

Un caillou bien rond qui coule, l’instant d’après il est coulé … Es war wie in diesem unglaublich traurigen Lied von Anne Sylvestre, La Chanson de Toute Seule, das mit den Kieselsteinen, die erst rollen und einen Augenblick später in der Seine untergehen. Alle hatten mich verlassen. Papa war tot, Claude war verschwunden, und ich war allein wie nie zuvor in meinem Leben. Da klingelte mein Mobiltelefon.

 

«Hallo?», sagte ich und verschluckte mich fast. Ich spürte, wie mir das Adrenalin durch den Körper schoss bei dem Gedanken, es könnte Claude sein.

«Was ist los, mein Schatz?» Bernadette kam wie immer direkt zur Sache.

Ein Taxifahrer bremste mit quietschenden Rädern neben mir und hupte wie ein Besinnungsloser, weil ein Fahrradfahrer die Vorfahrt nicht beachtet hatte. Es klang apokalyptisch.

«Meine Güte, was ist das?», rief Bernadette in den Hörer, bevor ich etwas sagen konnte. «Alles in Ordnung? Wo bist du?»

«Irgendwo auf dem Boulevard Saint-Germain», erwiderte ich kläglich und stellte mich für einen Moment unter die Markise eines Geschäfts, das bunte Schirme mit Entenköpfen als Knauf in der Auslage hatte. Der Regen tropfte aus meinen nassen Haaren, und ich ertrank in einer riesigen Woge aus Selbstmitleid.

«Irgendwo auf dem Boulevard Saint-Germain? Was um Himmels willen machst du irgendwo auf dem Boulevard Saint-Germain? Du hast mir doch geschrieben, dir wäre etwas dazwischengekommen!»

«Claude ist weg», sagte ich und schniefte in mein Telefon.

«Wie meinst du das – weg?» Bernadettes Stimme wurde wie immer, wenn es um Claude ging, sofort eine Spur unduldsamer. «Ist der Idiot wieder mal abgetaucht und meldet sich nicht?»

Dummerweise hatte ich Bernadette von Claudes Hang zum Eskapismus erzählt, und sie hatte das gar nicht witzig gefunden.

«Für immer weg», sagte ich aufschluchzend. «Er hat mich verlassen. Ich bin so unglücklich.»

«Ach, du meine Güte», sagte Bernadette und ihre Stimme war wie eine Umarmung. «Ach, du meine Güte! Meine arme, arme Aurélie. Was ist passiert?»

«Er … hat … eine … andere …», schluchzte ich weiter. «Gestern, als ich nach Hause kam, waren alle seine Sachen weg, und da lag ein Zettel … ein Zettel …»

«Er hat es dir nicht einmal persönlich gesagt? So ein Arschloch!» Bernadette fiel mir ins Wort und sog erbost die Luft ein. «Ich habe dir immer gesagt, dass Claude ein Arschloch ist. Immer und immer! Ein Zettel! Das ist wirklich das Letzte … nein, das ist das Allerletzte!»

«Bitte, Bernadette …»

«Was? Verteidigst du diesen Idioten auch noch?»

Ich schüttelte stumm den Kopf.

«Jetzt hör mal, mein Liebchen», sagte Bernadette, und ich kniff die Augen zusammen. Wenn Bernadette ihre Sätze mit «Jetzt hör mal» einleitete, war das meistens der Auftakt zu grundsätzlichen Meinungsbekundungen, die oft stimmten, die man aber nicht immer ertragen konnte. «Vergiss diesen Blödmann, so schnell es geht! Natürlich ist es jetzt schlimm …»

«Sehr schlimm», schluchzte ich.

«Also gut, sehr schlimm. Aber dieser Mann war wirklich unsäglich, und im tiefsten Inneren weißt du das auch. Jetzt versuche dich zu beruhigen. Alles wird gut, und ich verspreche dir in die Hand, dass du bald schon einen ganz netten Mann kennenlernen wirst, einen wirklich netten Mann, der so eine wunderbare Frau wie dich zu schätzen weiß.»

«Ach, Bernadette», seufzte ich. Bernadette hatte gut reden. Sie war mit einem wirklich netten Mann verheiratet, der mit unglaublicher Langmut ihren Wahrheitsfanatismus ertrug.

«Hör mal», sagte sie jetzt wieder. «Du nimmst dir sofort ein Taxi und fährst nach Hause, und wenn ich hier alles klar habe, komme ich zu dir. Alles halb so wild, ich bitte dich! Kein Grund für ein Drama.»

Ich schluckte. Natürlich war das nett von Bernadette, dass sie zu mir kommen und mich trösten wollte. Doch ich hatte das ungute Gefühl, dass ihr Verständnis von Trost ein anderes war als meines. Ich wusste nicht, ob ich Lust darauf hatte, mir den ganzen Abend über erklären zu lassen, wieso Claude der beknackteste Typ aller Zeiten war. Immerhin war ich bis gestern noch mit ihm zusammen gewesen, und ein bisschen mehr Mitgefühl hätte ich auch ganz schön gefunden.

Und dann schoss die gute Bernadette über das Ziel hinaus.

«Ich sag dir mal was, Aurélie», sagte sie in ihrer Lehrerinnenstimme, die keinen Widerspruch duldete. «Ich bin froh, ja, ich bin sogar sehr froh, dass Claude dich verlassen hat. Ein echter Glücksfall, wenn du mich fragst! Du hättest den Absprung nämlich nicht geschafft. Ich weiß, du hörst das jetzt nicht gern, aber ich sag’s trotzdem: Dass dieser Blödmann endlich aus deinem Leben verschwunden ist, ist für mich ein Grund zum Feiern.»

«Wie schön für dich», entgegnete ich schärfer, als ich es eigentlich wollte, und ich spürte, wie die unterschwellige Erkenntnis, dass meine Freundin nicht ganz unrecht hatte, mich mit einem Mal unglaublich wütend machte.

«Weißt du was, Bernadette? Feiere du doch schon mal ein bisschen vor, und falls du es in deiner großen Euphorie überhaupt ertragen kannst, dann lass mich einfach noch ein paar Tage traurig sein, ja? Lass mich einfach nur in Ruhe!»

Ich legte auf, holte tief Luft und schaltete mein Handy dann ganz aus.

Na, toll, jetzt hatte ich auch noch Krach mit Bernadette. Vor der Markise strömte der Regen auf das Pflaster, und ich drückte mich fröstelnd in eine Ecke und überlegte, ob es eigentlich nicht besser wäre, nach Hause zu fahren. Doch die Vorstellung, in eine leere Wohnung zurückzukehren, machte mir Angst. Ich hatte ja nicht einmal eine kleine Katze, die mich erwartete und sich schnurrend an mich schmiegte, wenn ich meine Finger durch ihr Fell gleiten ließ. «Schau mal, Claude, sind die nicht bezaubernd?», hatte ich gerufen, als Madame Clément, die Nachbarin, uns damals die Tigerkatzenbabys zeigte, die mit kleinen tapsigen Bewegungen in ihrem Körbchen übereinander stolperten.

Aber Claude hatte eine Katzenhaarallergie und mochte auch sonst keine Tiere.

«Ich mag keine Tiere. Nur Fische», hatte er gesagt, als wir uns erst ein paar Wochen kannten. Und eigentlich hätte ich es da schon wissen müssen. Die Chance, mit einem Menschen glücklich zu werden, der nur Fische mochte, war für mich, Aurélie Bredin, ziemlich gering.

Entschlossen stieß ich die Tür zu dem kleinen Schirmgeschäft auf und kaufte einen himmelblauen Regenschirm mit weißen Punkten und einem Entenkopfgriff, der die Farbe eines Karamellbonbons hatte.

 

Es wurde der längste Spaziergang meines Lebens. Nach einer Weile verschwanden die Modegeschäfte und Restaurants, die rechts und links des Boulevards lagen, und wurden zu Möbelgeschäften und Fachgeschäften für Badezimmereinrichtungen, und dann hörten auch diese auf, und ich zog meine einsame Bahn durch den Regen, vorbei an den steinernen Fassaden der großen sandfarbenen Häuser, die dem Auge wenig Ablenkung boten und meinen ungeordneten Gedanken und Gefühlen mit stoischer Ruhe begegneten.

Am Ende des Boulevards, der auf den Quai d’Orsay stößt, bog ich rechts ab und überquerte die Seine Richtung Place de la Concorde. Wie ein dunkler Zeigefinger ragte der Obelisk in der Mitte des Platzes auf, und es kam mir so vor, als hätte er in seiner ganzen ägyptischen Erhabenheit nichts zu tun mit den vielen kleinen Blechautos, die ihn hektisch umkreisten.

Wenn man unglücklich ist, sieht man entweder gar nichts mehr und die Welt versinkt in Bedeutungslosigkeit, oder man sieht die Dinge überdeutlich und alles bekommt mit einem Mal eine Bedeutung. Sogar ganz banale Dinge, wie eine Ampel, die von Rot auf Grün springt, können darüber entscheiden, ob man nach rechts oder nach links geht.

Und so spazierte ich wenige Minuten später durch die Tuilerien, eine kleine traurige Gestalt unter einem getupften Regenschirm, der sich langsam und mit leichten Auf- und Abwärtsbewegungen durch den leergefegten Park bewegte, diesen Richtung Louvre verließ, bei Einbruch der Dämmerung am rechten Ufer der Seine entlangschwebte, vorbei an der Île de la Cité, vorbei an Notre-Dame, vorbei an den Lichtern der Stadt, die allmählich aufleuchteten, bis er schließlich auf dem kleinen Pont Louis-Philippe, der zur Île Saint-Louis hinüberführt, anhielt.

 

Die tiefblaue Farbe des Himmels legte sich über Paris wie ein Stück Samt. Es war kurz vor sechs, der Regen hörte allmählich auf, und ich lehnte mich ein wenig erschöpft über die Steinbrüstung der alten Brücke und starrte nachdenklich in die Seine. Die Laternen spiegelten sich zitternd und glitzernd auf dem dunklen Wasser – zauberhaft und zerbrechlich wie alles Schöne.

Nach acht Stunden, Tausenden von Schritten und noch mal tausend Gedanken war ich an diesem stillen Ort angekommen. So viel Zeit hatte es gebraucht, um zu begreifen, dass die abgrundtiefe Traurigkeit, die sich wie Blei auf mein Herz gelegt hatte, nicht allein dem Umstand geschuldet war, dass Claude mich verlassen hatte. Ich war zweiunddreißig Jahre alt, und es war nicht das erste Mal, dass eine Liebe zerbrach. Ich war gegangen, ich war verlassen worden, ich hatte weitaus nettere Männer gekannt als Claude, den Freak.

Ich glaube, es war dieses Gefühl, dass sich alles auflöste, veränderte, dass Menschen, die meine Hand gehalten hatten, plötzlich für immer verschwanden, dass mir die Bodenhaftung verloren ging und zwischen diesem riesigen Universum und mir nichts mehr war als ein himmelblauer Regenschirm mit kleinen weißen Punkten.

Das machte es nicht gerade besser. Ich stand allein auf einer Brücke, ein paar Autos fuhren an mir vorbei, die Haare wehten mir ins Gesicht, und ich umklammerte den Schirm mit dem Entenknauf, als könnte dieser auch noch davonfliegen.

«Hilfe!», flüsterte ich leise und taumelte ein wenig gegen die Steinmauer.

«Mademoiselle? Oh, mon Dieu, Mademoiselle, nicht! Warten Sie, arrêtez!» Ich hörte eilige Schritte hinter mir und erschrak.

Der Schirm glitt mir aus der Hand, machte eine halbe Umdrehung, prallte von der Brüstung ab und fiel dann in einem kleinen wirbelnden Tanz nach unten, bevor er mit einem kaum hörbaren Platschen bäuchlings auf dem Wasser landete.

Ich drehte mich verwirrt um und sah in die dunklen Augen eines jungen Polizisten, der mich mit besorgtem Blick musterte. «Alles in Ordnung?», fragte er aufgeregt. Offenbar hielt er mich für eine Selbstmörderin.

Ich nickte. «Ja, natürlich. Alles bestens.» Ich rang mir ein kleines Lächeln ab. Er zog die Augenbrauen hoch, als glaube er mir kein Wort.

«Ich glaube Ihnen kein Wort, Mademoiselle», sagte er. «Ich habe Sie schon eine ganze Weile beobachtet, und so, wie Sie da standen, sieht keine Frau aus, bei der alles bestens ist.»

Ich schwieg betroffen und sah für einen Moment dem weißgetupften Regenschirm hinterher, der gemächlich auf der Seine davonschaukelte. Der Polizist folgte meinem Blick.

«Es ist immer dasselbe», meinte er dann. «Ich kenne das schon mit diesen Brücken. Erst neulich haben wir noch weiter unten ein Mädchen rausgefischt aus dem eiskalten Wasser. Gerade noch rechtzeitig. Wenn jemand sich lange auf einer Brücke rumtreibt, kann man sicher sein, dass er entweder heftig verliebt ist oder kurz davor, ins Wasser zu springen.»

Er schüttelte den Kopf. «Ich hab nie kapiert, warum Verliebte und Selbstmörder immer diese Affinität zu den Brücken haben.»

Er beendete seinen Exkurs und schaute mich misstrauisch an.

«Sie sehen ziemlich durcheinander aus, Mademoiselle. Sie wollten doch wohl keine Dummheiten machen, was? So eine schöne Frau wie Sie. Auf der Brücke.»

«Aber nein!», versicherte ich. «Außerdem stehen auch ganz normale Menschen manchmal länger auf Brücken, einfach weil es schön ist, über den Fluss zu schauen.»

«Sie haben aber ganz traurige Augen.» Er ließ nicht locker. «Und es sah eben ganz so aus, als wollten Sie sich fallen lassen.»

«So ein Unsinn!», entgegnete ich. «Mir war nur ein bisschen schwindlig», beeilte ich mich hinzuzufügen und legte unwillkürlich die Hand auf meinen Bauch.

«Oh, pardon! Excusez-moi, Mademoiselle … Madame!» In einer verlegenen Geste breitete er seine Hände aus. «Ich konnte ja nicht ahnen … vous êtes … enceinte? Da sollten Sie aber etwas besser auf sich Acht geben, wenn ich das mal so sagen darf. Darf ich Sie nach Hause begleiten?»

Ich schüttelte den Kopf und hätte fast gelacht. Nein, schwanger war ich nun wirklich nicht.

Er legte den Kopf schief und lächelte galant. «Sind Sie sicher, Madame? Der Schutz der französischen Polizei steht Ihnen zu. Nicht, dass Sie mir noch umkippen.» Er blickte fürsorglich auf meinen flachen Bauch. «Wann ist es denn so weit?»

«Hören Sie, Monsieur», entgegnete ich mit fester Stimme. «Ich bin nicht schwanger und werde es mit ziemlicher Sicherheit in näherer Zukunft auch nicht sein. Mir war einfach ein wenig schwindlig, das ist alles.»

Und das war auch kein Wunder, fand ich, immerhin hatte ich außer einem Kaffee den ganzen Tag nichts zu mir genommen.

«Oh! Madame … ich meine Mademoiselle!» Sichtlich verlegen trat er einen Schritt zurück. «Entschuldigen Sie vielmals, ich wollte nicht indiskret sein.»

«Ist schon gut», seufzte ich und wartete darauf, dass er ging.

Doch der Mann in der dunkelblauen Uniform blieb stehen. Er war der Prototyp eines Pariser Polizisten, wie ich sie auf der Île de la Cité, wo der Sitz der Polizeipräfektur ist, oft schon gesehen hatte: groß, schlank, gut aussehend, immer zu einem kleinen Flirt bereit. Dieser hier hatte es sich offenbar zur Aufgabe gemacht, mein persönlicher Schutzengel zu sein.

«Also dann …» Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen die Brüstung und versuchte ihn mit einem Lächeln zu verabschieden. Ein älterer Mann im Regenmantel ging vorbei und warf uns einen interessierten Blick zu.

Der Polizist legte zwei Finger an seine Kappe. «Tja, wenn ich nichts mehr für Sie tun kann …»

«Nein, wirklich nicht.»

«Dann passen Sie gut auf sich auf.»

«Mach ich.» Ich presste die Lippen aufeinander und nickte ein paarmal mit dem Kopf. Das war der zweite Mann in vierundzwanzig Stunden, der mir sagte, ich solle gut auf mich aufpassen. Ich hob kurz die Hand, drehte mich dann wieder um und stützte mich mit den Ellbogen auf die Brüstung. Aufmerksam studierte ich die Kathedrale von Notre-Dame, die sich wie ein mittelalterliches Raumschiff aus der Dunkelheit am Ende der Île de la Cité erhob.

Hinter mir ertönte ein Räuspern, und ich spannte den Rücken an, bevor ich mich langsam wieder zur Straße drehte.

«Ja?», sagte ich.

«Was ist es denn nun?», fragte er und grinste wie George Clooney in der Nespresso-Werbung. «Mademoiselle oder Madame?»

Oh. Mein. Gott. Ich wollte in Ruhe unglücklich sein, und ein Polizist flirtete mit mir.

«Mademoiselle, was sonst», gab ich zurück und beschloss, die Flucht zu ergreifen. Die Glocken von Notre-Dame tönten zu mir herüber, und ich ging schnellen Schrittes die Brücke entlang und betrat die Île Saint-Louis.