Das Lazarus-Spiel - Jamie Sawyer - E-Book

Das Lazarus-Spiel E-Book

Jamie Sawyer

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Beschreibung

Wettlauf gegen die Zeit

Im Kampf gegen die außerirdischen Krell ist Captain Conrad Harris schon öfter gestorben als andere Menschen die Unterwäsche wechseln, denn er steht einer Einheit von Weltraumsoldaten vor, die ihre Missionen mithilfe von Avataren ausführen. Doch ihre jüngster Auftrag ist sogar für das Lazarus-Team brandgefährlich: Mitten im Gebiet der Krell wurde ein Raumschiff lokalisiert - mit an Bord ein Artefakt, das helfen könnte, die Krell ein für alle Mal zu besiegen. Doch auch der Feind hat es auf den geheimnisvollen Gegenstand abgesehen, und so beginnt für Harris ein halsbrecherischer Wettlauf gegen die Zeit ...

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Seitenzahl: 617

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Das Buch

Seit Jahrzehnten befindet sich die Menschheit in einem zermürbenden Krieg gegen die außerirdischen Krell, ohne Hoffnung diesen je gewinnen zu können. Der einzige Grund, warum sich die Menschen den Krell noch nicht ergeben mussten, ist Captain Conrad Harris, genannt Lazarus, und sein Team von Elite-Soldaten, die mittels ihrer Avatare lebensgefährliche Aufträge ausführen. Dennoch ist die Situation fast aussichtslos geworden. Doch dann taucht die UAS Endeavour, ein lange verschollen geglaubtes Expeditionsraumschiff der Menschen, mitten im Gebiet der Krell auf; an Bord befindet sich ein geheimnisvolles Artefakt, das ein für alle Mal über Sieg oder Niederlage in diesem Krieg entscheiden könnte. Harris und das Lazarus-Team machen sich sofort auf den Weg, um die Endeavour mitsamt ihrem brisanten Inhalt zu bergen. Doch auch der Feind hat es auf diesen mysteriösen Gegenstand abgesehen, und für die Weltraumsoldaten beginnt ein gnadenloser Wettlauf gegen die Zeit …

Die Lazarus-Romane:

Band 1: Die Lazarus-Mission

Band 2: Die Lazarus-Legion

Band 3: Das Lazarus-Spiel

Der Autor

Jamie Sawyer wurde in Newbury, Berkshire geboren. Er studierte Jura an der East Anglia Universität in Norwich und machte seinen Abschluss in den Rechtswissenschaften Menschenrechte und Überwachungsrecht. Er arbeitet als Rechtsanwalt für Strafrecht an den Gerichten in und um London und Ostengland. Wenn er nicht gerade arbeitet oder schreibt, verbringt er seine Zeit mit seiner Familie in Essex.

Mehr über Jamie Sawyer und seine Romane erfahren Sie auf:

Jamie Sawyer

Das Lazarus-Spiel

Roman

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Titel der englischen Originalausgabe

ORIGIN – THE LAZARUS WAR BOOK 3

Deutsche Übersetzung von Julian Haefs

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 05/2017

Redaktion: Sven-Eric Wehmeyer

Copyright © 2016 by Jamie Sawyer

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München

Umschlagillustration: Ioan Dumitrescu

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-20968-1V001

www.diezukunft.de

Für Jake und Benji – meine besten Kumpels

PROLOG

»Die Mission der UASEndeavour ist auch jetzt noch für sämtliche Zweige des Allianzmilitärs von besonderem Interesse … Es war das erste und einzige Mal, dass zwischen der Menschheit und einer fremden Rasse irgendeine Form von zweckdienlichem Dialog stattgefunden hat. Wie genau das möglich war und ob diese Pioniertat wiederholt werden kann, bleibt weiter unklar. Alle Unterlagen bezüglich der Endeavour und ihrer Mission unterliegen noch immer Kongress-Kodierung Alpha-9, einer nur selten eingesetzten Verschwiegenheitsklausel, die es den Allianzbehörden erlaubt, Material, das dem Staatswohl angeblich abträglich sein könnte, auf unbestimmte Zeit unter Verschluss zu halten …«

Auszug aus Geheime Geschichte: Verschwörungen innerhalb der Allianz, Verfasser: Professor Frederick Boswell, erschienen 2279

»Von der Endeavour hat sicher jeder schon mal gehört, stimmt’s? Sie ist ja fast so eine Art moderne Mary Celeste. Mitsamt der ganzen Crew verschwunden und nie wiederaufgetaucht. Vielleicht sogar das größte Rätsel des kompletten Raumfahrt-Zeitalters. Sie war auch nicht alleine – der ganze Rest der Flotte ist ebenfalls verschwunden, insgesamt sechzehn Schiffe.

Natürlich gehen dauernd irgendwo Schiffe verloren. Wir befinden uns im Krieg – ob das Pentagon das zugeben will oder nicht. Aber eine Flotte dieser Größe und solchen Umfangs? Nein, so etwas passiert nicht einfach. Irgendjemand weiß, wo die Endeavour und ihre Begleitschiffe abgeblieben sind. Ich bin mir sicher, dass man uns nicht die ganze Wahrheit sagt.

Entweder das, oder sie haben uns von Anfang an nicht gesagt, warum sie eigentlich aufgebrochen ist. Regierungen haben seit Menschengedenken gelogen. Die Geschichte zeigt ganz deutlich: Je größer der Staatsapparat, desto wahrscheinlicher die Lügen. Und der Regierungsapparat der Allianz? Na ja, das ist wohl bei Gaia verdammt noch mal so ziemlich der größte, den die menschliche Rasse je gesehen hat …

Abgesehen vom Asiatischen Direktorat natürlich.«

Interview mit Azra Asami, Kopf der Anti-Kriegs-Koalition, ausgestrahlt von Core News Network am 27. Juli 2281

»Die Mission der Endeavour war nicht weniger als ein Erfolg auf ganzer Linie. Was sollten wir verschweigen wollen? Sie ist stolz in die Finsternis vorgestoßen, hat die Krell zu einem Vertrag bewegt und so zur längsten Friedenszeit geführt, die der Allianz je vergönnt war. Die Bedrohung durch die Krell war sozusagen über Nacht vom Tisch. Natürlich haben wir da draußen ein paar gute Leute verloren. Natürlich ist das ein Jammer. Aber leider muss man in solchen Fällen eine Kosten-Nutzen-Rechnung aufstellen, und aus meiner Sicht sind die Bücher mehr als ausgeglichen.«

Auszug aus einer Rede von Präsident Francis vor dem Allianzkongress am 29. November 2281 (kurz vor seiner Ermordung durch Spezialkräfte des Direktorats)

GEHEIMDIENSTLICHEREINSATZBERICHT

*** PRIVAT ***

KLASSIFIZIERUNG: STRENGGEHEIM (ROTUMBRA)

AN: SEKTORKOMMANDANT, CALICO-BASIS

VON: CAPTAIN T. OSTROW, MILITÄRGEHEIMDIENST

BETR: OPERATIONMENETEKEL (DAMASKUS), HANDLUNGSBEDARF

EINSATZZEIT: 08.10.2283

Das Primärziel von Operation Menetekel war die Inbesitznahme und anschließende Nutzung eines Artefakts in einem Abschnitt des Mahlstroms namens »Damaskus-Graben«. Das Artefakt sollte gegen das Krell-Imperium eingesetzt werden, um Kriegsflotte 856 aufzuhalten oder anderweitig zu stören. Der Einsatz muss weitgehend als Fehlschlag bezeichnet werden, der zum Verlust vieler Kriegsschiffe der Allianz und mehrerer Tausend Mann Besatzung führte. Zu den wichtigsten Überlebenden zählen das Team von Major Conrad Harris (die Lazarus-Legion) sowie der bedeutende Aktivposten UASColossus (inklusive ihrer Besatzung). Major Harris und sein Team wurden kurz nach ihrer Rückkehr zu den Überresten von Liberty Point von einer Patrouille geborgen.

Ich verfasse diesen Bericht, um das Augenmerk der Sektorkommandantur auf mehrere akute Anhaltspunkte zu lenken, die dem Geheimdienst als Resultat der Operation Menetekel vorliegen.

Erstens sind »Williams’ Warfighters« nach wie vor auf freiem Fuß. In den letzten sechs Monaten gab es nicht weniger als sechzehn unbestätigte Sichtungen verschiedener Mitglieder. Da es der Colossus gelungen ist, dem Damaskus-Graben zu entkommen, darf nicht ausgeschlossen werden, dass auch auch die Shanghai Remembered, das Flaggschiff der Angriffsflotte des Direktorats, erfolgreich zurückgekehrt und somit weiterhin aktiv ist. Die betreffenden Mitglieder der Warfighters müssen unbedingt aufgespürt und unschädlich gemacht werden. Alle Sichtungen sollten dem Militärgeheimdienst umgehend gemeldet werden.

Zweitens verbleiben sowohl das Artefakt auf Helios als auch das am Damaskus-Graben weiterhin ungesichert. Keiner der Standorte ist seitdem erneut von Streitkräften der Allianz angesteuert worden. Sie könnten sich beide in den Händen des Direktorats befinden, und wir müssen davon ausgehen, dass die dort verfügbare Technologie früher oder später gegen die Allianz eingesetzt werden könnte [siehe auch Tysis und andere Fundorte der Tönernen, vgl. verlinkte Dokumente X-996 ff.]. Meines Erachtens ist die Technologie der Tönernen von kriegsentscheidender Bedeutung und sollte – wo immer möglich – genutzt werden: Die Bedenken, dass die genannten Stätten unter der Kontrolle des Direktorats stehen könnten, gibt besonderen Anlass zur Sorge [siehe Daten der Wissenschaftsabteilung – REDIGIERT – UNZUREICHENDEFREIGABE].

Drittens – und für dieses Schreiben von höchster Bedeutung – bleibt der Standort der UASEndeavour weiterhin eine Frage von größter Wichtigkeit für die Kriegsanstrengungen. Ihre Mission nach [REDIGIERT] mag durchaus die Lösung unseres momentanen Dilemmas darstellen. Sollte [REDIGIERT] gegen uns eingesetzt werden, könnte das den Todesstoß für das Militär der Allianz bedeuten. Ich spreche hiermit die dringende Empfehlung aus, der Sache so schnell und gründlich wie möglich nachzugehen, sobald die nötigen Ressourcen zur Verfügung stehen.

Nach seiner Rückkehr in den aktiven Dienst ist Major Harris mit einer Beförderung zum Oberstleutnant bedacht worden. Mehrere andere Mitglieder der Lazarus-Legion sind ebenfalls befördert worden; die überlebenden Mitglieder befinden sich alle im aktiven Dienst. Momentan beschränken sich ihre Aktivitäten auf Einsätze in den Randgebieten zum Direktorat. Dies stellt zweifellos keine zufriedenstellende Verwendung einer solchen Ressource dar.

Somit schließe ich mit der dringenden Empfehlung, der Legion neue Aufgaben zuzuweisen, und hoffe, dass der Stab [REDIGIERT] berücksichtigt.

Captain T. Ostrow, Militärgeheimdienst der Allianz, Datum nach Universalkalender:

1. Oktober 2284

1

GERECHTER ZORN

Sechs Monate nach dem Damaskus-Einsatz

Wir verteilten uns um die Heckrampe der Jaguar-Fähre.

Schüsse pfiffen durch die Luft und prallten von der Bordwand des Truppentransporters ab. Querschläger jagten durch den Innenraum. Dank Kugelhagel und Schneefall war die Sicht stark eingeschränkt – kaum zu erkennen, wo wir waren, geschweige denn, wer da draußen war. Nichts als eine kalte, undurchdringliche weiße Wand.

»Wir liegen hier schwer unter Feuer«, sagte Leutnant James. Er saß am Steuer von Scorpio Eins und sollte uns später wieder hier rausbringen. »Viel länger kann ich nicht mehr unten bleiben …«

Das Schiff schwankte im starken Wind, und die Unterseite des Rumpfs schleifte über das Dach des Gebäudes, auf dem er uns abgesetzt hatte. Dass James überhaupt in der Lage war, den Vogel unter diesen Bedingungen in der Luft zu halten, war eigentlich schon eine Meisterleistung.

Ich antwortete nicht, denn ich hatte jetzt erst einmal dringlichere Probleme; eins davon bestand darin, meine Einsatzbereitschaft zu halten. Mein Nullschild leuchtete auf und prasselte als Reaktion auf den Feindbeschuss wie ein Miniaturgewitter. Das Visier meines Kampfhelms war erfüllt von blinkenden Warnhinweisen, und der Kommunikator piepste unaufhörlich, als um mich herum immer mehr Leute zu Boden gingen. Zu meiner Linken bissen drei Grünschnäbel ins Gras, noch bevor sie die verdammte Fähre überhaupt verlassen hatten. Ihre Körper waren von panzerbrechender Munition mit abgereicherten Urankernen in Fetzen gerissen worden.

Und wir waren nicht die Einzigen. Über den Teamkanal kamen die panischen Meldungen weiterer Einsatzgruppen, deren Offiziere beständig Verluste aus anderen Bereichen des Schlachtfelds durchgaben.

»Lazarus-Legion!«, schrie ich. »Um mich formieren!«

Wie irgendein Arschloch mal gesagt hat, überlebt kein Plan den ersten Feindkontakt.

Sechs Stunden zuvor war der Besprechungsraum der UASIndependence zum Bersten voll gewesen. Die meisten steckten noch nicht in ihren Sims, sondern in der eigenen Haut – Soldaten in Borduniformen, die auf den Abwurf warteten. Wir hatten eine ansehnliche Truppe zusammen: natürlich die Lazarus-Legion, aber noch drei weitere Sim-Teams – Hoopers Raiders, die Baker Boys und die Vipers. Alles gute Truppen, die ich speziell für diesen Einsatz ausgesucht hatte. Zusammen mit James und seinen Jungs von der Scorpio-Staffel war der Raum bis auf den letzten Platz besetzt.

»Wir sind aktuell noch sechs Stunden vom Ziel entfernt«, sagte ich. »Willkommen in Rodonis Capa, einem vollkommen durchschnittlichen System am Rand des Direktoratsgebiets.«

Als der große Bildschirm aufleuchtete und ich mit der Einsatzbesprechung begann, wurden alle Gesichter in den zartgrünen Schein der projizierten Grafiken getaucht. Wir befanden uns noch am Rand des Systems und gerade im Anflug auf die einzig interessante Sehenswürdigkeit. Der Stern war kühl und verblasst; eine Sonne der G-Klasse, die sich schon im Niedergang befunden hatte, bevor der Neandertaler seinen Höhlen entstiegen war. Er wurde von sechs verwitterten Felsbrocken umkreist, die mit einer Ausnahme schon lange jede Atmosphäre verloren hatten. Allesamt unbewohnbar und tot – bis auf unser Ziel.

»Das hier ist Capa V«, sagte ich und vergrößerte einen schmutzig weißen Ball. »Unser Reiseziel.«

Capa V lag gerade noch in der habitablen Zone und klammerte sich verzweifelt an den letzten Rest Licht und Wärme, den ihm die ferne Sonne zukommen ließ.

»Im Sommer bestimmt richtig nett«, sagte Martinez – trocken wie immer. Er gähnte und sah nicht so aus, als sei er schon lange wach. »Ihr könnt mich ja wecken, wenn wir da sind.«

»Mach dir keine Hoffnung, Padre«, sagte Jenkins. »Hier sind wir richtig.«

Martinez fungierte seit Kurzem inoffiziell als Geistlicher der Truppe, und seine Predigten bestanden zu gleichen Teilen aus Verdammnis und noch mehr Verdammnis. Es waren sogar Gerüchte in Umlauf, dass er die Weihe bekommen hatte. Sperenzos Vipers waren strenggläubig – alles Neukatholiken, richtige Fanatiker –, und ich war mir nicht ganz sicher, ob die Venusier meine Befehle ausführen würden, wenn sie im direkten Gegensatz zu Martinez’ standen. Sie waren alle unschwer anhand ihrer rötlichen Haut und der Latino-Gesichtszüge zu erkennen, saßen erwartungsvoll da und sahen Martinez an.

Er zog eine dunkle Augenbraue hoch. »Ernsthaft?«

Leutnant Keira Jenkins sah zu mir herüber. Ihr schmales Gesicht zitterte fast vor unterdrückter Aufregung. »Irgendwie schon. So, jetzt alle Ruhe und zuhören.« Reihum erhob sich Gemurmel, aber niemand riskierte eine blöde Bemerkung. »Bitte, Oberst.«

Jenkins war erbitterter und wütender, als ich sie je erlebt hatte. Wir hatten die letzten sechs Wochen damit verbracht, ähnliche Streifzüge zu unternehmen – auf der Suche nach irgendwelchen Anhaltspunkten über den Verbleib von Vincent Kaminski oder anderen Überlebenden der Damaskus-Operation. Was bisher lediglich dazu geführt hatte, dass Jenkins, mehr noch als der Rest der Truppe, wie eine Sprungfeder unter Hochspannung stand. Die langen Stunden des Wartens auf neue Hinweise waren an Bord der Independence mit Trainingseinheiten in der Schwerelosigkeit gefüllt worden. Jenkins war zu allem bereit.

Ich betrachtete sie, sah dann das Hologramm von Capa V an und fühlte mich plötzlich sehr müde. Noch eine Sackgasse konnte ich nicht ertragen, nicht, nachdem wir schon auf so viele gestoßen waren.

»Übernimm du das«, sagte ich zu ihr. »Ich will sehen, was du vorhättest.«

»Verstanden.«

Captain Baker, der Chef der Baker Boys, stieß mir den Ellbogen in die Rippen. »Kann nicht mehr lange dauern, bis du sie los bist«, sagte er. »Früher oder später wird sie ’n eigenes Team haben wollen.«

Baker war mittlerweile wahrscheinlich der älteste Offizier im ganzen Sim-Programm – auf jeden Fall der älteste Überlebende des Massakers von Liberty Point – und hatte schon lange vor seiner Einberufung in der Allianzarmee gedient. Der Rest seines Teams bestand allerdings aus lauter Neulingen, die insgesamt kaum mehr als eine Handvoll Übergänge auf dem Buckel hatten. Das eifrige Funkeln in ihren Augen war erschreckend.

»Eher später als früher, hoffentlich«, sagte ich.

»Aufgepasst, Leute«, sagte Jenkins, und es wurde wieder still im Raum. »Wie der Boss schon gesagt hat, ist Capa V unser Ziel. Bei seinen Bewohnern vom Direktorat auch bekannt als der ›Kalte Tod‹.«

Auf dem Bildschirm öffnete sich eine Datei mit näheren Angaben.

Capa V war rundum gleichförmig in blendendes Weiß gehüllt: eine Welt im Klammergriff einer Eiszeit, aus der es kein Entrinnen gab. Gut die Hälfte des Planeten war von gigantischen Gletschern bedeckt, der Rest von gefrorenen Meeren. Nur ganz selten gab es Durchbrüche im Eis – schmale blaue Bänder flüssigen Wassers und schwarze Flecken, wo felsige Plateaus aus den Eismassen ragten. Ansonsten waren leere, unförmige Ebenen an der Tagesordnung.

»Sieht ziemlich kalt aus«, sagte Baker. Ich wusste genau, was er im Schilde führte: Er wollte Jenkins aus der Reserve locken und sehen, wann sie die Fassung verlor. Bei Offiziersnachwuchs durchaus ein alter Hut, aber bei so einem Einsatz? Das war sicherlich nicht die beste Idee. Trotzdem fuhr er fort. »Da kriege ich bestimmt wieder nur Probleme mit meinem Rheuma.«

»Maul halten, Baker«, sagte Jenkins schroff. »Die Oberflächentemperatur sind angenehme minus zwanzig, mit dem fiesen Wind allerdings gefühlt deutlich darunter.« Der Bildausschnitt vergrößerte sich. »An deiner Stelle würde ich in dem Alter schön die Rüstung zulassen.«

Baker sah ein, dass er den Kürzeren gezogen hatte, und hielt den Mund.

Jenkins machte weiter. »Der Kalte Tod beherbergt drei Siedlungen – die hier ist unser Ziel.«

Tief im Süden schmiegte sich ein kleiner Außenposten mit der Aufschrift QUIJONG-BASIS an die Bergflanken eines großen Gebirgsmassivs. Die Einzelheiten über den Außenposten liefen über den Schirm; ich überflog schnell noch einmal die relevanten Informationen. An die hundert Gebäude und Hangars lagen über mehrere Quadratkilometer verteilt – sie waren sorgfältig arrangiert und von Werkstätten und Freiflächen durchsetzt. Das ausladende Straßennetz wurde immer wieder von Betonmauern unterbrochen. Es gab einige große Funkmasten, und leider kamen als Hauptquartier mehrere Gebäude infrage. Viele Fahrzeuge, dafür keine erkennbare Luftunterstützung. Am Rand der Anlage lag ein einziger Landeplatz, der darauf schließen ließ, dass man hier durchaus einmal Schiffe gehabt hatte – momentan war er allerdings verwaist und lag unter einer dicken Schneedecke.

»Vor sechs Tagen hat eine unserer Aufklärungsdrohnen ein Datenpaket von diesem Außenposten abgefangen. Tief darin vergraben war ein Sicherheitsschlüssel, von dem wir wissen, dass er vom Direktorat benutzt wird, um die Verlegung festgenommener Gegner zu organisieren. Also geht der Stab davon aus, dass wir da unten Kriegsgefangene finden.«

»Kriegsgefangene?«, sagte Sperenzo. Sie war eine kleine, kompakte Venusierin – eine aus Martinez’ Clan, das ganze Gesicht voller Banden-Tätowierungen, die Haare auf wenige Millimeter abrasiert.

Jenkins nickte. »Wie gesagt: Jetzt wird’s ernst. Darüber hinaus hat der Stab die Kriegsgefangenen zweifelsfrei als Überlebende aus dem Damaskus-Einsatz identifiziert.«

»Ja leck mich doch …«, sagte Baker.

Ich musste ein Grinsen unterdrücken.

»Woher wollen die das so genau wissen?«, fragte Martinez und starrte mit zusammengekniffenen Augen auf den Schirm. »Das klingt viel zu schön, um wahr zu sein.«

»Möglich«, sagte ich.

Wahrheit hin oder her, Jenkins schien von der Idee mehr als überzeugt zu sein. »Das Direktorat mag Schläferzellen bei uns haben, aber wir haben auf jeden Fall Leute noch tiefer drin. Eine unserer Quellen hat das hier als Gefangenenlager identifiziert. Bisher hat sich die Quelle nie geirrt.«

»Was die Karten angeht«, sagte Dejah Mason. »Was sind denn das da für Dinger?«

Du immer mit deinen Fragen, dachte ich. Mason war das jüngste Mitglied der Lazarus-Legion. Ob die Neugier am Alter oder einfach in ihrer Natur lag, war schwer zu sagen, aber sie war eine verdammt gute Kriegerin. Jung, blond und vom Mars – mir tat jeder leid, der es wagte, sie zu unterschätzen.

Sie zeigte auf ein rundes Gebilde in der Mitte der Karte; groß wie eine Landungsfähre und zwar von Eis überzogen, aber ohne Schnee. Es bestand eindeutig aus Metall und sah aus wie ein versteckter Raketensilo oder der Eingang zu einer unterirdischen Anlage.

»Sieht aus wie ein Bergwerk«, sagte sie. »Oder ein verdeckter Schacht.«

Jenkins verschob den Bildausschnitt und vergrößerte das Gebilde. »Vielleicht ’ne Mine«, sagte sie. »Kaum Abwärme, keine Strahlung.«

Mason rümpfte die Nase. »Also keine Ahnung?«

»Nein. Keine Ahnung. Ist das ein Problem, Prinzessin?«

Das war Masons neuer Kampfname, unter dem sie bekannt geworden war, seitdem sie »New Girl« abgelegt hatte. Mason betrachtete den Bildschirm und machte ein langes Gesicht.

»Nicht unbedingt«, sagte sie. »Aber irgendwie sieht das … falsch aus.«

»Christo«, sagte Baker und verdrehte die Augen. »Wir wissen wirklich alles, was wir wissen müssen. Lasst uns endlich da runtergehen!«

»Wie genau lautet der Plan?«, fragte Captain Hooper von den Raiders. Er stammte von Tau Ceti und war der jüngste Gruppenleiter unserer Einsatztruppe; gerade frisch von der Offiziersschule. Das Holo-Abzeichen an seinem Revers zeigte eine blinkende »99« an: die Zahl der Übergänge, die er absolviert hatte. Wirklich nicht schlecht für einen Burschen, der erst seit fünf Jahren beim Programm war. Wenn er als Offizier durchhielt, würde er es weit bringen.

»Die Missionsziele werden rechtzeitig vor dem Abwurf in die Anzüge eingespeist«, sagte Jenkins. »Kurz gesagt: Wir gehen gemeinsam runter und teilen uns dann sofort auf. Primärziele sind diese Gebäude.« Auf der Karte blitzten ein paar rote Markierungen auf. »Wir sind gekommen, um unsere Leute rauszuholen: Das ist unsere Aufgabe. Wie schon gesagt – ich habe da so ein Gefühl, was diesen Ort angeht.«

Hoffentlich hast du recht, Jenkins. Hoffentlich.

»Erwartete Menge an Widerstand?«, fragte Mason.

Jenkins seufzte. »Laut Geheimdienstdaten minimal. Die haben eine Garnison da unten, aber sie wissen nicht, dass wir kommen.«

Sperenzo pfiff leise. »Glauben wir zumindest.«

»Wie auch immer, die feindlichen Truppen sind sekundär«, sagte Jenkins. »Ich wiederhole: Wir sind hier, um unsere Leute zu befreien. Wir haben das System unter Schleichfahrt betreten, und es gibt keinerlei Anzeichen, dass uns das Direktorat bemerkt hat. Außerdem hat die Independence ihren einzigen Kommunikationssatelliten schon abgeschossen – sie können also auch nicht um Hilfe rufen.«

Die Independence würde im Orbit zurückbleiben, um das Zielgebiet und unseren Fortschritt zu überwachen. Sie war mit dem Besten ausgestattet, das die Allianz an Tarnkappen-Technik zu bieten hatte – was hoffentlich ausreichte, um unentdeckt zu bleiben. Der von Jenkins erwähnte Satellit, eine orbitale Nachrichtenplattform, war vor einer Stunde zu Klump geschossen worden. Capa V war von einer Menge Weltraumschrott umgeben, sodass die Bodentruppen den Verlust wahrscheinlich auf schlichtes Pech schieben würden.

Trotzdem sah ich mir die Weltkarte von Capa V noch einmal genau an. Unser Ziel lag tief im Süden, aber einige Tausend Kilometer weiter nördlich lag noch eine weitere Basis – die allerdings der Luftaufklärung zufolge so gut wie verlassen schien. Noch ein Stückchen weiter nördlich ragte eine Raffinerie-Plattform aus der gefrorenen See.

»Wir müssen aufpassen, dass wir von den anderen Basen keinen Besuch abgestattet bekommen«, sagte ich. Irgendwie hatte ich ein mulmiges Gefühl bei der Sache. »Nicht auszuschließen, dass die es doch schaffen, von da aus noch Hilfe zu holen, sobald wir zuschlagen.«

Jenkins verzog das Gesicht. »Die sind aber offenbar beide vollautomatisiert. Laut Stab spielen sie taktisch keine Rolle.«

»Das habe ich schon öfter gehört.« Ich nahm ein paar Änderungen an den Einsatzparametern vor. »Ich will, dass die Independence diese Außenposten keine Sekunde aus den Augen lässt.«

»Verstanden«, sagte Jenkins. »So, da wir davon ausgehen, dass das hier ein Bergungseinsatz wird, stellt die Scorpio-Staffel Luftunterstützung und Piloten bereit.«

Sie bedachte die Flieger auf der anderen Seite des Holo-Projektors mit einem knappen Blick. Leutnant James und seine Leute steckten bereits in ihren Sims und machten ihrer Rolle als Kampfpiloten der Allianz alle Ehre. Die Neuen Sims waren genetisch so gebaut, dass man sich unbegrenzt in ihnen aufhalten konnte – täuschend echte Kopien menschlicher Körper mit verbesserten Organen und pfeilschnellen Reflexen. Nachteil der Nähe zum Original war natürlich, dass sie längst nicht so stark oder widerstandsfähig waren wie unsere groben Kampfmodelle. Selbst nach all den Monaten hatte ich James noch nie in seinem echten Körper gesehen.

»Wir bringen euch in den neuen, schweren Truppentransportern Typ MX-11 ›Jaguar‹ runter«, sagte er. »Die Lazarus-Legion nimmt zusammen mit den Baker Boys Scorpio Eins; die Vipers und die Raiders Scorpio Zwei. Scorpio Drei und Vier bleiben leer. Das sollte genug Platz sein, um alle Leute rauszubringen, die ihr hoffentlich findet. Sobald die vier Kampfgruppen entladen sind, bleiben alle vier Transporter in der Nähe, um zur Not Luftunterstützung zu leisten.« Er zeigte auf die Karte der Anlage. »Die Jaguare sind mit Antipersonen-Raketen und schweren Sturmkanonen ausgerüstet – das sollte wohl reichen, damit das Direktorat lange genug den Kopf einzieht, um die Gebäude zu durchkämmen.«

Die Lufthoheit konnte bei diesem Einsatz durchaus der Schlüssel zum Erfolg sein. Nicht nur, um unsere Gefangenen zu befreien, sondern auch, um die gegnerischen Bodentruppen in Angst und Schrecken zu versetzen. Wenn wir es wirklich schafften, unbemerkt auf ihrer Türschwelle aufzutauchen, konnten ein paar Dutzend Antipersonen-Raketen auf jeden Fall dazu beitragen, ihnen weiszumachen, dass wir mit einer weitaus größeren Einsatztruppe angerückt waren als nur ein paar Sim-Teams.

»Dann sorge aber bitte dafür, uns dieses Mal nicht zurückzulassen«, sagte Jenkins.

James sah sie gekränkt an.

»Was?«, sagte sie unschuldig. »Wäre ja nicht das erste Mal, oder? Ich sag’s ja nur …«

»Okay, Leute«, beendete ich die Diskussion. Ich wollte nicht, dass die Besprechung noch mehr aus dem Ruder lief. Im Lauf der letzten Wochen hatte Jenkins mehrfach lautstark betont, James sei der einzige Grund dafür, dass wir überhaupt hier draußen waren. Sie mochte sogar recht haben, aber sich daran aufzuhängen änderte auch nichts. »Dann wollen wir mal …«

Die Tür flog auf, und Captain Ostrow stürmte in den Raum. Mit finsterer Miene postierte er sich direkt neben dem Bildschirm.

»Ich hätte es schon sehr gerne gesehen, dass Sie die Einsatzbesprechung nicht ohne mich anfangen«, sagte er.

»’tschuldigung«, sagte Jenkins, »aber wir haben auch ohne Sie schon wieder aufgehört.«

Ostrow war der leitende Offizier des Militärgeheimdiensts an Bord der Independence und sollte eigentlich jeden Einsatz im Hoheitsgebiet des Direktorats persönlich absegnen. Im Rahmen unserer Mission war es der Form halber nötig, dass er offiziell beurteilte, ob wir für den jeweiligen Einsatz einen »triftigen Grund« hatten – damit wir mit Rückendeckung des Generalstabs handeln konnten. Er ging mir ganz gehörig auf die Eier.

»Ja, erstaunliches Timing«, sagte Mason lächelnd.

»Ich habe mir die Einzelheiten der Informationslage noch einmal genau angesehen«, sagte Ostrow, »und muss sagen, dass ich wirklich nicht überzeugt bin. Das ist jetzt schon das dritte Ziel, das Sie binnen einer Woche ausgemacht haben …«

»Das dritte Potenzial«, sagte ich entschlossen. Wenn der Geheimdienst wirklich solche Spielchen veranstalten wollte, konnte ich wenigstens ihren Fachjargon gegen sie verwenden. »Also kann es dieses Mal durchaus ein Ist sein.«

»Oder nur eine Bergwerks-Kolonie«, gab Ostrow zurück. »Beides gleich wahrscheinlich. Und diese angeblich geheimen Funksprüche können sich genauso gut um den Transport von Schmuggelware oder Waffen oder Sprengköpfen drehen …« Er schüttelte den Kopf. »Von offizieller Seite kann ich den Einsatz nicht sanktionieren. Es spricht zu viel dagegen.«

Im Raum herrschte angespannte Stille. Alle Soldaten warteten auf meine Reaktion; aber sie machten sich zu Unrecht Sorgen. Ich hatte definitiv nicht vor, jetzt noch zu kneifen – weder bei dieser noch bei irgendeiner anderen Mission auf Direktoratsgebiet. Die Bastarde würden für alles bezahlen, was sie uns angetan hatten. Und wir würden unsere Leute zurückholen.

»Ich habe die Unterlagen auch gelesen«, sagte ich, »und sanktioniere den Einsatz selber. Wenn irgendwas schiefgeht, stehe ich dafür gerade.«

»Das ist doch genau der Grund, warum Sie diese Einsätze nicht persönlich durchführen sollten. Sie stecken da viel zu tief drin. Es geht schließlich um einen Ihrer Männer. Wir sind im Territorium des Direktorats, um Christo willen. Unsere bloße Anwesenheit hier verstößt bereits gegen so viele Verträge, dass ich gar nicht genug Zeit habe, sie alle aufzuzählen …«

An seinem Tonfall hörte ich genau, dass er selbst wusste, dass er zu weit gegangen war. Er verstummte. Auf der anderen Seite des Holo-Projektors sah ich, wie sich Martinez’ Gesicht verdüsterte, und hob eine Hand, um ihn zu beschwichtigen.

»In Damaskus haben sie Tausende Männer und Frauen der Flotte abgeschlachtet«, sagte ich. »Hat das vielleicht auch irgendeinen Ihrer gottverdammten Verträge verletzt?«

»Das ist mir schon klar«, sagte Ostrow und war sich offensichtlich bewusst, wie viel Zorn seine Aussage bei allen Anwesenden verursacht hatte. Trotzdem versuchte er es ein letztes Mal: »Unabhängig davon ist der Einsatz hier weder vom Generalstab noch vom Pentagon offiziell genehmigt. Unsere Ressourcenlage ist ohnehin schon prekär genug; vor allem nach dem schrecklichen Verlust von Liberty Point sollten Sie eigentlich an der Front sein! Die ganze Geschichte hier könnte durchaus einen erheblichen diplomatischen Zwischenfall auslösen …«

»Einen weiteren erheblichen diplomatischen Zwischenfall«, korrigierte ich ihn.

»Wir sind sowieso schon auf höchster Alarmstufe …«

Jenkins sah mich gespannt an. Wie eine uralte Floskel besagt, sind die Augen das Fenster zur Seele. In ihren Augen sah ich Schmerz und Trauer – ein emotionaler Cocktail, den ich nur zu gut kannte. Auf gar keinen Fall würde ich dafür verantwortlich sein, ihn noch zu verstärken. Natürlich war das kein taktischer Grund, aber Jenkins und Kaminski waren ein Paar gewesen, und sein Verlust hatte sie am härtesten getroffen.

»Der Einsatz findet wie besprochen statt«, sagte ich und ließ Ostrow links liegen. »Wenn ihn auch sonst niemand genehmigt – ich schon. Kampfgruppen wie angewiesen vorbereiten.«

Sämtliche anwesenden Soldaten schlugen sich mit der Faust auf die Brust.

Ich betrachtete meinen linken Armstumpf.

Mit beiden Händen am Plasmagewehr stemmte ich mich in den Schneesturm. Außerhalb der Fähre war es unglaublich hell, und trotz des Kampfhelms musste ich gegen den Instinkt ankämpfen, die Augen mit der Hand abzuschirmen. Der Himmel war blendendes Weiß, Rodonis Capa nur ein schwacher Fleck am Horizont und der Schneefall so stark, dass ich mich ohne taktisches Visier rettungslos verlaufen hätte.

»Alle raus«, schrie Jenkins über den offenen Teamkanal – in unseren Kampfanzügen dank des tobenden Sturms die einzige Verständigungsmöglichkeit. »Los, los, los!«

Ich löste die Magnetsohlen meiner Stiefel und nahm die M95 in Anschlag. Die Trident-V-Kampfanzüge waren mit eigenen Lebenserhaltungssystemen völlig autark, aber trotzdem hatte ich sofort das Gefühl, von der Kälte überrollt zu werden. Mit »Kalter Tod« schien sich das Direktorat einen äußerst passenden Spitznamen ausgedacht zu haben. Der Anzug verabreichte mir eine Injektion, damit ich wachsam blieb und den Killerinstinkt nicht verlor.

Scorpio Eins war wie geplant auf einem langen, flachen Gebäude gelandet – augenscheinlich eine Art Hangar. Sobald wir unten waren, fingen auch die anderen Teams an, sich bei Jenkins zu melden. Alle waren auf Widerstand gestoßen. Die Raiders waren ein paar Hundert Meter weiter südlich auf einem offenen Platz zwischen zwei Gebäuden festgenagelt, die Vipers hatten sich weiter im Osten neben einer Fertigungshalle verschanzt, standen aber ebenfalls schwer unter Feuer …

Rumms!

Ein Glückstreffer durchschlug meinen Nullschild und prallte von der linken Schulter ab. Die Panzerung hielt, trotzdem tat der Aufschlag höllisch weh.

»Scheiße!«, rief ich und biss mir auf die Zähne.

Unsere Ablativpanzer waren überaus stabil, aber mit genug kinetischer Energie waren wir genauso geliefert wie jeder normale Soldat – die drei toten Sims um mich herum konnten davon ein Liedchen singen.

»Alles in Ordnung, Sir?«, fragte Mason.

»Versucht einfach, nicht getroffen zu werden«, sagte ich. »Das brennt wie Sau.«

»Zielgebiet ist heiß«, drang die Stimme von der Brücke der Independence an mein Ohr, die das Geschehen aus dem Orbit verfolgte. »Empfehle sofortige Relokalisierung, Lazarus. Ihr werdet demnächst überrannt.«

»Lazarus Eins verstanden.«

Die Landezone als »heiß« zu beschreiben war wohl der Euphemismus der Woche. Wir standen aus allen Richtungen unter Feuer, sowohl unten von der Straße als auch von den Wachtürmen und Sperrposten, die die ganze Anlage durchzogen. Größtenteils kleinkalibrige Waffen – wahrscheinlich Sturmgewehre und leichte MGs –, aber bei den Sichtverhältnissen war die Lage kaum richtig einzuschätzen.

Auf meinem Visier leuchteten die Umrandungen der drei anderen Truppentransporter, die ich ohne das taktische Display in dem Schneesturm kaum gesehen hätte. Die Jaguare waren groß und schwer: dunkelgraue Hülle, bauchiges Transportmodul und Stummelflügel. Sie waren leicht gepanzerte Landefähren, keine Kampfschiffe. Die präzise ausgearbeitete Formation, in der wir hatten landen wollen, war der turbulenten Atmosphäre von Capa V nicht gewachsen gewesen – geschweige denn dem erbitterten Widerstand.

Ich fällte eine Entscheidung. »Scorpio-Fähren: Sichere Flughöhe ansteuern.«

»Die Baker Boys sind für das Flugfeld zuständig«, sagte Jenkins. »Sobald die Raiders die …«

In meinem Augenwinkel erblühte ein gleißendes Licht. Sofort war mir klar, dass es sich nur um eine Laserwaffe handeln konnte; ein schweres Turmgeschütz, dass eine brennende Lanze rubinroter Energie erstrahlen ließ.

Scorpio Drei hing ein paar Hundert Meter links von uns. Sie schwebte dicht über einem flachen Betongebäude, war leer und wartete nur auf Gefangene, die es zu evakuieren galt. Die geöffnete Heckrampe kratzte über das Dach.

Für eine Sekunde fuhr der rote Energiestrahl wie ein Suchscheinwerfer durch den Himmel, dann fraß er sich in die Fähre.

»Runter!«, schrie ich.

Die Schubdüsen versagten, und Scorpio Drei stürzte auf der Stelle ab. Die Schockwelle der explodierenden Fähre ließ unseren Hangar erzittern. Das Wrack landete irgendwo mitten in der Anlage, und eine dichte, schwarze Rauchwolke schraubte sich in den Himmel. Sofort näherten sich Truppen des Direktorats der Absturzstelle – auf meinem Visier nur als warme Flecken im Sturm zu erkennen. Über Funk war ein ausgiebiger Fluch von James zu hören. Scorpio Eins ließ eine Handvoll Banshee-Raketen los, die vergeblich versuchten, sich dem feindlichen Geschütz zu nähern, dann schnellte die Fähre in die Höhe.

»Scorpio Einsdreht ab …«

»Verstanden. Zwei ist weiteren Boden-Luft-Geschützen ausgewichen …«

»… Mehrere Ziele an der östlichen Mauer ausgemacht. Sieht aus wie eine Laserkanone …«

Die restlichen Fähren begannen, sich ebenfalls zu entfernen; ihre Rümpfe flackerten unter kleinkalibrigen Einschlägen.

Wenn das hier etwas werden sollte, mussten wir jetzt zuschlagen.

»Legion: Vorrücken zu dieser Satellitenschüssel«, befahl ich. »Alle anderen Teams sofort Schutz suchen.«

Ich schmiegte mich an die niedrige Brüstung und versuchte, mir einen Schlachtplan zurechtzulegen. Die Schnappschüsse der Spionagedrohne, die den Außenposten überflogen hatte, legten sich als Gitternetz über mein Visier und zeigten an, wo wir uns genau befanden.

»Aus dem Orbit hat das ’ne ganze Ecke kleiner ausgesehen«, grummelte Martinez. »Aber da hat auch noch keiner auf uns geschossen.«

»Ganz was Neues, wie?«, sagte Jenkins und sprang in die Deckung zurück, als auf der anderen Seite des Dachs eine Granate hochging. Heiße Splitter regneten auf uns herab und verglühten in den Nullschilden.

»Die sollten doch angeblich nicht wissen, dass wir kommen …«, sagte Mason.

»Der Teufel hat Augen überall«, sagte Martinez und zuckte mit den Schultern.

»Egal«, sagte ich, »wir müssen diese Gebäude säubern und durchsuchen. Deswegen sind wir hier.«

Der Außenposten lag zwischen zwei Bergflanken und war von Oberleitungen und Laufstegen durchzogen, die etliche gute Gefechtsstellungen boten. Die wenigen größeren Gebäude waren allesamt von Eis und Schnee bedeckt, das Metall spröde von der ewigen Gewalt der Elemente.

Mason kniete sich neben mich und steckte eine gepanzerte Hand tief in den Schnee.

»Das ist also Schnee …«, sagte sie fast ein bisschen wehmütig. Zwar war das Terraforming auf dem Mars mittlerweile fast vollständig abgeschlossen, aber ein komplexes Wettersystem gab es dort natürlich nicht. »Hätte nie gedacht, dass ich so was doch mal zu Gesicht bekomme. Ist ja fast schön.«

»Wenn’s nur nicht so beschissen kalt wäre«, warf Martinez ein. »Ich fühle mich hier auf jeden Fall nicht zu Hause. Habt ihr je von Sims mit Erfrierungen gehört?«

»Nein«, sagte Mason. »Kann aber gut sein, dass ich die Erste werde.«

»Geht das schon wieder los«, sagte Jenkins. »Abgesehen davon ist das hier ganz sicher kein richtiger Schnee. Höchstens ein müder Abklatsch. Check mal deinen Armrechner nach der chemischen Zusammensetzung – da ist so gut wie kein H2O drin.«

»Sie kommt aus Kalifornien«, flüsterte ich, während ich immer noch versuchte, unsere nächsten Schritte zu planen. Die Kälte schien alle Denkprozesse zu lähmen. »Deswegen weiß sie natürlich alles über Schnee.«

»Bestimmt mehr als die beiden Außerirdischen hier«, sagte Jenkins.

Neben mir schlug ein Feuerstoß im Schnee ein.

»Wie viele Schützen haben wir da vor uns?«, fragte ich.

»Jede Wette weniger als hundert«, sagte Jenkins. »Ich setze fünfzig Mäuse.«

»Wette gilt«, sagte Martinez.

»Konzentration, Leute«, sagte ich. »Wir müssen schnell machen. Lasst die Drohnen los. Direktive: Gegner identifizieren und markieren.«

Die Lazarus-Legion schickte ihre Überwachungsdrohnen ins Feld. Ein Dutzend autonomer Fluggeräte entkoppelte sich von den Rückenplatten unserer Anzüge und segelte hinaus in den Schneesturm. Sofort wurden zwei von ihnen getroffen und explodierten in einem Funkenregen. Die anderen fingen an, gegnerische Schützen zu markieren. Fast augenblicklich tauchten die ersten blassgrünen Silhouetten auf meinem Display auf. Aha, schon besser: Ich kann euch sehen. Die Drohnen zeichneten Herzfrequenzen auf, Wärmesignaturen, das volle Programm. Unsere Daten verschmolzen mit den Informationen der anderen Teams.

Martinez hockte neben der Satellitenschüssel und schnalzte mit der Zunge. »Du schuldest mir fünfzig, Jenkins.«

Mindestens zweihundert Gestalten umringten das Gebäude und näherten sich langsam unserer Stellung.

Jenkins überprüfte die Energiezelle ihres Plasmagewehrs. »Na gut, ich zahl’s dir in Venus-Dollar. Abgemacht?«

»Du mich auch, Jenkins«, sagte Martinez. Der Venus-Dollar war schon lange weniger wert als die elektronische Karte, auf der er gespeichert war. »Du weißt genau, dass ich nur in amerikanischer Währung wette.«

Mason kicherte gehässig. »Aber bloß nicht markierte Scheine ohne Seriennummer, wie man hört.«

Da hinten…

Irgendwas an den Bildern der Drohnen stimmte nicht.

»Seht ihr das?«, fragte ich den Rest der Legion und schickte die Übertragung auf ihre Displays.

»Auf den Bildern aus dem Orbit war davon nix zu sehen …«, sagte Mason langsam.

Das hintere Ende der Anlage war ein windschiefer, von Schnee zerfressener Zaun, in regelmäßigen Abständen von Wachtürmen gesäumt. Einer von ihnen ragte neben dem Flugfeld in die Höhe; ein großer Skelettbau, von einer gepanzerten Kabine gekrönt. Dann leuchtete ein Teil des Himmels auf, und mit einem Peitschenknall dröhnte Schuss um Schuss durch die Anlage. Ich vergrößerte den Bildausschnitt und sah eine Handvoll Direktoratssoldaten, die mit einem schweren, mehrläufigen Lasergeschütz in den Himmel feuerten. Sofort ließ ich die Drohne nach links und rechts schwenken, um den Rest des Zauns in Augenschein zu nehmen. Die anderen Türme befanden sich noch im Bau; sie hatten nur diese eine einsatzbereite Boden-Luft-Stellung.

»Solange das Ding über dem Flugfeld thront, können unsere Fliegerjungs hier auf keinen Fall jemanden aufpicken«, sagte Jenkins. »Die Kanone macht alles platt, was sich der Landezone nähert.«

»Unser Plan hat sich soeben geändert«, sagte ich. »Wir müssen den Turm ausschalten, bevor wir zu suchen anfangen.«

Ich wechselte wieder auf den Hauptkanal. »Hier Lazarus Eins; Baker, bitte kommen.«

»Anwesend«, sagte Baker. Laut seines Transponders steckten sie irgendwo am Boden zwischen den Gebäuden, aber bei dem Wetter war keine präzise Ortung möglich. »Wir sind hier festgenagelt. Wo bleibt die Luftunterstützung?«

»Die ist am Arsch«, sagte ich. »Ihr habt die Fähre ja runterkommen sehen. Die Aufklärung hat Scheiße gebaut – die haben doch Luftabwehr.«

Er grunzte. »War ja klar.«

»Kopf runter und am Leben bleiben. Wir kümmern uns gleich darum.«

»Verstanden.«

Ich wechselte zu Hoopers Kanal. »Hooper, ihr bleibt erst mal da oben und gebt Feuerschutz.«

»Alles klar, Lazarus.«

Hoopers Raiders waren schon in Position gegangen. Das Fünf-Mann-Team war mit M-23-Gewehren ausgerüstet, extralangen Plasma-Scharfschützengewehren. Das Spezialistenteam war für seine Zielgenauigkeit bekannt. Auf dem höchsten Gebäude der Anlage sah ich ihre Läufe unablässig aufblitzen. Hoopers Team würde sich Mühe geben, uns beim Vorrücken so viele Gegner wie möglich vom Leib zu halten.

Blieben noch Sperenzos Vipers.

»Sperenzo«, sagte ich, »Störmanöver. Langsam zum Ziel vorrücken und auf eine Kampfpause warten.«

»Sehe ich nicht kommen«, sagte Sperenzo gehetzt. »Aber wir werden’s versuchen.«

»Die Legion macht ’nen Umweg. Wir schalten den Wachturm aus, damit Scorpio wieder Luftunterstützung liefern kann. Lazarus Ende.«

2

UNERFÜLLTE RACHEGELÜSTE

Wir sprangen vom Dach und rannten über den Hof.

Immer wieder tauchten plötzlich Soldaten mit Sturmgewehren vor uns aus dem Schnee auf; in den gepanzerten Tarnanzügen waren sie so gut wie unsichtbar. Überall Kämpfer des Direktorats. Der Widerstand war ungleich erbitterter und organisierter, als wir eingeplant hatten. Ich sprang über eine Betonbarrikade hinweg – eine Panzerfalle, die mitten auf der Straße platziert worden war. Hinter ihr hatten zwei Soldaten gehockt, verkabelt mit einem Raketenwerfer. Ein Aufklärer, ein Schütze. Bei unserem Anblick hatten sich die beiden zurückgezogen, den Raketenwerfer fallengelassen und ihre Pistolen gezückt. Martinez erwischte sie beide im Laufen und schlitzte ihre Panzeranzüge mit kurzen, präzisen Impulsen auf.

Ich warf einen flüchtigen Blick auf die nächste Leiche. Auf dem Brustpanzer des Soldaten prangte das Emblem der Volksarmee. Es waren einfache Milizen; die Standardbesetzung jeder Direktorats-Garnison.

»Umzäunung voraus«, teilte Jenkins mit.

Vor uns wuchs eine zerklüftete schwarze Linie aus dem Schnee; ein einfacher Maschendrahtzaun mit Stacheldrahtkrone.

»Nehmt die Schneeraupen als Deckung«, befahl ich. »Vorrücken auf mein Zeichen.«

Wir rannten alle gleichzeitig los. Ich rutschte hinter eine der Raupen, lud den Granatwerfer durch und schoss zwei Splittergranaten ins Schneegestöber. Einer der Soldaten wurde voll erwischt, die anderen schafften es gerade noch, sich am anderen Ende der Straße in Sicherheit zu bringen.

»Alle noch ganz?«, fragte ich.

»Positiv«, sagte Mason.

»Ziel im Blick«, sagte Jenkins. Sie steckte ihren Kopf hinter der Raupe hervor und betrachtete Zaun und Wachturm.

»Wir müssen das Ding dem Erdboden gleichmachen«, sagte ich. »Also Granaten raus und zum Fuß des Turms vorrücken.«

»Ich gehe rechts«, sagte Jenkins.

Unter meinem Feuerschutz rannte sie los. Das M95 war zwar mittlerweile veraltet und dem neueren M110 hoffnungslos unterlegen, aber mir lag das klobige Plasmagewehr einfach mehr.

Ich hechtete hinter die nächste Raupe, Mason und Martinez kauerten hinter dicken Transportfässern, die unter den Einschlägen einer schweren automatischen Waffe aus Richtung des Zauns erzitterten. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sich Jenkins pfeilschnell zwischen brennenden Kisten hindurchschlängelte. Langsam wurden wir wieder eingekesselt. Ihr Nullschild leuchtete immer öfter auf.

»Ich mache das«, keuchte sie.

»Bleib in Deckung! Wir zerlegen den Turm von der östlichen Anhöhe aus und gehen dann hintenrum …«

»Ich sage doch, ich mache das«, zischte sie.

Die Luftabwehrkanone auf dem Turm drehte sich langsam nach unten und suchte die Anlage ab. Fuck. Das war wirklich ein richtig dicker Laser; ein Treffer auf Jenkins, und sie wäre trotz Schild und Kampfpanzerung hinüber.

»Zurück in Deckung!«

Jenkins ließ unverfroren ihren Granatwerfer antworten.

Die Salve der Splittergranaten beschrieb einen feinen, sauberen Bogen – der Wind verlangsamte sie nur unmerklich. Eines der vier dürren Beine, die den Turm im Schnee verankerten, verschwand in einer Explosion. Jenkins schoss einfach weiter. Auf meinem Display sah ich ihr Gesicht von wildem Hass verzerrt. Immer wieder schlugen Schüsse in ihrem Anzug ein oder prallten vom Brustpanzer ab. Das Tarnfeld des Anzugs hatte versagt und hob ihren Umriss jetzt deutlich hervor. Sie schien dem Gegner nur noch durch pure Entschlossenheit die Stirn zu bieten.

Das Gebäude wankte.

Aus meiner Stellung konnte ich eben noch die Spitze des Turms erkennen und sah, wie die Besatzung zu schreien anfing. Einige ruderten mit den Armen und sprangen lieber aus dieser Höhe in den Schnee, als mitzufallen.

Jenkins ließ eine Granate nach der anderen auf den Turm los. Unter lautem Heulen neigten sich die Beine immer weiter.

»Sie zerlegt den echt alleine!«, sagte Mason.

Langsam sackte der Turm zur Seite weg und fiel. Er war groß genug, um mehrere Gerüste und Laufstege in der Nähe mitzureißen. Das Kreischen von Metall auf Metall erfüllte die Luft, dann folgte das ansprechende Donnern einer weiteren Explosion. Das ganze Tal war erfüllt von dem Lärm, der von den Bergflanken zurückgeworfen wurde. An den steileren Hängen rutschten Schneemassen herunter und fluteten gegen den Grenzzaun.

Einen langen Augenblick stand Jenkins einfach nur da. Die Truppen des Direktorats hatten das Feuer eingestellt und sich zurückgezogen – sie gruppierten sich tiefer in der Anlage neu.

»Alles klar?«, fragte ich, während ich zu ihr hinüberlief.

Sie warf mir ein grimmiges Nicken zu. »Bestens. Musste nur ’n bisschen Stress abbauen.«

Martinez und ich wechselten einen knappen Blick, er sagte aber nichts. Das war die neue Jenkins. Damaskus hatte sie nachhaltig verändert.

»Trotzdem ist das hier eine Militäroperation«, sagte ich. »Keine Extrawürste.«

Jenkins sah mich gereizt an; kurz hatte ich die Befürchtung, sie habe völlig vergessen, dass wir hier mitten in einem Rettungseinsatz steckten und nicht auf einem persönlichen Rachefeldzug gegen das Direktorat, um unserem Ärger Luft zu machen. Dann setzte sie eine neutrale Miene auf und nickte.

»Jawohl, Sir.«

Scorpio Eins schwebte über uns hinweg. Eine Salve von Banshee-Raketen löste sich unter den Stummelflügeln, und mehrere Stellungen in der Nähe gingen in kurzen, grellgelben Wolken unter.

»Immerhin hat James den Luftraum wieder unter Kontrolle«, sagte Mason.

»Wurde auch Zeit«, sagte Jenkins.

Die konzertierten Angriffe der Landungsfähren wirkten Wunder, um das Direktorat im Zaum zu halten. Währenddessen saßen die Raiders weiterhin in ihrem Nest, schalteten Soldaten auf den umliegenden Dächern aus und kümmerten sich um vereinzelte Panzerfaust-Stellungen. Die Baker Boys und die Vipers fingen an, ihre Ziele abzuarbeiten, sicherten Gebäude und durchkämmten langsam die Anlage. Mithilfe der Drohnen waren die oberirdischen Gebäude schnell erledigt.

Sieben Minuten nach Missionsbeginn versammelte sich die Legion in einer verlassenen Kaserne.

»Kein Glück bis jetzt«, sagte Martinez. »Was auch immer die hier treiben, ein Gefangenenlager ist es nicht.«

Jenkins trieb zwei gefangene Direktoratssoldaten vor sich her in die Kaserne. Sie waren entwaffnet worden, trugen aber immer noch ihre abgewetzten Panzeranzüge, die sie als Offiziere auswiesen. Die Männer waren braungebrannt, wesentlich älter als die meisten anderen Soldaten und redeten durcheinander.

Ich nickte Jenkins zu. »Nicht aus den Augen lassen. Anzug: Übersetzen.«

Mein Kampfanzug gehorchte, suchte den richtigen Dialekt heraus und begann zu dolmetschen.

»Wir wissen überhaupt nichts!« sagten beide im Chor. Die Lautsprecher meines Anzugs klangen elektronisch und gestelzt. »Wir sind nur die Aufseher dieser Bergbau-Anlage…«

Und so ging es weiter. Beide klangen durchaus überzeugend. Ohne die paar hundert Soldaten, die eben noch versucht hatten, uns umzubringen, hätte ich es ihnen vielleicht fast geglaubt.

»Bring sie zu den anderen«, wies Jenkins Mason an.

Mason drückte den Männern ihren Gewehrlauf in die Rippen und ermutigte sie, das Gebäude zu verlassen. Beide protestierten lautstark, ohne Helme in den Schneesturm getrieben zu werden, aber Mason herrschte sie barsch in brüchigem Chino an – die Übersetzungssoftware des Anzugs half nach –, und die Männer schienen schnell einzusehen, dass ihre Überlebenschancen draußen um einiges besser standen.

Die sollten sich auch in die Hosen machen, dachte ich.

In der Mitte der Anlage befand sich ein großer Platz, von einigen höheren Gebäuden umstanden und daher halbwegs vor Wind und Schnee geschützt. Auf dem höchsten Dach lauerte Hooper mit seinen Scharfschützen. Mason führte die beiden zu den restlichen Gefangenen, die in einer Reihe aufgestellt waren. Immerhin hatten zehn Soldaten die nötige Intelligenz besessen, nicht einfach ihr Leben, sondern lieber die Waffen wegzuwerfen. Die meisten knieten jetzt im Schnee, die Hände hinterm Kopf verschränkt.

»Das sind alles keine Schwerter«, sagte Mason.

Sie bezog sich auf die Schwerter des Südchinesischen Sternhaufens; jene Eliteeinheit, die auch für den Damaskus-Zwischenfall verantwortlich gewesen war. Und sie hatte recht – das hier waren alles normale Soldaten. Die Schwerter waren wesentlich gefährlicher und besser ausgerüstet als die Volksarmee und hätten sich wahrscheinlich ungleich heftiger zur Wehr gesetzt.

»Nicht jeder Agent trägt ’ne Uniform«, sagte Martinez. »Wir sollten sie im Auge behalten, Jefe.«

Wir würden sie auf jeden Fall mit zurück an Bord nehmen. Das war zwar auch nur eine dürftige Rechtfertigung für diesen Einsatz, aber vielleicht würde sich zumindest Ostrow darüber freuen. Der Militär-Geheimdienst konnte sie ausquetschen und möglicherweise die eine oder andere nützliche Information zu Tage fördern.

Jenkins schlich wie ein Tiger vor den Gefangenen auf und ab. Der Rest von uns stand da und betrachtete ihre Show. Mittlerweile hatte ich sie oft genug gesehen, um nicht mehr beeindruckt zu sein.

»Ihr wisst, wer wir sind?« Ihre Lautsprecher waren auf Anschlag, sodass man sie trotz des scharfen Winds laut und deutlich hörte.

Zumindest eine Handvoll der Gefangenen verstand genug Standard, um ängstlich zu nicken. Jenkins postierte sich am Ende der Reihe – das Gewehr auf dem Rücken, die Plasmapistole in der Hand. Sie wedelte damit herum, und die Gruppe erschauderte. Die Kälte hatte dem glühenden Hass, der von Jenkins ausging, wenig entgegenzusetzen.

»Dann wisst ihr ja, dass ihr euch nicht mit uns anlegen solltet. Wir sind die Lazarus-Legion, und wir sind hier, um unsere Leute zurückzuholen. Jetzt will ich wissen, wo sie sind.«

»Wir wissen nichts!«, schrie einer der Soldaten auf Standard. »Wir arbeiten nur hier – bewachen die Minen!«

Dann plapperten wieder alle Gefangenen durcheinander.

»Schwachsinn!«, fauchte Jenkins. Sie machte einen Satz auf die nächste Gefangene zu und schlug der Frau die Plasmapistole ins Gesicht. »Wir haben eure Funksprüche abgehört. Ihr habt gefangene Allianzsoldaten hier unten.«

Aber diese Frau ließ sich nicht so einfach einschüchtern. Sie war schlank und drahtig, hatte lange schwarze Haare und Mandelaugen. Für einen Sekundenbruchteil erinnerte sie mich an Elena. Ich schüttelte den Kopf und verbannte den Gedanken. Auf dem Gesicht der Frau sammelten sich Schneeflocken, aber sie sagte kein Wort.

»Ich meine es ernst«, sagte Jenkins. »Wenn ihr leben wollt, solltet ihr jetzt besser reden.«

Mason neben mir sah ihr unbeeindruckt zu. »Müssen wir da echt schon wieder durch?«, fragte sie leise.

Jenkins drückte der Frau die Mündung ihrer Pistole an die Stirn, und die Waffe stellte sich mit rotem Glimmen scharf. Ihr Nebenmann zuckte zurück – wahrscheinlich war er froh, dass nicht er gleich dran glauben musste.

»Wenn mir jetzt nicht sofort jemand sagt, was ihr hier unten wirklich treibt, blase ich der Schlampe das Hirn raus. Und danach jede Minute jemand anderem, bis ich eine Antwort kriege.«

Der Nebenmann murmelte etwas auf Chino; viel zu schnell, als dass die Anzugsoftware reagieren konnte.

»Verarsch mich ja nicht«, zischte Jenkins ihm zu.

Die Frau starrte Jenkins mit eisernem Blick an. Ihr Haar war vom Schnee verklebt.

»Hier gibt es nichts für euch«, sagte sie. »Wir haben nichts.«

Jenkins stand starr da und hielt ihr die Pistole gegen die Stirn. Mason und Martinez sahen zu, wirkten aber sichtlich unzufrieden …

In meinem Ohr meldete sich das Funkgerät.

»Lazarus!«, sagte eine barsche Stimme. Es war Baker.

Ich hob die Hand, um Jenkins’ Zorn im Zaum zu halten. Sie hielt inne, starrte aber weiter unverwandt die Stirn der Frau an.

»Ich höre, Baker. Was gibt’s?«

»Wir haben was gefunden«, sagte Baker. »Ihr solltet runterkommen und euch das angucken. Ich lade dir meine Koordinaten hoch.«

Auf meinem Display leuchtete Bakers Standort auf. Er und die Überlebenden seines Teams hatten sich in einer Garage ganz in der Nähe versammelt.

»Sind unterwegs«, sagte ich. »Lazarus Ende.« Ich winkte Jenkins. »Wegtreten.«

Mit demonstrativem Zögern ließ Jenkins die Waffe sinken.

»Ich dachte echt, sie knallt die ab«, sagte Martinez.

»Wäre nicht das erste Mal.«

Mason seufzte. »Und bestimmt auch nicht das letzte.«

»Mason, Jenkins: Mitkommen. Martinez: Gefangene fesseln, dann komm nach.« Auf keinen Fall konnte ich Jenkins jetzt mit den Gefangenen hier draußen alleine lassen. »Pass gut auf sie auf, Padre«, sagte ich. »Keiner von denen stirbt, solange ich das nicht erlaube.«

»Verstanden«, sagte Martinez. Er klang überaus erleichtert und schüttelte sachte den Kopf. »Unerfüllte Rachegelüste sind eine schreckliche Sache.«

Baker wuchtete die großen Rolltore der Garage auf, und wir betraten die Halle im Gänsemarsch. Wie fette Schmeißfliegen surrten meine Drohnen um mich herum. Obwohl Bakers Jungs als erste Einheit vor Ort gewesen waren, zeichneten die Drohnen dienstbeflissen alles auf. Die Halle war riesig, ein großer Fuhrpark industrieller Vehikel: Erz-Schaufelbagger, Schneeraupen und Traktoren, alle säuberlich in Reih und Glied geparkt.

Bakers Team bestand nur noch aus drei Sims. Sie hockten neben einer Schneeraupe, und im Schein der Helmlampen waren ihre grimmigen Gesichter zu sehen.

»Wir sind uns nicht ganz sicher, womit wir es hier zu tun haben«, sagte Captain Baker. Er nickte einem seiner Leute zu – ein Grünschnabel, auf dessen Brustpanzer ROBINS stand.

»Ich kriege immer noch Messdaten von irgendwo hier drin, Sir.«

Jenkins machte ein verächtliches Geräusch. »Wir sind den ganzen Weg hier rüber gelaufen, weil irgendwer Messdaten reinkriegt? Jesus.«

Robins schluckte, ließ sich aber nicht beirren. »Daten vom Bio-Scanner, Ma’am.« Er hielt ihr seinen Armrechner unter die Nase und zeigte auf das Gitternetz. »Jede Menge Lebenszeichen. Sie tauchen kurz auf und verschwinden wieder.«

»Und sonst ist hier in der Ecke nichts«, sagte Baker. »Hooper hat vom Dach aus alles im Blick. Über uns nichts, und draußen auch nichts.«

Ich sah mir die Messergebnisse des Neulings über den eigenen Rechner an. Auf meinem Visier tauchten vereinzelte Pünktchen auf. Es waren mehrere Lebenszeichen – die winzigen Ausschläge möglicher Herzfrequenzen, das Aufleuchten von Wärmesignaturen. Eigentlich sollten also ganz in der Nähe mehrere Körper sein, aber die Daten waren erratisch und schwer zu lesen.

»Siehste?«, sagte Baker. »Irgendwas stimmt hier nicht.«

»Vielleicht hat der Scanner einfach ’ne Störung«, sagte Mason.

Robins schüttelte den Kopf. »Glaube ich kaum. Wir haben alle die gleichen Ergebnisse bekommen …«

»Hört mal!«, sagte ich scharf.

Über Funk waren leise Geräusche zu vernehmen.

Ein sanftes Heulen: ein nagendes, statisches Rauschen an der Grenze zum Unterbewusstsein. Plötzlich war es so stark, dass ich zusammenzuckte und eine Hand an meinen Helm legte.

»Alles in Ordnung, Oberst?«, fragte Mason.

»Ja«, sagte ich. »Hat das außer mir irgendwer gehört?«

Mason und Jenkins sahen mich verständnislos an.

Es klang wie fernes Wehklagen. Ich sah die geöffneten Tore der Halle an. Das Geräusch hätte ohne Weiteres das Heulen des Windes draußen sein können – wäre der nicht mittlerweile abgeflaut.

Ich schluckte.

Ich kannte dieses Geräusch. Es war das Artefakt.

Das kann nicht schon wieder passieren. Ich hatte das Geräusch schon lange nicht mehr gehört, und wenn, dann eigentlich nur im Traum – oder Albtraum. Mit meiner persönlichen Art von Selbstmedikation hatte ich es lange Zeit erfolgreich unterdrückt.

Aber das hier ist anders…

Und dann begriff ich, dass es aus dem Boden kam. Ich stampfte auf; der schwere Kampfanzug und der massive Simulat darin hatten ein gehöriges Gewicht. Ein metallisches Donnern rollte durch die Halle. Ich stampfte abermals auf, und das Echo war so laut, dass ich es auch in meinem Panzer problemlos hören konnte.

»Da unter uns ist irgendwas«, entschied ich und hob die Hand. »Schafft die Raupe aus dem Weg.«

Mason kletterte ins Führerhäuschen und startete die Maschine. Mit tiefem Brummen setzte sich die große Raupe in Bewegung. Legion und Baker Boys versammelten sich um den leeren Fleck, an dem sie gestanden hatte, und starrten den freigelegten Boden an.

»Na, leck mich doch …«, sagte Baker.

Vor uns lag eine runde Luke – breit genug, um auch einen Mann in voller Rüstung aufzunehmen. Das vereiste Metall war abgewetzt und offenbar noch vor Kurzem benutzt worden, wie die Fußstapfen in der Nähe zeigten. Jetzt war mein Display voller Wärmesignaturen. Da unten musste auch ein größerer Generator stehen. Langsam verschwanden die kleineren Punkte wieder von meinem Visier; entweder in irgendwelche Gänge, ohne überhaupt bemerkt zu haben, dass man sie entdeckt hatte, oder sie versuchten, den Scanner auszutricksen. Ich war schon Krell begegnet, die so etwas vermochten – ihren Kreislauf derart zu manipulieren, dass man sie nicht mehr orten konnte. Von vergleichbarer menschlicher Technik lag mir allerdings nichts vor. Aber natürlich war das Direktorat immer für eine Überraschung gut.

Mit lautem Schnaufen riss ich die Luke auf. Sofort wurde das Wehklagen eindringlicher. Irgendwas lockt mich in die Tiefe… AuchJenkins keuchte überrascht. Baker bellte seine Leute an, mir Feuerschutz und Platz zum Manövrieren zu geben.

Ich aktivierte meine Scheinwerfer und leuchtete vorsichtig in den Schacht hinunter. Halb erwartete ich, sofort eine Salve ins Gesicht zu bekommen. Ein präziser, gerader Schacht. In regelmäßigen Abständen waren Metallsprossen ins Eis getrieben worden – eine lange, gefährliche Leiter ins Ungewisse.

»Der Scanner zeigt jede Menge Signale da unten«, sagte Jenkins. Ihre Stimme zitterte vor Aufregung.

»Wie viele?«

Sie holte tief Luft. »Hundert? Schwer zu sagen.«

»Als wären die aufeinandergestapelt …«, flüsterte Mason.

Der Schacht war so tief, dass er trotz der Scheinwerfer in der Dunkelheit verschwand. Ich zog eine Leuchtfackel aus meinem Kampfgeschirr, zündete sie und warf sie hinab. Geraume Zeit später hörte ich sie mit leisem Klimpern auf dem Boden aufschlagen.

»Willst du nicht vielleicht erst mal ’ne Drohne vorschicken?«, sagte Mason.

»Nein«, sagte ich. »Das muss ich selber machen.«

Die Fackel lag auf dem Boden des Schachts und warf flackerndes Licht auf eine schwere Gitterplatte. Irgendetwas hatte man dort unten gebaut. Mein Instinkt bestand darauf, das Ganze sei eine richtig schlechte Idee, aber ich musste wissen, was da unten los war.

»Ich gehe rein. Jenkins, Rückendeckung.«

»Verstanden.«

Mit jedem Schritt in die Tiefe wurde das Wehklagen lauter, bis es nicht mehr zu überhören war.

Ich brauchte mehrere Minuten, um den Schacht hinunterzuklettern. Immer eine Hand an den Sprossen, die andere an der Plasmapistole; ich versuchte, so gut es ging auf den kleinen Tunnelausschnitt zu zielen, den ich unter mir sehen konnte. Die Leiter war voller Eis, aber immer öfter sah ich Stiefelabdrücke auf den Sprossen, die erst kürzlich entstanden sein mussten.

»Wie läuft’s, Sir?«, fragte Jenkins.

»Alles gut. Oben irgendwelche Probleme?«

»Nein, alles ruhig. Soll ich hinterherkommen und helfen?« Dem Klang ihrer Stimme nach war sie kaum zu bändigen.

»Nein. Ich habe alles im Griff.«

In voller Rüstung hatte ich gerade genug Platz. Ständig schrammten meine Schultern gegen die Wände des Schachts, und die Befürchtung, unterwegs beschossen zu werden, hielt meine nervöse Anspannung konstant. Das Licht der Fackel wurde immer schwächer, bis es schließlich vollkommen finster war. Meine linke Hand begann zu zittern.

Endlich erreichte ich den Boden des Schachts und richtete die Plasmapistole auf den Gang vor mir, um die Zielsoftware nach möglichen Zielen suchen zu lassen. Die tiefen Tunnel waren ins massive Eis getrieben worden und chemisch behandelt, um für Stabilität zu sorgen. Der Boden war mit Metallplatten ausgelegt, und an der Decke liefen Leitungen entlang, in regelmäßigen Abständen mit Leuchtkugeln versehen. Von den großen, durchscheinenden Eiszapfen an der Decke tropfte Tauwasser …

Eine Hand berührte meinen Kampfanzug. Dreckige, knochige Finger.

Instinktiv zuckte ich zurück.

Dann traf mich das Geräusch. Hundert Stimmen, die sich zu einem Geisterchor vereinten. Jede einzelne nur schwächlich, alle zusammen ohrenbetäubend. Ich konnte kaum verständliche Worte ausmachen, aber der Gesamteindruck war unmissverständlich: Hilfeschreie – Flehen um Erlösung.

»Scheiße …«, sagte ich unwillkürlich.

Krieg war mir vertraut. Ich hatte viel Schreckliches gesehen: von Menschen, von Aliens und – mit der Entdeckung der Tönernen – sogar von Maschinen. Es gab nur wenige Dinge, die mich noch bewegen konnten, mir wirklich an die Nieren gingen. Aber der Anblick, der sich mir im Tunnel bot, gehörte definitiv dazu.

»Ich bin angekommen«, sagte ich. »Die halten Menschen hier unten.« Ich schluckte. »Viele … richtig viele.«

Der Gang war zu beiden Seiten von Metallkäfigen gesäumt, aus denen sich mir dürre, kränkliche Hände entgegenstreckten. Die Reihen der Käfige verschwanden in der Dunkelheit – so weit die Lampen meines Anzugs reichten –, und in jeden einzelnen waren Menschen gepfercht.

Wir hatten die Gefangenen gefunden.

Vielleicht war ich von dem Anblick wirklich geschockt, vielleicht war ich auch einfach nur nachlässig geworden. So oder so bemerkte ich die Wärterin erst, als sie das Feuer eröffnete.

Sie war mir zugewandt, entfernte sich aber rückwärts – sie hatte den Arm ausgestreckt und schoss immer wieder. Der vertraute Klang einer halbautomatischen, ballistischen Waffe; schweres Kaliber auf kurze Distanz.

Der Nullschild reagierte nicht, und zwei Geschosse schlugen in meiner Schulter ein. Hochverdichtete panzerbrechende Munition, dem sengenden Schmerz nach zu urteilen. Sofort blitzten Warnungen über mein Visier, die mir rieten, sofort Schutz zu suchen.

Einen Augenblick lang war ich genauso festgefroren wie die Welt um mich herum.

Jetzt doch wieder eine von denen zu sehen, nach all der Zeit … es war fast so verheerend wie die Schmerzen.

Sie war Teil der Spezialeinheiten: ein Schwert des Südchinesischen Sternhaufens. Ihre nachtschwarze Panzerung war gegliedert wie der Chitinpanzer eines aufrechten Insekts. Sie trug keinen Helm; das Gesicht blass von der Kälte, der kahle Schädel von Tätowierungen und den Kerben für erschlagene Feinde entstellt. Sie schoss immer wieder, und ihr Mündungsfeuer erhellte den dämmrigen Gang …

Bevor ich reagieren konnte, hob sie die andere Hand und schlug sie gegen die Wand. Plötzlich wurde der Tunnel in rotes Licht getaucht, begleitet vom Kreischen einer Alarmsirene …

Hinter mir brandete Plasmafeuer auf, und das Schwert fiel stumm zu Boden.

»Kannst dich später bedanken«, sagte Jenkins und trat neben mich. »Deine Reflexe sind auch nicht mehr das, was sie mal waren.«

Damit war der Bann gebrochen, und ich rührte mich wieder. »Ich habe doch gesagt, du sollst oben warten.«

»Und ich habe gewusst, dass du Verstärkung brauchst …«

Jenkins verstummte. Eine Mischung aus Angst und Staunen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Viele der Hände reckten sich jetzt auch nach ihr. Sie waren kaum mehr als Tiere auf Autopilot. Dreckig, dahinsiechend und völlig entkräftet; viele der Gefangenen bestanden quasi nur noch aus wässrigen Augen, eingebettet in Schädel, die mit Mühe und Not von etwas Haut zusammengehalten wurden.

»Wir – wir müssen die hier rausholen«, sagte Jenkins. »Sie brauchen Schutzkleidung, Wasser, Essen …« Sie drehte ihre Anzug-Lautsprecher auf. »Wir sind hier, um euch zu retten, Leute. Alles wird gut. Oben warten Landefähren auf euch. Kommt mit und geht so schnell wie möglich an Bord. Alle, die nicht mehr selber laufen können, geben Bescheid, dann helfen wir.«

Mit lautem Quietschen gingen die Käfigtüren auf. Einige Gefangene ließen schwachen Jubel hören, andere hatten zu weinen angefangen oder saßen einfach da und rüttelten an den Gitterstäben. Kaum auszudenken, wie viel Zeit sie hier unten zugebracht hatten. Die schwersten Fälle zogen sich noch tiefer in die Käfige zurück und schlugen beim Klang des Türsignals die Hände über die Ohren.

Eigentlich hätte es ein triumphaler Augenblick sein sollen, aber es fühlte sich irgendwie falsch an. Die tote Wächterin lag absurd verdreht in einer Ecke. Jenkins’ Plasma hatte drei klaffende Löcher in ihrer Brust hinterlassen. Ihre Augen waren aufgerissen, die Nervenklammern auf dem nackten Schädel deutlich zu sehen. Auf ihren Wangenknochen waren Geburtsort und -zeit in Universalcode tätowiert; darunter Name und Kennung ihrer Klonfabrik und des Tanks, der sie hervorgebracht hatte.

Bevor sie erschossen wurde, hatte die Wächterin nach etwas gegriffen. Ich ging dahin, wo sie gestanden hatte, und fand eine in die Wand eingelassene Schalttafel ohne Beschriftung. Sie war aktiviert, und die Knöpfe glühten in fahlem Rot. Der Zweck dieser Knöpfe war mir nicht ganz klar, aber natürlich gab es mehrere Möglichkeiten. Hier unten waren außer ihr keine Soldaten gewesen – hatte sie versucht, Verstärkung zu rufen? Ich überprüfte das Funkgerät und sah mir die Videostreams der Überwachungsdrohnen an. Sie waren alle an der Oberfläche geblieben, umkreisten den Hangar und hatten keine Feindaktivität verzeichnet. Über uns in der Anlage war alles unverändert.

»Sie hat die Käfige geöffnet …«, flüsterte ich.

Aber wieso? Warum hätte sie überhaupt Alarm auslösen sollen? Die Spezialeinheiten des Direktorats waren hochmoderne, genmanipulierte Supersoldaten; ihr Kopf bestand wahrscheinlich zur Hälfte aus Metall. Darunter ganz sicher auch ein eingebautes Funkgerät, sodass sie direkt per Gedankensteuerung mit ihrer Truppe kommunizieren konnte.

Aber bevor ich weiter darüber grübeln konnte, holte mich die Gegenwart ein. Die Gefangenen strömten aus ihren Zellen, und Jenkins tat ihr Bestes, sie zu ordnen und in Reih und Glied zu bringen. Es waren Männer und Frauen aus allen Teilstreitkräften dabei – die Zugehörigkeit zu Flotte, Marineinfanterie oder Armee gerade noch an den abgewetzten, zerschlissenen Uniformen zu erkennen. Sie bewegten sich langsam und behäbig – eine Horde von Zombies.