Das Land des Vergessens - Cornelia Franz - E-Book

Das Land des Vergessens E-Book

Cornelia Franz

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Beschreibung

Sie wandte den Blick nach vorn und hielt sich, so gut es ging, an der struppigen Mähne ihrer Stute fest, denn Ragna stürmte im wilden Galopp hinter Taifun her. Auch Siris Herz schlug im Galopp, und ihr Atem flatterte. Würden sie das Land im Norden erreichen? Würden sie Jesse wirklich finden? Und welche Gefahren mochten dort auf sie warten? Siri kann ihren Bruder Jesse nicht vergessen. Auch wenn ihre Eltern seit seinem tödlichen Unfall nicht mehr über ihn sprechen wollen. Aber sie hört doch Jesses Stimme! Immer wieder ruft er nach Siri, als brauche er ihre Hilfe. Und so macht sie sich eines Tages zusammen mit Jesses Freund Hunter auf den Weg ins Land des Vergessens. Dorthin, wo der finstere Herrscher des Nichts regiert – und Jesse gefangen hält.

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Seitenzahl: 264

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Cornelia Franz

Das Land des Vergessens

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Sie wandte den Blick nach vorn und hielt sich, so gut es ging, an der struppigen Mähne ihrer Stute fest, denn Ragna stürmte im wilden Galopp hinter Taifun her. Auch Siris Herz schlug im Galopp, und ihr Atem flatterte. Würden sie das Land im Norden erreichen? Würden sie Jesse wirklich finden? Und welche Gefahren mochten dort auf sie warten?

Siri kann ihren Bruder Jesse nicht vergessen. Auch wenn ihre Eltern seit seinem tödlichen Unfall nicht mehr über ihn sprechen wollen. Aber sie hört doch Jesses Stimme! Immer wieder ruft er nach Siri, als brauche er ihre Hilfe. Und so macht sie sich eines Tages zusammen mit Jesses Freund Hunter auf den Weg ins Land des Vergessens. Dorthin, wo der finstere Herrscher des Nichts regiert – und Jesse gefangen hält.

Über Cornelia Franz

Cornelia Franz wurde 1956 in Hamburg geboren. Nach dem Studium und vielen abenteuerlichen Reisen machte sie eine Ausbildung zur Verlagsbuchhändlerin und arbeitete als Lektorin für Reiseführer und Kunstbücher. Seit 1993 schreibt sie vor allem Kinder- und Jugendbücher. Sie lebt mit ihrer Familie in Hamburg.

Inhaltsübersicht

Teil eins: Der Aufbruch1. Kapitel, in dem Siri drei Teller zu viel auf den Tisch stellt2. Kapitel, in dem es um Abschied und Wiedersehen geht3. Kapitel, in dem sich Siri aufmacht, um ein sicheres Versteck zu suchenTeil zwei: Jesses Welt4. Kapitel, das an einem fremden Meer spielt5. Kapitel, in dem sich Siri und Hunter auf die Suche begeben6. Kapitel, das von einer ganz besonderen Nachtwanderung handelt7. Kapitel, das nach einem Feuer am See, nach Bratäpfeln geschmorten Pilzen und endlosen Sommerferien riecht8. Kapitel, in dem Siri und Hunter einen märchenhaften Tag verbringen9. Kapitel, das einen überstürzten Aufbruch zu Pferde bringt10. Kapitel, in dem Siri und Hunter neue Warnungen zu hören bekommen und sie in den Wind schlagen11. Kapitel, in dem sich Siri und Hunter in das Land jenseits des Flusses wagen12. Kapitel, in dem Siri und Hunter ein sehr stilles Dorf und ein Haus in den Bäumen entdecken13. Kapitel, das die Begegnung mit dem Schattenkind bringt14. Kapitel, in dem die Freunde in den Sturm der bösen Gedanken geraten15. Kapitel, in dem sich Siri und Hunter groβe Sorgen um das Schattenkind machen16. Kapitel, in dem der Wald des Schweigens seine Macht zeigt17. Kapitel, in dem Siri beinahe einen schweren Kampf verliert18. Kapitel, das Siri und Hunter in eisige Kälte führt19. Kapitel, das einen ganz besonderen Sieg beschreibt20. Kapitel, das in die Tiefe des Schneebergs führt21. Kapitel, in dem der Kampf gegen die Nebelkrieger eine ungewöhnliche Wendung nimmt22. Kapitel, das Siri und Hunter ans Ziel ihrer Reise bringt23. Kapitel, das einen langen Weg zurück beschreibt24. Kapitel, das von einem perfekten Tag und einer schweren Entscheidung handelt25. Kapitel, in dem Siri und Hunter wieder am Meer sindTeil drei: Die Rückkehr26. Kapitel, in dem Siris Mutter nicht alles verstanden, aber das Wichtigste begriffen hat27. Kapitel, in dem Siri beweist, dass sie richtig zählen kann

Teil eins: Der Aufbruch

1. Kapitel, in dem Siri drei Teller zu viel auf den Tisch stellt

«Jesse, möchtest du Marmelade oder Honig zum Frühstück?» Siri bestrich eine Scheibe Toastbrot mit Butter und legte sie auf Jesses Teller. Es war der mit dem fliegenden Supermann am Rand, sein Lieblingsteller. «Nimm Marmelade, die haben Mama und ich selbst gemacht!»

An diesem Freitag war Siri früh aufgewacht. Es war so ein Frühlingstag, an dem man kribbelig wurde, wenn man zu lange im Bett lag. Jesse und sie waren an solch einem Morgen manchmal auf den Balkon gegangen und hatten zugehört, wie die Vögel ihr Konzert trillerten. Nur für sie zwei, denn alle anderen schliefen ja tief und fest.

Während Mama noch unter der Dusche stand, hatte Siri den Frühstückstisch gedeckt. Vier Teller, vier Becher, vier Messer, schön gleichmäßig um den runden Küchentisch verteilt.

«Milch?»

Mit Schwung füllte sie die beiden Becher bis zum Rand. «Hoppla. Das war zu viel. Nicht kleckern!»

Sie schaute zu Jesses Platz hinüber. Jesse kleckerte nie. Für einen Jungen war er ziemlich vorsichtig.

«Guck mal, so mach ich das.» Siri senkte den Kopf und schlürfte vorsichtig den Milchhügel weg, der sich einen hübschen Millimeter über den Rand ihres Bechers wölbte.

Doch da hörte sie ein Räuspern. Mama stand plötzlich in der Küchentür, mit nassen Haaren und gerunzelter Stirn. Sie trug schon ihren Bürohosenanzug, den mit den Bügelfalten, hatte aber ein Handtuch um die Schultern geworfen. «Also wirklich, Siri!», sagte sie. «Was machst du da schon wieder? Was soll denn der Blödsinn?»

Siri schaute hoch. Was meinte Mama damit? Meinte sie das Schlürfen oder ihr Gespräch mit Jesse? Selbstgespräche nannte Mama das, und immer, wenn sie Siri dabei erwischte, wurden ihre hellgrauen Augen ganz dunkel vor Traurigkeit. «Du musst damit aufhören», hatte sie schon mindestens fünfzig Mal gesagt. «Du musst es endlich akzeptieren: Du kannst nicht mehr mit deinem Bruder reden. Jesse ist tot!»

Siri wischte sich den Milchbart mit dem Handrücken vom Mund und wollte ihrer Mutter eine Antwort geben. Aber die war schon wieder weg. Aus dem Badezimmer hörte man den Föhn.

«Schlürfen kann sie nicht ausstehen.» Siri nahm sich das Marmeladenbrot vom Supermannteller, biss hinein und kaute so angestrengt, dass ihr die Wangenmuskeln wehtaten.

Ja, Mama hatte recht. Jesse war tot, seit fast einem Jahr schon. Als ob Siri das auch nur eine einzige Sekunde lang vergessen könnte … Aber Mama hatte auch unrecht, denn Siri konnte sehr wohl mit ihm reden! Mit niemandem auf der Welt konnte sie so gut reden wie mit Jesse. Er hörte immer zu und hatte immer Zeit, und er wusste immer genau, was sie meinte. Und er antwortete auch.

Am Anfang hatte sie versucht, Mama und Papa davon zu erzählen. «Ich kann Jesse hören», hatte sie gesagt. «Ganz ehrlich! In meinem Kopf kann ich ihn hören.» Aber Mama hatte dann jedes Mal durch sie hindurchgeguckt, als wäre sie gar nicht da, und Papa hatte die Zähne zusammengebissen. Nein, die Eltern wollten nichts von Jesse wissen. Sie sprachen nicht über ihn, nicht mit Siri und auch nicht miteinander. Irgendwann hatten sie aufgehört, überhaupt noch miteinander zu reden. Das Unglücklichsein hatte sich zwischen ihnen eingenistet wie ein dicker schwarzer Nebel. Er machte sich breit und breiter. Gar kein Platz ließ er mehr für Lachen und Spielen und Streiten und ganz normale Gespräche. Er schien alles aufzufressen. Und dann war Papa ausgezogen, in eine eigene kleine Wohnung in den Hochhäusern, und Siri sah ihn nur noch am Wochenende.

Während Siri den letzten Bissen mit Milch hinunterspülte, kam ihre Mutter in die Küche. Ihre Haare waren noch feucht und ihre Stirn immer noch von vier feinen Falten durchzogen. Aber ihre Augen, die eben noch verärgert gefunkelt hatten, waren jetzt stumpf wie schwarzer Samt.

«Es reicht, wenn du für zwei deckst. Das weißt du doch, Siri», sagte sie, ohne Siri dabei anzusehen, und ihre Stimme klang, als hätte sie Halsschmerzen. Dann räumte sie die unbenutzten Teller ab und stellte sie in den Schrank zurück. «Ich hab heute keine Zeit zum Frühstücken. Ich muss ins Büro.» Sie strich Siri über die zerzausten braunen Locken. «Kämm dich, bevor du das Haus verlässt, du Struwwelpeter.»

Und schon fiel die Tür hinter ihr zu. Siri lauschte auf das Klackediklack ihrer hohen Absätze im Treppenhaus.

«Mama hat’s immer eilig. Das kennst du ja», sagte sie, beugte sich über Jesses Becher und schlürfte auch noch seinen Milchhügel weg.

Wenige Minuten später lief sie ebenfalls die Treppen hinunter, die Haare ungekämmt, einen Milchbart auf der Oberlippe, den Ranzen auf dem Rücken und Jesses Schwert im Gürtel.

Jesses Laserschwert – das hatte Siri immer dabei. Sie hatte sich extra einen Gürtel aus bunten Lederbändern geflochten, in den sie es stecken konnte. Am Anfang hatte Frau Schneider natürlich gemeckert. «Spielzeug gehört nichts ins Klassenzimmer!», hatte sie gesagt. Aber Siri hatte geweint, als die Lehrerin ihr das Schwert wegnehmen wollte, und da war Frau Schneider machtlos gewesen. Siri hatte fest versprochen, es in der Schule nicht auszufahren, sondern es zusammengesteckt im Gürtel zu lassen.

Auf dem Weg zur Schule konnte sie allerdings noch machen, was sie wollte. Und so zog sie, während sie die Haustür aufriss, ihr Schwert und ließ es auf volle Größe ausfahren. Wutsch! Sie liebte das Geräusch, mit dem das leuchtende blaue Ding auseinanderzwutschte. Genau so, wie Jesse es geliebt hatte.

Sie steckte das Schwert in den Gürtel, legte die rechte Hand locker um den runden Griff und ging los.

Mit einem Schwert in der Hand ging man anders als die anderen. Man hatte etwas, woran man sich aufrichten konnte. Und etwas, auf das man aufpassen musste. Eigentlich konnte einem dann gar nichts mehr passieren, fand sie.

Der Frühlingswind strich ihr durch die Locken, und sie holte tief Luft. Es war gut, draußen zu sein. Leichter und freier konnte man hier atmen als in der Wohnung. Für einen Moment blitzte ein Gedanke in ihr auf: einfach weiterlaufen … durch die Siedlung mit den hellblau gestrichenen Wohnblocks, vorbei am Spielplatz, an der Apotheke und der Post. Vorbei an Frau Wiedemeyer, die wie jeden Morgen aus ihrem Zeitungskiosk herausschaute. Und vorbei an Hunter, der da drüben auf der anderen Straßenseite so lässig schlenderte, als müsse er an diesem Freitag nicht zur Schule. Einfach weiterlaufen …

Doch der Anblick von Hunter, der mit seiner zerrissenen Schultasche schlenkerte, sodass schon die Bücher unten herausguckten, holte Siri in die Wirklichkeit zurück. Nein, so ein Schulschwänzer wie der war sie nicht. Heute bekamen sie ja die Mathearbeit zurück, das wollte sie nicht verpassen.

«Du bist genauso ein Pfiffikus wie dein Bruder», hatte Herr Petermann letzte Woche zu ihr gesagt. «Jesse wäre richtig stolz auf dich. Er war auch sehr gut im Rechnen.»

Herr Petermann war Siris Lieblingslehrer, und er war der Einzige, der nicht so tat, als hätte sie nie einen Bruder gehabt.

Siri lief noch einen Schritt schneller und nickte Frau Wiedemeyer in ihrem Kiosk zu. Hunter grüßte sie nicht. Sie tat so, als würde sie ihn nicht sehen, obwohl er mit seinen schulterlangen kupferfarbenen Haaren auffällig war wie kein anderes Kind. Und auch Hunter schaute nicht zu ihr hinüber. Er hatte die Lippen zusammengekniffen und kickte einen Stein vor sich her.

Als Siri ihn überholt hatte, zog sie blitzschnell das Schwert, schwang es in seine Richtung, sodass es durch die Luft sirrte, und steckte es wieder in ihren bunten Gürtel. Immer noch kam keine Reaktion von ihm. Nur seine Augenlider mit den dichten Wimpern zuckten. Hunter war hübsch, das musste Siri zugeben, auch wenn sie plötzlich einen bitteren Geschmack im Mund hatte. Hunter … er war es doch, der an allem schuld war.

2. Kapitel, in dem es um Abschied und Wiedersehen geht

Es war Hunters Idee gewesen, das Baumhaus zu bauen. Es war immer Hunter, der sich die tollsten Sachen ausdachte, bei denen Siri dann nicht mitmachen durfte.

Jesse hatte natürlich zu Hause damit herumgeprahlt. «Hunter und ich», hatte er gesagt. «Wir bauen uns ein eigenes Hauptquartier. Total geheim.»

Er hatte ein wenig hochnäsig geguckt, und Siri hatte sich nicht getraut zu fragen, was das denn sei, ein Hauptquartier. Aber neidisch war sie trotzdem gewesen.

Natürlich hatte Jesse es nicht fertiggebracht, sein Geheimnis für sich zu behalten. Egal, wie sehr er es liebte, sie zu ärgern und zappeln zu lassen – er teilte am Ende doch immer alles mit ihr.

Und so hatte er sie an jenem Samstag im letzten Frühsommer mitgenommen zum Riedelhain, dem Wald hinter der Schule, und ihr die stämmige Rotbuche gezeigt, wo Hunter und er das Baumhaus gebaut hatten. Ein paar Bretter waren zu sehen und ein langes Seil, das um den dicksten der Äste geschlungen war. Und sogar eine weiße Fahne hatten sie schon aufgehängt, als Zeichen für ihre Zweierbande.

«Oh», hatte Siri geflüstert und den Kopf in den Nacken gelegt. «So weit oben! Ist das nicht zu hoch?»

Da war Hunters Feuerkopf zwischen den Blättern aufgetaucht, und er hatte auf sie heruntergelacht. «Klar ist das hoch!», hatte er gerufen. «Soll es ja auch sein. Dann ist man dichter am Himmel!»

Siri hatte mit zusammengekniffenen Augen die Entfernung abgeschätzt. «Das ist viel zu hoch, finde ich.»

Jesse hatte die Schultern gezuckt. Dann hatte er gelacht und wie ein Bauarbeiter in die Hände gespuckt. Und Hunter musste sie natürlich aufziehen. «Für Mädchen vielleicht. Du hast hier sowieso nichts zu suchen.»

«Auf so ein blödes Hauptquartier kann ich verzichten!», hatte sie gesagt, sich ihr Fahrrad genommen und es zum Waldweg zurückgeschoben. Aus den Augenwinkeln hatte sie gesehen, wie Jesse sich an dem Seil hochzog und flink wie ein Affe zu Hunter hinaufkletterte.

«Tschüss, Siri», hatte er ihr hinterhergerufen, als sie schon auf dem Fahrrad saß. «Auf Wiedersehen!» Er war gar nicht mehr zu erkennen gewesen. Nur sein Schwert hatte blau zwischen den Zweigen hervorgeleuchtet, und seine Stimme hatte von hoch oben zu ihr hinuntergeschallt. Fröhlich hatte sie geklungen und kein bisschen spöttisch.

Und dann, drei Stunden später, war Hunters Anruf gekommen. Aus der Telefonzelle beim Waldcafé im Riedelhain hatte er angerufen, und sie hatte kaum etwas verstanden von dem, was er da hervorstotterte. Mama und Papa waren nicht zu Hause gewesen, sie hatten den Wochenendeinkauf gemacht. Und so war sie ganz allein mit wild klopfendem Herzen durch den Wald geradelt. Immer schneller, immer verzweifelter. Aber natürlich war sie zu spät gekommen. Alle waren zu spät gewesen. Der Krankenwagen, die Polizei, Hunters Eltern, die mit schneeweißen Gesichtern neben Hunter standen. Niemand hatte Jesse mehr helfen können. Er hatte dagelegen, mit verdrehten Armen, auf dem Waldboden zu Füßen der Buche. Klein und zerbrechlich sah er aus neben dem dicken Stamm des Baumes. Aber es war kein Blut zu sehen, und für einen winzigen Moment hatte Siri geglaubt, dass alles nur ein Spaß war. Ein dummer Streich, wie Jesse und Hunter ihn gerne spielten. Gleich würde Jesse aufspringen und «April, April» rufen. Das musste er doch tun!

Doch es war kein Spaß. Jesse wurde auf eine Bahre gelegt und in den Krankenwagen geschoben. Sie machten nicht einmal das Blaulicht an, weil sie sich gar nicht mehr beeilen mussten. Jesse war tot. Siri hatte sein Schwert aufgehoben, das im Gebüsch lag, und es an sich genommen. Dann war sie hinter dem Polizeiauto nach Hause geradelt und hatte mit den Polizisten zusammen auf Mama und Papa gewartet.

Wie oft hatte sie dieses letzte Bild von Jesse nun schon gesehen? Jesse, der hinauf in die Buche kletterte, immer höher und höher. «Auf Wiedersehen!», hatte er zum Abschied gerufen. Hatte das nicht wie ein Versprechen geklungen?

Vielleicht lag es an diesen zwei Worten, dass Siri in den Monaten, die kommen sollten, ihr Herz nicht ganz verschlossen hatte.

3. Kapitel, in dem sich Siri aufmacht, um ein sicheres Versteck zu suchen

Siri wachte aus einem wirren Traum auf. Er verflüchtigte sich so schnell, dass sie sich nur noch an ein paar verschwommene Bilder erinnerte. Von einem Kampf hatte sie geträumt, von Schwertern, die dichten Nebel zerteilten, und von einer Hand, die nach ihrem Schwert griff und es ihr wegnehmen wollte. Unheimlich war das gewesen und böse … Aber irgendetwas in ihrem Traum hatte ihr auch Mut gemacht. Nun komm endlich, kleine Schwester, komm … War das nicht Jesse gewesen, der das gerade eben noch zu ihr gesagt hatte?

Schlaftrunken sah sie sich um. Die Dinge in ihrem Zimmer hatten noch keine Farbe, alles war grau und verschwommen. Was für ein Tag war heute? War sie zu Hause im Veilchenweg oder bei Papa im Hochhausriesen?

Sie rieb sich die Augen und blinzelte. Jetzt erkannte sie ihr Bücherregal und die Hängematte, ihr Kinderzimmer, das sie sich früher mit Jesse geteilt hatte. Inzwischen sah es ganz anders aus. Das Stockbett war abgebaut worden. Und nur noch ein paar Löcher an der Decke erinnerten daran, wo Jesses Modellflugzeuge gebaumelt hatten. Alles hatten Mama und Papa weggeräumt, alle Spielsachen und die Anziehsachen sowieso. Nur Jesses Schwert, das hatte Siri aus der großen Kiste herausgezogen, bevor Papa sie mit dem Auto weggebracht hatte.

Sie blieb noch einen Augenblick auf dem Rücken liegen und spannte die Muskeln an. Die Fäuste, die Unterarme, den Rücken, die Oberschenkel … Manchmal war sie einfach nur deshalb glücklich, weil sie zehn Jahre alt war und sich stark fühlte.

Aber an diesem Morgen fühlte sie sich, als hätte sie einen zähen Ringkampf hinter sich. Ganz schwer und müde waren ihre Arme und Beine.

Plötzlich fiel es ihr wieder ein. Mama … Gestern Abend hatte sie mit Mama gekämpft! Natürlich nicht wirklich, aber es war trotzdem ein schlimmes Ringen gewesen.

Alles hatte damit angefangen, dass Tante Renate ihnen Karten fürs Ballett geschenkt hatte. Pfff, ausgerechnet Ballett. Wie war sie nur darauf gekommen? Zuerst hatte Siri die Nase gerümpft, aber dann hatte sie sich gefreut, weil Mama sich gefreut hatte.

Mama hatte sich schick gemacht. Sie hatte ein enganliegendes dunkelblaues Kleid angezogen, sich geschminkt und die Haare hochgesteckt. Richtig hübsch hatte sie ausgesehen. Und deshalb hatte sich auch Siri Mühe gegeben und den Wickelrock aus dem Schrank geholt.

Und dann, als sie schon im Auto gesessen hatten, war der Streit losgegangen. Siri hatte gemerkt, dass irgendetwas nicht stimmte, dass etwas anders war als sonst. Und das lag nicht an dem Rock und den feinen Schuhen. Das Schwert! Sie hatte das Schwert in der Wohnung vergessen!

«Mama, halt bitte an», hatte Siri gerufen. «Ich muss nochmal zurück! Ich muss das Schwert holen!»

«Das Schwert. Immer dieses Schwert!», hatte Mama geantwortet und dabei die Augen verdreht. «Es muss doch auch mal ohne gehen.»

«Nein, geht es aber nicht!»

«Wir sind schon spät dran!»

Ein Wort hatte das andere gegeben, immer lauter waren sie beide geworden, immer böser und verbissener. Mama hatte tatsächlich angehalten, weil sie vor lauter Aufregung nicht mehr fahren konnte. Ihre schöne Frisur war in Unordnung geraten und ihre Wimperntusche verschmiert. Und Siri hatte so an ihrem Wickelrock gezerrt, dass der dünne Stoff zerriss.

«Ich ertrag es nicht mehr!», hatte Mama geschrien. «Keinen Tag halte ich das noch aus! Du sprichst mit Jesse, du deckst den Tisch für Jesse, du schleppst sein Schwert überall mit hin … Du bohrst in unseren Wunden, wo du nur kannst. Du musst doch endlich begreifen, was passiert ist!»

Siri hatte zurückgeschrien, so laut, dass die Leute auf dem Fußweg stehen geblieben waren. «Und ihr? Ihr tut so, als ob es Jesse nie gegeben hätte! Kein einziges Foto von ihm habt ihr noch aufgehängt. Es ist, als hätte ich nie einen Bruder gehabt! Neulich hat Papa sogar gesagt, ich bin ein Einzelkind!»

«Das bist du jetzt auch!»

«Nein!»

«Doch!»

Die Wagenscheiben beschlugen von ihrer Wut. Doch obwohl Mama so aufgebracht war, blieb ihr Gesicht starr wie eine Maske. Als sie den Wagen wieder startete, umklammerten ihre Hände das Lenkrad so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervorpiksten. Sie trat aufs Pedal, ließ den Motor aufheulen, zischte aus der Parkbucht und fuhr die Straße wieder zurück. Hundert Meter vielleicht fuhr sie. Dann hielt sie an, stieg aus, machte Siris Wagentür auf und schlüpfte neben sie.

Ganz fest legte sie den Arm um Siri, schschsch murmelte sie. So wie sie es manchmal tat, wenn Siri aus einem Albtraum hochgeschreckt war. Schschsch, alles wird gut.

Und für einen Moment glaubte Siri ihr. Glaubte, dass sie ihren Kummer wirklich mit Mama teilen konnte. Ihren Kummer und ihre Hoffnung, dass Jesse nicht völlig verschwunden war. Doch was Mama dann sagte, machte Siris Herz ganz eng.

«Morgen tun wir das Schwert weg, Siri. Glaub mir, es ist besser so. Du musst endlich nach vorn schauen. Und wie soll das gehen, wenn du dich immer an dieses Schwert klammerst? Siehst du das nicht ein?»

Siri hatte nicht geantwortet, nur stumm den Kopf geschüttelt. Sie war viel zu erschöpft gewesen, um irgendetwas zu denken.

Aber jetzt, am Morgen, wusste sie, was sie zu tun hatte. Sie würde es nicht zulassen, dass auch noch das letzte Stückchen, das Jesse gehört hatte, verschenkt wurde. An einen Kindergarten oder an jemanden aus der Nachbarschaft. Vielleicht wollte Mama das Schwert ja sogar in die Mülltonne werfen. Nein! Jesse hatte sein Schwert immer bei sich getragen, und jetzt trug sie es immer bei sich. Sie würde das Schwert verteidigen!

«Weißt du was, Jesse? Ich bring es weg, irgendwohin, wo es niemand findet», flüsterte Siri. Sie schob die Bettdecke zur Seite, stand auf und öffnete ihre Zimmertür. Es war noch ruhig in der Wohnung. Mama schlief noch.

Siri zog sich an und steckte sich einen Apfel in die Tasche ihres Pullovers. Dann schloss sie leise die Wohnungstür hinter sich. Lautlos schlich sie das Treppenhaus hinunter und rannte den Plattenweg entlang. Bei jedem Schritt schlug das Schwert leicht gegen ihre Hüfte, und Siri lief einfach weiter, ohne zu wissen wohin.

Wie still die Stadt noch war an diesem Samstagmorgen. Die Sonne war noch nicht einmal aufgegangen, und die Läden hatten noch zu. Nur Frau Wiedemeyer war gerade dabei, den Rollladen von ihrem Kiosk hochzuschieben. Siri winkte ihr zu, und das Herz wurde ihr plötzlich so schwer, als sollte sie Frau Wiedemeyer nie wiedersehen. Was natürlich Quatsch war. Sie wollte ja nicht für immer fortgehen.

Ohne darüber nachzudenken, lief Siri ihren gewohnten Schulweg. Erst als sie vor dem Schultor stand, hielt sie an. Was wollte sie denn hier? Sollte sie das Schwert etwa in dem Fach unter ihrem Pult verstecken? Oder vielleicht in der Gerätekammer der Turnhalle? Nein, die Schule war nicht der richtige Ort für Jesses Schwert …

Und plötzlich wusste Siri, wohin sie es bringen würde. Natürlich! Es gab nur einen einzigen Platz auf der Welt, wo es hingehörte. Sie würde es im Baumhaus verstecken! In Jesses Hauptquartier. Niemand würde es dort finden, auch Hunter nicht. Er hatte ja seinen Eltern versprechen müssen, nie wieder zu der Rotbuche zu gehen.

Mit klopfendem Herzen rannte Siri den Weg entlang, der in den Wald führte. Auch sie war seit Jesses Unfall nicht mehr hier gewesen, kein einziges Mal. Die Sonntagnachmittagswaldspaziergänge mit Mama und Papa hatte es nicht mehr gegeben. Und auch der Herbstausflug mit Herrn Petermann war nicht, so wie sonst, in den Wald gegangen. Ja, erst jetzt wurde es Siri bewusst, dass sie fast ein ganzes Jahr lang den Riedelhain nicht gesehen hatte.

Die Blätter waren noch zart und grün. Es war ja Frühling, und der Wald war erst vor kurzem aus seinem Winterschlaf erwacht. In den allerersten Sonnenstrahlen dieses Tages flimmerten die Buchenblätter hell und fast durchsichtig. Die Vögel zwitscherten um die Wette, und unter Siris Füßen raschelten die Reste des Herbstlaubes. Es roch nach Harz und frischem Gras und nach diesem würzigen Kraut, das Jesse immer das Maggikraut genannt hatte. Wie schön es war, endlich wieder im Wald zu sein!

Als Siri auf die Rotbuche zuging, war ihr, als wäre es erst gestern gewesen, dass sie mit Jesse zusammen ihr Rad über den holperigen Boden geschoben hatte.

«Da bin ich, Jesse. Und nun verrate mir mal, wie ich da raufkommen soll.» Siri schlug mit dem Schwert ein paar Brennnesseln zur Seite, die hier ungestört hatten wuchern können. «Ich hab’s euch ja gleich gesagt: Es ist viel zu hoch.» Skeptisch schaute sie den Stamm entlang. Jemand hatte das Seil ein Stück gekappt, sodass es vom Boden aus nicht mehr zu erreichen war. Aber das Baumhaus hatten sie nicht abgebaut. Durch die noch spärlichen Blätter war es gut zu erkennen. Auch die weiße Fahne flatterte fröhlich im Wind. Und jetzt sah Siri sogar, was das für ein Wappen war, das sich die Jungs auf ihre Fahne gemalt hatten: zwei Schwerter, die sich kreuzten, ein blaues und ein rotes. Ja, hier war sie am richtigen Ort.

Siri musterte die Buche. Eigentlich brauchte man gar kein Seil, um hinaufzukommen. Wenn man es erst einmal geschafft hatte, sich auf den untersten Ast zu ziehen, gab es genug Äste zum Weiterklettern. Vielleicht hatten die Jungs das Seil nur angebracht, weil es Spaß machte, daran hochzukraxeln.

Es war nicht leicht, den Baum zu erklimmen, und Siri brauchte ihre ganze Kraft. Aber sie war stark, fast so stark wie Jesse es gewesen war, und sie war fest entschlossen, nicht aufzugeben. Als sie endlich schwer atmend auf dem dicken Ast lag, war ihr ganz schwindlig. Das Bild ihres Bruders tauchte vor ihr auf, wie er sich geschickt das Seil hochhangelte.

«Warte auf mich, Jesse», hörte sie sich sagen. Sie steckte das Schwert tief in den Gürtel, damit es nicht herausrutschen konnte, griff das Seil, das jetzt so handlich vor ihrer Nase baumelte, und zog sich daran hoch. Immer höher kletterte sie, Griff um Griff. Das raue Seil schnitt in ihre Hände, die Oberarme und die Schenkel taten ihr weh. Aber Siri kletterte weiter, hinauf in die Buche, deren Zweige im Frühlingswind hin und her schwankten und deren Blätter eine seltsame, geheimnisvolle Melodie wisperten. Die ganze Welt schien zu schwanken. Sie blinzelte ins helle Sonnenlicht. So gleißend hell war es plötzlich, dass es in den Augen brannte. Das Blut begann in ihren Adern zu kribbeln, und ihr Herz schlug laut wie eine Trommel. Aber sie kletterte weiter und weiter. Kein Ende schien es zu geben und kein Ankommen. Und doch wurde es mit jedem Meter leichter. Ganz ruhig wurde sie, ganz leicht und zuversichtlich, und aller Kummer fiel von ihr ab.

Und dann war sie da.

Teil zwei: Jesses Welt

4. Kapitel, das an einem fremden Meer spielt

Das Erste, was Siri wahrnahm, war die Wärme um sie herum. Dann kam der Geruch, ein Duft nach fremdartigen Kräutern und Sträuchern, die in der Sonne dörrten. Sie lag auf dem Bauch, die Augen geschlossen, und drückte ihre Wange in den Sand.

Was war passiert? War sie abgestürzt? Lag sie, so wie Jesse, auf dem Waldboden, mit verrenkten Armen und Beinen? Fühlte es sich so an, wenn man gestorben war?

Doch das war kein Waldboden, was sie unter ihrer Wange spürte. Es war warmer, weicher Sand.

Benommen hob sie den Kopf und schaute sich um. Die Rotbuche mit dem Baumhaus war nicht mehr da. Der ganze Wald war nicht mehr da! Nichts war mehr da, was ihr vertraut vorkam.

Langsam stand sie auf, streckte den Rücken und befühlte ihre Arme und Beine. Alles war in Ordnung. Es ging ihr gut. Nur hinter ihrer Stirn sauste und flirrte es wie in einem Bienenstock. Sie streckte die Hand aus. Vielleicht sah sie den Baum nicht, aber er musste doch zu fühlen sein. Er konnte doch nicht einfach verschwunden sein, oder?

Aber ihre Finger griffen ins Nichts. Da war einfach nichts! Siri strich sich durch die zerzausten Locken und sah sich staunend um. Wie konnte das sein? Umhüllt von der ungewohnten Wärme, stand sie inmitten einer Landschaft, die nur aus Licht zu bestehen schien, obwohl die Sonne gerade erst aufgegangen war. Sie blinzelte, schloss die Augen, öffnete sie wieder und blinzelte durch ihre Wimpern hindurch, bis sie sich ein wenig an die Helligkeit gewöhnt hatte.

Um sie herum schien es nichts anderes zu geben als ein paar Sträucher, Steine und Sand. Eine endlose Wüste, vielleicht waren es auch Dünen. Weißer Sand, sanft geschwungene Hügel, fast so wie in Südfrankreich, wo sie früher immer Urlaub gemacht hatten. Siri glaubte sogar, das ferne Rauschen des Meeres zu hören.

Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Ja, sie war am Meer! Vielleicht war sie ja am Atlantik gelandet, so wie schon so oft in ihren Träumen. Sie griff sich eine Handvoll des feinen Sands und ließ ihn durch die Finger rieseln. Nein, diesen Sand hier träumte sie nicht. Der war wirklich da.

Das Meer damals war großartig gewesen. Jesse und sie hatten stundenlang mit den Eltern in der Brandung getobt oder waren bäuchlings die Dünen hinuntergerutscht, hatten sich gegenseitig im Sand eingegraben und riesige Burgen gebaut. Es waren die schönsten Tage gewesen, die man sich vorstellen konnte.

Bei dem Gedanken, dass das Meer in der Nähe sein könnte, spürte Siri Zuversicht. So eigenartig es auch war: Die fremde Landschaft, in der sie sich befand, flößte ihr keine Angst ein. Sie hob den Kopf und schnupperte. Lag da nicht ein Geruch nach Salz und Meer in der Luft? Aus welcher Richtung kam er? Komm doch, Siri! War das nicht Jesse, der sie da rief?

Siri griff nach dem Schwert an ihrer Seite. Es steckte fest im Gürtel, so wie es sich gehörte. Ein letztes Mal schaute sie sich nach dem Wald um, der einfach nicht mehr da war. Dann stapfte sie in die Richtung, in der sie das Meer vermutete.

Puh, war das anstrengend, in dem Sand voranzukommen. Bei jedem Schritt versank sie bis zu den Knöcheln, und es dauerte nicht lange, da stand ihr der Schweiß auf der Stirn. Bald schon hatte sie das Gefühl für die Zeit verloren. War sie eine Stunde, zwei oder drei unterwegs? Brauchte sie nicht ewig für jeden Meter? Aber sie verlor trotzdem nicht den Mut, denn sie war sich sicher: Das Meer musste ganz in der Nähe sein. Sie konnte ja das Rauschen der Wellen hören und die salzige Luft schmecken.

Plötzlich lag es vor ihr. Unter dem hellen Himmel glitzerte es fast farblos, so wie die ganze sonnendurchflutete Landschaft um sie herum kaum Farben enthielt. Woge um Woge rollte auf den Strand zu und überschlug sich in einem schäumenden Weiß. Gewaltige Wellen waren es, noch höher und mächtiger als die, in denen sie damals mit Jesse herumgetobt war. Siri spürte wieder ihre Angst vor den großen Wellen, die selbst einen starken Mann wie Papa umwerfen konnten. «Ihr müsst euch nur mutig hineinstürzen», hatte Papa gesagt. «Nur wenn ihr zaghaft seid, reißen sie euch mit sich.» Jesse hatte es als Erster geschafft. Nur kurz hatte er gezögert, dann hatte er sich kopfüber in die Brandung gestürzt, und als er nach einer endlos langen Zeit hinter dem Wellenkamm wieder aufgetaucht war, hatte er ihr lachend zugewunken.

Komm doch, Siri! Hier bin ich!

Siri schaute hin und her. Hatte da nicht wirklich jemand gerufen? War das nicht Jesses Stimme gewesen? Oder hatte sie sich das nur eingebildet? Ach, wie schön wäre es, wenn jetzt Jesse bei ihr wäre! Tief atmete sie die salzige Meeresluft ein und schlang die Arme um den Körper. Nein, Jesse war nicht hier, und es war auch nicht die Zeit zum Baden und Herumtoben. Dieses Meer hier war nicht der Atlantik, es war so viel heller und durchsichtiger. Sie musste herausfinden, warum sie hier war, an diesem fremden Meer. Irgendeinen Grund musste es doch geben.

Noch einmal suchte Siri den weiten Horizont mit den Augen ab. Dann drehte sie sich einmal um sich selbst. In welche Richtung sollte sie gehen?

Ohne darüber nachzudenken, entschied sie sich für den Weg Richtung Norden, immer am Meer entlang. Sie sprang über die flachen Wellen, die vor ihr auswichen und nach ihr griffen, als wollten sie mit ihr spielen. Doch Siri stapfte über den nassen Sand, und es war ihr egal, dass ihre Turnschuhe nass wurden. Zu sehr war sie damit beschäftigt, die Dünenlandschaft zu mustern. War wirklich nirgendwo ein Mensch zu sehen? Gab es denn keine Häuser, keinen Hafen, keinen einzigen Hinweis darauf, dass hier jemand lebte? Wenn nicht das Meer so laut gerauscht hätte, wäre es totenstill gewesen.