Das Leben der Surrealisten - Desmond Morris - E-Book

Das Leben der Surrealisten E-Book

Десмонд Моррис

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Beschreibung

Der Surrealismus begann als gemeinsame Rebellion gegen all jene Mächte, die die Welt in den Krieg geführt hatten. Ein Aufstand auch gegen verlogene Religion, Demagogie, Prüderie und usurpierte Autoritäten. Wie lebten sie wirklich, diese inzwischen so berühmten Künstlerinnen und Künstler? Desmond Morris, selbst surrealistischer Künstler, kann davon berichten wie kein Zweiter. Er gehörte zu ihrem Kreis und kannte sie alle. Ihre Vorlieben und Macken. Ihre Arbeitsweisen und ihre Geheimnisse. Ihre Freundschaften, Feindschaften, Liebschaften, Frivolitäten und dramatischen Zerwürfnisse. Er porträtiert einsame Wölfe, rebellische Vorkämpferinnen, brillante Exzentriker. Geistreich und unterhaltsam erzählt Desmond Morris von den wirklichen Menschen, die Kunstgeschichte schrieben. Seine zweiunddreißig Lebensbilder der Surrealisten sind selbst Geschichte.

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Seitenzahl: 436

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Über dieses Buch

Wie lebten sie wirklich, die inzwischen so berühmten Künstlerinnen und Künstler? Desmond Morris gehörte zu ihrem Kreis und kennt ihre Vorlieben, Freundschaften und dramatischen Zerwürfnisse. Er porträtiert einsame Wölfe, rebellische Vorkämpferinnen, brillante Exzentriker. Seine zweiunddreißig Lebensbilder der Surrealisten sind selbst Geschichte.

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Desmond Morris (*1928) ist surrealistischer Künstler, Verhaltensforscher, Autor, Filmemacher und Publizist. Er hat zahlreiche Weltbestseller zum Verhalten von Mensch und Tier veröffentlicht. Sein erfolgreichstes Buch, Der nackte Affe (1967), wurde weltweit über zwölf Millionen Mal verkauft.

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Willi Winkler (*1957) ist Journalist, Übersetzer, Autor und Literaturkritiker. Er war Redakteur der Zeit, Kulturchef beim Spiegel und ist Autor zahlreicher Bücher. Er übersetzte u. a. Werke von John Updike und Julian Barnes ins Deutsche. Seine journalistische Arbeit wurde mehrfach ausgezeichnet.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Hardcover, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Desmond Morris

Das Leben der Surrealisten

Aus dem Englischen von Willi Winkler

Mit zahlreichen Abbildungen

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Die Originalausgabe erschien 2018 bei Thames & Hudson Ltd., London.

Das Kapitel über Joan Miró erschien erstmals 2011 in der Zeitschrift Tate Etc., Ausgabe 22.

Lektorat: Patricia Reimann

Originaltitel: The Lives of the Surrealistes

© by Desmond Morris, 2018

Diese Ausgabe erscheint in Vereinbarung mit Thames & Hudson Ltd., London

© by Thames & Hudson Ltd., London 2018

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Desmond Morris

Umschlaggestaltung: Sven Schrape unter Verwendung des Originalumschlags, gestaltet von Mark Bracey

ISBN 978-3-293-31082-7

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)

Version vom 03.06.2022, 16:59h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

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Inhaltsverzeichnis

DAS LEBEN DER SURREALISTEN

 – VorwortEinführungEileen AgarHans ArpFrancis BaconHans BellmerVictor BraunerAndré BretonAlexander CalderLeonora CarringtonGiorgio de ChiricoSalvador DalíPaul DelvauxMarcel DuchampMax ErnstLeonor FiniWilhelm FreddieAlberto GiacomettiArshile GorkyWifredo LamConroy MaddoxRené MagritteAndré MassonRoberto MattaE. L. T. MesensJoan MiróHenry MooreMeret OppenheimWolfgang PaalenRoland PenrosePablo PicassoMan RayYves TanguyDorothea TanningDanksagungBedeutende Ereignisse und Ausstellungen (1925–1968)Weiterführende LiteraturBildnachweis

Sachverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

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Über Desmond Morris

Über Willi Winkler

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Vorwort

DIESES BUCH BIETET einen individuellen Blick auf die Surrealisten und widmet sich weniger ihrem Werk als ihrem Leben. Ich habe mich auf bildende Künstler und Künstlerinnen beschränkt und zweiunddreißig ausgewählt, die für mich am interessantesten sind. Alle werden einzeln vorgestellt mit einer knappen Biografie, einer gerafften Lebensgeschichte und einer Betrachtung der Persönlichkeit.

Die surrealistische Bewegung entstand im Paris der Zwanzigerjahre des vorigen Jahrhunderts und entwickelte sich überaus lebhaft bis in die Dreißiger. Als 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach, wurden die surrealistischen Künstler zerstreut, und viele von ihnen landeten als Flüchtlinge in New York. Dort setzten sie ihre Arbeit fort, aber die Bewegung wiederzubeleben, als sie nach Kriegsende 1945 nach Paris zurückkehrten, erwies sich als schwierig: Als organisierte Gruppe ging es bald bergab mit ihnen. Die Mehrheit der wichtigen Künstler verließ die Stadt und arbeitete außerhalb von Paris weiter. So entstand zwar weiterhin surrealistische Kunst, doch war sie jetzt das Werk einzelner, unabhängiger Künstler.

Aus Gründen der Anschaulichkeit habe ich jeden der zweiunddreißig Surrealisten mit einem Porträtfoto und einem für sein Gesamtwerk charakteristischen Bild illustriert. Die Fotos habe ich so gewählt, dass man diese Surrealisten in der Blütezeit der Bewegung sieht, auf die bekannteren Porträts der reifen Künstler habe ich, soweit möglich, bewusst verzichtet. Auch bei der Auswahl der Bilder habe ich Wert darauf gelegt, möglichst solche zu zeigen, die noch vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs geschaffen wurden – wiederum also Gemälde und Skulpturen, die in der Blütezeit der Bewegung entstanden.

Viele Autoren haben surrealistische Kunstwerke in zwei Hauptkategorien unterteilt, die je nachdem als figurativ und abstrakt, illusionistisch und automatistisch, als oneiristisch und »freie Form« oder als veristisch und absolut bezeichnet werden. Mir sind diese Gegensatzpaare zu ungenau. Ich halte mich deshalb an fünf Grundformen des Surrealismus:

1. PARADOXALER SURREALISMUS. Der Künstler zeigt Kompositionen, deren einzelne Bestandteile realistisch dargestellt werden, aber irrational miteinander verknüpft werden. Beispiel: René Magritte(1)

2. ATMOSPHÄRISCHER SURREALISMUS. Der Künstler zeigt eine realistische Komposition, doch mit einer so seltsamen Intensität, dass die dargestellten Szenen in einen Traum hinüberzugleiten scheinen. Beispiel: Paul Delvaux(1)

3. METAPHORISCHER SURREALISMUS. Die Bilder des Künstlers zeigen Sujets, deren Details, Formen und Farben entstellt und verdreht sind. Dargestellte Figuren sind zwar als solche noch zu erkennen, aber sie verwandeln sich. In ihrer extremsten Ausbildung werden sie auf surrealistische Hieroglyphen verkleinert. Beispiel: Joan Miró(1)

4. BIOMORPHISCHER SURREALISMUS. Der Künstler erfindet Figuren, die sich nicht mehr auf bestimmte, originale Quellen zurückführen lassen, die jedoch über eine eigene organische Authentizität verfügen. Beispiel: Yves Tanguy(1)

5. ABSTRAKTER SURREALISMUS(1). Der Künstler verwendet organische abstrakte Formen, die allerdings in der Ausgestaltung so unterschieden sind, dass sie zusammengenommen mehr als ein visuelles Muster ergeben. Beispiel: Arshile Gorky(1)

Zwei Dinge sind wichtig in Verbindung mit diesen fünf Kategorien. Zum einen bedienten sich viele Surrealisten im Laufe ihrer Schaffensjahre mehr als nur einer Methode. Max Ernst(1) war wahrscheinlich der vielseitigste; er hat irgendwann jede dieser fünf Formen angewandt, ganz anders Magritte(2), der einer einzigen Kategorie treu blieb. Zum anderen bedeutet die Tatsache, dass jemand sich einer dieser Kategorien bedient, noch keineswegs, dass dabei ein überzeugendes Kunstwerk entsteht. Viele haben sich im Surrealismus versucht und haben doch nichts Interessantes zustande gebracht. Das große Geheimnis im Surrealismus besteht natürlich wie in der gesamten Kunst in der Frage, was ein bestimmtes Werk eines bestimmten Genres über die anderen hinaushebt.

Über die Frage, wer denn ein echter Surrealist gewesen sei und wer nicht, wurde unendlich viel gestritten. Puristen werden nur die Angehörigen von André Bretons(1) innerstem Kreis gelten lassen. Andere werden erklären, dass jedes Gemälde, das irgendwie seltsam ist, als »surrealistisch« bezeichnet werden kann. Ich lehne beide Extrempositionen ab. Mein Kompromiss lässt folgende Kategorien gelten:

1. OFFIZIELLE SURREALISTISCHE KÜNSTLER

Künstler, die nicht nur ausschließlich surrealistische Kunstwerke geschaffen haben, sondern auch an den surrealistischen Gruppentreffen teilgenommen und sich den Regeln unterworfen haben, die Breton(2) in den surrealistischen Manifesten(1) niedergelegt hat. Diese Künstler verstanden sich als Teil eines Kollektivs und arbeiteten daran, subversiv das Establishment und die überkommenen bürgerlichen Wertvorstellungen zu unterminieren. Jeder von ihnen konnte darüber abstimmen, ob jemand formell in die Gruppe aufgenommen oder von ihr ausgeschlossen wurde.

2. ZEITWEILIGE SURREALISTEN

Künstler, die sich mit anderen Genres beschäftigten, aber eine surrealistische Phase hatten, nachdem sie mit Surrealisten in Kontakt kamen.

3. UNABHÄNGIGE SURREALISTEN

Künstler, die mit den Surrealisten und ihren Theorien vertraut waren, aber als Individualisten kein Interesse an irgendeiner Form von Gruppenaktivität zeigten. Sie waren deshalb keineswegs Gegner dieser Gruppe oder der offiziellen Ziele der Bewegung, aber als Einzelgänger wollten sie damit schlicht nichts zu tun haben.

4. ANTAGONISTISCHE SURREALISTEN

Künstler, die surrealistische Werke schufen, aber Breton(3) und dessen Gefolgsleute sowie das, wofür sie standen, ablehnten. So meinte einer von ihnen, dass er die Kunst der Surrealisten »glühend bewundere«, aber mit ihren Theorien nichts zu schaffen haben wolle.

5. AUSGESTOSSENE SURREALISTEN

Künstler, die aus der offiziellen Gruppe ausgeschlossen worden waren, aber weiter surrealistische Werke schufen, obwohl sie nicht mehr zu den Surrealisten gerechnet wurden.

6. AUSGESCHIEDENE SURREALISTEN(1)

Künstler, die der offiziellen Gruppe angehört hatten, sich dann aber von ihr lösten und nicht mehr mit ihr in Verbindung gebracht werden wollten.

7. ABGELEHNTE SURREALISTEN

Künstler, die sich selbst als Surrealisten verstanden und zur offiziellen Gruppe gehören wollten, allerdings keine Aufnahme fanden, weil ihre Arbeiten als untauglich galten.

8. NATÜRLICHE SURREALISTEN

Künstler, die echte surrealistische Werke schufen, aber ganz für sich allein arbeiteten und wenig oder gar nichts von der Bewegung wussten.

Auf zwei Typen von Surrealisten verzichte ich in meinem Buch. Es handelt sich um:

OFFIZIELLE SURREALISTISCHE NICHTKÜNSTLER

Also Surrealisten, die sich nicht mit darstellender Kunst beschäftigten, sondern als Theoretiker, Autoren, Dichter, Aktivisten und Organisatoren zur Bewegung gehörten. Vor allem zu Beginn spielten sie eine wichtige Rolle, da sie die Ziele und Vorhaben der Gruppe formulierten. Ihre Bedeutung verlor sich jedoch relativ rasch in der Geschichte, wohingegen die Arbeit der darstellenden Künstler immer wichtiger wurde und schließlich weltweites Interesse fand.

SURREALISTISCHE FOTOGRAFEN UND REGISSEURE

Unter diesen sind viele in ihrer Bedeutung gar nicht hoch genug zu schätzen. Leider musste ich mich aus Gründen des Umfangs dennoch entschließen, auf diese Kategorie zu verzichten.

Max Ernst(2), Plakat für die International Surrealist Exhibition(1), New Burlington Galleries, London, 1936

Surrealisten in Paris (von links nach rechts: Tristan Tzara(1), Paul Éluard(1), André Breton(4), Jean Arp(1), Salvador Dalí(1), Yves Tanguy(2), Max Ernst(3), René Crevel(1), Man Ray(1)), 1933. Foto: Anna Riwkin

Einführung

IN DER GESAMTEN GESCHICHTE gibt es keine Kunstrichtung, der zwei dermaßen unterschiedliche Künstler wie Magritte(3) und Miró(2) angehören. Das hat damit zu tun, dass der Surrealismus zunächst gar keine Kunstbewegung, sondern ein philosophisches Konzept war. Es ging um eine Lebensform – eine Rebellion gegen das Establishment, das der Welt das entsetzliche Völkerschlachten des Ersten Weltkriegs beschert hatte. Wenn die menschliche Gesellschaft auf etwas so Widerwärtiges zulaufen konnte, dann musste sie selbst widerwärtig sein. Die Dadaisten verfielen darauf, dieser Gesellschaft einfach ins Gesicht zu lachen. Ihre obszönen Spötteleien waren so unerhört, dass André Breton(5), der, in einem Pariser Straßencafé sitzend, über seine Zukunft nachdachte, auf den Gedanken kam, es brauche etwas Ernsthafteres, um die traditionelle bürgerliche Gesellschaft zu bekämpfen. Im Jahr 1924 präsentierte er seine Vorstellungen in Form eines Manifests,(2) das die neue Bewegung, die Surrealismus heißen sollte, erstmals beschrieb. Er wartete sogar mit einer Definition in lexikalischer Form(1) auf:

SURREALISMUS, Subst., m. – Reiner psychischer Automatismus, durch den man mündlich oder schriftlich oder auf jede andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung.

Sofort flammten Debatten um diese neue Philosophie auf, und Breton(6) benannte neunzehn Menschen, die durch echte surrealistische Handlungen hervorgetreten waren: Dichter, Denker, Schriftsteller und Essayisten, deren Namen heute so gut wie vergessen sind. Allenfalls Spezialisten würden mit Namen wie Boiffard, Carrive, Delteil, Noll oder Vitrac noch etwas anfangen können. Jenseits der Fachgelehrtenwelt sind ihre Schriften spurlos verschwunden. Und vermutlich wäre es auch für die Surrealisten nicht anders gekommen, wenn es nach einem von ihnen gegangen wäre. Pierre Naville(1) schrieb nämlich: »Meister, Meistergauner, schmiert eure Leinwand voll. Jeder weiß doch, dass es kein surrealistisches Gemälde gibt.« Für Naville hatten die darstellenden Künste in der surrealistischen Welt nichts verloren. Hätte sich seine Ansicht durchgesetzt, der Surrealismus wäre vielleicht ein paar Jahre als esoterische, philosophierende Literatengruppe durch Paris gegeistert und dann bald wieder verschwunden.

Zu Bretons(7) Glück hatte Naville(2) eins übersehen. Zur Dada-Bewegung(1), aus der der Surrealismus hervorgegangen war, gehörten mehrere visuell Hochbegabte wie zum Beispiel Max Ernst(4), Marcel Duchamp(1), Francis Picabia(1), Man Ray(2) und Jean Arp(2). Sie fühlten sich angezogen von der vielversprechenden neuen Bewegung des Surrealismus, und sie brachten Bildideen mit, die sich nicht ignorieren ließen. Naville flog raus, und Breton übernahm das alleinige Kommando. 1928 stellte er die Sache klar, indem er ein Buch mit dem Titel Le Surréalisme et la Peinture (Der Surrealismus und die Malerei) veröffentlichte. Die Künstler gehörten dazu.

Die Künstler verschafften Breton(8) zwei entscheidende Vorteile. Sie konnten große Ausstellungen inszenieren, die sich in große surrealistische Ereignisse verwandeln ließen, und sie waren in jeder Sprache zu verstehen. Die bildenden Künste im Surrealismus waren spektakulär und gleichzeitig international. Je mehr Zeit verging, desto mehr begann der Schwanz mit dem Hund zu wedeln. In der allgemeinen Wahrnehmung wurde aus dem Surrealismus eine ausschließlich künstlerische Bewegung, während seine literarischen Anfänge so gut wie vergessen waren. Seine größten Schausteller wurden auf der ganzen Welt berühmt.

Das erklärt auch, warum man so unterschiedliche Künstler wie Magritte(4) und Miró(3) unter der Rubrik Surrealismus zusammenfassen kann. Sie folgten, anders als die Impressionisten oder die Kubisten(1), keiner festgelegten visuellen Sprache. Vielmehr gehorchten sie der wichtigsten Regel der surrealistischen Philosophie – arbeite mit dem Unbewussten, analysiere nicht, plane nichts, lass den Verstand draußen, kümmere dich nicht um Schönheit und Ausgewogenheit. Lass deine dunkelsten, irrationalsten Gedanken aus deinem Unbewussten aufsteigen und sich auf deiner Leinwand ausbreiten. Deine Bilder malen sich von selbst, und du kannst dabei zuschauen. Schon deshalb, so der Anspruch, seien die surrealistischen Arbeiten wertvoller als die anderer überlieferter Kunstformen, wo Bilder entweder sklavisch von der äußeren Welt abgepinselt oder als logisch angeordnete, fiktionale Szenen sorgfältig hergestellt würden. Indem surrealistische Werke tiefere Bewusstseinsschichten erschlossen, konnten sie den Betrachter unmittelbar und mit einer deutlich stärkeren Stimme ansprechen, handelt es sich doch um jene tieferen Schichten, in denen wir alle die gleiche Hoffnung, die gleiche Angst, den gleichen Hass, die Liebe und die Sehnsucht spüren.

Die Künstler unterschieden sich erheblich darin, wie sie von dieser Methode Gebrauch machten, weshalb wir es auch mit weit auseinanderstrebenden visuellen Stilrichtungen zu tun haben. Magritte(5) hatte eine wilde, irrationale Idee, entschloss sich dann aber, diese Idee auf der Leinwand in einer möglichst traditionellen Form wiederzugeben. Seine Ideen waren reinster Surrealismus, doch die Technik, in der er sie sichtbar machte, war bewusst – und fast schon langweilig – konventionell. Seine Gemälde bleiben genau wegen dieses Gegensatzes zwischen dem fantasievollen Irrsinn seiner Bilder und dem geradezu biedersinnigen Farbauftrag im Gedächtnis haften. Andere Surrealisten beschränkten den Augenblick fantasievoller Irrationalität nicht wie Magritte auf die Zeit vor Beginn der Arbeit, sondern verlängerten ihn, wie Miró(4), in den eigentlichen Schaffensvorgang hinein. Die visuelle Irrationalität Magrittes lässt sich ohne Weiteres mit wenigen Worten beschreiben (ein Geschäftsmann trägt statt seines Kopfes einen grünen Apfel; eine Meerjungfrau hat den Kopf eines Fisches und die Beine einer Frau), doch ist es unmöglich, das Wesen eines Miró-Gemäldes wiederzugeben, ohne es tatsächlich vor Augen zu haben.

Auch in der Art, wie sie ihr Leben lebten, unterschieden sich die Künstler. Die einen waren in allem, was sie taten, hundertprozentige Surrealisten – in ihrem persönlichen Verhalten genauso wie in ihrer Arbeit. Andere führten ein relativ bürgerliches Leben und verwandelten sich erst vor der Staffelei und wenn sie den Pinsel in die Hand nahmen, in einen Surrealisten. Wieder andere lehnten die ganze surrealistische Philosophie ab und wollten auf keinen Fall damit in Verbindung gebracht werden, schufen aber, sobald sie zu malen anfingen, unweigerlich surrealistische Bilder.

Eine Eigentümlichkeit dieses Buches besteht darin, dass es gar nicht erst versucht, die Bilder und Skulpturen der Surrealisten zu analysieren oder im Detail zu diskutieren. Diese Aufgabe überlasse ich gern den Kritikern und Kunsthistorikern. Seit ich 1948 meine erste eigene Ausstellung mit surrealistischen Gemälden hatte, muss ich immer wieder die Frage abwehren, was meine Bilder denn zu bedeuten hätten. Ich bin mir ziemlich sicher, dass kein einziger Surrealist sich über diese Frage gefreut hat. Die einen haben grob zurückgeblafft, andere haben sich ins Schwafeln gerettet und wieder andere sind auf Antworten verfallen, von denen sie glaubten, sie würden die Frager zufriedenstellen. Dabei ist doch offensichtlich, dass ein Künstler, der Bilder malt, die er direkt aus dem Unbewussten zutage fördert, gar nicht wissen kann, was in rationaler, interpretatorischer oder analytischer Hinsicht überhaupt vor sich geht. Wenn er es doch kann, handelt es sich nicht um surrealistische Arbeiten – es ist dann Fantasiekunst, die eine exotische, aber im Vorhinein entworfene Geschichte erzählt. Oberflächlich betrachtet mögen die Arbeiten mancher Fantasiekünstler dem Werk echter Surrealisten ähneln, doch tatsächlich haben sie mit Surrealismus ungefähr so viel zu tun wie Disney mit Hieronymus Bosch(1).

Ich konzentriere mich in diesem Buch auf die Surrealisten als Menschen, als herausragende Individuen. Wie war ihre Persönlichkeit, was waren ihre Vorlieben, ihre Charakterstärken, was ihre Schwächen? Haben sie sich ins Gesellschaftsleben gestürzt oder waren sie einsam? Waren sie kühne Exzentriker oder ängstliche Eremiten? Waren sie sexuell normal oder erotisch pervers? Waren sie Autodidakten oder besaßen sie eine akademische Ausbildung?

Als André Breton(9) versuchte, seine kleine Rebellentruppe zu organisieren, stand er bald vor dem Problem, dass sie seiner Aufforderung zu gemeinsamen Aktionen nicht folgen mochten, schließlich gehören Exzentrik und ausgeprägter Individualismus zur Natur von Rebellen. Als Künstler liegt ihnen nicht daran, dass ihre Bilder denen anderer Gruppenmitglieder gleichen, schließlich wollen sie nicht als Nachahmer gelten. Eine unlösbare Aufgabe für den armen Breton, und es ist kein Wunder, dass ihn die meisten bedeutenden surrealistischen Künstler ablehnten – und ihrerseits von ihm ausgeschlossen wurden. Einige haben sich deshalb darauf verständigt, dass Breton ein dümmlicher Westentaschendiktator war, der einen Haufen Sonderlinge zu kontrollieren versuchte. Doch das hieße seine Bedeutung massiv zu unterschätzen: Breton war die treibende Kraft der Bewegung und unverzichtbar für ihre Gestalt und ihr Bild in der Geschichte.

In gewisser Weise ist der Surrealismus gescheitert. Er hat die Welt nicht verändert. Andererseits hatte er Erfolg weit über die höchstgespannten Erwartungen hinaus: Seine Arbeiten können von Millionen auf der ganzen Welt gesehen werden. Neben jenen, die die Werke erklärt und analysiert haben wollen, gibt es die viel größere Zahl derer, die einfach davorstehen und bereit sind, die Bilder direkt vom Unbewussten der Künstler in ihr eigenes Bewusstsein eindringen und wirken zu lassen. Indem sie diesen intuitiven, diesen instinktiven Vorgang zulassen, erweisen die Betrachter den Werken und den Überzeugungen, die ihnen zugrunde liegen, ihre Reverenz.

Einer der frühen Surrealisten, der spanische Regisseur Luis Buñuel(1), drückte es in seinen Memoiren, wo er über seine Zeit bei den Pariser Surrealisten schreibt, ungemein treffend aus: »Aber was waren wir schon! Eine kleine Gruppe ungebärdiger Intellektueller, die in einem Café palaverte und eine Zeitschrift herausgab. Eine Handvoll Idealisten, die sich schnell uneins war, wenn es darum ging, direkt in Aktion zu treten und auch Gewalt anzuwenden. Und doch haben meine drei Jahre in den begeisterten und bestimmt auch chaotischen Rängen der Bewegung mein Leben verändert.« Bei jedem, der je mit dieser Bewegung in Berührung gekommen ist, hat sie, ganz gleich, wie lang oder kurz dieser Kontakt war, ihre Spuren hinterlassen. Das gilt natürlich auch für mich, obwohl ich in den Vierzigerjahren nur mehr das Schwanzende zu fassen bekam. Trotz all der wichtigtuerischen Regeln und Vorschriften, die so extrem waren, dass sich nicht einmal diejenigen, die sie formuliert hatten, daran halten konnten, hatte die surrealistische Philosophie bei allen von uns, die in ihren Bann geraten waren, dauerhaft eine enorme Wirkung. Geblieben ist mir vor allem der freie Zugang zu den Tiefen des menschlichen Wesens, der uns wichtig war und den wir ersehnten, dieser Ruf nach dem Nicht-Rationalen, nach dem Dunklen, nach den Impulsen, die aus den Tiefen unseres Ichs kommen.«

Titelseite der ersten Nummer von La Révolution Surréaliste(1) (Die surrealistische Revolution), 1. Dezember 1924, mit drei Fotografien von Man Ray(3)

Titelseite der vierten Ausgabe des International Surrealist Bulletin(1), September 1936. Es zeigt das Surrealist Phantom (Das surrealistische Phantom), Sheila(1) Legge bei ihrer Performance auf dem Trafalgar Square in London

Titelblatt von A Dozen Surrealist Postcards (Ein Dutzend surrealistischer Postkarten), 1940

Werbeplakat für die Ausstellung von Joan Miró(5), Desmond Morris(1) und Cyril Hamersma(1) in der Galerie von E. L. T. Mesens(1) in London, Februar 1950

Max Ernst(5), Au Rendez-vous des Amis(1) (Das Rendezvous der Freunde), 1922–1923

Eileen Agar(1)

Engländerin • schloss sich 1933 der surrealistischen Gruppe an

Geboren: 1. Dezember 1899 in Buenos Aires als Eileen Forrester Agar

Eltern: Vater schottischer Geschäftsmann (Windmühlen); Mutter amerikanisch-englischer Herkunft

Orte: Buenos Aires 1899; London 1911; Paris 1927; London 1930

Liebesbeziehungen: verheiratet mit dem Kommilitonen ROBIN BARTLETT(1) 1925–1929 • der ungarische Schriftsteller JOSEPH BARD(1) 1926 • PAUL NASH(1) 1935–1944 • PAUL ÉLUARD(2) 1937 • Ehe mit JOSEPH BARD 1940–1975

Gestorben: 17. November 1991 in London

Eileen Agar im Hotel Vaste Horizon in Mougins, September 1937. Fotograf unbekannt

Eileen Agar, The Reaper (Der Schnitter)(1), 1938. Gouache und Blatt auf Papier

ICH LERNTE EILEEN AGAR erst kennen, als sie bereits neunzig Jahre alt war. Und noch immer besaß sie Schönheit und Charme, womit sie in ihren jungen Jahren die Surrealisten verzaubert haben muss. Sie war schlank geblieben, saß kerzengerade da und lächelte spitzbübisch. Eine Aura fantasievoller Verspieltheit umgab sie, wie sie in so hohem Alter kaum mehr anzutreffen ist. Vermutlich hätte sie das mit der Tatsache begründet, dass sie nie Kinder bekommen hatte und auch nie welche wollte. Als Teenager hatte sie gelesen, dass mit einer Bevölkerungsexplosion zu rechnen sei, und sie erinnerte sich an das Gefühl ungeheurer Erleichterung, weil sie eine Rechtfertigung für ihr fehlendes Fortpflanzungsbedürfnis gefunden hatte.

Obwohl erotische Motive in ihren Gemälden keine besondere Rolle spielen, scheint sie im wirklichen Leben sexuell weit abenteuerlustiger als die meisten Frauen ihrer Generation gewesen zu sein. Ihr Mann behauptete, dass sie immer »darauf aus war, etwas genau so zu machen, wie es nicht ging, zum Beispiel Sex im Stehen in einer Hängematte«. Offenbar fand sie auch nichts dabei, drei Liebhaber gleichzeitig zu haben. Sie war eine Hedonistin, auf eine fröhlich kindliche Art. Vergnügt erzählte sie, dass sie in Picassos(1) Bett geschlafen habe, aber ohne ihn – präsentierte also eine verruchte Vorstellung, nur um sie gleich wieder zu zerstören. Verruchte Unschuld ist ein Widerspruch in sich, und doch passt er zu Agars anziehender Persönlichkeit ebenso wie zu ihrer Arbeit als Künstlerin.

Sie wurde in Argentinien geboren, wo ihr aus Schottland stammender Vater Windmühlen an die Einheimischen verkaufte; die Mutter war amerikanisch-englischer Herkunft. Die Familie war wohlhabend und gesellig, was heißt, dass die Kinder ihre Eltern nur ein Mal am Tag kurz sahen, nämlich zum Gute-Nacht-Sagen. Die übrige Zeit hatten sie mit ergebenen Bediensteten zu verbringen. Als Eileen neun Jahre alt war, beschlossen ihre Eltern, eine neunmonatige Weltreise zu unternehmen, die Kinder ließen sie zu Hause. Sie gab zu, dass sie jähzornig war und gern gegen Vorschriften verstieß. Einmal wurde sie deshalb von ihrer Mutter mit einer Haarbürste geschlagen – eine Strafe, die sie noch immer zornig machte und an die sie sich noch nach achtzig Jahren lebhaft erinnerte. So wuchs eine junge Rebellin heran. Am glücklichsten war sie, wenn sie im Freien spielen durfte. Dabei nahm sie die Farben und Formen der argentinischen Landschaft in sich auf. Noch als alte Dame konnte sie vor ihrem inneren Auge Einzelheiten wie die glitzernden Zügel der schwarzen Pferde heraufbeschwören, die ihre grüne Kutsche zogen.

Als sie zehn war, kehrte die Familie Argentinien den Rücken, und ihr Vater setzte sich in England zur Ruhe. Die Überfahrt unternahmen sie in Gesellschaft einer Kuh und eines Orchesters, womit sowohl für frische Milch als auch für Musik gesorgt war. In London lebten sie in einem großzügigen Anwesen am Belgrave Square, zu dem ein ganzer Ballsaal gehörte; heute residiert dort ein Botschafter. Ihre Mutter wurde eine illustre Gastgeberin und gab verschwenderische Partys, beschäftigte einen Butler, Hausmädchen und Lakaien und nannte einen Rolls-Royce samt Chauffeur ihr Eigen. Den Herbst verbrachte die Familie auf einem Landsitz in Schottland.

Die zwanglose Extravaganz, die Agars Kindheit umgab, fand ihr Ende mit einem plötzlichen schrillen Ereignis, dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Der Rolls-Royce wurde dem Roten Kreuz übergeben, und dem Internat, in dem das Mädchen eine Leidenschaft fürs Zeichnen entwickelt hatte, wurde durch Eileens exzentrische Mutter per Telegramm untersagt, die Tochter weiter in Deutsch zu unterrichten. Nach dem Krieg nahm die Familie ihren prunkvollen Lebensstil in einem neuen Haus in Mayfair wieder auf. Eileen spielte dort, wie sie sich erinnerte, mit dem ehemaligen Premierminister Herbert Asquith(1) »Reise nach Jerusalem«, wobei sie die Anweisung hatte, ihn gewinnen zu lassen. Als die Londoner Modemagazine auf sie aufmerksam wurden und ein Bild von ihr bringen wollten, verbot ihre Mutter das mit der Begründung, die Dienstboten könnten die Fotos als Pin-ups benutzen. Eileens häusliches Leben war streng geregelt, und auch wenn keine Gäste erwartet wurden, durfte sie zum Dinner nie anders als im Abendkleid erscheinen.

Das nächste Problem bestand darin, für Eileen, die gut verheiratet werden und Kinder aufziehen sollte, einen geeigneten Bräutigam zu finden. Sie rebellierte und erklärte, dass sie keine Lust habe, Nachwuchs großzuziehen, der ohnehin im nächsten Krieg hingeschlachtet würde, doch von ihren Heiratsplänen für die Tochter ließ sich die Mutter deshalb nicht abbringen. Unter den Freiern war ein englischer Lord, ein anderer war der russische Prinz, der Rasputin hingerichtet hatte. Ein weiterer Prinz kam aus Belgien, doch lehnte Eileen ihn mit der Begründung ab, sie möge keinen Brüsseler Kohl. Dann war da noch ein schneidiger Offizier, der sie in seinem Flugzeug mitnahm und ihr in der Luft das Steuer überließ, damit sie den Looping selbst vollführen konnte. Sie lehnte jedoch alle potenziellen, ihr angebotenen Ehemänner ab. Mittlerweile war die Kunst immer wichtiger für sie geworden, und sie sah darin ihren künftigen Lebensinhalt. Für ihre Mutter war das nichts weiter als eine elegante Form, sich die Zeit zu vertreiben, weshalb sie einen Freund Auguste Rodins (1840–1917) engagierte, damit er Eileen in Aquarelltechnik unterrichte. Als ein Bekannter von Pierre-Auguste Renoir(1) (1841–1919) erklärte, Eileen solle sich ernsthafter mit Kunst befassen und eine Akademie besuchen, war ihre Mutter entrüstet, musste aber am Ende nachgeben; 1920 begann Eileen Unterricht in London zu nehmen. Aber schon im Herbst dieses Jahres gelang es der Mutter, Eileens Pläne zu durchkreuzen, indem sie die ganze Familie zurück nach Argentinien verpflanzte, wo sie in Buenos Aires zur Feier von Eileens einundzwanzigstem Geburtstag einen prächtigen Ball für sechshundert Menschen veranstaltete, der die ganze Nacht andauerte. Als die Familie schließlich nach London zurückkehrte, wurde Eileen endlich gestattet, die Slade School of Fine Arts zu besuchen, allerdings nur unter der Bedingung, dass sie den Weg dorthin jeden Tag mit dem Rolls-Royce der Familie zurücklegte. Um sich diesen peinlichen Auftritt zu ersparen, ließ sie sich vom Fahrer ein paar Blocks entfernt absetzen, wo er sie am Nachmittag auch wieder abholte.

Während sie an der Slade studierte, machte sie ihrer Jungfräulichkeit im Laub einer Lichtung auf der Isle of Wight bewusst ein Ende. Kurz danach kam es zu einem Familienstreit, ihre Mutter schlug sie, und die einundzwanzigjährige Eileen packte ihre Sachen und verließ ihr Elternhaus für immer. In Chelsea fand sie ein kleines Atelier und widmete sich fortan ganz der Malerei. 1925 heiratete sie ihren jungen Liebhaber Robin Bartlett(2) und zog mit ihm in ein Bauernhaus mit Lehmfußboden im ländlichen Frankreich. Bald jedoch wurde sie seiner überdrüssig und verließ ihn wegen eines Mannes, der die Liebe ihres Lebens werden sollte, der gut aussehende ungarische Schriftsteller Joseph Bard(2). Mit ihm zog sie erst nach Italien und dann nach Paris, wo sie Ende der Zwanzigerjahre die avantgardistischen Künstler und Dichter kennenlernte und ihre rebellische Freiheit auskostete. Sie besuchte Constantin Brancusi(1) (1876–1957) in seinem Atelier und begegnete auf dem Höhepunkt der surrealistischen Revolution André Breton(10). Ihr Vater war gestorben und hatte ihre eine großzügige Apanage hinterlassen, sodass sie nie gezwungen sein würde, sich ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Das bedeutete, dass sie jeder intellektuellen Marotte nachgeben konnte und sich mit vielen seinerzeit bedeutenden Männern herumtreiben konnte, zu denen Evelyn Waugh, Ezra Pound, Cecil Beaton, Aldous Huxley(1), W. B. Yeats, Osbert Sitwell, Ernest Hemingway(1) und F. Scott Fitzgerald gehörten.

Als sie nach London zurückkehrte, ermutigte Henry Moore(1) sie in ihren künstlerischen Ambitionen. Sie wurden enge Freunde, obwohl er ihr nie verzieh, dass sie ihn beim Tennis besiegt hatte. Er machte sie mit Jacob Epstein(1) (1880–1959) und dem Amerikaner Alexander Calder(1) bekannt. Jetzt, in den frühen Dreißigern, erschienen auch die Dichter Dylan Thomas(1) und David Gascoyne(1) auf der Bühne. Als sie 1935 die Sommermonate an der englischen Südküste verbrachte, lernte Eileen den Künstler Paul Nash(2) (1889–1946) und dessen Frau Margaret Odeh(1) kennen. Nash stimulierte sie und brachte sie auf den Gedanken, am Strand und auch sonst nach ungewöhnlichen Dingen zu suchen, die sich so bearbeiten ließen, dass sie zu surrealistischen Objekten wurden. Eileen und Nash verliebten sich und schliefen bald miteinander, womit sie ihren jeweiligen Partnern großen Kummer bereiteten. Schließlich beendete Eileen das Verhältnis, doch weder ihr noch Nash fiel es leicht, auf die Leidenschaft zu verzichten, die sie füreinander empfanden, und so beschlossen sie, sich künftig im Geheimen zu treffen, um niemandem noch mehr Schmerz zuzufügen. Zwei Liebhaber gleichzeitig zu haben, war unwiderstehlich für Eileen, obwohl sie zugab, dass sie damit für viel Leid sorgte.

Anfang 1936 beschlossen Roland Penrose und David Gascoyne(2), in London eine große Ausstellung zu veranstalten, um den Surrealismus dem britischen Publikum vorzustellen. Paul Nash(3) gehörte zusammen mit Henry Moore(2) und mehreren anderen zum Organisationskomitee. Beide wussten von den ungewöhnlich kraftvollen Bildern, die Agar seit ihrer Zeit in Paris geschaffen hatte. Penrose(1) und Herbert Read(1) besuchten sie in ihrem Atelier und wählten für die Ausstellung drei ihrer Ölgemälde und fünf surrealistische Objekte aus. Zunächst war sie verblüfft, dass sie jetzt ein offizielles Mitglied der surrealistischen Bewegung sein sollte. Ihr Leben lang hatte sie dafür gekämpft, als freier Geist für sich allein arbeiten zu können, und plötzlich fand sie sich in eine Gruppe eiferglühender Rebellen aufgenommen. Die Aufregung bei der Vernissage war ungeheuer, und Eileen bemerkte: »Ich war stolz darauf, zu ihnen zu gehören.« Jeden Tag strömten ungefähr tausend Besucher in die Ausstellung, und Agars Arbeiten fanden mehr Beachtung als je zuvor. Ihre neuen surrealistischen Freunde faszinierten sie. Max Ernst(6) erinnerte sie an einen Vogel, Paul Éluard(3) hatte dieses romantische gute Aussehen, André Breton(11) war löwenhaft, Yves Tanguy(3) bizarr, nervös und leicht erregbar, Salvador Dalí(2) eine herausragende Erscheinung und jederzeit bereit zu explodieren, Joan Miró(6) kindlich und poetisch. Sie machte die interessante Beobachtung, dass die Frauen der Surrealisten alle elegant und zurückhaltend gekleidet waren, während die Künstlerinnen dieser Bohème im Gegensatz dazu bewusst in abgerissenen, farbbespritzten Kleidern auftraten.

Im folgenden Jahr verkomplizierte sich Agars Liebesleben noch. Sie und ein paar andere Surrealisten hielten sich bei Roland Penrose(2) in Cornwall auf. Roland war, so ihre Worte, »immer bereit, die kleinste Begegnung in eine Orgie zu verwandeln«. Die Atmosphäre knisterte vor sexueller Spannung, und in kürzester Zeit erlag Eileen dem Charme des französischen surrealistischen Dichters Paul Éluard(4). Sie schilderte ihn als den leibhaftigen Eros, war bald in seinen Armen und in seinem Bett, ohne sich von seiner zweiten Frau Nusch(1), einer ehemaligen Zirkusartistin, dabei stören zu lassen. Joseph Bard(3) und Paul Nash(4), ihre anderen beiden Liebhaber, befanden sich ebenfalls in der Nähe. Nash wurde maßlos eifersüchtig auf Éluard, während sich Bard weniger darum kümmerte, da er gerade eine Affäre mit Éluards Frau Nusch hatte. Die Lage wurde nicht einfacher dadurch, dass Lee Miller(1), die inzwischen mit Roland Penrose verbandelt war, durch den Unheilstifter Edouard Mesens(2) erfuhr, dass Eileen es auf Roland abgesehen habe. Lee warf daraufhin ein Glas Wasser nach Eileen, ehe sie merkte, dass es sich nur um ein Gerücht handelte. Das gehörte zu den Komplikationen und Feinheiten in den Beziehungen innerhalb der surrealistischen Gruppe, der sich Agar jetzt angeschlossen hatte, doch war sie damit nicht zu schrecken. Sie nahm es vielmehr mit einem Augenzwinkern und dem überschäumenden Gefühl, endlich die formellen Beschränkungen ihres früheren Lebens losgeworden zu sein. Der Surrealismus verschaffte ihr ein reiches Gefühlsleben, das gleichzeitig intellektuelle Argumente und Debatten zu bieten hatte.

Die Hausparty in Cornwall war noch in vollem Gange, als einige der Teilnehmer nach Südfrankreich weiterzogen, wo sie auf Man Ray(4), Pablo Picasso(2) und Dora(1) Maar trafen. Gerüchteweise heißt es, dass Eileen und Picasso eine kurze Affäre gehabt hätten, doch sie hat es immer bestritten.

Bei all den gesellschaftlichen Vergnügungen war doch nicht zu verkennen, dass sich am Horizont der Krieg abzeichnete. Mit einer erstaunlich prophetischen Geste zog Picasso(3) eines Tages bei Tisch den Korken aus einer Flasche, reichte ihn Eileen und sagte ihr, bei einem Bombenangriff solle sie ihn sich zwischen die Zähne klemmen, damit sie nicht aufeinanderschlugen. Tatsächlich kamen die Bomben bald. Der Krieg war endgültig da, als Eileen und Joseph Bard(4), ihre größte Liebe, nach einer Nacht im Londoner Bombenhagel zu ihrer Überraschung feststellten, dass sie noch am Leben waren. Da entschied Eileen, dass sie unter diesen schrecklichen neuen Umständen heiraten sollten, was sie dann auch ohne weiteren Verzug taten. Henry Moore(3), mit dem sie nach wie vor befreundet war, befand sich unter den Gästen der Party, die 1940 anlässlich ihrer Hochzeit stattfand.

Agar fiel es unendlich schwer, sich auf die Malerei zu konzentrieren, solange um sie herum der Krieg tobte. Sie stürzte sich deshalb in kriegsbedingte Tätigkeiten. Erst nach dem Sieg über Deutschland kehrte sie zur Malerei zurück, und es war, »als würde ich den Glauben an das Leben wiederfinden«. Die folgenden dreißig Jahre war sie mit Joseph Bard(5) glücklich; die wilde Zeit lag hinter ihr. Sie arbeitete hart an Gemälden und ihren surrealistischen Konstruktionen, stellte häufig und mit Erfolg aus und ging mit dem Mann, den sie als »die Wärme meines Lebens« bezeichnete, auf Reisen. Als er 1975 starb, blieb sie die letzten sechzehn Jahre ihres Lebens mit ihren Erinnerungen allein, entschloss sich aber 1988, als sie bereits auf die neunzig zuging, sie in ihrer Autobiografie A Look At My Life (Mein Leben vor Augen) für die Nachwelt aufzuzeichnen. Gleichzeitig arbeitete sie regelmäßig und bis zuletzt in ihrem Atelier.

Eileen Agar verstand ihre Arbeit nicht als reinen Surrealismus, sondern als eine Mischung aus Abstraktion und Surrealismus, aber die Worte, mit denen sie ihr Leben zusammenfasste, legen nahe, dass sie dem Surrealismus näher war, als sie zugeben wollte: »Ich habe mein Leben in der Revolte gegen die Konvention verbracht und dabei versucht, in die alltägliche Existenz Farbe, Licht und ein Gefühl für das Geheimnisvolle zu bringen.«

Hans Arp(3)

Deutschfranzose • ein Pionier innerhalb der surrealistischen Bewegung

Geboren: 16. September 1886 in Straßburg

Eltern: Vater Deutscher; Mutter Französin

Orte: Straßburg 1886; Paris 1904; Weimar 1905; Paris 1908; Berlin 1913; Schweiz 1915; Köln 1919; Paris 1922; Grasse 1940; Zürich 1942; Paris 1946

Nationalität: wurde 1926 französischer Staatsbürger

Liebesbeziehungen: Baronin HILLA(1) VON REBAY • Ehe mit SOPHIE(1)TAEUBER-ARP 1922–1943 • Ehe mit MARGUERITE HAGENBACH(1) 1959–1966

Gestorben: 7. Juni 1966 in Basel

Hans Arp in der Aubette (Gebäudekomplex, für dessen Ausgestaltung er, zusammen mit anderen Künstlern, verantwortlich war), Straßburg, 1926

Hans Arp, Torse, Nombril, Moustache-Fleur (Torso, Nabel, Schnurrbartblume)(1), 1930. Öl auf Holzrelief

HANS ARP WAR IN DER FRÜHZEIT des Surrealismus eine der Schlüsselfiguren. Seine Nationalität ist nicht einfach zu bestimmen: Er wurde im elsässischen Straßburg geboren, an der Grenze zwischen Deutschland und Frankreich – der Stadt, die in ihrer wechselhaften Geschichte nacheinander deutsch, französisch und elsässisch war. Als Kind trug er zwei Namen und sprach drei Sprachen. Auf Deutsch hieß er Hans Peter Wilhelm Arp, auf Französisch Jean-Pierre Guillaume Arp. Mit seiner Mutter sprach er Französisch, mit seinem Vater Deutsch und auf der Straße Elsässisch. Seinem Vater gehörte eine Zigarrenfabrik, seine Mutter war musikalisch; die Familie war wohlhabend und besaß ein Landhaus in den Vogesen.

Mit sechs wurde der junge Arp krank; während er sich davon erholte, begann er zu zeichnen. Er war acht, als er zum Zeichnen in die umliegenden Wälder ging, und auch in der Schule war er mehr am Zeichnen als am übrigen Unterricht interessiert. Das ging so weit, dass ihn die Lehrer deshalb züchtigten. Sein Vater musste einen Hauslehrer für ihn beschäftigen, doch der Knabe interessierte sich ausschließlich für Literatur, Poesie, Zeichnen und Malen und versagte in allen anderen Fächern. Als Teenager trieb er sich in den Ateliers einheimischer Künstler herum. Bei seiner ersten Reise nach Paris, da war er achtzehn, verliebte er sich sofort in die Stadt. Doch mit Blick auf seinen deutschen Hintergrund ließ ihn sein Vater nicht nach Paris ziehen, sondern sorgte dafür, dass er sich in der Großherzoglich-Sächsischen Kunstschule in Weimar(1) einschrieb. In Gestalt der Postimpressionisten kam er hier zum ersten Mal mit moderner Kunst in Berührung.

Im Jahr 1907, als Arp einundzwanzig wurde, zog die Familie in die Schweiz. Er unternahm mehrere Reisen nach Paris, wo er die Kubisten(2) und die abstrakte Kunst kennenlernte. In der neuen Heimat begann er seinerseits zu experimentieren und spielte eine maßgebliche Rolle bei der Ausstellung, die 1911 in Luzern mit Bildern von Pablo Picasso(4), Paul Klee(1) und ihm selbst stattfand. Diese Ausstellung stieß keineswegs auf ungeteilten Beifall; ein Besucher spuckte Tabaksaft auf eine von Arps Zeichnungen. Im darauffolgenden Jahr arbeitete er an einer weiteren in Zürich geplanten Ausstellung mit, in der auch Werke von Wassily Kandinsky(1), Franz Marc(1) und Robert Delaunay(1) präsentiert wurden. Arp war noch keine dreißig, hatte sich aber bereits als Pionier der modernen Kunst einen Namen gemacht. 1913 zog die Familie nach Zürich, während Arp nach Berlin ging, wo er weitere Ausstellungen organisierte. Bei einer Ausstellung in Köln lernte er Max Ernst(7) kennen. Bei Kriegsausbruch gelang es ihm, mit einem der letzten Züge aus Deutschland nach Paris auszureisen. Die Franzosen hielten ihn für einen deutschen Spion, weshalb er erneut fliehen musste, diesmal in die Schweiz. Um nicht eingezogen zu werden, spielte Arp den Verrückten.

1915 lernte Arp die abstrakte Künstlerin Sophie(2) Taeuber (1889–1943) kennen, die seine Frau werden sollte. Daneben hatte er eine Liebesaffäre mit der Baronin Hilla(2) von Rebay, der späteren Gründungsdirektorin des Guggenheim-Museums in New York. 1916 kümmerte sich Arp um die Ausgestaltung des Cabaret Voltaire in Zürich, das bald zum Geburtsort der dadaistischen Bewegung wurde – ein bewusst obszönes Wüten gegen das europäische Establishment, das nichts anderes mehr im Sinn hatte als Zerstörung und Massenmord. In diesem Umfeld verfiel Arp auf die Idee, durch die Verwendung von Collagen Zufallselemente als Gestaltungsprinzip in seinen Arbeiten zu nutzen. Ohne es zu ahnen, nahm er damit Teile der Doktrin vorweg, die André Breton(12) 1924 in seinem Ersten Surrealistischen Manifest(3) formulieren sollte.

Die erste Dada-Ausstellung fand 1917 in Zürich unter Beteiligung Arps statt. In seinen neuen Arbeiten ersetzte er jetzt seine früheren, eher abstrakten Kompositionen durch etwas, was er als »flüssige Ovale« bezeichnete – biomorphe, oft als Relief gearbeitete Formen. Arp war seiner Zeit immer weit voraus, und so war er bereits sieben Jahre, ehe die surrealistische Bewegung überhaupt ihren formalen Anfang nahm, ein ausgereifter surrealistischer Künstler.

Bei Kriegsende nahm Arp Kontakt zu Kurt Schwitters(1) (1887–1948) und der Berliner Dada-Gruppe(1) auf, zusammen mit Max Ernst(8) bildete er den Kern des Kölner Ablegers. Die Freiheit, die mit dem Frieden kam, führte allerdings dazu, dass sich die Bindungen untereinander lockerten und die dadaistische Bewegung ihren Schwung zu verlieren begann. 1922 kam Dada bereits an sein Ende, und im September des Jahres hielt Tristan Tzara(2) die Trauerrede. Im Monat darauf heirateten Arp und Sophie(3) Taeuber, und damit sollte ein neuer Abschnitt beginnen.

Arp ging nach Paris, wo er sich mit den überlebenden Mitgliedern der mittlerweile eingegangenen Dada-Bewegung(2) zusammentat. Einer davon war André Breton(13). Er und sein Kreis ersetzten 1924 die Negativität und bewusste Absurdität der Dadaisten durch ein neues Programm, das auf der Erforschung des Irrationalen und des Unbewussten gründete – Surrealismus. Man begrüßte Arp als Verbündeten, während er sich als Dadaist im eigentlichen Sinn verstand und mit dem politischen Angebertum der frühen Surrealisten wenig anfangen konnte. 1926 wurde Arp französischer Staatsbürger und ließ sich außerhalb von Paris nieder. Er beteiligte sich zwar weiter an den Ausstellungen der Surrealisten, hielt aber bewusst Abstand zu ihren Erklärungen und ihrem Theoretisieren. Nach wie vor nutzte er bei seinen Reliefkompositionen das Prinzip Zufall, doch nachdem er 1929 Constantin Brancusi(2) in dessen Atelier besucht hatte, wandte er sich der Plastik zu; später sollten seine Skulpturen zu seinen wichtigsten Werken gehören. Seine Formen blieben immer biomorph, waren dem menschlichen Torso nachgebildet, zeigten ihn aber stark abstrahiert.

Zu Beginn der Dreißigerjahre war Arp Mitbegründer einer neuen Kunstrichtung, die sich Abstraction-Création(1) nannte. Merkwürdigerweise war sie gegen die surrealistische Bewegung gerichtet: Sie sollte abstrakte Künstler zusammenbringen und Ausstellungen organisieren, die mit den Aktivitäten von Bretons(14) Surrealisten konkurrierten. Dass Arp für diese Gruppe eintrat und sie mitformte, stand in eklatantem Widerspruch zu der Tatsache, dass er nach wie vor an den Unternehmungen der Pariser Surrealisten beteiligt war. Seine eigene Arbeit, die man am besten als abstrakten Biomorphismus beschreibt, passte zu beiden Gruppierungen, weshalb er auch mit beiden gleichzeitig ausstellen konnte. Warum entschied er sich für dieses Doppelleben? Empfand er es als kränkend, dass die dadaistische Bewegung, in der er von 1917 an tätig gewesen war, von einem dominanten Emporkömmling wie dem autokratischen André Breton überholt wurde? Vielleicht war ihm aber auch nur unwohl bei den soziopolitischen Verlautbarungen der Surrealisten. Womöglich war es beides. Ganz gleich, was der Grund war, Arp hatte bald genug von den Richtungskämpfen bei Abstraction-Création und verließ die Gruppe offiziell 1934.

Fünf Jahre später, 1939, als der Zweite Weltkrieg ausbrach, zeichnete Hans Arp seine Arbeiten aus Protest nicht mehr als Hans Arp – er wechselte zu Jean Arp. Mit Sophie(4) zog er in die nicht von den Deutschen besetzte Zone im Süden Frankreichs, wo sie weiter arbeiten konnten, allerdings ohne eigenes Atelier. Ende 1942 flohen sie vor der näherrückenden deutschen Wehrmacht in die Schweiz. Und bald danach, im Januar 1943, ereilte Hans Arp eine Tragödie, als er seine Frau eines Morgens leblos auffand; sie war am ausströmenden Gas eines Ofens erstickt. Dieser Verlust hinderte ihn vier Jahre lang, weiter als Bildhauer zu arbeiten, er lebte ausschließlich in der Erinnerung an Sophie, und eine Zeit lang verbrachte er in völliger Einsamkeit in einem Dominikanerkloster. In seinem Kummer suchte er den Rat des Psychoanalytikers C. G. Jung(1), sein Gemütszustand hatte sich eingetrübt, seine Gesundheit ließ nach, er begann sich für Mystizismus zu interessieren.

1949 reiste Arp zum ersten Mal nach New York, wo er vielen seiner alten Freunde wiederbegegnete. Zwei Jahre später machten sich Herzprobleme bemerkbar, doch er hatte seine Schaffenskraft wiedererlangt. Sein schwaches Herz hinderte ihn nicht daran, mit unverminderter Kreativität in seinem Atelier weiterzuarbeiten. 1954 erwies sich als besonders gutes Jahr für Arp, weil er ebenso wie Max Ernst(9) und Joan Miró(7) bei der Biennale(1) in Venedig mit einem Preis ausgezeichnet wurde. Als junge Künstler waren sie miteinander befreundet gewesen und hatten alle zusammen am Montmartre gewohnt.

1959 heiratete er Marguerite Hagenbach(2), die bereits seit mehreren Jahren seine Gefährtin war.

Mittlerweile waren die Werke Arps so gesucht, dass er in seinem Atelier Assistenten beschäftigen musste, um der Nachfrage zu genügen. Er erhielt zahlreiche Ehrungen, und seine letzten Jahre waren mit Arbeit ausgefüllt, für die er vielfache Anerkennung fand. 1966 erlag er in Basel einem Herzanfall. Max Ernst(10) sagte über seinen Freund, dass er uns gelehrt habe, die Sprache des Universums zu verstehen.

Francis Bacon(1)

Engländer • verstand sich als Surrealist, wollte sich der Londoner Gruppe anschließen, wurde von ihr aber 1935/36 abgelehnt

Geboren: 28. Oktober 1909 in Dublin

Eltern: Vater Engländer, Rennpferd-Trainer; Mutter eine Dame der Gesellschaft und Erbin

Orte: Dublin 1909; Mietwohnungen in England (Kindheit); Irland 1918; Gloucester 1924; Irland 1926; London 1926; Berlin und Paris 1927; London 1928; Monte Carlo 1946; London 1948

Liebesbeziehungen:ERIC HALL 1932–1949 • PETER LACEY 1952–1962 (Tod durch Alkoholmissbrauch) • GEORGE DYER 1964–1971 (Tod durch Überdosis) • JOHN EDWARDS 1974–1992

Gestorben: 28. April 1992 in Madrid, Herzinfarkt

Francis Bacon, 1952. Foto: Henri Cartier-Bresson(1)

Francis Bacon, Figure Study II (Studie für eine Figur II)(1), 1945–1946

EINMAL KONNTE ICH FRANCIS BACON zum Lachen bringen, als ich ihm nämlich sagte, er sei der einzige Künstler, bei dessen Werk mir buchstäblich übel würde. Ich beeilte mich hinzuzufügen, dass nicht etwa der Inhalt seiner Gemälde mich verstörte, sondern ihr Gewicht. Bei einer feuchtfröhlichen Party bat mich der Gastgeber, der eine Reihe von Bacons schreienden Päpsten gekauft hatte, sie in der Reihenfolge ihrer fortschreitenden Auflösung neu zu arrangieren. Auf einigen war der Papst halbwegs realistisch dargestellt, auf anderen zerbarst er, als würde ihn sein eigenes Schreien in Stücke reißen. Meine Aufgabe bestand darin, die Bilder so zu platzieren, dass der Zerfallsprozess von links nach rechts immer weiter fortschritt. Die Bilder waren richtig schwer – größer als ich – und zudem hinter Glas und in schwere Goldrahmen gefasst, um ihre ungefirnisste Oberfläche zu schützen. Ihr Gewicht war so enorm, dass man sie kaum bewegen konnte, doch mein betrunkenes, jugendliches Draufgängertum spornte mich an, und so begann ich, sie von hier nach da zu verschieben, bis sie endlich in der gewünschten Reihenfolge angeordnet waren. Erst da merkte ich, dass mir die Anstrengung akute Übelkeit verursacht hatte, sodass ich so schnell wie möglich zur nächsten Toilette hetzen musste.

Das war in den Vierzigern, als Bacon praktisch unbekannt und mein Freund der Einzige war, der ihn in großem Stil sammelte. Als ich Francis in den Sechzigern selbst kennenlernte, war er bereits berühmt, überraschenderweise zugleich aber sehr bescheiden. So wollte er von mir wissen, ob die Figur des schreienden Pavians, die er gemalt hatte, überzeugend sei. Ich sagte Ja, aber das war eine fromme Lüge. Man hatte mir erzählt, dass Bacon statt nach der Natur lieber nach Fotovorlagen malte. In diesem konkreten Fall kannte ich sogar das Foto, das er für seinen Pavian verwendet hatte. Und dieser Pavian schrie gar nicht, sondern riss den Mund zum Gähnen auf. Ich wagte nicht, ihm das zu sagen, denn Bacon war berüchtigt dafür, mit einem Teppichmesser auf jedes Bild loszugehen, mit dem er unzufrieden war, und seinen Pavian hätte womöglich das gleiche Schicksal ereilt, wenn ich Bacon die Wahrheit gesagt hätte. Man weiß, dass er mehr als hundert seiner Bilder zerstückelt hat, und ich wollte an einem weiteren Exzess dieser Art nicht schuld sein. Ich wechselte das Thema, wir sprachen über andere Gesichtsausdrücke, und ich musste lachen, als er sagte: »Ich glaube, den Schrei kann ich jetzt, aber das Lächeln macht mir enorme Probleme.«

Es mag vielleicht überraschen, dass ich Francis Bacon in ein Buch über die Surrealisten aufnehme. Ich tue das schlicht deshalb, weil er sich selbst als Surrealist sah. Er hoffte, in die britische Surrealistengruppe(1) aufgenommen zu werden und an ihrer großen Ausstellung im Jahr 1936(3) teilnehmen zu dürfen. Um zu entscheiden, ob er dabei sein sollte oder nicht, besuchten ihn Herbert Read(2) und Roland Penrose(3) in seinem Londoner Atelier, doch als sie seine Arbeiten sahen, reagierten sie bestürzt, weil sie das, was sie sahen, für religiös hielten. Zu Bacons großer Enttäuschung lehnten sie ihn deswegen ab. Eine Ablehnung, die auf einem Missverständnis beruhte, denn in Bacons Kunst gab es nicht einen Hauch Religiöses. Sein Interesse an Kreuzigungen ging nicht auf die christliche Ikonografie zurück, sondern auf seine eigenen, höchstpersönlichen sexuellen Fantasien. Francis hatte eine Vorliebe für drastische sadomasochistische Praktiken, und die gekreuzigten Gestalten waren nichts anderes als Selbstporträts. Sie erklären sich aus dem, was er in seiner Kindheit erlebt hatte.

Francis Bacons Vater trainierte Rennpferde in Curraugh, dem berühmten Militärstützpunkt im irischen County Kildare, und sein Sohn war eine einzige Enttäuschung für ihn. Der Vater lebte in einer betont maskulinen Welt und musste mit Schrecken feststellen, dass sich sein Sohn alles andere als männlich benahm. Die Reaktion des Vaters auf diese Entdeckung prallte auf geradezu verstörende Weise auf ihn zurück: Dieser ließ den Sohn wegen seines weibischen Verhaltens von den Stallburschen auspeitschen, doch Francis gefiel das, und er hatte sogar Sex mit seinen Folterknechten. Darauf wurde Francis in ein Internat gesteckt, wo er umgehend eine Affäre mit einem Mitschüler begann, mit der Folge, dass man ihn wieder hinauswarf. Als der Vater Francis schließlich auch des elterlichen Hauses verwies, weil er die Unterwäsche seiner Mutter angezogen hatte, tauchte er auf der Stelle in die homosexuelle Unterwelt Londons ein. Als dem Vater langsam klar wurde, wie es um seinen Sohn stand, leistete er sich einen weiteren gravierenden Fehler, indem er den Sohn erneut verbannte, diesmal nach Berlin, ohne zu wissen, dass in Berlin, praktisch die sexuelle Hauptstadt im Zwischenkriegseuropa, alles erlaubt war. Francis war in seinem Element. Sein Vater hatte jede Runde des Familiendebakels verloren, und der Sohn war endgültig frei und konnte tun, was er wollte.

Als Francis Bacon schließlich von Berlin nach Paris zog, fand er sich in Gesellschaft weiterer Künstler wieder und begann zu malen. 1928 sah er Bilder von Pablo Picasso(5), der als Erster großen Einfluss auf ihn hatte. Nach einer Weile kehrte er nach London zurück, wo er weiter malte und seinen Lebensunterhalt als Stricher verdiente – er bot seine Dienste in den Spalten der erlauchten Times taktvoll unter »Herrenbegleitung« an.

Später, im Krieg, während der deutschen Luftangriffe auf London, meldete er sich freiwillig, um in den Monaten, als die Bombardierung immer mehr Opfer forderte, bei der grausigen Arbeit mitzuhelfen, verstümmelte Körper aus zerstörten Häusern zu bergen. Diese Erfahrung liegt den unvergesslichen Darstellungen von zerstückeltem Fleisch zugrunde, die bald darauf Eingang in seine Gemälde finden sollten. Als der Krieg vorbei war, begann er sich ausschließlich der Kunst zu widmen, doch durfte sie seinen sexuellen Exzessen nie im Weg stehen.

Francis’ sexuelle Vorlieben waren immer gefährlich. Er war zu hundert Prozent schwul in einer Zeit, als es noch strafbar war, und er war ein hingebungsvoller Masochist, der damit ständig Verletzungen riskierte. Im Unterschied zur schwulen Gemeinschaft von heute war er aber nicht stolz darauf, sondern erklärte kategorisch, dass Homosexualität ein Defekt sei, »so ähnlich wie ein Hinkebein«. Er klagte also nicht darüber, dass die Polizei alles Homosexuelle in den Untergrund drängte, ganz im Gegenteil. Er war entschieden dagegen, dass Homosexualität legalisiert werden sollte, weil er um den damit verbundenen Reiz des Verbotenen fürchtete. Als sie 1967 schließlich bedingt straffrei wurde, gab er seine Ablehnung zu Protokoll und erklärte, es sei »viel interessanter gewesen, als es verboten war«. Bacon genoss es, wenn er verprügelt wurde, und scheint eine erstaunliche physische Schmerztoleranz gehabt zu haben. Dem amerikanischen Dichter Allen Ginsberg(1) gestand er einmal, dass er sich Spielgeld verdiente, indem er sich schlagen ließ; für jeden Hieb, nach dem er blutete, gab es eine Extrazahlung. Da er bewusst brutale Partner suchte, erlitt er oft Verletzungen, was sein lebenslanges Drängen in die extremsten Sphären der Sexualität noch anstachelte. Selbst als alter Mann mit über achtzig Jahren suchte er noch nach jungen Liebhabern.