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Cornelia Franz

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Beschreibung

Gefangen auf der Insel Der 12-jährige Carlo wird von seinen ambitionierten Eltern auf ein Internat für Hochbegabte geschickt, dabei ist er doch gar kein Überflieger. Und ausgerechnet kurz nach seinem Schulbeginn schlägt eine dubiose Firma zu, kidnappt 40 Kinder und erpresst bei den reichen Eltern Lösegeld. Nur mit Raffinesse, Witz und Zusammenhalt gelingt es Carlo und seinem Freund Hamid, die Firma auszutricksen und sich zu befreien.

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Seitenzahl: 190

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Cornelia Franz

Oh Mann, er war am Ende der Welt gelandet. Wie dunkel es hier war … Carlo nagte an seiner Unterlippe und schaute aus dem Autofenster. Vor ihnen tauchte ein Tor aus eisernen Gitterstäben auf, das sich automatisch öffnete, als sich der Wagen näherte. »Wie von Geisterhand«, sagte sein Vater und lachte. Carlo ließ das Fenster herunter und streckte den Kopf in den Wind. Ihm war kein bisschen nach Lachen zumute.

Auf einem sandigen Weg rollten sie durch den Park, vorbei an schwarzen Tannen und einem See, der im Mondlicht wie geschmolzenes Blei glänzte. Jetzt konnte er die Villa erkennen, die zwischen den Bäumen hindurchschimmerte. Auf den Bildern im Internet hatte sie viel größer und schöner gewirkt, fast wie ein Schloss. Alles nur Werbung, das hatte er sich doch gleich gedacht. Villa da Vinci – das Internat für kluge Köpfe …

Hinter den Fenstern war kein Licht zu sehen. Mit Sicherheit schliefen alle schon, immerhin ging es auf Mitternacht zu. Wer weiß, ob überhaupt noch jemand aufmachte.

Sie hatten viel früher aufbrechen wollen, doch seinem Vater war mal wieder eine wichtige Sitzung dazwischengekommen. Wenn es nach Carlo gegangen wäre, hätten sie überhaupt nicht losfahren müssen. Er wollte sowieso nicht auf dieses Internat. Er wollte überhaupt nicht schon wieder auf eine neue Schule. Das war die vierte in nicht einmal sechs Jahren. Kaum hatte er drei Fünfen hintereinander geschrieben, waren seine Eltern der Meinung, sie müssten eine andere Schule für ihn suchen. Eine, auf der endlich mal jemand erkannte, wie hochbegabt er eigentlich war. Pfff, so ein Blödsinn …

Während Carlo zögernd aus dem Wagen stieg, stand sein Vater schon samt Gepäck neben dem Kofferraum. »Also dann, mein Sohn.« Er gab ihm einen Klaps auf die Schulter. »Du wirst schon sehen, wie wohltuend es ist, wenn du mal nur mit Kindern deiner Kragenweite zusammen bist«, sagte er.

Was meinte er damit? Kinder, die so wie er um ein Haar sitzen geblieben waren, weil sie angeblich auf ihrer alten Schule unterfordert gewesen waren? Oder meinte er Kinder, deren Familien auch mehr Geld hatten, als sie auf vernünftige Weise ausgeben konnten? Kinder, die man in die Pampa schickte, weil das angeblich das Beste für sie war.

Mit der Sporttasche über der Schulter folgte Carlo seinem Vater, der bereits den Rollkoffer die Treppe zum Eingang hochhievte. Eine breite Tür aus schwarzem Holz und darüber eine Inschrift: Scientia potentia est. Latein … klar, sein Vater sah ihn erwartungsvoll an.

»Wissen ist Macht«, murmelte Carlo. Den Spruch hatte er zu Hause schon öfter zu hören bekommen.

Da ging auch schon die Tür auf, und ein ziemlich dicker Mann mit Schnurrbart musterte sie, als ob er zwei Verbrecher vor der Nase hätte. »Carlo Karfreitag, nehme ich an«, brummte er. »Sie kommen aber sehr spät …« Er deutete ein Nicken an. »Grundeis, ich bin hier der Hausvater.«

»Tut mir leid«, sagte Carlos Vater, »aber ich hatte noch einen wichtigen Termin. Ich …«

»Nun kommen Sie mal rein«, unterbrach ihn der Mann und trat einen Schritt zur Seite. »Da geht’s lang.« Ohne sich nach ihnen umzudrehen, stapfte er durch die Eingangshalle.

Mit offenen Turnschuhen, die auf den blank polierten Dielen quietschten, schlappte Carlo hinter seinem Vater her. Der Rollkoffer ratterte überlaut und sie kassierten einen strafenden Blick des Hausvaters. Sein Vater presste die Kiefermuskeln zusammen, was er immer tat, wenn er sich wegen irgendwas zusammenriss. Klar, mit so einem Benehmen hatte er nicht gerechnet. Nicht in einem der teuersten Internate des Landes …

Schnaufend führte der Mann sie zwei Treppen hoch und einen Gang entlang, an dessen Wänden gerahmte Fotos hingen und ein Gemälde, das sicherlich den steinalten Leonardo da Vinci darstellen sollte. Dann ging es zweimal um die Ecke und schließlich noch eine schmale gewundene Holztreppe hinauf, bis sie unter dem Dach ankamen. Dort öffnete er eine der Türen und drehte sich zu ihnen um.

»Hier wohnst du«, sagte er. »Dein Zimmergenosse schläft bereits. Sei also bitte leise.«

Carlo spähte in das dunkle Zimmer, aus dem ihm ein Geruch nach Schlaf und schweißigen Socken entgegenkam. Er schluckte. Ein Doppelzimmer? Mit einem wildfremden Menschen sollte er zusammenwohnen? Er starrte in die Düsterkeit, aus der sich allmählich das Bild eines unordentlichen Zimmers herausschälte. Links und rechts standen zwei Betten an den Wänden und dazwischen lagen Klamotten auf dem Boden.

»Schöner Raum. Macht alles einen sehr guten Eindruck«, meinte sein Vater und ließ den Koffer über die Türschwelle rollen. »Also dann, Carlo, es ist Zeit. Ich habe noch einen langen Rückweg vor mir.«

Entsetzt sah Carlo seinen Vater an. Der konnte ihn doch nicht einfach hier zurücklassen. Dieser grässliche Hausvater und das miefige Zimmer … Das war doch völlig unmöglich! »Papa … bitte …«, stammelte er.

Aber sein Vater hätte seinen Hilferuf nicht einmal gehört, wenn er ihn angebrüllt hätte. Er wollte ihn nicht hören. Ganz offensichtlich hatte er es eilig, den Abschied hinter sich zu bringen. Er gab ihm einen Kuss auf die Wange und drückte ihm den Griff des Koffers in die Hand. »Du wirst dich schnell hier einleben, Carlo, wart es mal ab. Und wenn du was brauchst, meldest du dich. Aber wir haben dir wohl genug Taschengeld mitgegeben.«

»Hier kann man eh nichts ausgeben«, dröhnte der Koloss, der schon mit einem Bein wieder auf der Treppe stand. Er nickte Carlo kurz zu. »Wecken ist morgen früh um sieben. Noch Fragen?«

Carlo schüttelte stumm den Kopf. Sein Herz zog sich zusammen, als ob es der Hausvater mit einer seiner Pranken zusammendrückte. Mit Tränen in den Augen drehte er sich zu seinem Vater um. »Ich will hier nicht bleiben, Papa …«

Doch der gab ihm einen Knuff gegen die Schulter. »Morgen sieht alles schon ganz anders aus«, sagte er. »Glaub mir, du kannst dich glücklich schätzen, auf so eine gute Schule gehen zu dürfen.« Nein, er ließ sich nicht umstimmen. Der ließ sich doch nie von etwas abbringen, was er sich vorgenommen hatte. Immer musste er alles bestimmen, immer! Und jetzt fuhr er gemütlich nach Hause …

In Carlo stieg die Wut hoch und die war leichter zu ertragen als das Unglücklichsein. Er ballte die Faust in der Hosentasche. »Der Auserwählte er wirklich sein mag. Aber trotzdem … große Gefahr ich befürchte durch seine Ausbildung«, murmelte er und warf seinem Vater unter gesenkten Wimpern einen Blick zu. »Yoda zu Obi-Wan Kenobi, Episode eins, Die dunkle Bedrohung.« Trotzig schob er die Unterlippe vor.

Der Hausvater sah ihn an, als ob er an seinem Verstand zweifelte, und sein Vater rollte mit den Augen. Er mochte es nicht, wenn Carlo mit Star-Wars-Sprüchen kam. Seine Eltern konnten Star Wars nicht ausstehen. Für die war ja alles Zeitverschwendung, was einfach nur Spaß machte.

»Hier wirst du auf andere Gedanken kommen, Carlo.« Er wuschelte ihm durch die Haare. »Also, jetzt sei mal tapfer. Mach’s gut, mein Sohn.«

»Du auch, Papa.« Mit enger Kehle sah Carlo ihm hinterher, wie er zusammen mit dem Hausvater auf der Treppe verschwand. Auf der letzten Stufe drehte er sich noch einmal um und winkte ihm zu. Aber Carlo winkte nicht zurück. Er hatte immer noch die Fingernägel in den Handballen gepresst, so fest, dass es wehtat. Ein paar Sekunden stand er in der halboffenen Tür, bis er schließlich den Koffer und die Sporttasche nahm, sie zu dem leeren Bett rechts an der Wand zog und sich daraufplumpsen ließ. Puh!

Auf einmal war er furchtbar müde … Er kippte den Inhalt des Koffers auf den Holzboden und wühlte nach seinem Schlafanzug. Als er im Bett lag, drückte er die Nase ins Kissen. Es roch nach einem anderen Waschmittel als zu Hause. Und wo war Godzilla? Seufzend streckte er den Arm aus, zog seinen abgewetzten Plüschdino aus dem Wäscheberg hervor und stopfte ihn zu sich unter die Bettdecke. Der Junge da drüben in dem anderen Bett würde ihn sicher auslachen, wenn er ihn mit Kuscheltier erwischte.

Eine Ewigkeit lag er wach und starrte an die Decke. Was hatte seine Mutter gesagt? »Was man in der ersten Nacht in einem neuen Heim träumt, das wird wahr.« Na super – er war sich sicher, dass er in diesem schrecklichen Internat nichts als Albträume haben würde.

Die Firma 1

»Die Vorbereitungen laufen reibungslos.« Kyra senkte automatisch die Stimme, obwohl sie wusste, dass niemand ihr Gespräch mithören konnte. Die anderen Büros auf der Etage waren noch nicht vermietet, und so waren sie hier oben, im zwölften Stock eines Hochhauses mitten in der Stadt, völlig unbeobachtet. Kyra hatte alles sorgfältig geplant. Sie hatte auch dafür gesorgt, dass sie nicht geortet werden konnten: Jeder im Raum musste sein Handy in einem Off-Pocket aufbewahren, dessen Hülle alle Funksignale blockierte. Und der Name der Villa durfte natürlich auf keinen Fall genannt werden.

Sie ging zwar nicht davon aus, dass ihr Plan von irgendjemandem verraten werden würde – aber Vertrauen war gut, Kontrolle war besser. Um nichts in der Welt wollte sie riskieren, dass das Projekt »Villa X« so kurz vorm Ziel doch noch aufflog.

»Wir sind absolut im Zeitplan«, fuhr sie fort und sah aus dem Fenster, von dem aus man über die halbe Stadt schauen konnte. »Die technischen Details sind geklärt, sagt Max. Er hat alles Nötige besorgt. Den Sprengstoff, den Hubschrauber, die Druckluftanlage. Die Rohre will er schon in einer der nächsten Nächte verlegen. Er wird deine Hilfe brauchen, Pierre, auch für die Kabel.«

»Max soll einfach Bescheid geben, wenn er losfahren will.« Pierres Stimme war kein bisschen gedämpft. »Das wird genial!« Siegesgewiss ballte er die Hand. Es war eine Hand, die fast die Ausmaße einer mittelgroßen Pizza hatte.

Wenn Kyra das Gehirn der Firma war, dann konnte man Pierre als die Faust des Ganzen bezeichnen. Er war kein dummer, brutaler Schlägertyp. Sonst hätte Kyra ihn auch nicht für das Projekt ausgewählt. Aber wenn es darauf ankam, dann war er in der Lage zuzuschlagen. Und natürlich war es nicht völlig auszuschließen, dass diese Eigenschaft am Ende ausschlaggebend war – im wahrsten Sinne des Wortes.

Für Kyra war Gewalt jedoch nur eine Notlösung. Wenn wirklich alles ablief wie geplant, würde die Aktion auf eine intelligente Weise zum Erfolg führen. Sie würden nicht durch Brutalität, sondern durch ihre Klugheit und ihren Wissensvorsprung siegen. So wie es in der Satzung der Firma festgehalten war. Paragraf 1, Absatz 1: Das Startkapital der Brainwin GbR ist Wissen – und Wissen ist Macht.

Der Junge auf der anderen Seite des Zimmers hatte die halbe Nacht lang Geräusche gemacht. Das Geschnorchele und Geschnarche war nicht auszuhalten gewesen. Und jetzt, nachdem sein Plastikhahn-Wecker gekräht hatte, gab er erst recht keine Ruhe. Er pfiff vor sich hin und sprang im Zimmer herum.

»Wo ist denn meine verdammte Unterhose?«, fragte er, offenbar ohne eine Antwort zu erwarten.

Durch die halb geschlossenen Lider hindurch bekam Carlo mit, dass der Junge tatsächlich nur in der Pyjamajacke herumturnte. Endlich angelte er ein Paar karierte Boxershorts von seiner Schreibtischlampe.

Carlo seufzte. Solange er sich erinnern konnte, hatte er ein Zimmer für sich allein gehabt. Ein schönes, ruhiges Zimmer, wo jeder anklopfen musste, der reinwollte, vor allem sein großer Bruder Richard. Und plötzlich war da jemand, dem er zukucken musste, wie er sich die Unterhose anzog.

»Ah, du bist wach«, sagte der Junge, während er auf einem Bein durchs Zimmer taumelte und sich mit dem anderen in seinen Shorts verhedderte. »Was ist los? Was kuckst du?«

»Nichts«, antwortete Carlo. »Ich will nur nicht verpassen, wie du umkippst.«

»Ha ha«, kicherte der Junge. Er hüpfte zu Carlos Bett herüber, obwohl er die Boxershorts noch nicht richtig anhatte.

Carlo kniff die Augen zu. »Hallo, ich bin Hamid, herzlich willkommen«, hörte er ihn sagen. Als er die Augen vorsichtig öffnete, stand der Typ vor ihm, mit nacktem, magerem Oberkörper. Aber immerhin hatte er jetzt untenrum was an.

»Und du bist also Carlo«, sagte er, während er sich in ein hellblaues Oberhemd hineinwurschtelte. Weil er die Knöpfe nicht aufgemacht hatte, passte sein Kopf nicht richtig durch den Kragen und er blieb stecken. Er kämpfte, bis immerhin seine schwarzen Locken und seine dunklen Augen herauskuckten.

»Car-lo Kar-frei-tag«, sagte er. Bei jeder Silbe riss er ruckweise an seinem Hemd. Und zack!, hatte er es endlich über seine Segelohren gezogen. »Kannst du alles wieder einpacken«, meinte er und schob mit dem Fuß die Sachen aus Carlos Koffer zusammen. »Haben dir deine Eltern keine Schuluniform gekauft?«

Carlo gab seinen Widerstand auf. Er schwang sich aus dem Bett und zog das himmelblaue Hemd und den grauen Anzug hervor, den der Karfreitag’sche Schneider extra für ihn genäht hatte. »Doch«, sagte er, »haben sie. Muss man den etwa immer anhaben?«

»Fast immer. Beim Fechten und Reiten und Tennisspielen und Ballett natürlich nicht. Und auf dem Zimmer auch nicht.« Der Typ namens Hamid setzte sich auf sein Bett und angelte mit dem Fuß einen Lederschuh darunter hervor.

Carlo runzelte die Stirn. Musste man das alles hier machen? Fußball war das Einzige, was er wirklich gut konnte.

»Schach gilt auch als Sport«, erklärte Hamid, während er versuchte, die Schnürsenkel aufzufummeln.

Schach! Carlo hasste Schach. Er hatte noch kaum über die Tischkante kucken können, als sein Großvater ihm Schach beigebracht hatte. Bei jedem Besuch musste er gegen ihn spielen, und er hatte noch nie gewonnen. Wie denn auch? Karl-Heinz Karfreitag war ja quasi ein Genie.

Der Junge sah ihn interessiert an. »Und dein Opa ist tatsächlich Nobelpreisträger?«, fragte er, gerade so, als könnte er Gedanken lesen.

Mann, wie hatten es seine Eltern nur geschafft, ihre Lieblingsinformation auch hier im Internat schon unters Volk zu bringen? »Wussten Sie eigentlich, dass Carlos Großvater der jüngste Nobelpreisträger aller Zeiten ist?« – Seit seinem ersten Tag in der Grundschule hatten sie dafür gesorgt, dass jeder mitbekam, wie berühmt sein Großvater war.

Natürlich gab es Schlimmeres, als einen Nobelpreisträger in der Familie zu haben. Einen Serienkiller zum Beispiel. Aber trotzdem – er hatte es satt, immer mit der Nase darauf gestoßen zu werden, der Enkel des genialen Karl-Heinz Karfreitag zu sein. Des Mannes, der mit vierundzwanzig Jahren eine psychologisch basierte Systemtheorie des mikroökonomischen Paradigmenwechsels im makroökonomischen Kreislauf entwickelt hatte. Keiner in der Familie hatte auch nur die geringste Ahnung, worum es dabei eigentlich ging, ausgenommen vielleicht Richard, Carlos superschlauer Bruder. Aber alle waren stolz wie Bolle. Und das Übelste an der Sache war, dass seine Eltern auch von ihm Höchstleistungen erwarteten. Egal, wie schlecht seine Schulnoten waren.

Hamid zerrte immer noch an seinen Schnürsenkeln herum. Schließlich gab er auf, nahm ein Taschenmesser von seinem Nachttisch und schnitt den Knoten einfach durch. »Geht doch«, murmelte er. Dann drehte er sich zu ihm. »Willst du dich nicht anziehen?«, fragte er. »Es gibt gleich Frühstück.«

Doch Carlo reagierte nicht. Er hatte den Plüschelefanten entdeckt, der auf Hamids Kopfkissen hockte. Ein ebenso schmuddeliges dickes Monster wie Godzilla.

»Ist was?«

»Nö.« Ein kleines bisschen erleichtert zog er seinen Dino unter der Decke hervor und setzte ihn aufs Bett. Dann kramte er hastig alles zusammen, was er brauchte, und verschwand damit im Badezimmer.

Als er in seinem neuen Anzug aus dem Bad kam, fühlte er sich wie verkleidet. Hamid stand schon wartend an der Tür. »Grundeis hat gesagt, ich soll dir alles zeigen. Fangen wir mal mit dem Frühstücksraum an. Also, dann los!«, sagte er und riss die Tür so schwungvoll auf, dass sie ihm aus der Hand flutschte und gegen die Wand knallte.

Carlo zuckte zusammen. Was für ein Chaot …

Ohne Hamid hätte er sich garantiert verlaufen. Die Villa da Vinci war ziemlich verschachtelt, mit Treppen und Fluren, auf denen sie mal nach links, mal nach rechts abbogen. »Mädchenzimmer, Jungszimmer, Maries Zimmer!«, schmetterte Hamid, während sie an den geschlossenen Türen im zweiten Stock vorbeigingen. Auf der mittleren Etage, wo die Lehrer wohnten, war der Holzboden mit dicken Teppichen belegt. »Lachnitz, O’Neill und hier die heiligen Räume der Gnädig!« Er zeigte in verschiedene Richtungen und sauste schon die nächste Treppe hinunter, die zu den Klassenräumen führte. »Das Souterrain lassen wir heute mal aus, da wohnt unser Hausdrachen«, sagte er, während sie durch die Eingangshalle liefen. »Jetzt geht’s in den Frühstücksraum.«

Als sie um die Ecke bogen, war der Lärm nicht mehr zu überhören. Es klang, als tobte die Schlacht der Klonkrieger hinter der Milchglastür, auf die sie zusteuerten.

Carlo klopfte das Herz, als er den Raum betrat. Circa fünfzig Gesichter drehten sich zu ihm um. Merkwürdig sah das aus – alle Leute trugen die gleichen Sachen, grau und hellblau, genau wie er selbst. Sie guckten ihn an, als wäre er ein Kamel mit zwei Köpfen.

»Der neue Omega«, hörte er es tuscheln.

»Der Ärmste muss bei Hamid schlafen.«

»Passt doch …«

Er starrte auf das Fliesenmosaik des Fußbodens und zupfte an seinem Ohrläppchen. Plötzlich wurde er sich seines altmodischen Topfschnitts, seiner ungewaschenen mausbraunen Haare und seiner abgeknabberten Fingernägel bewusst. Und was war mit seinem Hemd? Falsch zugeköpft. Auch das noch …

»Hey, Karfreitag! Grundeis hat gesagt, ich soll dir die Hausordnung geben.« Am letzten Tisch in der Ecke stand ein schlaksiger Junge auf. Er hob den Arm, und eine Papierschwalbe segelte auf Carlo zu, knapp an seinem Kopf vorbei. Gelächter rollte durch den Raum. Vor allem ein Mädchen mit hellbraunen Locken, die ihr fast bis zum Hintern reichten, gackerte laut.

Carlo hob die Schwalbe auf und glättete das Papier. Bloß nichts sagen, was die noch mehr zum Gackern brachte. Wie er das hasste. An jeder Schule war er erst mal der Neue in der Klasse gewesen, der im Mittelpunkt stand.

Eines der älteren Mädchen, eine große Sportliche mit raspelkurzen, rot gefärbten Stoppeln auf dem Kopf, schrie los: »Ruhe, ihr Vollpfosten! Kümmert euch um euren eigenen Kram.«

Pffff … als hätte man einen Luftballon angestochen, gab es nur noch ein kurzes Zischen, dann war es still.

»Die Gräfin«, murmelte Hamid und schob Carlo zu einem der Sechsertische, an dem noch alle Plätze frei waren. Auf dem Tisch standen ein Korb mit Brötchen, daneben Butter, Marmelade, Honig und Käse. »Kakao oder Tee kannst du dir da drüben holen«, sagte er und zeigte zu einer breiten Theke hinüber. »Soll ich dir was mitbringen?«

»Kakao«, sagte Carlo dankbar. Ahnte Hamid, dass er nicht scharf darauf war, einmal quer durch den Raum zur Theke zu gehen? Mit Sicherheit hätte er auf dem Rückweg den Kakao verkleckert. So was passierte ihm ja schon, wenn ihn nicht fünfzig Augenpaare anstarrten.

Hamid kam mit zwei randvollen Bechern zurück, die er vorsichtig abstellte. Während er seinen Kakao trank und ein Croissant einstippte, quasselte er ununterbrochen. Er flüsterte ihm in einem Affentempo alle möglichen Informationen zu, wovon Carlo sich nur das wenigste merken konnte.

Die große Rothaarige war die Älteste an der Schule. Sie hieß Marie Gräfin von Schaumschlag oder so ähnlich, und sie war fast so wichtig wie Grundeis und Frau Doktor Gnädig, die Direktorin.

»Wer sich mit Marie anlegt, kriegt schneller Ärger, als er denken kann. Dabei gibt es einige an dieser Schule, deren Gehirn ziemlich schnell arbeitet.« Hamid grinste. »Das sind die klugen Köpfe, denen die Villa da Vinci ihren guten Ruf verdankt. Die meisten sind allerdings eher aus anderen Gründen hier gelandet, ehrlich gestanden.«

Carlo ahnte, was er damit sagen wollte: Das hier war ein Internat, auf das vor allem die kamen, die woanders nicht klargekommen waren. Er musterte Hamid aus dem Augenwinkel. Sag bloß, die hatten ihm so einen Typen wie Richard als Zimmergenossen gegeben. Einen von den Intelligenzbolzen, die er sich als Vorbild nehmen sollte.

Dann wanderte sein Blick zu dieser Marie. Also, eine Gräfin hatte er sich anders vorgestellt. Nicht mit solchen Haaren und jeder Menge Ohrringen, und schon gar nicht mit einem Schlangentattoo am Hals. Aber auch Frau Doktor Gnädig sah in ihrem knallgelben Kostüm nicht gerade wie eine Direktorin aus. Wie ein aufgeplusterter Riesenkanarienvogel hockte sie an einem Tisch in dem Wintergarten, der sich an den Speisesaal anschloss.

»Diese Gnädig sieht ja ulkig aus«, sagte er leise.

Hamid nickte. »Ja, sie wirkt harmlos, aber ich würde sie nicht unterschätzen. Ohne sie wäre das Ganze hier nichts anderes als ein durchgeknallter Haufen von Hoch-, Mittel- und Tiefbegabten.«

In diesem Moment meldete sich der Hausvater über die Sprechanlage und verkündete, dass in zehn Minuten der Unterricht begann. Wrummm! Das Schlachtgetümmel entbrannte aufs Neue. Mit Geschrei, Gegröle und Geschubse drängelten alle zur Tür hinaus. Auch Carlo stand auf. Mit ziemlich gemischten Gefühlen trottete er hinter den anderen her.

Der Schreibtisch, hinter dem die Direktorin thronte, sah so bedeutend aus wie der von Carlos Mutter in ihrem Oberbürgermeisterinnenbüro. Carlo rutschte auf dem Stuhl hin und her. Er wünschte, er hätte kippeln können. Gespräche mit der Schulleitung machten ihn nervös.

»Nun, Carlo«, sagte Frau Doktor Gnädig, »wie ich gesehen hab, hast du dich schon mit deinem Zimmergenossen angefreundet.«

Er zuckte mit den Schultern. Von Freundschaft konnte man ja wohl nicht reden, nur weil Hamid und er zusammen gefrühstückt hatten. »Bin ich mit dem in einer Klasse?«, fragte er.

»Hamid ist in der Alpha«, erwiderte die Direktorin mit einem vielsagenden Blick, den Carlo nicht verstand. Dann erklärte sie ihm, dass es in der Villa da Vinci keine Klassen, sondern altersübergreifende Lerngruppen gab. Wie jeder, der aufs Internat kam, würde Carlo erst einmal bei Herrn Lachnitz in der Omega-Gruppe mitmachen. Nach einem halben Jahr würde er seiner Begabung entsprechend einer der anderen Gruppen zugeordnet werden. »Aber ob du zu Hamid in die Gruppe der Hochbegabten kommen wirst …« Sie warf einen Blick in die Unterlagen auf ihrem Tisch und ließ einen Seufzer hören – im selben Moment, in dem auch Carlo tief Luft holte. Na bitte, da hatte er diesen Hamid ja richtig eingeschätzt.

»Bei den Omegas wirst du dich wohlfühlen. Herr Lachnitz ist ein exzellenter Lehrer«, sagte die Direktorin jetzt. »Und wenn ich dir einen Rat geben darf: Verkneife es dir, ihn Lachnicht zu nennen.« Damit war er entlassen.

Das Zimmer der Omega-Gruppe war im Turm der Villa untergebracht. Als Carlo die Tür mit dem goldenen Ω öffnete, war ihm flau im Magen vor Nervosität. Er schaute in einen runden Raum, dessen Parkett rötlich schimmerte. Auf den Stühlen im Kreis saßen vier Kinder und der glatzköpfige Herr Lachnitz, den er schon beim Frühstück im Wintergarten gesehen hatte. Alle hatten einen Laptop auf einem Ausklapptischchen vor sich und hoben wie auf Kommando die Köpfe.

»Carlo Karfreitag, nur herein! Willkommen bei den Omegas.« Der Lehrer winkte ihm freundlich zu, und dann bat er die anderen, sich kurz vorzustellen.

Carlo saß noch nicht ganz, da begann schon einer der Jungen zu reden. Thomas von Thalen, genannt Tom. Ein braun gebrannter Typ mit blonden Haaren und strahlend weißen Zähnen, der solche Muskeln hatte, dass die Anzughose über seinen breiten Oberschenkeln spannte. »Wenn’s irgendwelche Probleme gibt, sag Bescheid«, meinte er und grinste ihn an.

Rechts und links neben Tom saßen zwei Mädchen, Agneta und Frederike. Agneta war so winzig, dass