Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen - Gisela Rudolf - E-Book

Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen E-Book

Gisela Rudolf

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Beschreibung

Ein Familienroman aus der wilden Schweiz der 50er Jahre, Kinderjahre in einer nicht ganz perfekten Familie: Tolle Autos,Schlager im Radio, hundert Vaterunser, Ovomaltine und Kaugummi, Brätelsonntag und Modenschau auf dem Zeltplatz. Und mittendrin ein Mädchen, das in dieser Zeit des Aufbruchs erwachsen wird. "Kaum habe ich es mir zwischen dem Fensterrahmen mit einem Micky Maus-Heft gemütlich gemacht, hält vor unserem Haus ein roter Sportwagen. Es könnte ein MG sein, Papa gefallen die sehr. Bevor der Mann richtig ausgestiegen ist, sitzt Mama schon an seiner Seite. Ich beobachte, wie sie sich begrüßen. Sie fahren zusammen weg."

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Seitenzahl: 340

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Gisela Rudolf

Das Leben der Eltern ist dasBuch, in dem die Kinder lesen

Roman

weissbooks.w

Impressum

Gisela Rudolf

Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Roman

© Weissbooks GmbH Frankfurt am Main 2010

Alle Rechte vorbehalten

Konzept Design

Gottschalk+Ash Int’l

Umschlaggestaltung

Julia Borgwardt, borgwardt design

unter Verwendung einesMotivs von

© H. Armstrong Roberts / Corbis

Foto Gisela Rudolf

© Jürgen Bauer

Satz und Herstellung ebookPublikations Atelier, Dreieich

isbn: 978-3-86337-053-4

weissbooks.com

Ein Glossar der Helvetismen, schweizerdeutscher wie walliser Begriffe und Sätze finden Sie auf Seite 287 ff.

I

Über die Steintreppe hinunter zum Rhein halte ich mich an Papas Hand. Der Boden dampft.

»Das ist, weil …«

Ich glaube, auch mein Bruder versteht nicht, was Papa erklärt. »Kannst du das nicht weniger kompliziert erklären?«

»Das Leben ist kompliziert, pass jetzt lieber auf die Stufen auf, nicht dass du wieder hinfällst.«

Aus den Sträuchern tropft es uns in den Nacken. Am Wasser sind die Steinplatten sauber und nass, als hätte Gertrud sie geschrubbt. Anton hat wieder Papierschiffe gefaltet. Heute haben wir zwei mit. Das größere gehört ihm, dafür hat meines einen Kapitän und viele Matrosen. Aber das sage ich ihm nicht.

»Papa, ich muss Pipi machen!«

»Geh hinauf zu Mama!«

»Nein, ich will hierbleiben. Ich will sehen, ob es stimmt.«

Es stimmt. Anton drückt wirklich den Wurm, den wir aus der Erde gegraben haben, an den Haken von Papas Fischrute … »Hört auf, der Köter lebt ja noch, schaut, wie er sich wehrt!« »Das ist kein Köter, das ist ein Köder.«

Papa wirft die Angel aus. Anton lehnt sich über den Baumstamm am Ufer und setzt sein Schiff sorgfältig aufs Wasser. Ich werfe mein Boot zu Boden, zertrete es. Antons Dampfer verfängt sich in den herabhängenden Blättern, füllt sich mit Wasser und wird unter einen Ast geschwemmt. Eine Frau, die ihr Haar mit einem getupften Kopftuch hochgebunden hat, schwimmt so nah am Ufer, dass Papa die Angel einziehen muss.

»Grad jezz heti einä agibissu!« Er steht mit seinen hohen Stiefeln bis zu den Knöcheln in einer Wasserlache. Dort wäre Antons Schiff nicht untergegangen. Mit einem neuen Wurm am Haken fliegt die Leine wieder weit in den Fluss hinaus. Wir sollen in der Erde nach weiteren Würmern graben.

»Ich muss Pipi machen!«

»Endlich«, ruft Papa, »der wiegt bestimmt zwei Pfund!«

Der Bruder will zuschauen, wie er den Fisch tötet, ich laufe in die Wohnung hinauf. Mama steht im Korridor und telefoniert. Die Sonnenstrahlen aus der Küche reichen gerade bis zum schwarzen Apparat, der an der Wand vor der Toilette hängt. Nach dem Pipi knöpft mir Mama die Träger zu, fast fällt ihr dabei der Hörer von der Schulter. Lachend macht sie mir Handzeichen, ich solle Zigaretten und einen Aschenbecher holen. Sie schwatzt mit einer Tanta.

»Merci, Schazzji.«

Ich gehe in die Küche und schließe die Tür, damit Mama im Finstern reden muss. Durch das abgeschrägte Fenster ist bloß der Himmel zu sehen, Wolken, nicht mehr viel Blau. Hoffentlich beginnt es nicht wieder zu blitzen und zu donnern. Ich klettere auf den Abwaschtrog und entdecke Papas Rücken. Auf dem Rhein sind ein paar Ruderer in einem roten Boot – sie verschwinden hinter den Bäumen.

»Mama, wie lange telefonierst du noch!«

Sie hält den Zeigefinger an ihre Lippen.

Wenn ich im Treppenhaus mit beiden Füßen gleichzeitig von Tritt zu Tritt hüpfe, knarrt das Holz so laut, dass es Frau Brogli hören könnte. Sie will keine lauten Kinder im Haus. Seit ihr Papa ein Gebiss gemacht hat, sieht sie nicht mehr wie eine Hexe aus. Ich habe ihr das gesagt und auch, dass Mama gesagt hat, sie könne jetzt ruhig mal lachen. Wegen der handbemalten Vasen und der Porzellanfiguren schließt sie die Wohnung selbst tagsüber ab. Wenn ich ein Dieb wäre, würde ich ihr am liebsten das kleine Bügeleisen stehlen.

Obwohl ich zweimal lange läute, öffnet Frau Brogli nicht.

Papa setzt sich den Filzhut mit der Feder auf, hängt das Gewehr um und blinzelt mir zu. Er wird im Wald nur so tun, als ob er Tiere selber schießen würde.

Vom Fenster aus beobachten wir, wie er in ein dunkelblaues Auto steigt.

»Das ist ein Peugeot«, sagt Anton.

Wenn Papa am Donnerstag nicht fischt oder mit Mama weggeht, fährt er mit diesem Mann zur Jagd. Es ist ein Patient von ihm, so groß und dick ist der, dass ihm das Steuer den Bauch einklemmt.

»Gell, Mama, der nimmt den Stumpen nicht einmal beim Reden aus dem Mund.«

»Na ja, ein Garagist …«

Wir spazieren mit Mama zur Familie Eisenmann. Neben dem Dorfladen bleibt Anton stehen, laut liest er: »Sparkasse Stein«.

»Was macht man dort?«

»Sparen.«

»Aber wir haben unser Sparkässeli doch daheim!«

»Hier sparen die Erwachsenen.«

»Wofür?«

»Für die Dinge, die sie haben wollen.«

»Was wollen …«

Mein Bruder unterbricht mich und zeigt auf das Auto vor dem Doktorhaus. »Sobald Papa dem Jäger die schönen Zähne gemacht hat, bekommen auch wir ein solches Auto!«

Er will wissen, weshalb unser Dorf Stein heißt.

Das habe sie sich noch nie gefragt, antwortet Mama. »Weißt du, wir bleiben sowieso nicht lange hier.«

»Weil es nicht das Wallis ist«, rate ich.

»Ja, auch deshalb.«

Frau Eisenmann hat zwei Söhne, die schon groß sind. Ihr Mann ist so dünn, dass ihm die Hosen ohne Hosenträger herunterrutschen würden. Weil er Rosen züchtet, redet er am liebsten vom Garten. Rosen züchten sonst nur die Pensionierten, sagt Mama. Herr Eisenmann ist aber noch nicht so alt, wie er aussieht, er ist Direktor in einer Fabrik. An seinem Türmchenhaus klettert der Efeu bis ins oberste Fenster. Mama nennt es Spinnenparadies. Sie und ich würden nie dort schlafen, wir müssen bloß an eine Spinne denken, und schon bekommen wir Hühnerhaut. Manchmal kann Mama sie zertreten, bevor Papa sie rettet. Auch Anton hat vor den grausigen Viechern Angst. Weil meine Angst aber größer ist, kann er so tun, als hätte er keine.

Mir gefällt Jean besser als sein jüngerer Bruder, der immer so wichtig tut. Jeans Schlitzaugen lachen ständig, besonders jetzt, wenn er von seinem Doktorvater erzählt. Ich glaube ihm das natürlich nicht, ich weiß genau, dass alle Kinder nur einen Papa haben. Jean gibt Mama Englischstunden, sie setzen sich dazu in den Erker. Während Frau Eisenmann in der Küche zu tun hat, sollen wir im Garten spielen. »Passt beim Schaukeln auf, das Brett ist morsch!«

Anton schaukelt viel höher, als er dürfte. »Schau«, ruft er stolz … Und fällt kopfvoran ins Gras. Heulend rennt er ins Haus.

Mama muss manchmal nach Basel, um unter die Leute zu kommen. Heute geht Papa auch mit, deshalb hat sie das Abendkleid angezogen. Sie wollen ins Stadttheater zu den Räubern, aber es sind keine Räuber für Kinder. Märchen spielen sie erst vor Weihnachten. Wenn wir lieb sind, dürfen wir Schneewittchen sehen. Ich freue mich auf Basel, ich bin dort zur Welt gekommen. Anton auch. Gottlob erst, nachdem das mit den Bomben zu Ende war. Wir sollen dankbar sein, dass wir keine Kriegskinder sind und liebe Eltern haben und alles, was wir brauchen. Was ich sicher nicht brauche, ist ein Bügeleisen, wiederholt Mama, nachdem sie sich die Lippen geschminkt hat.

»Seid lieb und macht, was Gertrud sagt!«

Anton und ich winken dem Auto nach.

Obwohl ich Frau Brogli ein bisschen fürchte, wenn wir nur mit dem Dienstmädchen zuhause sind, läute ich an ihrer Tür.

Dreimal muss ich drücken, bis sie öffnet.

»Grüezi, Frau Brogli, soll ich Ihnen beim Glätten helfen?«

»Ich habe nichts zum Bügeln.«

»Darf ich trotzdem ein bisschen zu Ihnen kommen? Sie haben ein so schönes Bügeleisen …«

»Nein, meine Liebe, das ist nichts für kleine Kinder!«

»Aber es hat ja gar keinen Strom!«

»Deshalb ist es eben nichts für Kinder, es ist antik!«

»Was ist antik?«

»Antik heißt, dass es nichts für wilde Mädchen ist, geh, spiel du mit deinem Bruder!«

»Aber ich mache es ganz sicher nicht kaputt, ich verspreche es!«

»Du sollst jetzt hinaufgehen, habe ich gesagt! Wann müsst ihr eigentlich ins Bett?!«

Während Gertrud kocht, spielt Anton mit mir Tour de Suisse. Sein Klötzchen ist rot und heißt Kübler, meines ist blau und heißt Koblet. Aber ich verliere dauernd. Kaum bin ich ganz nahe, kurvt Anton einfach um die Taburettbeine davon … Gertrud mahnt ihn, mich auch mal gewinnen zu lassen.

Vor dem Einschlafen erzählt sie uns Die Goldkinder, ich darf ihre dicken Zöpfe öffnen und das Haar glatt kämmen.

»Was wäre gewesen, wenn die Hexe den Prinzen nicht mehr lebendig gemacht hätte?«

»Dann wäre er noch heute ein Stein«, sagt Gertrud und löscht das Licht. Sie hat den Eltern versprochen, bis zu deren Rückkehr in der Wohnung zu bleiben.

»Vielleicht gibt es bei uns auch Hexen«, flüstere ich ins Dunkel.

Anton meint, die gebe es nur in den Märchen. Doch so ganz sicher tönt er nicht.

»Wenn es Hexen gäbe, könnten sie dann auch gewöhnliche Geschwister verzaubern?«

Er glaubt, ja.

»Unser Dorf«, erkläre ich ihm, »heißt Stein, weil es hier ein verhextes Kind gibt!«

Nun macht Anton Licht und holt Gertrud aus der Küche.

Beim Frühstück sagt Mama, Frau Brogli habe sich beschwert, ich sei vorlaut und frech. Ich darf nie mehr bei Frau Brogli läuten. Mama ist aber überhaupt nicht böse auf mich. Anton hingegen lässt ihr Gesicht traurig werden. Trotz des heftigen Regens will er nicht, dass sie ihn zum Schulhaus bringt. Ein Erstklässler braucht keine Begleitung mehr! Er schaut nicht einmal zum Fenster herauf, als er auf der Straße ist.

»Jez lots emal das stinkwichtig Botschji.«

Wir setzen uns mit der Illustrierten, die wir von Frau Eisenmann haben, auf die Couch und lösen das große Kreuzworträtsel. Ich kuschle mich an Mama.

»Welches Tier macht muh?«

»Eine Kuh!«

»Der Mond scheint …«

»… am Himmel!«

»Nein, wann scheint der Mond?«

»In der Nacht!«

Mama lächelt. »Das alles und auch die anderen leichten Sachen hat Elsi Eisenmann schon ausgefüllt. Uns überlässt sie nur, was sie selbst nicht weiß.« Sie blättert weiter.

»Schau mal, Mama, diese Frau sieht aus wie du!«

»Das ist die Lis Assia, in Wirklichkeit heisst sie nur Rosa Schärer. Aber das schreibt die Illustrierte natürlich nicht.«

Die Flasche Wein mit dem komischen Etikett hat Papa für ein besonderes Ereignis aufbewahrt, und heute ist es so weit! Anton und ich prosten uns mit Sirup zu. Wir müssen erst ins Bett, wenn es dunkel ist, und ich darf sogar auf Papas Schoß sitzen. Wir feiern nicht nur ein neues Geschwister, sondern auch ein neues Auto: »Es sieht aus wie ein Buckelwal«, sagt Papa gut gelaunt, »damit reisen wir morgen nach Naters.«

Auf der Fahrt ins Wallis zählen wir zuerst alle Bäume auf, die uns in den Sinn kommen, danach die Tiere. Mama hilft mir ein bisschen.

»Bergadler! Feldlerche! Warzenschwein! Turmfalke!«

»Goldfisch …«

»Ihr habt uns schon lange einen Goldfisch versprochen, bittebitte!«

»Lächerlich!«

Papa findet, Fische gehören ins offene Gewässer.

Beim Grimsel-Stausee halten wir an. Wir steigen aus und stellen uns vor das Auto, damit Papa ein Foto machen kann. Das Picknick gibt es erst im Gomserwald. Mama hat Brot, Aufschnitt, Käse und Cornichons mit, der Schoggicake ist ziemlich zerbröselt. Anton mit seinen neuen Knickerbockers hat’s gut, ihn kratzt die Decke nicht, »nur mich, immer nur mich!«

»So setz dich halt ins Gras!«

»Nein, dort hat es Viecher.«

Aus der Thermosflasche ist Tee über Mamas Wolljacke ausgelaufen, ein Ärmel hat bräunliche Flecken, »diese Saukanne!« Wir können sie zum Spielen haben. Am Bach füllen wir sie mit Wasser, Anton begießt damit den Buckelwal.

»Anton! Bist du verrückt geworden!? Hör sofort damit auf!« Papas laute Stimme schreckt Mama auf. »Es sind doch Kinder«, sagt sie. »Versuch, ein Nickerchen zu machen!«

Durchs Goms zählen wir die Kirchtürme. Bei jedem Turm strecke ich einen Finger auf, ich lerne jetzt zählen: Wenn alle oben sind, sind es zehn. Papa zeigt auf ein Dörfchen. »Dort ist Schiner geboren, Matthäus Schiner.«

Kurz vor Brig muss Mama erbrechen.

»Kannst du es nicht wenigstens noch fünf Minuten zurückhalten? Da vorne ist schon Naters, ich kann nicht bremsen, einer ist direkt hinter mir!«

Mama presst die Hand an den Mund. Ihre Schultern heben sich, sie gluckst …

»Papa, bitte, halt an! Mama …«

Nach einem Schwenk stoppt das Auto abrupt. Konrad und ich werden an die Rücklehne der Vordersitze geworfen. Mama schreit.

»Los, geh schon raus!«

»Jetzt muss ich nicht mehr …«

Mama steigt trotzdem aus. Sie setzt sich am Straßenrand ins Gras, zieht die Knie an, versteckt den Kopf in die verschränkten Arme. Als auch Papa aussteigt, rammt er mit der Tür beinahe einen Töfffahrer. Der Töff schlenkert auf die andere Seite, ist jetzt ganz schräg … Und fährt geradeaus davon.

»Hör doch zu heulen auf«, sagt mein Bruder zu mir. Doch er sagt es so, dass ich erst recht weinen muss. Papa kauert neben Mama. Er hält den Arm um sie.

Onkel Arthur macht Papas Auto kaputt

Großpapa hat keine Frau mehr, deshalb sind meine beiden Tanten bei ihm. Ich bin blond wie die jüngere Tanta. »Äs schlat nach ischer Famili«, sagt sie zu Papa, und Mama sagt, wenn sie bloß nicht deine großen Füße bekommt!« Ich schleiche in Tanta Bethlis Zimmer und schlüpfe in ihre langen Schuhe, darin schlurfe ich vor den Spiegel. Bei Großpapa wohnt auch Onkel Arthur, Papas ältester Bruder. Er ist nicht nur ein Arzt, er ist auch ein Asket. Der jüngere Bruder, Onkel Heinrich, arbeitet in der Üsserschwiz. Eine junge schöne Natischeri hat ihm schon zwei selbst gestrickte Pullover nach St. Gallen geschickt. Sie liebt ihn mehr als alles andere auf der Welt und ginge für ihn durch die Hölle.

Für Mama und Papa würde ich auch durch die Hölle gehen.

»Und du«, frage ich meinen Bruder. Ohne von seinem Micky Maus-Heft aufzuschauen, murmelt er etwas Unverständliches.

»Hoffentlich ist das neue Bébé kein Bub«, sage ich zu ihm.

Onkel Arthur ist schlanker als Papa, seine Brille hat dicke Gläser mit einem breiten braunen Rand. Kaum ist er zuhause, tauscht er den Kittel mit seinem Wollgilet aus. Großpapa trägt unter seiner gestreiften Weste weiße Hemden mit Krawatte. Am Knopfloch seines Gilets ist eine goldene Kette, daran ist eine Uhr befestigt. Wenn sie Großpapa aus der kleinen Seitentasche nimmt und unter den runden Deckel schaut, ist es Zeit zum Essen. Bei Tisch frage ich Onkel Arthur, ob er lieber der Doktor oder der Asket ist. Großpapa setzt sein Besteck ab, ein Asket, erklärt er, sei einer, der Gott vor Augen habe.

»Wirklich? Hast du Gott auch vor Augen, Großpapa?«

Mamas Blick rügt mich.

»Sind Sie bedient?« fragen meine Tanten ihren Papa.

»Du, Großpapa, was ist eigentlich ein Asket?«

Ich soll endlich still sein und fertig essen.

»Nicht wahr, Großpapa«, sagt Anton, »unser Papst heißt Pius der Zwölfte …«

»Und weißt du auch, wie der Bischof von Sitten heißt?«

»Matthäus Schiner.«

Antons Antwort ist falsch. Trotzdem lächelt Großpapa. »Der war sogar Kardinal, aber das ist ein paar Jahrhunderte her.« Nach dem Kaffee steht Großpapa auf, um sich in seinen Polstersessel neben der Leselampe zu setzen. Erst jetzt darf Alpha ins Zimmer kommen. Sobald Großpapa sie krault, legt Alpha sich mit ihrer langen Schnauze und dem buschigen Schwanz zu Boden und macht Platz. Weil Hunde jedes Jahr sieben Jahre älter werden, ist Alpha uralt. Wenn sie stirbt, wird Tanta Bethli Großpapa sofort eine neue Alpha schenken. »Bethli ist hundeverrückt«, sagt Mama.

Meine Tanten und Mama bleiben nach dem Essen in der Küche sitzen, obwohl das Geschirr gewaschen, abgetrocknet und versorgt ist. Ich bleibe auch lieber hier, bei den Mannen ist es langweilig.

»Ist der Herr Escher ein Bischof?«

»Nein«, sagt Mama, »aber du solltest dir wirklich abgewöhnen, immer dreinzureden, hör zu, was Tanta Helen erzählt. Die Tochter von Bundesrat Escher ist ihre Freundin …«

»Ich muss dringend aufs Cabinet!« Ungeduldig ziehe ich an Mamas Ärmel.

»Schpil nit z Bébé, dü bisch doch en grossi Meitja!«

Obwohl ich die Küchentür offen lasse, reicht das Licht im Korridor nicht bis zur hohen Uhr. Im Halbdunkel steht sie da wie ein Mann mit bösen, blitzenden Augen. Die letzten Schritte laufe ich. Das Pipi ist schon in der Hose …

Onkel Arthur macht mit den Tanten und Mama in Papas Wagen eine Probefahrt. Als sie endlich zurückkommen, geht Papa ihnen entgegen. »Nicht wahr, es ist ein tolles Auto!«

»Ein tolles Auto gewesen«, antwortet der Onkel. Er hat bei der Bahnhofsunterführung die Kurve nicht erwischt und ist in die Mauer gefahren. Papa regt sich furchtbar auf, Mama schickt meinen Bruder und mich sofort ins Bett. Später bringt sie mir die Hustentropfen, die sie in Onkel Arthurs Praxis geholt haben, »noch vor dem Unfall«, sagt sie, und auch: »Alles ist halb so schlimm, wir lachen schon wieder!«

Großpapas Schlafzimmer ist ein Tabu. Einzig meine Tanten betreten es, um am Morgen sein Bett zu machen und es am Abend wieder aufzudecken. Schläft Großpapa wirklich in einem Nachthemd? Kaum haben die Erwachsenen zu jassen begonnen, schleiche ich mich ins Zimmer. Das Hemd ist weiß, hat einen blau geränderten Kragen, lange Ärmel – und ist riesig, darin hätte der dicke Garagist aus Stein Platz! Im Schrank sind dunkle Anzüge, die alle gleich aussehen, an einer Schnur hängen ein paar Krawatten, aber Papa hat viel schönere. Unter einer Decke auf dem Stuhl liegt eine leere Wärmflasche. Ich fülle sie am Lavabo mit warmem Wasser und lege sie Großpapa ins Bett. Irgendwo auf der Welt gibt es eine Marienstatue, aus der echtes Blut tropft. Deshalb graust es mir vor dem Bild neben dem Holzkreuz. Diese Wunde vom Heiland … Ich traue mich nicht, sie mit dem Finger zu berühren. Auf Großpapas Nachttischchen ist meine Großmama. Das gleiche Foto, aber viel größer und schwarz gerahmt, entdecke ich im Salon. Hier herein kommt niemand mehr, seit sie gestorben ist. Das ist lange her. Tanta Bethli ist noch ein Mädchen gewesen. Großmama sitzt auf einem Stuhl, ihr Kleid ist bodenlang, in den Händen hält sie einen Stickrahmen. Auf dem zweiten Bild, das zwischen den Fenstern hängt, spielt Großmama Klavier. Sie ist schön und talentiert gewesen, »eine wunderbare Frau, eine Künstlerin!« Großpapa hat sie noch immer so fest gern, dass wir nicht von ihr sprechen sollen. Wahrscheinlich redet er jeden Tag in der Frühmesse mit ihr und braucht dann eines seiner Taschentücher mit den schwarzen Rändern. »Ob du im Himmel deine Notenblätter vermisst? Schau, liebe Großmama, ich lege sie für dich vom Ständer hier auf den Sims und öffne das Fenster einen Spalt breit. Gell, Papa hat früher mit dir Geige gespielt – und diese Mandoline, gehört sie einer Tanta? Weißt du, weil du tot bist, macht in dieser traurigen Wohnung niemand mehr Musik. Sobald ich zur Schule gehe, lerne ich Blockflöte, dann werde ich dir etwas vorspielen.« In den Stuhl, auf dem Großmama fotografiert worden ist, setze ich mich lieber nicht. Davor liegt ein Fell mit einem Tierkopf, auf dem Foto sieht man es nicht. Würde man es sehen, würde Tanta Bethli darauf herumkrabbeln. Und Onkel Arthur, Papa, Onkel Heinrich und Tanta Helen sässen im Halbkreis auf dem Salonteppich, sie sind alle wieder so klein wie ich und hören Großmama zu. Sie berichtet ihnen vom Heiland: »Bald gehe ich zu ihm in den Himmel und werde von oben herab für euch beten, dass ihr gute Asketen werdet.« Da die Kinder zu weinen beginnen, erzähle ich ihnen das Schneewittchen und wie es vom Tod wieder aufwacht. Das Klavier an der Wand zum Fenster glänzt wie Papas Tanzschuhe. Ich würde gerne den Deckel öffnen und ein bisschen auf den Tasten herumdrücken. Aber Großpapa kann plötzlich in einem Türrahmen stehen, selbst dann, wenn ich denke, er arbeite in seinem Büro. Anton behauptet, eine Wohnung sei nie traurig. »Traurig«, sagt er, »sind nur Menschen, zum Beispiel Mama, wenn du nicht lieb bist.«

Und heute schimpft sie mit mir noch vor dem Frühstück.

»Aber ich wollte doch lieb sein, deshalb habe ich sie ja gefüllt, damit Großpapa keine kalten Füße haben muss!«

»Was hast du überhaupt in seinem Schlafzimmer zu suchen?! Alles ist nass, bis auf die zweite Matratze hinunter ist alles nass!«

Bei Tisch diskutieren die Großen glücklicherweise wieder über Helsinki und irgend so Medaillen und nicht mehr über die Bettflasche. Auch ist Großpapa Gott sei Dank schon im Büro. Er redet dort mit Leuten, die ihn brauchen, weil sie etwas getan haben, das sie nicht hätten tun sollen, oder etwas nicht getan haben, das sie hätten tun sollen. Jedenfalls brauchen sie Großpapas Hilfe. Und weil ihnen der Adler über dem Pult Angst macht, sagen sie die Wahrheit. Lügt einer trotzdem, beginnt der Adler mit seinen Flügeln zu flattern. Den Hakenschnabel hat er zum Zubeißen ein wenig offen.

Zwischen den Besuchen der Klienten trinkt Großpapa gerne eine Tasse Tee, heute mit Papa. Sie müssen etwas besprechen, ich soll das Zimmer verlassen. Am Ende des Korridors kann ich direkt in Großpapas Büro hineingehen, die Tür ist nur angelehnt, die zweite Tür zum Treppenhaus hat er abgeschlossen. Ich verstecke mich hinter einem der dicken Vorhänge beim mittleren Fenster.

Großpapa kommt herein, setzt sich ans Pult, nimmt ein Mäppchen heraus, liest. Ich stehe ewig mucksmäuschenstill, bis es klopft und Großpapa öffnet. Er gibt einem dünnen Mann ohne Krawatte die Hand. Dieser nickt mit dem Kopf wie die Negerlein im Pfarrsaal, wenn wir eine Münze in ihren Schlitz werfen. Der Mann setzt sich vor dem Pult auf jenen Stuhl, der näher beim Ausgang ist. Von meinem Versteck aus sehe ich nur seinen Hinterkopf. Er ist ein Dieb oder sonst ein Strolch, auf seiner Glatze hat er eine Narbe. Die Augen des Adlers spähen böse zu ihm hinab. Noch bevor es interessant wird, muss ich husten.

Wenn ich je wieder in Großpapas Büro gehe, zieht Papa den Gürtel aus seiner Hose und gibt mir aufs Blutte! Doch das glaube ich ihm nicht. Und morgen fahren wir sowieso weiter, um in Visp auch Großmama Cécile zu besuchen. Ich habe sie lieber als Großpapa.

Männer heiraten keine Lehrerinnen

Ich habe Großmama schon gern, aber nicht so, dass ich bei ihr bleiben will. Das muss ich aber. Für meinen Keuchhusten ist die Luft nirgends gesünder als im Wallis.

»Ja«, sagt Mama, »dü bisch mis Schazzji, aber sei jetzt lieb und hör zu flennen auf.«

Bevor sie abfahren, schlage ich mit dem Schuh gegen das Auto. Großmama zieht mich weg.

Wenigstens gibt es hier noch Tanta Amanda und Tanta Isabella. Heute haben wir zusammen Joghurt gemacht. Es ist weniger gut als das gekaufte, dünn und ohne Goût. Dafür kostet es weniger. Großmama muss sparen, weil Papa Hans gestorben ist. Früher haben sie das riesige Haus vom Keller bis zum Dach bewohnt, jetzt sind die unteren Etagen vermietet.

»Wir brauchen das Geld, wir sind nicht mehr reich!« Großmama erzählt das so, als ob sie stolz darauf wäre, als Arme wie eine Reiche zu tun.

»Weshalb nennst du ihn Papa Hans, er ist doch dein Mann gewesen?«

»Das auch, aber vor allem der Vater meiner sieben Kinder.«

Der größte und hübscheste Oberwalliser ist er gewesen und als Advokat und Politiker weitherum bekannt.

»Bist du denn auch einmal hübsch gewesen, Großmama?«

»Und ob! Ich habe Zöpfe bis zur Taille gehabt und dicke, kräftige Waden!« Großmama hebt den einen Arm in die Höhe und zeigt, bis wohin sie Großpapa gereicht hat, nur bis zur Achselhöhle. »Ja, ja, ganz Visp hat uns beiden nachgeschaut!« Sie nimmt ein Totenbildchen von ihm aus der Schublade und schenkt es mir. Ich hätte lieber ein farbiges Heiligenbildchen gehabt als dieses strenge fremde Gesicht mit dem schwarzen Schnäuzchen.

Aus Papa Hans’ Bett beobachte ich, wie sich Großmama auszieht. Sie braucht dafür eine Ewigkeit. Unter den schwarzen Kleidern trägt sie Sachen, die Mama nicht anhat, und die Buttitschiffra ist auch nicht steif. Hängen die Brüste deshalb so herab? Ihre Haut ist weiß wie Käse. Die Kleider legt sie sorgfältig über die Lehne des Betstuhls, das schwarze Halssamtband vor Papa Hans’ Bild auf dem Nachttisch. Dass Großmama einmal ein hübsches Mädchen war, kann ich mir nicht vorstellen.

»Cheer di um! Nicht einmal Papa Hans hat mich je nackt gesehen.« Großmama streift hastig ihr hellblaues Nachthemd über. Obwohl ich mich vor dem Zubettgehen mit Weihwasser bekreuzigt habe, ist der Teufel noch immer im Schlafzimmer. Wenn ich nämlich nicht sofort aufhöre, mich im großen Spiegel des Wandschranks zu betrachten, »kommt der Teufel heraus und nimmt dich mit in die Hölle, dü hoffärtigs Jungi!«

Ich lege mich sofort hin und beginne, leise zu pfeifen.

»Mädchen, die pfeifen, und Hähnen, die krähn, sollte man den Hals umdrehn«, sagt Großmama noch ärgerlicher.

Nach dem Lichtlöschen frage ich, ob sie mir ein bisschen von früher erzählt.

»Morgen. Jetzt beten wir!«

»Lieber Gott, mach, dass ich bald heim kann!« Aber der Heiland sagt, ich sei undankbar, andere Kinder wären froh, sie hätten es so schön wie ich.

Papa Hans ist an geplatztem Blinddarm gestorben, weil es damals noch kein Penicillin gab. »Mit sieben Kindern, und so viele Schulden«, seufzt Großmama, als wäre gerade wieder damals. Was sie von Papa Hans’ »Bürgschaft für einen Nichtsnutz« erzählt, verstehe ich nicht. Mich interessiert die Geschichte von Paris sowieso weit mehr. Bloß um dort zu frühstücken, ist er mit ein paar Freunden nach einem Fest in den Zug gestiegen …

»Und dann?«

Großmama ist schon wieder im Spital: »Vierzig Tage und vierzig Nächte habe ich an seinem Bett gewacht, zur Beerdigung konnte ich schon gar nicht mehr gehen …«

Großmamas Lippen werden zu einem Strich, auf der Seite hat sie tiefe Falten, die graben sich bis zum Kinn. Gottlob wird ihr Gesicht jetzt wieder heiterer. »Solange meine wunderbare Mama noch gelebt hat, ja, da haben wir es gut gehabt.«

Aber Geld sei sowieso weniger wichtig als der innere Reichtum. Zum inneren Reichtum von Großmama gehört ihre Herkunft. In ihren Adern fließt blaues Blut. Das sieht man an ihrem kleinen Finger, den sie abspreizt, wenn sie eine Tasse oder ein Glas in den Händen hält. Das Gegenteil von Adel ist Geldadel. Mit solchen Leuten will Großmama nichts zu tun haben. »Die Nouveaux-riches haben kein Savoir-vivre!«

»Was heißt das?«

»Das wirst du verstehen, wenn du größer bist.«

»Warum heiratest du nicht meinen Großpapa? Der ist auch allein.«

Kein Mensch auf der Welt kann Papa Hans’ Platz einnehmen, sagt sie, »Treue geht weit übers Grab hinaus«, das solle ich mir merken.

Tanta Isabella und Tanta Amanda arbeiten in der Lonza. Zum Mittagessen kommen sie heim, erzählen, was sie gemacht haben, dann gehen sie wieder. Ich möchte einmal kein Bürofräulein werden. Lieber eine Lehrerin. Aber die Tanten sagen, bloß das nicht!

»Männer heiraten keine Lehrerinnen. Die meinen, sie wüssten alles und kommandieren nur herum. Du willst doch keine alte Jungfer werden wie die Anna?!«

Tanta Anna ist die einzige Lehrerin in unserer Verwandtschaft, sie ist eine Schwester von Großpapa Hans. Wir fahren mit dem Zug nach Raron, um sie zu besuchen. Großmama kommt nicht mit.

Tanta Anna drückt mich an ihre riesigen weichen Brüste, am Kinn hat sie eine wüste Warze. Ihre Schwestern sind steinalt und ganz knochig. Sie tragen lange dunkle Kleider, die weißen Kopftücher haben sie unter dem Kinn zusammengeknüpft. Auch sie sind ledig, Lehrerinnen aber sind sie nicht. Ich muss sie küssen, ich würde lieber nicht, sie haben Haare im Gesicht. Die Wirtschaft ist an eine hohe Mauer gebaut, der Eingang ist etwas unheimlich und führt direkt in eine niedrige Küche. Sie hat kein Fenster, nur zwei Türen. Es riecht seltsam.

In der Wirtshausstube ist rundum alles aus Holz. Auf dem Klavier in der Ecke sind Gläser, Aschenbecher und Bierdeckel. Nachdem Tanta Anna Platten voll Fleisch und Käse hereingebracht hat, setzt sie sich zu uns an den Tisch. Die dünnen Frauen sind weg. »Los, kleine Mamsell, halt deinen Teller hin!« Tanta Amanda erzählt, wie ihre Schwester hier früher für die Herren vom Militär Klavier gespielt und dazu gesungen hat. »So hat deine Tanta Lisette den Onkel Lorenz kennengelernt …«

»Jaja«, Tanta Anna schnalzt mit der Zunge, »einer mit Doktertitel und erscht no en Oberscht – ganz, wie vaner Müeter gwinscht!«

Tanta Anna wischt sich mit dem Handrücken den Mund sauber. Wenn sie lacht, fehlt ihr hinten ein Zahn. Meine beiden hübschen jungen Tanten sind sehr nett zu ihr, damit sie nicht merkt, wie sie über Lehrerinnen denken.

»Heschs gääru?«

»Oh ja, Tanta Anna. Doch ich möchte lieber nicht mehr.«

»Äch was, dü müesch ässu, suscht wirsch nit groß und dick, z Walliserfleisch isch z beschta fer z Blüet.«

Sie nimmt das Brot an ihre Brüste und beginnt zu schneiden … Vergeblich blicke ich zu Tanta Isabella und Tanta Amanda. Meine Tanten schlagen vor, mir den Burghügel zu zeigen. Dort suchen sie Rilkes Grab. Ich frage, was auf dem Grabstein steht. »So Dichterzeug mit Rosen …«

»Ich weiß, wer Rilke ist, er heißt Rainer Maria«, verkünde ich meinen Tanten. Weil sie nicht zuhören, sage ich noch: »Papa kann viele Rilkegedichte.« Aber sie bleiben in ihr Gespräch vertieft.

»Und«, fragt Großmama beim Nachtessen, »hat sie euch wieder gegen mich aufgestachelt?« Großmamas Lippen werden schmal. Und noch schmaler. Die Tanten wollen ins Kino. Sie müssen ihr den Titel sagen.

»Die missbrauchten Liebesbriefe.«

»So beeilt euch wenigstens, sonst verpasst ihr noch die Wochenschau!«

Im Bett erzählt mir Großmama aus der Zeit, als die Engländer in die Hotels ihrer Eltern kamen. Sie brachten bis zum Kriegsausbruch viel, viel Geld nach Saas-Fee, ließen sich in der Sänfte herumtragen und leisteten sich mehr, als sie brauchten. »Auch meine Großmama aus Naters haben sie in einer Sänfte auf die Belalp getragen.«

»Ja, ja, die Cécile, Gott hab sie selig.«

»Hat sie gleich geheißen wie du?«

»Ja, und ihr Mann und dein Großpapa Hans sind politische Feinde gewesen. Er ist …«

»Bitte, Großmama, erzähl mir noch ein bisschen mehr von eurem Hotel.«

»Also«, sagt sie, »an Geld hat es nicht gemangelt.« Brauchte eine von Großmamas Schwestern Nachschub, leerte sie abends die Kasse in eine Serviette, band sie zusammen – »et voilà.«

»Ist das die Schwester gewesen, die verrückt ist?«

Großmama blickt zu mir herüber, als hätte ich ihre Hochzeitsvase zerschlagen. »Wer hat dir so etwas gesagt? Zuck nicht bloß mit den Schultern! Wer erzählt so etwas?«

»Ist es denn nicht wahr, dass sie mal im Irrenhaus gewesen ist?«

»Es geht nicht darum, ob es wahr ist oder nicht, es ist …«

»Ist es ein Tabu?«

»Was weißt du schon, was ein Tabu ist!«

»Das ist etwas, in das man nicht hineingehen darf. Großpapas Salon ist ein Tabu und sein Schlafzimmer und die Dinge, die die Erwachsenen im Kino sehen und nachts im Bett machen …«

Großmama löscht das Licht. Ich höre nur noch ihren Atem.

»Du, was machen die Erwachsenen denn eigentlich im Bett?« »Ich bin am beten, und du solltest jetzt auch beten, es ist spät.« Als Großmama nach dem Frühstück zum Pösteler hinuntergeht, laufe ich ins Schlafzimmer, ziehe unter der Matratze das Totenbildchen hervor und werfe es in die Toilette. Doch es geht auch beim zweiten Spülen nicht hinunter – schon höre ich Großmama in die Wohnung kommen.

»Hallo, wo bist du?«

»Auf dem Cabinet, ich habe Durchfall.«

»So lass mich mal rein, ich helfe dir.«

»Nein, nein, ich bin sofort fertig!« Blitzschnell nehme ich Papa Hans aus dem Wasser und stopfe ihn in meine Unterhose.

Großmama gießt auf dem Balkon ihre Geranien.

»Weshalb hast du all diese Eierschalen in deiner Kanne? Mama wirft die in den Kehricht.«

»Bist du sicher? Eierschalen geben Minerale an das Wasser ab, die Blumen brauchen das.«

Sie blinzelt in die Sonne. »Mir scheint, das Grab hätte auch einen Spritzer nötig.«

Großpapa liegt in einem Familiengrab mit Großmamas Eltern und ihrem Onkel.

»Auch ich werde mal hier begraben«, sagt sie.

»Haben denn da drin so viele Platz?«

»Weißt du, wir sind aus Staub und werden wieder zu Staub. Erst beim Jüngsten Gericht erhalten wir unsere Körper für das ewige Leben zurück, dann … Oh sieh, da kommt meine liebe Basi Bärtha!«

Ich muss die gekrümmte alte Frau gottlob nicht küssen. Sobald sie in ein Gespräch vertieft sind, kauere ich mich hinter den Grabstein, klaube das Totenbildchen heraus und drücke es fest in die Erde.

Nachdem wir vom Friedhof zurück sind, darf ich das lederne Fotoalbum anschauen. Großmama flickt unterdessen ihre grauen Strümpfe. Ich kann es kaum glauben, dass das Mädchen mit den langen Zöpfen Mama sein soll.

»Und wer ist dieser Bub hier zwischen ihr und den anderen Mädchen?«

»Das ist Josef.«

»Josef?«

»Ja, mein Sohn, dein Onkel.«

»Ich habe in Visp doch gar keinen Onkel.«

»Du hast aber einen gehabt, er ist gestorben.«

»Schon lange?«

»Ja.«

»Ist er schon groß gewesen?«

»Ja.«

»Warum ist er denn gestorben?«

»Es ist jetzt Viertel nach zwölf. Geh du mal runter ans Gartentor, bald kommen Tanta Amanda und Bella heim.«

Endlich sind wir zu dritt

Mamas bordeauxrotes Kostüm hat einen Dior-Schlitz und betont ihre Taille sehr schön, sagt Papa. Mama hat es für die Taufe machen lassen, auf der anderen Seite des Rheins, dort sind die Schneider billiger. Sie zeigt es ihren Schwestern, zusammen mit dem neuen Pelzmantel. Sie schlüpfen in den Mantel, drehen sich vor dem Spiegel im Kreis und sind begeistert. Auch ich bekomme einen Pelzmantel. Von Onkel Raoul und Tanta Vroni, er ist ihrer Tochter zu klein geworden. Ich kann es kaum erwarten, bis sie endlich ankommen! Anton stellt sich mit mir ans Fenster. Papa hat ihm gesagt, Onkel Raoul habe ein noch größeres Auto als wir.

»Ich sehe ja aus wie ein Bär! Und schau, Mama, hier ist der Pelz schon wüst – ich will diesen Mantel nicht!«

»Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul.«

Ungeduldig bindet Mama mir die Kordel, an der zwei Pelzbälle hängen, zusammen. »Du kannst nichts als reklamieren, dü bisch oomächtig!« Und weil »oomächtig« undankbar und unerträglich bedeutet, beginne ich zu weinen. Mama geht zurück zu den Verwandten. Ich ziehe den Kinderpelzmantel wieder aus und verstecke das weiße Taufkleidchen des Bruders darunter.

Am Morgen nach der Taufe bleibt Papa im Bett. »Seid leise!« Es sei ihm übel vom Festen, erklärt Mama, Onkel Raoul ist an seiner Stelle in die Praxis gegangen. Die Verwandten haben gestern viele Geschenke mitgebracht, aber alle bloß für das Bébé. Bis auf Jean. Der hat Mama eine orangefarbene Rose gegeben, die Farbe habe eine besondere Bedeutung, hat er gesagt. Vielleicht bringt mir ja heute jemand etwas mit.

Wie sie alle zum Apéro kommen, ist niemand mehr leise. Papa setzt sich im Morgenmantel zu ihnen. Sie erheben die Gläser: »auf den Tod dieses Sauhunds!«

»Wer ist das, Papa?«

Papa ist in ein Gespräch verwickelt.

»Stalin, der endlich abgekratzt ist«, erklärt Onkel Valentin.

Nun diskutieren sogar die Frauen mit. Ich gehe in unser Kinderzimmer und stoße das Bébé in seiner Wiege hin und her. Das neue Brüderlein hat die gleichen braunen Augen wie Mama, und ihre dunklen Locken hat es auch bekommen, und beim Kitzeln verzieht es das Gesicht viel lustiger als andere Bébés! Weinen tut Konrad bloß, wenn er Hunger hat. »Gell Konilein, dir gefällt es bei uns! Du hast ja auch mit deinem Götti mehr Glück als ich mit Onkel Raoul. Onkel Heinrich wird dir zu Weihnachten bestimmt etwas anderes schenken als immer nur Kaffeelöffel! Und klettern tut er auch. Wenn du groß bist, nimmt er dich auf einen Viertausender mit, das hat er schon versprochen.«

Onkel Heinrich ist ohne die Walliserfrau, die für ihn durch die Hölle geht, zur Taufe gekommen. Mama sagt, man sage, er habe jetzt eine Üsserschwizeri.

»Es war einmal ein Steinbock, der lebte ganz allein im Wald. Der Wald war steil und dunkel. In dem mit Efeu überwucherten Abhang gab es eine große Höhle …«

Papa schläft schon wieder an der gleichen Stelle ein wie letztes Mal. Er kann doch nicht müde sein, es ist Morgen! Oder tut er nur so, als ob er schlafen würde? Mein großer Bruder und ich liegen bei ihm im Mamapapabett, und ich rüttle an ihm herum, bis er verspricht, am nächsten Sonntag weiterzuerzählen. Mama hat für Anton einen Kuchen gebacken. Weil er alle Kerzen aufs Mal ausblasen kann, darf er sich etwas wünschen.

»Verrätst du mir, was du dir gewünscht hast?«

»Das darf Anton niemand sagen, sonst geht der Wunsch nicht in Erfüllung.« Mama schaut zu Anton und hält ihren Zeigefinger an die Lippen.

»Wie könnt ihr denn Antons Wunsch erfüllen, wenn ihr nicht wisst, was er will?«

»Weil es etwas Immaterielles sein muss …«

»Was ist das?«

»Das ist etwas, das man nicht sieht und nicht in die Hand nehmen kann, eben etwas ohne Material …«

»Aber dann ist es doch nichts?«

»Wenn du jetzt nicht endlich zu essen beginnst, kommen wir noch zu spät nach Basel!«

»Anton isst auch nicht, der packt bloß seine Geschenke aus.«

»Ist ja auch mein Geburtstag!«

»Zu meinem Geburtstag wünsche ich mir sicher nicht so etwas Blödes wie du!«

»Du weißt gar nicht, was …«

»Um Gotteswillen, fangt nicht wieder zu streiten an!«

Konrad ist noch zu klein fürs Theater, Gertrud wird ihn hüten. Sie wohnt mit ihren Eltern auf einem Bauernhof. Neben dem Miststock ist ein Fuhrwerk, auf dem zwei riesige Milchkannen stehen, ich und Anton könnten uns glatt darin verstecken. Koni lacht, als Gertrud ihn in die Arme nimmt. »So ein glückliches Kind«, sagt Mama.

Papa kommt nicht mit ins Kasperletheater. Für die Pause hat Mama eine Tafel Schokolade dabei. Ich bin zu aufgeregt, um etwas zu essen.

Wir holen Papa im Restaurant ab. Er sitzt noch immer bei Onkel Hardi und entdeckt uns erst, nachdem ich ihn am Hinterkopf gekitzelt habe. »Setzt euch und trinkt etwas!«

Wir können überhaupt nichts von Max und Moritz erzählen, immer redet nur dieser Freund von Papa, sein Gesicht ist vom Reden schon ganz verschwitzt. »Nun kommt ein Witz aus der unteren Schublade, Kinder, hört weg!«

Er lacht auf Vorschuss und hält dabei wieder seine Hand auf Mamas Arm. Ich komme nicht nach, was der erzählt. Nachdem ich meinen Sirup ausgetrunken habe, gehe ich unter dem Tisch durch und setze mich zwischen Mama und Onkel Hardi. Als ob er selber dabei gewesen wäre, schildert Papa jetzt, wie Onkel Arthur mit dem neuen Auto in die Mauer geknallt ist. Und Onkel Hardi erzählt, wie er mit seinem Porsche auf dem Dach gelandet ist. Unverletzt ist er ausgestiegen, ist hinter Büschen zur Straße hochgekraxelt, hat sich unter die Gaffer gemischt und zu einem ältlichen Zaungast gesagt: »Der ist bestimmt mausetot.« Onkel Hardi plustert die Wangen auf: »Und wisst ihr, was der zu mir sagt? Das sei Gottes gerechte Strafe für so einen verdammten Raser.«

»Da hast du ja mal wieder ein gottloses Schwein gehabt«, lacht Papa begeistert. »Kauf dir doch ’ne Vespa, etwas Fahrbares auf zwei Rädern tut’s längstens für dich!«

Als das Fräulein kassieren kommt, machen die Großen endlich eine Redepause.

»Was ist eine untere Schublade?«

»Darin sind Dinge …«

Mama schneidet Onkel Hardi das Wort ab: »… die dich überhaupt nicht interessieren.«

Es hat zu regnen angefangen, und niemand hat einen Schirm mit. Zurück zum Parkplatz rennen wir.

Mama mahnt Papa, langsam zu fahren, »denk an die Reifen, wir sollten sie längst gewechselt haben.« Trotzdem drückt Papa zu unserer Freude tüchtig aufs Gas.

»Halt, halt! Siehst du denn den Bahnübergang nicht?!«

Während Papa noch erklärt, es hätte gereicht, haben sich die Barrieren geschlossen. Er wendet sich nach hinten zu Anton und mir: »Ich will euch jetzt mal einen Witz aus der unteren Schublade erzählen.«

»Her doch üf, dü hesch z viel trunkä!«

»Äch wa!«

Papa lässt sich von Mama nicht abhalten. »Ein Graf kommt von der Jagd heim und sieht, dass seine Frau mit einem anderen Mann im Bett ist. Er befiehlt seinem Diener, ihm sofort das Gewehr zu holen, damit er den Liebhaber erschießen kann. Der Diener aber wehrt sich mit den Worten: Herr Graf, als guter Jäger sollten Sie wissen, dass während der Paarung Schonzeit herrscht.«

»Lass mich heimfahren«, sagt Mama.

Papa steigt aus, geht vorne durchs Scheinwerferlicht unseres Autos und steigt auf meiner Seite wieder ein. Er gibt Mama einen Schubs, da sie noch nicht ganz rübergerutscht ist. Hinter uns hupt jemand.

»Fahr schon!«

»Ich finde den Zündschlüssel nicht!«

Als Mama ihn findet und umdreht, heult der Motor auf.

»Bist du bei diesem Jägerwitz nachgekommen?«

Anton schläft sicher nicht. Er tut nur so, weil er den Witz auch nicht verstanden hat. Aber ich finde ihn lustig.

»So, Kinder, erzählt Papa endlich, was Max und Moritz alles angestellt haben!« Mama langt mit ihrer rechten Hand rasch an Papas Kinn, doch Papa nickt gleich wieder ein.

»Alle Mädchen aus gutem Hause haben ein Silberbesteck, wenn du groß bist, wirst du daran Freude haben«, sagt Mama. »Aber wenn ich groß bin, werde ich ganz sicher keine gestrickten Strümpfe mehr tragen, die kratzen schaurig! Und das Gschtältli hasse ich auch!«

Mama befestigt mir den zweiten Strumpf am Bändel, sie blickt mich ärgerlich an: »Die kratzen bloß, weil du dir das einbildest!«

»Mach nit so es beschs Gsicht«, sagt Mama auf dem Spaziergang ins Dorf. Aber ich will kein anderes Gesicht machen. Vor der Molkerei redet sie endlos mit einer Frau. Ich ziehe an Mamas Ärmel. Die Frau hat riesige Nasenlöcher.

»Kann dieses Mädchen überhaupt lachen?«

Mama seufzt absichtlich laut. »Äs pofft wider emal.«

»Und was passt der Kleinen heute nicht«, fragt die Frau, während sie mir zuzwinkert. Zu der werde ich kein Wort sagen.