Das Leben eines Anderen - Keiichirō Hirano - E-Book

Das Leben eines Anderen E-Book

Keiichirō Hirano

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Beschreibung

Akira Kido lebt in Yokohama, ist Ende dreißig, Vater eines vierjährigen Sohnes, Ehemann und Scheidungsanwalt. Er hadert mit seinem Leben, seiner Ehe, alles erscheint ihm festgefahren und auf unbestimmte Weise falsch. Da wird er von einer ehemaligen Klientin aufgesucht und um Ermittlungen zu ihrem kürzlich verstorbenen Ehemann Daisuke gebeten. Ein Jahr nach dessen Tod stellte sie fest, dass Daisukes Identität auf einer Lüge basierte: sein Name, seine Vergangenheit, seine Personalakte – alles gefälscht, Daisuke war nicht derjenige, der er vorgab zu sein. Kido beginnt mit den Recherchen und deckt ein komplexes System von Identitätstausch auf. Bis er schließlich selbst von der Idee verführt wird, sich Das Leben eines Anderen Mannes anzueignen, um dem eigenen Schicksal zu entgehen.

Was geschieht, wenn wir mit einer anderen Person die Identität tauschen? Wie liebt man, wie lebt man in der Lüge? Keiichirō Hirano, der große, bisher unübersetzte Gegenwartsautor Japans, schreibt in einem raffinierten literarischen Spiel über eine scheinbar ganz normale japanische Familie – und über das fatale Verlangen, Das Leben eines Anderen zu führen.

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Seitenzahl: 418

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Titel

3Keiichiro Hirano

Das Leben eines Anderen

Roman

Aus dem Japanischen von Nora Bierich

Suhrkamp

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2022.

© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44 b UrhG vor.

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Umschlaggestaltung: Anzinger und Rasp, München

Umschlagfoto: Hayden Verry / Arcangel

eISBN 978-3-518-77229-4

www.suhrkamp.de

Das Leben eines Anderen

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

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Impressum

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7VorredeDer Protagonist dieses Romans ist ein Mann, den ich eine Zeit lang ganz vertraulich Kido-san genannt habe. Sie werden sicher bald verstehen, warum ich seinem Nachnamen trotz dieser Vertrautheit ein »san« anhängt habe, und auch, was mich mit diesem Menschen verbindet.

Das erste Mal begegnete ich Kido-san, als ich auf dem Heimweg von einer Lesung in einem Buchladen war. Ich hatte zweieinhalb Stunden ohne Unterlass geredet und war leicht aufgedreht. Um mich zu beruhigen, bevor ich nach Hause ging, betrat ich eine Bar, an der ich zufällig vorbeikam. Dort an der Theke saß Kido-san, allein, er hatte ein Glas vor sich.

Er plauderte mit dem Barmann, und ohne dass ich es wollte, lauschte ich den beiden. Irgendwann musste ich lachen, und so kamen wir ins Gespräch. Kido-san stellte sich mir vor, allerdings mit falschem Namen und Lebenslauf. Doch damals glaubte ich ihm, ich hatte keinen Anlass, an dem zu zweifeln, was er sagte.

8Er war nicht sonderlich hübsch, trug eine Brille mit schwarzgerahmten, eckigen Gläsern, dennoch passte er mit seinen bedeutungsvollen Gesichtszügen zu der dämmrigen Bar. Wer so aussieht, dachte ich, ist auch noch attraktiv, wenn sich die ersten Falten zeigen und das Haar grau wird. Als ich meine Einschätzung äußerte, legte Kido-san ein wenig den Kopf zur Seite und antwortete leicht befremdet: »Ach, Unsinn …«

Er schien nicht zu wissen, wer ich war, und als er es erfuhr, war es ihm peinlich, was mich wiederum verlegen machte. So etwas passiert mir hin und wieder. Der Beruf des Schriftstellers interessierte ihn, er stellte mir detaillierte Fragen, dann sah er mich plötzlich an, schien tief ergriffen, und sagte: »Entschuldigen Sie.« Ich runzelte die Stirn, woraufhin er mir erklärte, dass der Name, mit dem er sich vorgestellt habe, nicht sein richtiger sei und dass er in Wirklichkeit Kido Akira heiße. Er bat mich noch, dem Barbesitzer nichts davon zu sagen, und erwähnte, dass er Rechtsanwalt und 1975 geboren sei – genau wie ich.

Da ich selbst einmal Jura studiert habe, wenn auch nicht sehr ernsthaft, bin ich schnell eingeschüchtert, wenn ich Juristen begegne, doch jetzt, nach seinem Geständnis, fühlte ich mich keineswegs unterlegen. Denn alles, was Kido-san von seinem Leben erzählt hatte, wirkte erbärmlich und bemitleidenswert.

Ich fragte ihn ganz direkt, warum er mir solche Lügen aufgetischt habe. Ich fand, das gehöre sich nicht. Er zog die Augenbrauen zusammen und erwiderte, wobei er kurz nach den passenden Worten zu suchen schien: »Ich versuche mich aufrecht zu halten, indem ich den Schmerz anderer Menschen lebe.« Es lag Selbstironie in seinen Worten, und er lachte traurig.

9»Wer nach Mumien sucht, wird irgendwann selbst zur Mumie … Kennen Sie das Gefühl, mit Lügen aufrichtig sein zu wollen? Das geht natürlich nur an einem Ort wie diesem hier und nur für einen kurzen Moment. Für einen sehr kurzen Moment. Aber letztlich empfinde ich Zuneigung für einen wie mich. Eigentlich will ich über mich selbst nachdenken, und zwar unmittelbar. Doch ich schaffe es nicht, es macht mich krank. So ist es nun mal. Alles andere, was in meiner Hand liegt, habe ich getan. Vielleicht wird das auch bald nicht mehr nötig sein. Ich hätte nie gedacht, dass es einmal so kommen würde …«

Seine Andeutungen irritierten mich, zugleich aber beeindruckte mich, was er sagte. Ich spürte eine unabwendbare Sympathie für ihn in mir aufkommen.

»Aber Ihnen werde ich von nun an die Wahrheit sagen«, fügte Kido-san hinzu.

Abgesehen von dieser anfänglichen Lügengeschichte war Kido-san ein offenherziger, ruhiger und gutmütiger Mensch. Er war sensibel, hatte ein feines Gespür, und in allem, was er sagte, offenbarte sich sein tiefgründiger und komplizierter Charakter.

Es war angenehm, mit ihm zu reden. Er verstand genau, was ich sagte, und ich wusste, was er sagen wollte. So einem Menschen begegnet man nicht oft. Auch die Liebe zur Musik verband uns. Und gewiss, so vermutete ich, gab es einen Grund, warum er mir erst einen falschen Namen genannt hatte.

Als ich irgendwann, es war wieder derselbe Wochentag, noch einmal in der Bar vorbeischaute, saß Kido-san allein am Tresen und forderte mich auf, neben ihm Platz zu nehmen. Der Besitzer saß in einiger Entfernung. Wir trafen uns danach noch mehrmals dort, saßen immer auf denselben Stühlen und redeten bis tief in die Nacht.

10Kido-san trank immer Wodka. Obwohl er recht dünn war, konnte er einiges vertragen, und selbst wenn er behauptete, betrunken zu sein, blieb sein Ton immer gleich, er war immer ruhig.

Langsam wurden wir vertrauter. Wenn man älter wird, passiert es selten, dass man noch einmal einen guten Trinkkumpanen findet. Unsere Freundschaft beschränkte sich jedoch auf den Tresen jener Bar, wir fragten einander nicht einmal, wo wir wohnten. Kido-san traute sich wahrscheinlich nicht. Und ich war, um ehrlich zu sein, lieber vorsichtig. Jetzt habe ich ihn schon länger nicht mehr getroffen, womöglich werde ich ihn nicht wiedersehen. Dass er die Bar nicht mehr aufsucht – sie nicht mehr braucht –, deute ich als gutes Zeichen.

Ein Schriftsteller ist immer, ob bewusst oder unbewusst, auf der Suche nach Menschen, die ihm als Modelle für seine Romane dienen könnten. Er hofft, dass eines Tages ganz plötzlich, wie durch einen glücklichen Zufall, Meursault oder Holly Golightly vor ihm stehen. Als Vorlage eignen sich vor allem außergewöhnliche Menschen, allerdings müssen sie auch etwas an sich haben, was sie zum Sinnbild für Andere oder einer ganzen Zeit werden lässt, damit sie, durch die Fiktion geläutert, Symbolcharakter erhalten.

Manchmal, wenn mir Leute von den dramatischen Höhen und Tiefen ihres Lebens erzählen, bekomme ich Lust, ihre Erlebnisse in einem Roman zu verarbeiten, sie ermuntern mich hin und wieder sogar kaum merklich dazu, als wollten sie eigentlich sagen: »Schreiben Sie ruhig über mich.« Aber wenn ich mir ihre aufregenden Geschichten dann ernsthaft vornehmen will, zögere ich. Obwohl sich derartige Bücher bestimmt gut verkaufen würden.

11Ich entdecke meine Modelle eher in Personen, die ich schon lange kenne. Da ich mich ungern mit Menschen umgebe, die mich nicht wirklich interessieren, haben alle, mit denen ich in Beziehung stehe, etwas Besonderes an sich. Und dann stelle ich plötzlich, durch irgendeinen Zufall, erstaunt fest, dass sich eine bestimmte Person für die Hauptfigur meines nächsten Romans eignen könnte, nach der ich schon so lange suche.

Die Protagonisten größerer Romane verbringen viel Zeit mit ihren Lesern, daher erscheinen mir Personen geeignet, für die ich in Ruhe und über einen längeren Zeitraum ein tiefes Verständnis entwickelt habe.

Von unserem zweiten Treffen an erfuhr ich nach und nach, warum Kido-san einen falschen Namen benutzt hatte; es war eine recht komplizierte Geschichte. Fasziniert saß ich da, die Arme verschränkt, und stellte Vermutungen an, warum er mir das alles erzählen wollte. Er sagte zwar nicht: »Schreiben Sie ruhig über mich«, aber die Möglichkeit war ihm ohne Zweifel bewusst. Kido-san tatsächlich als Vorlage für meine Romanfigur zu nehmen, habe ich jedoch zu einem anderen Zeitpunkt entschieden, als ich nämlich zufällig einen Rechtsanwalt traf, der ihn gut kannte.

Auf meine Frage, was für ein Mensch Kido-san sei, antwortete er, ohne zu zögern: »Ein großartiger Mann. Gutmütig, zu Taxifahrern beispielsweise. Wenn sie den Weg nicht wissen, erklärt er ihnen freundlich und präzise, wie sie fahren müssen, er ist wirklich beeindruckend.«

Ich lachte, musste aber zugeben, dass solch ein Verhalten in unserer heutigen Zeit in der Tat bemerkenswert war – zumal, wenn man so viel Geld besaß.

Der Anwalt berichtete noch von anderen ungewöhnlichen 12Dingen, so auch von einer anrührenden Begebenheit, die Kido-san selbst nie erwähnt hatte, und allmählich konnte ich mir ein lebhaftes Bild davon machen, wie traurig und einsam dieser Mann sein musste, der genauso alt war wie ich und demnach nicht mehr ganz jung. Doch er war, auch wenn das vielleicht etwas veraltet klingt, eine Persönlichkeit.

Um diesen Roman zu schreiben, habe ich sowohl mit dem Anwalt als auch mit anderen Bekannten von Kido-san gesprochen, ich habe Dinge recherchiert, zu denen sich Kido-san aufgrund der Schweigepflicht nur vage geäußert hat, ich habe alles ein wenig ausgeschmückt und in Fiktion verwandelt. Kido-san selbst hätte wahrscheinlich nie so viel von seiner Arbeit preisgegeben, doch ich bin dabei den Notwendigkeiten meines Romans gefolgt.

In meinem Buch treten weitere recht besondere Charaktere auf, sodass sich manche fragen mögen, warum ich nicht eine der Nebenfiguren zum Protagonisten gewählt habe. Doch während Kido-san mehr und mehr vom Leben eines Anderen besessen war, dem er hinterherrannte, folgte ich ihm, weil ich glaubte, dass es auch bei ihm etwas zu entdecken gab.

In einem Bild von René Magritte, das den Titel La reproduction interdite trägt, sieht man einen Mann von hinten vor einem Wandspiegel stehen. Im Spiegel ist er ein weiteres Mal von hinten zu sehen, wie er in die Tiefe des Spiegels schaut. Die hier vorliegende Geschichte weist Ähnlichkeiten mit Magrittes Gemälde auf. Und vielleicht werden die Leser hinter mir als Autor, der von Kido-san besessen ist, das Thema dieses Romans entdecken.

Vielleicht werden Sie aber auch, durch meine Vorrede irritiert, Zweifel daran hegen, ob es sich bei dem Mann in der Bar tatsächlich um Kido-san handelt. Das wäre durchaus ver13ständlich, doch ich persönlich bin überzeugt, dass er der ist, der er zu sein behauptet.

Auch wenn die Geschichte eigentlich mit Kido-san beginnen sollte, möchte ich zuerst von einer Frau namens Rie berichten. Denn seinen Anfang nimmt dieser Roman mit einem äußerst merkwürdigen und bedauernswerten Ereignis, das ihr widerfahren ist.

151Mitte September 2011 verbreitete sich in der Stadt S. die Nachricht, dass der Mann von Rie, der Besitzerin des Schreibwarengeschäfts, zu Tode gekommen sei.

Während in Japan alle mit dem Jahr 2011 das Große Tōhoku-Erdbeben verbinden, prägte sich Daisukes eher unscheinbarer Tod manchen Bewohnern der im Zentrum der Präfektur Miyazaki gelegenen Kleinstadt S. noch stärker ein. Denn nicht wenige der etwa 30000 Einwohner der südlichen Provinzstadt, so auch Ries Mutter, waren noch nie einer Person begegnet, die aus dem Nordosten Japans stammte, wo sich das Erdbeben ereignet hatte.

Auf der Landkarte kann man sehen, wie die alte Mera-Fernstraße, die über die Berge von Kyūshū bis nach Kumamoto führt, das Zentrum der Stadt S. durchzieht. Tatsächlich bestimmt sie die Struktur der Stadt. Bis in das südöstlich gelegene Miyazaki sind es mit dem Auto etwa 40 Minuten.

Die Stadt S. hat allerlei zu bieten: Wer sich für die Geschichte des Altertums interessiert, dem kommen sicher sofort die riesigen Kofun-Hügelgräber in den Sinn. Base16ball-Fans bringen eher das im Frühling stattfindende Trainingscamp eines ihrer Teams mit der Stadt in Verbindung, und wer Staudämme mag, der weiß, dass sich dort der größte Staudamm Kyūshūs befindet. Rie interessierte sich jedoch, typisch für eine Einheimische, kaum für die Attraktionen ihrer Stadt, auch wenn sie später eine besondere Zuneigung für die Kirschbäume im Kofun-Park entwickeln sollte.

Vor ein paar Jahren hatte die Stadt S. eine gewisse Berühmtheit erlangt, als in einem Dokumentarfilm von einem nahegelegenen Dorf in den Bergen berichtet wurde, das von seinen Bewohnern in den 1980er Jahren, dem Höhepunkt der Landflucht, aufgegeben worden war. In der Folge entwickelte sich eine Art Ruinen-Hype, und plötzlich sah man hier und dort Touristen mit verächtlichen Blicken durch die Straßen ziehen, die sich am Verfall ergötzten.

Wenige Jahre darauf, in der Wirtschaftsblase Ende der 1980er Jahre, also am Ende der Shōwa-Zeit, hatte man noch mal einiges in das Stadtzentrum investiert, sodass es zu gewissem Wohlstand gelangte. Doch heute sind angesichts der wenigen Geburten und der Überalterung viele Rollläden in der Geschäftsstraße geschlossen, die nun den traurigen Spitznamen »Shōwa-Hügelgrab« trägt. Der Seibundō-Schreibwarenladen im Erdgeschoss von Ries Elternhaus war eins der wenigen Geschäfte an der Mera-Straße, die noch geöffnet hatten.

Ries verstorbener Ehemann, Taniguchi Daisuke, war in die Stadt gekommen, kurz bevor der Film über das verlassene Bergdorf für Aufsehen sorgte. Er hatte Arbeit in der Holzwirtschaft gesucht, und obwohl er mit seinen 35 Jahren keinerlei Erfahrung vorweisen konnte, fand er schließlich eine Anstellung bei Itō-Holz. Dort arbeitete er vier Jahre lang, 17und zwar mit einer solchen Gewissenhaftigkeit, dass ihm sogar der Chef Respekt zollte. Bis er schlussendlich von einer von ihm selbst gefällten Zeder erschlagen wurde. Da war er 39 Jahre alt.

Taniguchi Daisuke war ein schweigsamer Mensch, er hatte Kollegen, aber keine Freunde, mit denen er sich ausgetauscht hätte, und außer Rie wusste kaum jemand etwas Genaueres über sein Vorleben. Sicherlich gab es auch Dinge, die er niemandem erzählte, doch das war bei Fremden, die es aus irgendwelchen Gründen in einsame Ortschaften verschlug, keine Seltenheit. Er blieb rätselhaft.

Was Daisuke von den sonstigen Hinzugezogenen unterschied, war, dass er nicht einmal ein Jahr nach seiner Ankunft Rie vom Schreibwarengeschäft heiratete. Rie war die einzige Tochter, ihre Eltern hatten das Geschäft bereits von Ries Großvater übernommen. Jeder im Ort kannte sie, und von ein paar Eigenheiten abgesehen, war sie eine verlässliche Person mit klarem Verstand. Als sie und Daisuke heirateten, waren die Leute im Ort überrascht, doch da sie annahmen, dass Rie ihren künftigen Ehemann eingehend kennengelernt und nichts Problematisches an ihm gefunden hatte, stellten sie keine weiteren Fragen zu Daisuke und seiner Vergangenheit.

Der Chef von Itō-Holz, der seinen Mitarbeiter und dessen sanftmütige Art schätzte, freute sich über die Heirat, stieg doch damit die Wahrscheinlichkeit, dass Daisuke in der Stadt bleiben würde. Für die Beamten im Rathaus wiederum und ihr »Zurück aufs Land«-Programm galt die Verbindung als mustergültig.

Niemand sprach schlecht über Taniguchi Daisuke, was auch daran lag, dass er mit Rie verheiratet war. Und wenn einer doch mal etwas Hässliches oder Boshaftes sagte, stieß dies 18auf allgemeines Missfallen, und meist legte dann ein Anderer ein gutes Wort für ihn ein. Daisuke war also durchaus beliebt, könnte man sagen.

Er war ein stiller, aber nicht unbedingt düsterer Mensch, er suchte nicht von sich aus das Gespräch, stand jedoch freudig Rede und Antwort, wenn er etwas gefragt wurde. Er strahlte eine eigenartige Gelassenheit aus, und Itō, sein Chef, sagte zuweilen, die Arme vor der Brust verschränkt: »Der Kerl hat Format.« Daisuke wurde nie wütend, er war nicht launisch, blieb immer freundlich, doch bei gefährlichen oder ineffizienten Arbeitseinsätzen bezog er deutlich Stellung. Da es bei der Arbeit im Wald jederzeit zu Unfällen kommen konnte, fiel schnell einmal ein grobes oder scharfes Wort, Daisuke aber, dem Neuen unter den Männern, gelang es meist, aufkommenden Ärger abzuwenden.

An die drei Jahre braucht es, so sagt man, um Kettensägen, Prozessoren und Holzgreifer eigenständig bedienen zu können, Daisuke wurden sie bereits nach eineinhalb Jahren anvertraut. Er konnte Situationen einschätzen, war mutig und sowohl psychisch als auch physisch in gesunder Verfassung.

Schweigend ging er seiner Arbeit nach, egal, ob im Sommer die Sonne brannte oder im Winter ein frostiger Schneeregen fiel, er beklagte sich nie. »Sag Bescheid, wenn du nicht mehr kannst«, ermahnte ihn der Vorarbeiter hin und wieder. Wer einen Mitarbeiter neu einstellt, weiß erst im Nachhinein, ob die Entscheidung gut war, doch mit Daisuke hatte sein Chef die richtige Wahl getroffen, wie er stolz vor Kollegen aus der Branche prahlte, und das lag, wie er vermutete, daran, dass Daisuke studiert hatte.

Itō führte die Firma schon in der dritten Generation, aber einen Mitarbeiter wie Daisuke hatte er noch nie gehabt.

19Als Daisuke starb, trauerten die Nachbarn mit Rie, sie kannten sie schon von klein auf. »Sie ist gezeichnet«, sagten sie. »Gezeichnet« bedeutete, dass sie kein Glück hatte. Es ist eine altmodische Redewendung, die im Kyūshū-Dialekt heute noch verwendet wird, und besonders alte Menschen, die auf ein langes Leben zurückblicken, drücken damit ihr aufrichtiges Bedauern aus. Das heißt aber nicht, dass die Bewohner Kyūshūs wenig Glück haben oder fatalistischer sind als Andere.

Jedem kann ein Unglück zustoßen. Zugleich aber glauben wir, ohne es näher begründen zu können, dass ein großes Unglück einen Menschen nur einmal im Leben trifft. Die Glücklichen tun dies aus einer gewissen Naivität heraus. Und wem tatsächlich ein Unglück widerfahren ist, der wünscht inständig, dass ihn kein zweites treffen möge. Doch bei dem großen Unglück, das einen angeblich nur einmal heimsucht, verhält es sich so wie mit dem streunenden Hund, der stur immer weiter derselben Person hinterhertrottet. Und weil das Unglück Menschen also verfolgt, nehmen sie religiöse Reinigungszeremonien vor oder lassen sogar ihren Namen ändern.

Mit Daisuke hatte Rie bereits drei ihrer liebsten Menschen verloren.

Bis zum Abschluss der Oberschule hatte sie bei ihren Eltern in S. gewohnt, dann war sie zum Studium nach Yokohama gezogen, hatte dort eine Arbeit gefunden und mit 25 Jahren ihren ersten Mann geheiratet. Mit diesem bekam sie zwei Söhne: Yūto und Ryō.

Als Ryō zwei Jahre alt war, wurde bei ihm ein nicht heilbarer Hirntumor diagnostiziert, er starb ein halbes Jahr später. Zum ersten Mal in ihrem Leben stürzte Rie, die eine 20glückliche Kindheit und Jugend gehabt hatte, in eine so tiefe Trauer, dass sie nicht mehr weiterwusste.

Bevor Ryō starb, hatte sie sich mit ihrem Mann wegen möglicher Therapien ihres Sohnes gestritten. Die Verletzungen, die sie damals erfuhr, hatten sich tief in ihr eingebrannt. Nach dem Tod ihres Sohnes beschwor ihr Mann sie, das Leid als Familie gemeinsam durchzustehen, doch sie schüttelte nur den Kopf. Der Streit um die Scheidungsmodalitäten dauerte elf Monate, dann einigten sie sich. Dank ihres versierten Rechtsanwalts bekam sie das Sorgerecht für ihren Sohn Yūto zugesprochen, das auch ihr Mann beansprucht hatte. Ihre Schwiegereltern, mit denen sie sich immer gut verstanden hatte, schickten ihr eine Postkarte, auf der sie sie als »Unmensch« beschimpften.

Kurz darauf starb, ganz unerwartet, ihr Vater in Miyazaki. Damals entschied Rie, mit Yūto zurück nach Kyūshū zu ziehen.

Die Menschen ihrer Heimatstadt hatten großes Mitleid mit Rie und ihrem schweren Schicksal. Sie hatten das ›nette Mädchen‹ schon immer gemocht.

Sie war ein niedliches Kind gewesen, ruhig oder fast schweigsam, ihr Blick schien immer in die Ferne zu schweifen, als hinge sie ganz eigenen Gedanken nach. Die Freundinnen zogen sie oft damit auf: »Seht mal, Rie träumt schon wieder!«

Sie war zwar nicht gerade eine Musterschülerin, hatte aber doch so gute Noten, dass klar war, sie würde nicht auf die hiesige Oberschule, sondern auf eine Schule in Miyazaki wechseln und müsste jeden Morgen und Nachmittag eine Stunde mit dem Bus fahren. Ihre Freundinnen wunderten sich nicht über diese Entscheidung. Und obwohl Rie ein so 21zurückhaltendes Wesen hatte, gab es in jedem Jahrgang – sowohl in der Mittel- als auch in der Oberschule – immer ein paar Jungs, die heimlich in sie verschossen waren und ihr im Klassenzimmer oder auf dem Flur aus gebotener Entfernung nachblickten.

Ries Eltern waren stolz auf ihre einzige Tochter, die später in Yokohama studierte, einen angehenden Architekten heiratete und schon bald zwei Kinder zur Welt brachte. Es gab niemanden, bei dem sie mit ihrer heiteren Art ein Gefühl der Abneigung oder Missgunst hervorgerufen hätte.

Dann aber nahm Ries Leben die für alle unvorstellbare Wendung. Keiner, weder ihre Schulkameradinnen noch die späteren Freunde, hatten je an ihrem Glück gezweifelt, und fühlten daher umso mehr mit ihr, als sie von dem Tod ihres kleinen Sohnes erfuhren, sowie davon, dass sie sich von ihrem Mann hatte scheiden lassen und in die Heimat zurückkehrte, ja mehr noch, Ries Unglück machte sie unsagbar wütend. Es machte ihnen Angst, dass die Welt, in der sie lebten, zu solchem Unglück fähig war. Und als dann Ries zweiter Mann, Taniguchi Daisuke, starb, mit dem sie gerade einmal drei Jahre und neun Monate verheiratet gewesen war, wussten alle, dass sie nie etwas Schlechtes über ihn sagen würden, schon allein deswegen, weil er Ries Mann gewesen war.

Als Rie Daisuke kennenlernte, hatte sie gerade von ihrer Mutter die Führung des Geschäfts übernommen. Sie verbrachte die Tage im Laden, stand in Gedanken versunken da, kassierte oder fuhr mit dem Auto Büroartikel zu ihren Kunden aus – zur Bank, ins Rathaus und zu ihrer alten Mittelschule. Dort traf sie auf alte Bekannte, die ihr Trost zusprachen, begegnete aber auch, da sie von ihrem Vater zudem die Ver22tretung für den großen Versandhandel geerbt hatte, einigen neuen Kunden, mit denen sie sich im Umgang unbeschwerter fühlte.

Kaum war sie allein, musste sie an ihren toten Sohn denken, dann weinte sie oft. Sie musste daran denken, wie sie etwa einen Monat vor Ryōs Tod bei ihm im Krankenhaus gewesen und für ein Gespräch mit dem Arzt kurz aus dem Zimmer gegangen war. Als sie zurückkam, hatte Ryō still dagelegen und an die Decke geschaut, sie konnte sein kleines Gesichtchen nicht vergessen. Was er wohl fühlte oder dachte? Die Fähigkeit zu denken, die ihn für die nächsten Jahrzehnte hätte wappnen sollen, diente ihm nun zur Erkenntnis seines näher kommenden Todes. Auch wenn er natürlich bis zum Schluss nicht verstand, was für ein entsetzliches Geschehen sich da in seinem Körper abspielte. – Wenn Rie sich an diesen Anblick erinnerte, fühlte sie ihre Beine so schwach werden, dass sie sich unwillkürlich niederkauerte und die Hände vor ihr Gesicht presste.

Doch sie hatte ja noch ihren großen Sohn Yūto und wünschte sich, dass er möglichst sorglos aufwachse. Yūto war noch jung, und der Tod seines Bruders hatte ihn nicht so stark mitgenommen, er wirkte seit ihrer Rückkehr erstaunlich fröhlich – für Rie war das der einzige Trost.

Sie musste auch an ihren Vater denken; an ihren Vater, der in ihrem Leben nicht ein Mal seine Stimme gegen sie erhoben hatte, der immer großzügig und voller Liebe für sie gewesen war. Auch wenn sie nicht sehr gläubig war – ihre Familie gehörte der Jōdō-Gemeinschaft an und praktizierte nur den sogenannten Beerdigungs-Buddhismus –, stellte sie sich oft vor, wie er im Paradies auf seinen Enkel Ryō aufpasste. Dann wurde ihr leichter ums Herz. Ihre Mutter bestärkte sie in diesem Glauben. »Der kleine Ryō ist ja nicht allein«, 23sagte sie. »Vater hat sich seinetwegen schon früher ins Paradies aufgemacht. Er ist ihm gefolgt, damit er keine Angst haben muss. Rie braucht ja noch eine Weile, meinte er, da mach ich mich schon mal auf den Weg.«

Vierzehn Jahre war es her, seit Rie die Oberschule abgeschlossen hatte und fortgegangen war. Jetzt lebte sie wieder in der Heimat, was sie als tröstend empfand, doch manchmal, wenn sie regungslos im Geschäft an ihrem Schreibtisch saß, überkam sie ein Gefühl der Leere, und sie hatte Angst, ob sie das alles schaffen würde. Sie hatte das Gefühl, als sei das Band zwischen ihr und der Welt zerrissen, die Zeit zog an ihr vorbei, ohne dass sie etwas empfinden konnte. Als würde jemand Abfälle in einen Teich werfen, die erst zu Boden sinken, um dann später wieder an die Oberfläche zu steigen, tauchte in ihrem Bewusstsein mit einem Mal der Gedanke auf, dass es gar nicht so schrecklich wäre, zu sterben. Ihr kleiner Ryō hatte es bereits hinter sich gebracht und wartete mit ihrem Vater auf sie. Bei dieser unsinnigen Vorstellung spürte sie, wie ihr plötzlich eine frostig kalte Angst in die Knochen fuhr.

Wenn Rie in der ersten Zeit nach ihrer Rückkehr in den sozialen Netzwerken die Nachrichten und Posts ihrer Freundinnen und Freunde aus Yokohama sah, verspürte sie Neid, doch irgendwann, nachdem sie eine Woche pausiert hatte, stellte sie zu ihrer Überraschung fest, dass die Fotos und Nachrichten sie nicht mehr interessierten.

Obwohl im Laden nicht viel los war, konnten Rie, ihre Mutter und ihr Sohn dank der Bestellkunden von dem Schreibwarengeschäft leben. Die Zukunft sah allerdings nicht sehr rosig aus. Früher war sie jedes Jahr zu Obon und Neujahr heimgekehrt, sie hatte die geschlossenen Fensterläden der anderen Geschäfte gesehen, doch erst jetzt bemerkte 24sie die Einsamkeit; es war, als hätte man sie in einem leerstehenden, dem Verfall anheimgegebenen Haus allein zurückgelassen.

In dem Gebäude gegenüber war früher im ersten Stock die Klavierschule gewesen, in die sie acht Jahre lang gegangen war. Jetzt wurde es nicht mehr genutzt, das Haus verfiel. Es gab anscheinend noch nicht mal mehr Jugendliche, die Graffiti an die Wände sprühten. Einmal in der Woche war sie als Kind dorthin gegangen, war danach wieder ins Geschäft gekommen, hatte ihre Hausaufgaben erledigt und darauf gewartet, dass ihr Vater mit der Arbeit fertig würde. Voller Wehmut dachte sie zurück an die Zeit, als sie neben ihm auf dem Beifahrersitz gesessen hatte, und nur sie beide den nicht sehr weiten Weg nach Hause fuhren …

Sollte sie vielleicht doch eher Richtung Tōkyō oder vielleicht nach Hakata ziehen und sich dort eine Arbeit suchen? Manchmal hatte Rie solche Ideen, doch sie beließ es dabei, es schien ihr zu mühsam, sie wirklich in die Tat umzusetzen.

Im Februar des Jahres nach ihrer Rückkehr betrat Taniguchi Daisuke zum ersten Mal das Seibundō-Schreibwarengeschäft. Rie war gerade erst von einer Erkältung genesen, denn obwohl es in Kyūshū deutlich wärmer war als in Yokohama, hatte sie dort in einem gut beheizten Apartment gewohnt, jetzt war sie die Kälte ihres Elternhauses nicht mehr gewohnt, besonders im Bad fror es sie. Yūto und sie waren in diesem Winter bereits zweimal krank gewesen, sodass die Mutter als einzig Gesunde unter ihnen sie plötzlich pflegen musste.

Draußen war es schon dunkel – normalerweise kamen um diese Zeit nur noch ein paar Kinder, die auf dem Rückweg von der Schule Hefte und Stifte kauften –, als Daisuke unerwartet den Laden betrat. Rie hatte gerade überlegt, ihre 25Mutter um Ablösung zu bitten, damit sie das Abendessen vorbereiten könnte. Da überhaupt nie viele Kunden in den Laden kamen, zog der unbekannte Mann, der noch dazu etwa gleich alt war wie sie, ihre Aufmerksamkeit auf sich. Er brachte ein Notizbuch, einen Skizzenblock und ein Aquarell-Malset mit an die Kasse, auch das war eher ungewöhnlich. Der Mann war schlank und so groß, dass Rie mit ihrer kleinen Statur leicht zu ihm aufsehen musste. Er war einfach gekleidet, trug eine dunkelblaue Windjacke und Jeans und schien nicht aus der Gegend zu sein.

Rie löste das Preisschild von dem Notizbuch und fragte sich, ob er hier in der Stadt ein neues Leben beginnen würde und warum er dies wollte. Nicht nur ihr, jedem hier in der Stadt wäre das komisch vorgekommen. Als er den Laden verließ, rief sie noch einmal »Vielen Dank« und sah ihm nach, sie hatte das Gefühl, dass es in seinem Leben viel zu erzählen gab.

Noch nicht einmal einen Monat später kam der Mann wieder in den Laden und kaufte noch einmal einen Skizzenblock und Wasserfarben. Es hatte seit dem Morgen fürchterlich geregnet, und gerade war Frau Okumura, eine alte Bekannte ihrer Mutter, mit Bambussprösslingen hereingekommen, um sich ein wenig die Zeit zu vertreiben.

»Kommen Sie«, sprach Rie ihn an, als sie merkte, dass er sich nicht zur Kasse traute. »Oh, entschuldigen Sie, junger Mann. Da steh ich wohl im Weg«, sagte Frau Okumura und trat zur Seite. Daisuke senkte leicht den Blick und legte die Sachen auf den Tresen.

»Ein doller Regen, was?«, sprach Frau Okumura ihn an.

»Stimmt«, Daisuke lächelte. Vor dem Laden stand sein weißer Wagen.

26»Brauchen Sie eine Rechnung?«, fragte Rie.

»Ach so … nein danke«, antwortete er und senkte den Blick. Doch plötzlich sah er auf, als störe es ihn, wie er da vor ihr stand, und blickte Rie einen Moment lang direkt in die Augen. Sie sah ihn verwundert an, als hätte er sie etwas gefragt. Aber Daisuke sagte nichts, er wich ihrem Blick aus, verbeugte sich, trat aus dem Laden in den strömenden Regen hinaus, stieg in sein Auto und fuhr fort.

Danach kam der Mann, dessen Namen Rie nicht kannte, etwa einmal im Monat im Laden vorbei und kaufte einen Skizzenblock und Malutensilien. Meist kam er abends, und hatte er anfangs nur einen großen A3-Skizzenblock gekauft, nahm er später noch einen kleineren im A5-Format dazu. Für gewöhnlich verlangten nur die Oberschüler aus der Kunstklasse nach Skizzenblöcken, doch wenn Rie jetzt die Bestellungen fürs Lager machte, musste sie automatisch an ihren neuen Kunden denken.

Ungefähr ein halbes Jahr später – Yūtos Sommerferien neigten sich dem Ende zu, und auch an diesem Tag goss es in Strömen – betrat er plötzlich um kurz nach drei Uhr das Geschäft. Dicke Regenwolken hingen bedrohlich über der Stadt, es blitzte einige Male, gefolgt von einem so lauten Donnern, dass der Boden bebte und Rie mehrmals zusammenzuckte. Als er die Tür öffnete, brach mit der schwülen Luft, die in den Laden schwappte, auch das Zirpen der Zikaden herein, die selbst jetzt in dem prasselnden Regen noch in den dichten Straßenbäumen saßen und sirrten – schnell schloss er die Tür wieder.

Auch Frau Okumura war wieder da, die Zuflucht vor dem Wetter gesucht hatte. Sie saß auf einem Stuhl, aß einen Manjū und plauderte mit Ries Mutter. Als Daisuke wie im27mer mit einem Skizzenblock und den Farben an die Kasse kam, fragte Frau Okumura:

»Malen ist wohl Ihr Hobby, junger Mann?«

»… Ja«, antwortete er überrascht und lächelte.

»Einer meiner Kunden meinte, er hätte sie draußen malen sehen. Auf der Wiese am Hitotsuse-Fluss. Stimmt’s oder habe ich recht? Sie müssen ja schon eine ganze Sammlung zusammenhaben.«

Daisuke nickte nur leicht, er lächelte immer noch.

»Wollen Sie uns das nächste Mal nicht was zeigen? Du würdest die Bilder doch auch gern sehen, oder, Rie?«

Rie spürte, dass Frau Okumuras Wunsch nicht bloß ihrer Neugierde auf die Bilder geschuldet war, sie wollte vielmehr erfahren, wer dieser Stammkunde war, von dem niemand wusste, woher er kam. In diesem Moment wurde ihr wieder bewusst, warum sie damals als Teenager diesem liebenswerten und friedlichen Provinzstädtchen so unbedingt hatte entkommen wollen. Es tat ihr irgendwie leid, dass ihr schweigsamer neuer Stammkunde extra hierhergezogen war.

»Sie bringen ihn in Verlegenheit, Frau Okumura. Entschuldigen Sie! Nehmen Sie es sich nicht zu Herzen und kommen Sie bald wieder.«

»Keine Sorge … Aber meine Bilder sind nicht so gut, dass ich sie zeigen würde.«

Er nickte und verließ wie immer eilig das Geschäft.

Frau Okumura sah erst zu Rie, dann zu deren Mutter hin und lächelte vielsagend.

282Rie fürchtete schon, der Mann würde nicht mehr wiederkommen. Der Gedanke stimmte sie traurig. Nicht weil sie ihn dann nicht mehr sähe, so weit war es noch nicht. Sie fand es bedauerlich, dass Frau Okumura mit ihrem Verhalten diesen einsam wirkenden Mann womöglich aus der Stadt vertrieben haben könnte. Sie war so traurig, als habe jemand einen zerbrechlichen Gegenstand, den man selbst mit besonderer Vorsicht behandelt, unerwartet in die Hand genommen und kaputt gemacht.

Doch entgegen ihrer Befürchtung kam der Mann eine Woche später wieder in den Laden, wie gewöhnlich abends an einem Wochentag. Anscheinend machte es auch ihm etwas aus, dass die Leute in der Stadt ihn nicht einordnen konnten. »Hier …« Er legte zwei Skizzenblöcke auf den Tresen. Wahrscheinlich hatte er sie die ganze Zeit mit sich herumgetragen, denn die Ecken des grünfarbenen Einbands waren schon ganz hell und abgestoßen. Es waren keine anderen Kunden da, ihre Mutter war unterwegs, sie waren also allein im Laden.

29»Sie haben die Bilder extra für mich mitgebracht?« Rie lächelte.

Auf den ersten Seiten waren Ansichten der Aoshima-Insel bei Miyazaki zu sehen. Rie erkannte das sogenannte »Teufelswaschbrett«, eine wie durch kleine Wellen geformte felsige Küstenlandschaft, dann das Tor des Aoshima-Schreins, das Meer, in dem sich der blaue Himmel zu spiegeln schien, und einen in der Ferne liegenden Küstenstreifen.

Rie blickte ihren Stammkunden an, von dem sie immer noch nicht wusste, wie er hieß, und der mit versteinertem Gesichtsausdruck vor ihr stand. Er versuchte ebenfalls zu lächeln, doch es gelang ihm nicht recht, seine Wangen bebten nur.

Rie blätterte weiter und entdeckte den Hitotsuse-Fluss, von dem Frau Okumura gesprochen hatte, und den in der Nähe gelegenen Park, den Damm vor der Stadt, die in voller Blüte stehenden Kirschbäume bei den Hügelgräbern … Es waren all die Landschaften und Sehenswürdigkeiten, zu denen es die Touristen zog, aber auch ganz gewöhnliche Orte, die nur für Fremde besonders schienen. Manche Skizzen waren in Schwarzweiß gehalten, andere waren farbig.

Die Bilder zeigten kein außergewöhnliches Talent. Aber sie waren auch nicht schlecht, und Rie musste an die Bilder des Jungen in ihrer Mittelschule denken, der im Kunstunterricht der Klassenbeste gewesen war. Die meisten Menschen malen, solange sie Kinder und Jugendliche sind, im Werk- oder Kunstunterricht, aber nach der Mittelschule hören sie auf. Wenn man einem Erwachsenen plötzlich Zeichenpapier und Stifte vorlegt, wird er wahrscheinlich so malen wie früher als Schüler, denn er hat in der ganzen Zeit nichts dazugelernt.

Ihr Stammkunde malte also weiter, und trotzdem waren auch seine Malkünste auf dem Niveau von damals stehen ge30blieben. Doch was war mit seinem Geist? Eine Unschuld wie früher war einem älteren, reiferen Menschen nicht mehr gestattet. Der Mann war so alt wie sie, Mitte dreißig. Er malte klare, fröhliche Bilder, und zwar nicht nur eins, einfach so zum Spaß; er malte schweigend ganze Skizzenblöcke voll. Rie war gerührt. Sah die Welt in seinen Augen noch so arglos aus? Was führte er für ein Leben, in dem er der Welt mit solcher Ruhe begegnen konnte?

Eine Viertelstunde lang blätterte Rie in den Skizzenblöcken. Sie hoffte, dass niemand sie stören würde. Sie merkte, wie sie sich wünschte, dass kein Kunde zur Tür hereinkäme. Schließlich blieb ihr Blick an einem Bild am Ende des zweiten Skizzenblocks hängen. Es zeigte das Gebäude am Busbahnhof, von dem aus sie als Oberschülerin jeden Tag nach Miyazaki gefahren war. Auch jetzt kam sie noch häufig dort vorbei, doch als sie das Bild sah, war sie so erschüttert, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen.

Später fragte sie sich manchmal, warum sie damals hatte weinen müssen. Letztlich kam sie zu dem Schluss, dass ihre psychische Verfassung sehr labil gewesen sein musste. So viele Emotionen hatten sich seit ihrer Rückkehr angestaut, nicht nur durch den Tod von Ryō und ihrem Vater, und ein winziger Tropfen hatte das Fass zum Überlaufen gebracht.

Jeden Morgen hatte sie im Warteraum dieses Busbahnhofs gesessen und auf den Bus nach Miyazaki gewartet. Nicht im Traum wäre sie damals auf die Idee gekommen, dass sie in Zukunft einmal in Yokohama arbeiten und heiraten würde, dass sie eines ihrer beiden Kinder schon früh verlieren, sich scheiden lassen und wieder hierher zurückziehen würde.

Dieser in frischen Wasserfarben gemalte Busbahnhof sah noch genauso aus wie das Gebäude, an das sie sich wehmütig erinnerte. 15 Jahre waren vergangen, und die einzige Verände31rung bestand darin, dass dort am Busbahnhof keine Teenagerin in Schuluniform mehr saß.

Wenn sie später an diese Situation zurückdachte, schien es ihr, als sei ihr das alles vielleicht nur in einer flüchtigen Laune in den Sinn gekommen. Doch in dem Moment hatte sie gespürt, wie etwas in ihrer Brust anschwoll, bis es sie ganz ausfüllte und alle anderen Gefühle verdrängte.

Rie konnte ihre Tränen nicht verbergen, wusste aber auch nicht, wie sie sie erklären sollte. »Das ist sehr schön … Entschuldigen Sie, aber ich kenne den Ort gut und musste an früher denken.« Sie lächelte und wischte sich mit den Fingerbeeren die Tränen ab. Dann schloss sie den Skizzenblock, als habe sie Angst, die Bilder könnten nass werden, hielt sich die Hand vor den Mund, blieb einen Moment so, und lächelte wieder fröhlich.

Zu ihrer Überraschung standen dem Mann, der sie immer noch schweigend ansah, ebenfalls Tränen in den Augen. Er senkte rasch den Blick, weniger aus Verlegenheit als aus dem Gefühl heraus, ein Geheimnis offengelegt zu haben, und ging zu einem der Verkaufsregale. Als er kurz darauf mit einem roten Kugelschreiber zurückkam, nach dem er wohl wahllos gegriffen hatte, waren die Tränen aus seinen Augen verschwunden.

Er sagte nichts und wartete, dass sie die Rechnung schrieb. Auch Rie schwieg. Sie wusste nicht, was gerade geschah, aber sie liebte diese Stille kurz vor Einbruch der Nacht, wenn das Licht der Neonlampen bis in die letzte Ecke drang, und wollte den Moment nicht zerstören.

Eine Woche später erschien Daisuke wieder im Laden. Zum ersten Mal begrüßte ihn Rie nicht mit dem geübten »Herzlich willkommen«, sondern sagte einfach: »Guten Tag.«

32»Guten Tag«, antwortete er. Er griff sich einen Packen Kopierpapier sowie ein paar Büroartikel, und als er bezahlt hatte, blickte er sie an und sagte: »Also …«

»Ja?«, erwiderte Rie und sah ihn mit großen Augen an.

»Würden Sie mit mir befreundet sein wollen? Natürlich nur, wenn es Ihnen nicht zu viel ist.«

»Was? … Ja, gern.« Sie nickte verblüfft. Sie spürte ihr Herz pochen, vielleicht, weil sie überrascht war, oder vor Freude. Wann hatte sie das letzte Mal das Wort »befreundet« gehört? Es musste eine Ewigkeit her sein, dachte sie, aber das stimmte nicht. Tatsächlich hatte sie das Wort in Yokohama, aber auch seit ihrer Rückkehr nach Miyazaki unzählige Male gelesen und gehört. Auf ihrer Facebook-Seite, die sie schon länger nicht mehr geöffnet hatte, war sie mit einer Reihe von Leuten befreundet, und auch hier in S. traf sie überall auf Menschen, mit denen sie seit ihrer Kindheit befreundet war.

Aber so, wie er das Wort aussprach, klang es ganz anders, so frisch. Selbst als Kind hatte niemand sie so direkt gefragt. Normalerweise wäre es ihr, ehrlich gesagt, etwas unheimlich, jemanden in seinem Alter von »befreundet« sprechen zu hören, doch Rie brauchte sich keine Sorgen zu machen, sie hatte ja seine Zeichnungen gesehen. Was aber meinte er mit befreunden? Sie war nicht sicher, auf was sie sich da eingelassen hatte.

»Wie heißen Sie eigentlich?«

»Mein Name ist Taniguchi Daisuke.«

Er holte eine Visitenkarte aus seiner Jackentasche, die er vorsorglich eingesteckt hatte. Seine Hand zitterte ein wenig, doch er versuchte es zu verbergen. Auf der Karte standen der Name der Firma Itō-Holz, eine Handynummer und eine Mailadresse.

»Ich heiße Takemoto Rie. Entschuldigen Sie, aber ich habe gerade keine Visitenkarten. Ich schreibe es Ihnen auf.«

33Rie griff sich einen gelben Zettel, der neben der Kasse lag.

»Hätten Sie vielleicht Lust, am nächsten Sonntag mit mir essen zu gehen?«

»Sonntags kümmere ich mich um meinen Sohn«, sagte Rie in einem unmissverständlichen Ton.

»Sind Sie verheiratet?«

»War ich. Ich bin geschieden und lebe jetzt mit meinem Sohn wieder in meinem Elternhaus.«

»Ach so … Das tut mir leid, das wusste ich nicht.«

»Das wäre ja auch gruselig. Aber wir können uns hier unterhalten, als Freunde. Wenn das für Sie in Ordnung ist.«

»Ja, natürlich. Das wäre wunderbar.«

»Manchmal muss ich Bestellungen ausliefern, aber meistens bin ich tagsüber im Geschäft. Wie Sie sehen, habe ich nicht viel zu tun. Kommen Sie einfach wieder mit ihren Bildern vorbei. Sie brauchen auch nichts zu kaufen.«

Seitdem kam Taniguchi Daisuke etwa alle zehn Tage in den Laden. Mit der Zeit wurden ihre Gespräche länger, und irgendwann löste Ries Mutter sie im Laden ab, sodass die beiden in ein Café gehen oder etwas unternehmen konnten. Da Daisuke im Wald arbeitete, war er meist schon vor vier Uhr fertig. Gerade fällten sie Bäume an einem Berg ganz in der Nähe, sagte er, er könne gleich auf dem Rückweg vorbeikommen.

Eines Tages fragte Rie ihn nach seiner Vergangenheit, ein Thema, das sie bis dahin eher vermieden hatte. Es hatte seit der Nacht heftig geregnet, Daisuke hatte nicht arbeiten müssen und kam bereits am Mittag vorbei; sie waren in ein nahegelegenes Aalrestaurant essen gegangen. Rie ahnte, dass er nicht gern über seine Herkunft sprach. Doch in letzter Zeit 34hatte sie manchmal den Eindruck gehabt, er wollte dennoch gefragt werden.

Nach dem Essen, Daisuke trank gerade seinen heißen Tee, fing er zögerlich an zu erzählen. Ursprünglich stammte er aus dem Thermalbadeort Ikaho in der Präfektur Gunma, seine Eltern betrieben ein Ryokan, er war der zweite Sohn, sein Bruder war ein Jahr älter. Sein Bruder war der ›verhätschelte Erstgeborene‹, er war zwar kein schlechter Mensch, hatte sich aber nie richtig zu lernen bemüht, da er davon ausging, einmal das Ryokan zu übernehmen. Schon auf der Mittelschule war er auf Abwege geraten und hatte seinen Eltern viel Sorgen bereitet. Trotzdem hatte er es irgendwie auf eine Privatuni in Tōkyō geschafft und später noch zwei Jahre in den USA studiert. Seit seiner Rückkehr betrieb er zusammen mit Freunden ein Restaurant in Tōkyō.

Die Eltern waren völlig vernarrt in ihren Erstgeborenen und versuchten ihn mit aller Geduld zu überreden, zu ihnen zurückzukehren, doch schließlich gaben sie auf und beschlossen widerwillig, dem Jüngeren das Unternehmen zu vermachen. Er selbst hatte, wohl oder übel bescheidener als sein Bruder, an einer Provinzuniversität Betriebswirtschaft studiert. Als er in das väterliche Unternehmen einstieg, hatte er sich voller Eifer in die Arbeit gestürzt, er wollte den enttäuschten Eltern neuen Mut machen.

Doch kaum hatten sich diese mit dem Gedanken angefreundet, dass der jüngere Sohn nun die Geschäfte führte, kam der ältere zum Vater gelaufen und flehte um Hilfe; er war mit seinem Restaurant gescheitert und hatte jede Menge Schulden. Als Bedingung dafür, dass der Vater ihm die Schulden beglich, musste der Sohn versprechen, künftig das Ryokan zu führen. Die Mutter war sofort einverstanden. In Zukunft würde also der Ältere als Geschäftsführer fungieren, 35während sie ihm, dem Jüngeren, den Posten des stellvertretenden Direktors versprachen.

Solche Titel aber waren unwichtig, Daisuke wusste, dass letztlich er das Ryokan führen musste. Und er hatte Angst, dass die Beziehung zu seinem Bruder darunter leiden könnte. Es war ihm schon damals ein Rätsel, warum seine Eltern den Älteren so sehr liebten, und er verstand es auch heute nicht. Er selbst liebte seinen Bruder, der aber nicht ihn.

Ein paar Jahre später wurde bei seinem Vater ein Leberkarzinom entdeckt. Der Vater war damals 71 Jahre alt und der Krebs schon recht fortgeschritten. Die einzige Möglichkeit ihm zu helfen, war eine Lebertransplantation, allerdings teilte man ihnen mit, dass auch dann die Überlebenschancen nicht sehr hoch waren. Da die Zeit nicht reichte, um darauf zu warten, dass er die Leber eines hirntoten Spenders bekäme, blieb nur die Transplantation eines Lebendspenders aus der Familie. Bei den nun folgenden Untersuchungen stellte sich heraus, dass sein Bruder an einer Leberverfettung litt und also nicht in Frage kam. Bei ihm hingegen passte alles, seine Leber war in guter Verfassung, denn er hatte seine Gesundheit nicht so vernachlässigt wie sein Bruder.

Und nun musste er als Lebendspender ironischerweise mit Folgeschäden rechnen; sogar sein Tod konnte nicht ausgeschlossen werden. Zum ersten Mal in seinem Leben verbeugte sich der Vater vor ihm, nahm weinend seine Hand und bat ihn um die Erfüllung seiner Pflicht als Sohn. Natürlich wünschten auch die Mutter und sein Bruder, dass der Vater noch lange leben möge, aber sie verlangten nicht direkt von ihm, dass er dessen Wunsch erfüllte. Sie sagten allerdings auch nicht, dass er es nicht tun sollte. Sie drängten den Vater nicht, seine Meinung zu ändern, aber sie beratschlagten sich zu dritt, ohne Daisuke. Wenn er den Vater im Krankenhaus 36besuchte und den beiden Anderen dort begegnete, war es ihm unangenehm. Er wusste, dass sie ungeduldig waren und die Zeit drängte.

Letztendlich stimmte Daisuke zu. Auch er wollte, dass sein Vater noch lange lebte, er konnte die Gefühle seiner Mutter und seines Bruders verstehen. Also fasste er den Entschluss, einen Teil seiner Leber zu spenden.

Der Vater war glücklich. Er bedankte sich bei ihm, es war das einzige Mal in seinem Leben, er hatte sich noch nie zuvor bei ihm bedankt und tat es auch danach nicht mehr. Sein Bruder erklärte, dass er ihm das gesamte Erbe abtreten würde. Auch die Mutter schien glücklich zu sein.

Leider war die Krebserkrankung des Vaters schneller vorangeschritten als erwartet, und als er der Transplantation nun endlich zugestimmt hatte, war es schon zu spät. Der Vater starb mit einem vor Wut, fast schon Hass, verzerrtem Gesicht.

Die Familie trauerte, und weder die Mutter noch der Bruder bedachten ihn, Daisuke, mit einer freundlichen Bemerkung, was seinen nun sinnlos gewordenen Entschluss anging.

»Ich war erleichtert. Ich hatte das Leben meines Vaters retten wollen, aber je mehr ich über Transplantationen herausfand, desto ängstlicher wurde ich. Als mein Vater dann tot war, merkte ich, dass irgendetwas in mir zerbrochen war und nie mehr so werden würde wie früher. Deswegen habe ich meine Familie verlassen und bin fortgegangen. Ich wollte möglichst weit weg … Ich will sie nie wiedersehen. Mehr kann ich über meine Familie nicht sagen.«

Rie hörte sich Daisukes Geschichte bis zum Schluss schweigend an, sie unterbrach ihn nicht. Sie versuchte sich vorzustellen, was ihn dazu gebracht hatte, in diese abgelegene Stadt zu kommen, diese gefährliche und schwere Arbeit im 37Wald zu verrichten, an seinen freien Tagen Bilder zu malen und sie nach über einem halben Jahr zu bitten, sich mit ihm zu befreunden.

Er und seine schwierigen Lebensumstände taten ihr leid, doch zugleich hatte sie das Gefühl, dass sie ihm nun ihrerseits ein Geheimnis anvertrauen müsse, um sein Geständnis etwas aufzuwiegen. Sie erzählte ihm, dass sie ihren Sohn verloren habe, nach einer schweren Krankheit, und dass sie sich wegen der Behandlung mit ihrem Mann gestritten habe und sie sich schließlich getrennt hätten, dass dann ihr Vater gestorben und sie zu ihrer Mutter in ihre Heimat zurückgekehrt sei.