Das Leben vor uns - Kristina Gorcheva-Newberry - E-Book

Das Leben vor uns E-Book

Kristina Gorcheva-Newberry

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Beschreibung

Was bedeutet es, in den letzten Jahren der Sowjetunion erwachsen zu werden - in einem Staat kurz vor dem Zerfall? Dieser Roman verwebt auf beeindruckende Weise die turbulente Geschichte eines Landes mit dem Schicksal einer verlorenen Jugend und erzählt dabei von einer unerschütterlichen Freundschaft zweier Mädchen zwischen Unsicherheit und Aufbruch. Anja und ihre beste Freundin Milka wachsen in den Achtzigerjahren am Stadtrand von Moskau auf. Während ihre Eltern gezeichnet sind von den Entbehrungen der Vergangenheit, blicken die beiden Mädchen einer Zeit der Umbrüche und Reformen entgegen. Frech und lebenshungrig versuchen sie, jeden Schnipsel westlicher Popkultur in die Finger zu kriegen. «We Are the Champions» ist für sie mehr als nur ein Lied, es ist eine Parole. Aber Anjas Jugend nimmt durch eine unerwartete Tragödie ein jähes Ende – und gleichzeitig der Staat, der ihr Zuhause bedeutet hat. Noch vor dem Fall des Eisernen Vorhangs beschließt sie, zum Studieren in die USA zu gehen und dort zu bleiben. Doch beim Versuch, sich im Sehnsuchtsland ihrer Jugend eine neue Heimat aufzubauen, merkt sie, dass sich die eigene Herkunft nicht einfach abschütteln lässt und ein Neuanfang nur möglich ist, wenn die Geister der Vergangenheit begraben sind.

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Kristina Gorcheva-Newberry

Das Leben vor uns

Roman

Aus dem Englischen von Claudia Wenner

C.H.Beck

Zum Buch

Was bedeutet es, in den letzten Jahren der Sowjetunion erwachsen zu werden? In einem Staat, der kurz vor dem Zerfall steht – in dem die Bevölkerung seit Jahrzehnten Spielball unberechenbarer Politik ist? Die russisch-armenische Autorin Kristina Gorcheva-Newberry verwebt auf beeindruckende Weise die turbulente Geschichte eines Landes mit dem Schicksal einer verlorenen Jugend und der Erzählung von einer unerschütterlichen Freundschaft.

Anja und ihre beste Freundin Milka wachsen in den Achtzigerjahren am Stadtrand von Moskau auf. Während ihre Eltern gezeichnet sind von den Entbehrungen der Vergangenheit, blicken die beiden Mädchen einer Zeit der Umbrüche und Reformen entgegen. Frech und lebenshungrig versuchen sie, jeden Schnipsel westlicher Popkultur in die Finger zu kriegen. «We Are the Champions» ist für sie mehr als nur ein Lied, es ist eine Parole. Doch Anjas Jugend nimmt durch eine unerwartete Tragödie ein jähes Ende – und gleichzeitig der Staat, der ihr Zuhause bedeutet hat. Noch vor dem Fall des Eisernen Vorhangs beschließt sie, zum Studieren in die USA zu gehen und dort zu bleiben. Doch beim Versuch, sich im Sehnsuchtsland ihrer Jugend eine neue Heimat aufzubauen, merkt sie, dass sich die eigene Herkunft nicht einfach abschütteln lässt und ein Neuanfang nur möglich ist, wenn die Geister der Vergangenheit begraben sind.

Über die Autorin

KRISTINA GORCHEVA-NEWBERRY wuchs in Moskau auf, studierte dort an der Staatlichen Linguistischen Universität und arbeitete anschließend als Lehrerin und Dolmetscherin, bevor sie in die Vereinigten Staaten emigrierte, wo sie außerdem Englisch und Kreatives Schreiben studierte. Ihre Kurzgeschichten wurden mehrfach ausgezeichnet, «Das Leben vor uns» ist ihr erster Roman.

Über die Übersetzerin

CLAUDIA WENNER lebt als Autorin und Übersetzerin in Frankfurt und Trivandrum, Indien. Sie übersetzte u.a. Werke von Virginia Woolf und Katherine Mansfield und für C.H.Beck u.a. «Wir, die wir jung sind» von Preti Taneja und «Sweetest Fruits» von Monique Truong.

Inhalt

ERSTER TEIL

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

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16

17

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19

20

ZWEITER TEIL

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28

29

30

Danksagung

Nachweis

Meinen Freunden und Freundinnen – der Generation Perestroika – verloren, übersehen, vergessen

Wir werden sehen, wie all das Böse auf Erden, alle unsere Leiden im Erbarmen versinken, das die Welt erfüllen wird, und unser Leben wird still, sanft und süß werden, wie ein Hauch. Ich glaube daran.

Anton Tschechow, Onkel Wanja

ERSTER TEIL

1

Milka Putowa war seit der ersten Klasse meine Freundin, fast so lange, wie ich denken kann. Sie war klein und dünn wie eine Sprotte, und so wurde sie auch von den Jungen in unserer Klasse genannt – Sprotte. Sie hatte kleine, eichelbraune, schräg stehende Augen, die zu weit auseinanderlagen – das Ergebnis von hundertfünfzig Jahren mongolisch-tatarischem Joch, wie sie oft witzelte. Sie hatte ein breites, blasses Gesicht und fleischige, himbeerrote Lippen, vor allem im Winter, wenn wir Schlitten gefahren waren oder den ganzen Nachmittag Burgen gebaut hatten und unsere Knie und Ellbogen schneeüberkrustet, unsere Ponys und Wimpern weiß vor Raureif waren. Wir wohnten am Stadtrand von Moskau und stapften zusammen über ein weites, unberührtes Feld zur Schule, das sich wie weißer Satin vor uns erstreckte. Milka ging in Wollstrümpfen und Filzstiefeln vor mir durch den kniehohen Schnee, wobei sie ein Bein vorsichtig vor das andere setzte und ich in ihre Fußstapfen trat. Manchmal blieb sie stehen, um mit den Fingern, die in Handschuhen steckten, unsere Namen in den Schnee zu schreiben: Milka + Anja; auf dem Rückweg schauten wir dann eilig nach, ob die Buchstaben noch da waren.

Milka hatte dunkelgoldenes, seidiges, glattes Haar, das zu einem kinnlangen Pagenkopf geschnitten war. Sie wusch es jeden Tag, und wenn wir nebeneinander im Unterricht saßen, duftete es zart nach Apfelblüten, und dieser Duft ließ die Sommermonate in der Datscha meiner Eltern für mich wieder aufleben: Als wir durch ein Labyrinth aus Maispflanzen zuckelten, deren Stiele dreimal so hoch waren wie wir selbst; als wir die grünen Hüllblätter berührten und die weiche, üppige Seide abtrennten, um festzustellen, wie groß und wie reif die Kolben waren. Oder als wir durch Birken- und Espenwäldchen streiften und Pilze für Suppe sammelten, deren brüchige Stiele im Gras vergraben waren und deren Hüte wie Edelsteine rot und orange unter den Bäumen leuchteten. Oder als wir im Fluss ans andere Ufer und wieder zurück um die Wette schwammen und dann die schlammige Böschung hinaufkletterten und uns auf unseren Handtüchern reglos trocknen ließen, mit den Bäuchen nach oben wie Frösche, die in der Sonne dörrten.

Mit zehn trugen wir noch keine Bikinioberteile und zogen uns auch noch nicht verschämt hinter Büschen um. Wir berührten einander im Gesicht, an den Schultern und nicht vorhandenen Brüsten, verglichen unsere Hände und Füße, die Länge unserer Zehen und Finger, unsere Nasen und Wimpern sowie Farbe und Form unserer Brustwarzen. Wir zählten Leberflecken und Sommersprossen, Schnakenstiche und Schrammen, suchten versteckte Muttermale, graue Haare, eindeutige Unterscheidungsmerkmale. Wir faulenzten in der Hängematte, die wir zwischen dem Verandageländer und einer Kiefer aufgehängt hatten, oder wir reihten wilde Erdbeeren auf lange Strohhalme und lutschten sie dann alle auf einmal so ungestüm herunter, dass unsere Zungen und Münder magentarot schäumten; wir schnitzten unsere Namen in Birkenstämme, die so dick und mächtig waren, dass wir sie nicht mit den Armen umschließen konnten. Wir fingen Grillen in Gläsern oder Streichholzschachteln, legten sie als Glücksbringer unter unsere Kopfkissen und ließen sie am nächsten Morgen wieder frei; wenn der Vollmond wie eine Bernsteinbrosche tief am Himmel hing, wünschten wir uns etwas. Wir sehnten uns nach schöneren Kleidern und Soluschkas Kristallschuhen und nach einer guten Fee, die unsere schmuddeligen Wohnungen in herrliche Schlösser verwandeln würde. In der Datscha öffneten wir das Schlafzimmerfenster und starrten in die Dunkelheit ringsum. Die Apfelbäume trugen die ersten winzigen, sauren Früchte. Die Bäume wiegten ihre Äste, die am Boden zitternde Schatten warfen, und wir streckten uns weit aus dem Fenster und berührten ihre jungen, zarten Blätter.

Als wir elf waren, spielten wir immer noch mit Puppen. Manchen fehlte ein Arm oder Bein; andere hatten kaum noch Wimpern und Haare und zerkratzte oder stumpfe Stellen, weil sie jahrelang an- und ausgezogen und dauernd gebadet worden waren. Wir hatten keine männlichen Puppen, dafür aber einen Satz Zinnsoldaten, um die ich gebettelt hatte, bis meine Mutter sie uns kaufte. Die Soldaten waren unverhältnismäßig klein, was uns ganz normal vorkam, weil die meisten Jungen in unserer Klasse kleiner waren als die Mädchen. Wir beschützten die Soldaten heftig, und zwar nicht, weil es nur wenige waren oder weil sie mehr gekostet hatten, sondern weil sie uns so zart und irgendwie hilflos erschienen und man sich um sie kümmern und sie beruhigen musste. Wir behandelten sie sehr vorsichtig und legten sie jeden Abend in ihre Schachtel zurück.

Manchmal taten wir so, als seien die Soldaten gerade aus dem Krieg zu ihren Frauen und Freundinnen heimgekehrt. Wir zogen sie nackt aus, legten ihre steifen, kalten Körper auf die rosafarbenen Plastikkörper und rieben sie aneinander, so fest wir konnten.

«Meinst du, sie ist jetzt schwanger?», fragte Milka dann immer.

«Kann schon sein. Wie lange dauert das normalerweise?»

«Keine Ahnung. Reiben wir noch ein bisschen weiter», sagte sie und schob ihre Puppe unter meinem Soldaten hin und her.

Seltsamerweise war ich immer für die männlichen Puppen zuständig und Milka immer für die weiblichen. Mein Soldat beugte sich vor und küsste Milkas Puppe mit seinem kleinen Mund fest auf die geschwungenen, geschminkten Lippen. Natürlich hatten weder die Zinnsoldaten noch die Plastikpuppen Genitalien, wir taten aber so, als hätten sie welche, und Milka nahm sogar die Hand eines Soldaten und berührte damit den Bauch und die Beine der Puppe sowie den kompakten, undurchdringlichen Bereich dazwischen. Oder sie drückte das Gesicht des Soldaten an diese Stelle. Damals hatte ich noch nie etwas von oralem Sex gehört, doch Milkas Handbewegungen wirkten überzeugend.

In dem Jahr fingen Milka und ich an, unsere Körper eingehend im Spiegel zu betrachten und all die Veränderungen zur Frau vorwegzunehmen, über die meine Mutter uns aufklärte, wenn mein Vater nicht im Zimmer war. Milkas Vater war bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, als sie noch ein Baby war, und ihre Mutter hatte bald danach wieder geheiratet. Milka sprach selten über ihre Familie. Sie erzählte nur, dass ihre Eltern in einer Fischkonservenfabrik arbeiteten und dass ihre Kleider und Haare deshalb wie abgestorbenes Seegras rochen. «Sogar ihre Haut riecht danach», sagte sie. «Faulig.»

«Warum kommen sie nie in die Schule?», fragte ich einmal.

«Weil dann das ganze Gebäude desinfiziert werden müsste», sagte sie und fuhr mit ihren knochigen Kitzelfingern unter mein Hemd. Ich schrie auf, gab ihr einen Klaps auf die Hand und drehte mich auf den Zehenspitzen um die eigene Achse. Sie lachte ihr raues Lachen mit weit geöffnetem Mund und bleckte dabei ihre ebenmäßigen, weißen Zähne, die wirkten, als wären sie mit Schnee überzogen.

Zwei Jahre vergingen und wir bekamen zum ersten Mal unsere Tage. Wir bekamen auch einen Busen und Schamhaare, fingen an, BHs zu tragen und das Badezimmer abzuschließen, wenn wir duschten. Ich schoss in die Höhe, nahm ein bisschen zu und wurde meiner Mutter immer ähnlicher – einer weichbusigen Frau, die stärker zu sein schien als mein Papa und stärker als sämtliche Männer auf Erden. Doch Milka blieb eine Sprotte – klein und kümmerlich, mit linkischen Gliedmaßen und eingefallenem Bauch. Wenn sie sich nach der Schule auf dem Bett ausstreckte, konnte ich ihre Rippen zählen, die sich unter ihrem T-Shirt abzeichneten. Ihre Haare hatten immer noch dieselbe Länge und dufteten immer noch nach Sommer und nach den Äpfeln, die meine Eltern auf ihrer Datscha anbauten.

Damals scherten wir uns nicht um Schrammen und blaue Flecken, nicht einmal um Pickel, die wir uns gegenseitig am Rücken ausquetschten. Diese Sommer kamen uns genauso endlos vor wie das Leben, das vor uns lag. Wir fanden unsere Eltern alt und hoffnungslos antiquiert, weil sie stundenlang Schlange standen, um Zucker oder Toilettenpapier zu kaufen. ‹Generation Buchweizen› nannten wir sie. Meine Mutter drehte sich um und sagte: «Mal sehen, wie man euch irgendwann nennt.» Mit ‹man› meinte sie unsere zukünftigen Kinder, und dann lachten wir laut und erklärten einstimmig: «Wir kriegen keine Kinder. Wir brennen nach Paris durch oder nach Rom und leben dort glücklich bis ans Ende unserer Tage.»

Wie die meisten Russen hatten wir die Sowjetunion nie verlassen, und alle fremden Städte waren für uns so weit weg und so unerreichbar wie der Mond. Wir konnten nicht ahnen, dass der Eiserne Vorhang bald fallen würde oder dass der Rest der Welt anders war und nicht von denselben brutalen Reglementierungen beschränkt wurde oder von der jahrelangen eisernen Faust eines Diktators. Wir betrachteten unsere damalige Regierung nicht einmal als Diktatur, wir nahmen die Dinge hin wie die unausweichliche Abfolge der Jahreszeiten: Pappelflaum und Apfelblüten im Frühjahr und die eiskalte, starre Blindheit des Schnees im Winter. Weil man machtlos war, und vielleicht auch immun gegen Veränderungen, musste man sie ertragen. Doch auch wenn diese Gründe nicht griffen, waren Veränderungen nie zum Besten oder zum Wohl des Volkes. «Dieses Land ist zu alt und zu störrisch», sagte meine Großmutter immer, und dann nickten Milka und ich und schoben uns ihr Sauerkraut in die Backentaschen. Sie machte wirklich köstliches, saftiges Kraut, das von unserem Winterspeisezettel nicht wegzudenken war, ebenso wenig wie wir uns nicht vorstellen konnten, den Tisch oder die Schulbank oder unsere Träume oder die Zukunft nicht miteinander zu teilen, ganz gleich, wie weit entfernt sie sein mochte. Wir wussten, dass wir eines Tages heiraten und alt werden würden, dass wir erst wie unsere Mütter und dann wie unsere Großmütter aussehen würden, mit Hängebrüsten und Runzeln im Gesicht und grauem Haar, das sich die meisten Russinnen bleichten oder mit Henna färbten. Aber wir wussten auch, dass wir immer Freundinnen sein würden und dass sich daran nie etwas ändern würde.

In unserer Klasse gab es nicht genügend Jungen, genau wie in unserem Land, in dem es an Männern fehlte – darauf wies uns meine Großmutter immer hin: «Der Krieg und Stalin haben das Land gesäubert.» In der Schuldiskothek tanzte ich daher wie andere Mädchen mit Milka. Mit dreizehn war ich pummelig und viel größer als sie, die beweglich, schnell und dynamisch war und beim Tanzen die Führung übernahm. Die Turnhalle war mit blinkenden, bunten Lichtergirlanden geschmückt, und Milkas Haut leuchtete erst rosa, dann blau und dann grün. Wenn sie den Kopf nach links und nach rechts wandte, schwang ihr Haar mit jeder Drehung ihrer knochigen Hüfte oder ihres winzigen stampfenden Fußes von einer Wange zur anderen. Die Musik war ein Potpourri aus tempogeladenen und traurigen Songs beliebter sowjetischer Sänger: Waleri Leontjew, Sofija Rotaru und Alla Pugatschowa sowie der beiden berühmten Rockbands Maschina Wremeni und Akwarium. Außerdem liefen die Beatles und ABBA sowie die unvergleichlichen Italiener Al Bano und Romina Power, Adriano Celentano und Toto Cutugno, der allen Mädchen unserer Klasse bewusst machte, dass sie gerade zu Frauen wurden. Seine Stimme bebte so verführerisch, dass sie geradezu spürbar war: Wir hatten das Gefühl, tief im Inneren unseres Körpers berührt zu werden. Wir schnitten seine Fotos aus Zeitschriften aus, klebten sie in unseren Zimmern an die Wände oder auf die Rückseiten unserer Schulbücher und rieben mit den Fingern über sein Bild.

Zu den Schulbällen trugen wir immer unsere besten Kleider, Pullover oder Hemden, die wir uns aus den Schränken unserer Mütter geliehen hatten und dann in den Korridoren oder Toiletten anzogen, bevor wir in die Turnhalle gingen. Wir krempelten die Ärmel hoch, stopften unsere BHs mit Wattebäuschen aus und knöpften unsere Unterhemden so weit auf, dass man einen Hauch von Dekolleté sah. Gelegentlich zogen wir altmodische Blusen, Hosen oder Röcke an, die wir in den Truhen zu Hause gefunden hatten oder in den Komissionkas, den schäbigen Secondhandläden. Wir brachten die Klamotten zu meiner Großmutter, die eine Singer-Nähmaschine mit Pedal hatte, auf der sie uns die neu erworbenen Schätze umnähte. Wie stolz wir auf diese fantasievollen Outfits waren, die wir selbst ersonnen hatten und die sie mit ihren krummen Arthritishänden zugeschnitten und zusammengenäht hatte. Wenn wir in einer sowjetischen Zeitschrift oder in einem Film eine Schauspielerin entdeckten – in den paar wenigen harmlosen ausländischen Filmen, die gezeigt wurden, meist italienische oder französische Komödien –, eilten wir bei der ersten Gelegenheit ins Kino und wurden ganz unruhig, wenn wir in Gedanken unsere Garderobe durchgingen und unsere Kleider und Röcke der neuesten Mode entsprechend kürzten oder verlängerten. Unsere Schuhe blieben jedoch ein hoffnungsloser Fall: Sie waren aus dickem Leder in hässlichem Braun oder stumpfem Schwarz, mit quadratischen Absätzen und abgerundeter Spitze – Schuhe, die jeden Flirt verhinderten. Als wir in die Pubertät kamen, wurde Milka und mir bewusst, dass wir keine große Auswahl hatten, weder an Kleidern noch an Männern.

Eines Tages, nach einem Discoabend in einer leer stehenden Schule, beschlossen wir auf der Toilette, uns zum ersten Mal «richtig» zu küssen, und waren danach regelrecht angeekelt: zu fleischig, zu nass und geschmacklich zu intensiv. Draußen vor dem Fenster wurde der Schnee zu einer samtigen Decke. Es war ganz dunkel und der einzige Laternenpfahl auf dem Schulhof blinkte immerzu, als wäre er von der Berührung unserer Lippen überrumpelt worden.

«Wenn wir keine Jungs finden, Ranewa, dann weiß ich nicht, was aus uns wird. Auf keinen Fall will ich bis an mein Lebensende nur dich küssen», sagte Milka und wischte sich den Mund ab.

«Geht mir auch so», sagte ich. «Grässlich. Deine Zunge ist irgendwie zu lang.»

«Auch nicht länger als deine.»

Ich streckte die Zunge heraus und Milka auch, und dann drehten wir uns zum Spiegel um, einem angeschlagenen, halb blinden Exemplar, das für zwei Gesichter zu klein war. Wir traten einen Schritt zurück. Unsere Zungen waren blassrosa und hingen uns aus dem Mund wie fremde Wesen, mit Hubbeln und Spucketropfen an den Spitzen. Sie kamen uns genau gleich vor, schleimig und ekelhaft. Ansonsten hatten unsere Gesichter keinerlei Ähnlichkeit, doch von Weitem sahen wir mit unseren lächerlichen Grimassen wie Zwillingszwerge aus, ganz runzelig und faltig, mit Kinngrübchen und breiten Schneidezähnen.

Am selben Tag bekamen wir beide eine Halsentzündung und konnten uns eine Woche nicht sehen. Es war die längste, ruhigste Zeit in der Menschheitsgeschichte. Zu dieser Zeit entdeckte Milka Science-Fiction-Bücher, und ich entdeckte das Masturbieren, erzählte ihr aber monatelang nichts davon.

2

Als Breschnew starb, wurden wir vierzehn. Vorlaut und taktlos wie die meisten Teenager wussten wir nicht, was Trauer war, und verstanden auch nicht, was für einen Einfluss sie auf die Lebenden hatte. Damals dachten wir, Breschnew würde ewig leben, wie Himmel und Erde. Es war ein düsterer Novembermorgen, eine dünne Schicht Neuschnee bedeckte den Boden und Wind fegte durch die Straßen, schlug an die Fenster, hinter denen überall Licht brannte: Alle hatten sich vor dem Fernseher versammelt und blickten sprachlos auf Breschnews Leichnam, der inmitten roter Nelken und weißer Gladiolen neben der blinden Grube zu sehen war. Es begann heftiger zu schneien, und man sah die wirbelnden Flocken auf dem Gesicht des toten Generalsekretärs landen, auf seinem schmalen Mund und den mächtigen schwarzen Augenbrauen, die wie gezwirbelte Wollstränge wirkten.

Wir saßen in unserem Wohnzimmer am Tisch und tranken heißen Tee. Es war gleichzeitig unser Esszimmer und das Schlafzimmer meiner Großmutter. Da wir einen neuen Farbfernseher hatten und Milkas Familie nur die vorsintflutliche Schwarz-Weiß-Kiste mit dem ruckelnden Bild und dem schlechten Ton, kam sie zu uns, um sich die Beerdigung anzusehen. «Nicht dass es so wichtig wäre», sagte sie und schaufelte sich die Apfelmarmelade meiner Mutter auf den Teller. «Ein Haufen alter, trauriger Typen, die einen von ihnen wegschaffen. Irgendwann musste es ja passieren. Er war krank. Seine Reden wurden aufgezeichnet und später synchronisiert. Er musste also nur den Mund aufmachen. Deswegen hört man die Wörter manchmal nicht richtig.»

«Man sagt, er sei gedoubelt worden. In den letzten paar Jahren konnte er sein Zimmer nicht mehr verlassen – er konnte nicht mehr laufen, was uns aber verheimlicht wurde.» Ich legte mir ein Stück Käse aufs Brot und biss ab.

«Plapper nicht einfach irgendwas nach, Anja. Das schadet dir nur», sagte mein Vater und rückte seinen Stuhl näher an den Fernseher, während meine Mutter Tee in dünne Porzellantassen goss und sie dann wieder auf die Untertassen stellte. Das leise Klingelgeräusch, das dabei entstand, ähnelte dem der Wanduhr. Dieses alte Teeservice hatte mein Großvater nach dem Krieg aus Deutschland mitgebracht. Er wollte es unbedingt behalten, obwohl meine Großmutter strikt dagegen war, das Porzellan des Feindes zu benutzen. Nach seinem Tod gab sie das Teeservice meiner Mutter. Von dem zwölfteiligen Service, zu dem ursprünglich auch eine Zuckerdose, ein winziges Sahnekännchen und eine Teekanne gehörten, war das meiste kaputt oder hatte Sprünge. Die Tassen und Untertassen hatten rockfaltenartig modellierte Ränder, und die gelb-rosaroten Rosen auf dem weißen Porzellan waren stark verblasst, jedoch immer noch von einer Schönheit, die, wie ich fand, so zart war, dass man sie nur mit dem Mund berühren durfte, nicht mit den Fingern.

«Sie haben ihn gerade fallen gelassen», sagte mein Vater und sprang auf. «Wie grauenhaft.»

«Wen?», fragte meine Großmutter, die sich gerade Tee in die Untertasse goss. Sie trank ihren Tee immer noch auf die altmodische Weise: schlückchenweise vom Rand. Sie war klein und vollbusig und hatte lange graue Haare, die sie seit Kriegsende nicht mehr geschnitten hatte.

«Breschnew», sagte mein Vater laut, so als wollte er auf diese Weise das zunehmend schlechter werdende Augenlicht meiner Großmutter wettmachen.

«Das ist schlimm, sehr schlimm. Ein schlechtes Omen. Ich gehe jetzt. Das ist das Ende.» Meine Großmutter hüllte sich in ihr Schultertuch, das sie selbst im Sommer nie ablegte, und steckte ihre Bernsteinbrosche wieder fest. Von Milka und mir aus gesehen wirkte die Brosche wie eine Riesenhummel, die ihr am Busen hinaufkroch.

«Vielleicht ist es der Anfang», sagte meine Mutter. «Übrigens ist er tot. Er merkt es nicht mehr.»

«Aber es kommt landesweit im Fernsehen. Wahrscheinlich zeigen sie es auch in Amerika.» Mein Vater rieb sich sein schütter werdendes hellbraunes Haar, das an den Seiten dichter war. Er lehnte sich im Sessel zurück, der unter seinem Gewicht ächzte.

«Ach, für die Amerikaner und den Rest der Welt wird das herausgeschnitten», sagte meine Mutter. «Das ist immer so. Und die Sargträger werden danach nach Sibirien geschickt.»

«Furchtbar, dass du jeden Mist wiederholst, den irgendein Idiot von sich gibt.»

«Und ich finde furchtbar, dass du jeden Kommunisten im Land verteidigst, egal ob tot oder lebendig.»

«Das tu ich gar nicht.»

Meine Mutter tunkte eine Zitronenscheibe in Zucker und saugte daran. «Sie haben unser Land rettungslos versaut, und du verteidigst diese raffgierigen Säcke auch noch. Die sind genau wie die Katze da», sagte sie und zeigte auf Rasputin auf dem Sofa. «Dicke, selbstgefällige, kastrierte Tiere, die immer noch überall hinpissen. Arschlöcher.»

Mein Vater schlug mit der Faust auf den Tisch; die Tassen glitten an den Rand der Untertassen und Tee floss aufs Tischtuch. An seinem Hals schwoll eine Ader stark an und ich sah geradezu, wie das Blut hinauf- und hinabgepumpt wurde. «Diese Arschlöcher», sagte er, «haben den Krieg gewonnen. Sie haben die Welt vor dem Bösen gerettet, vor der faschistischen Hölle. Wenn sie nicht gewesen wären, wäre die Welt zugrunde gegangen. Alles – alles Schöne und Gute und Lebenswerte – wäre für immer ausgelöscht worden. Man hätte uns in den Öfen verbrannt oder zu Sklaven gemacht, die den Deutschen die Stiefel putzen und das Land pflügen, das sie uns gestohlen haben. Es ist unser Land, und lieber sterbe ich, als es einem Nazischwein zu geben. Was ist nach dem Krieg passiert? Na ja, es ist eine verfluchte Schande, aber wir haben überlebt. Wir haben dieses Land, das in Trümmern lag, neu aufgebaut, ihm seinen Stolz auf sein Kulturerbe, seinen Patriotismus und seine Furchtlosigkeit zurückgegeben. Wir haben ein Imperium gebaut. Wer wird es jetzt, da Breschnew tot ist, regieren? Wer wird es vor dem Westen schützen?»

«Warum müssen wir beschützt werden?», fragte meine Mutter und ließ die Zitronenscheibe in ihre leere Tasse gleiten.

«Darum.»

«Warum genau? Anscheinend wissen wir kaum etwas, und alles ist bleischwer geworden vor lauter gewichtigen, unwiderruflichen Wahrheiten.»

«Eine Wahrheit, die nicht gewichtig ist, ist keine. Das zeigt unsere Geschichte.»

«Diese Geschichte haben wir geschaffen, nicht sie uns.»

«Sie lässt sich nicht ungeschehen machen, und weder du noch ich, nicht einmal Anja oder Milka können daran etwas ändern. Man gräbt einen Brunnen, füllt ihn mit Wasser und trinkt daraus.»

«Brunnen trocknen aus», sagte meine Mutter.

«Dann müssen wir sie eben wieder auffüllen. Aber der Brunnen selbst muss nicht ersetzt werden. Entscheidend ist, dass man nicht ersetzt, was die Vorfahren aufgebaut haben.»

«Das tun wir dauernd – in der Wissenschaft und in der Architektur. Wir ersetzen alte Modelle durch neue. Wir verbessern sie, gestalten sie neu, strukturieren sie um. Wir wollen ein besseres Leben.»

«Ich nicht. Mein Leben ist großartig. Mein Land hat mir alles gegeben. Ich habe eine gut bezahlte Arbeit, kostenlose ärztliche Behandlung, kostenlose Ausbildung, eine Stadtwohnung für den Winter und ein Landhaus, um den Sommer zu genießen. Ich habe sogar einen Apfelgarten. Wie viele Amerikaner können sich mit so was brüsten?»

«Ich weiß nicht. Bin noch keinem begegnet. Aber ihr Leben gehört ihnen. Im Unterschied zu dir. Du kannst nicht mal aus der Sowjetunion raus und herumreisen. Dein gesamter Besitz gehört dem Staat, und der kann jederzeit alles an sich nehmen, samt mir und Anja.»

«Sei nicht idiotisch. Warum sollte der Staat so was wollen?», fragte er.

«Warum nicht? Warum tut er Dinge? Warum hat Stalin Millionen unschuldiger Menschen umgebracht? Er hat auch Frauen und Kinder nicht verschont. Mädchen verschwanden von den Straßen.»

«Woher weißt du das?»

«Das weiß jeder. Chruschtschow hat ihn entlarvt. Ihn und Berija.»

«Chruschtschow hat vieles getan, was er nicht hätte tun sollen.» Er hielt inne und schenkte sich Tee nach, ließ drei Stück Würfelzucker hineinplumpsen und rührte energisch um. «Jedes Land, Ljuba, wünscht sich Stabilität, nicht Veränderung. Veränderungen sind immer etwas Impulsives, ganz egal wie edel die Absicht ist, in ihnen lauert der Wahnsinn. Jeder Regierungswechsel in unserem Land hat zu Blutvergießen geführt. So was will keiner. Es ist das dritte Imperium dieses Landes. Begonnen hat es mit den Romanows, und drei ist eine magische Zahl. Wollen wir hoffen, dass es so bleibt.»

«Wenn die Geschichte uns etwas lehrt, dann, dass jedes Imperium dem Untergang geweiht ist.»

«Keine Unkereien.» Er spuckte sich dreimal über die rechte Schulter.

«Das war die falsche Schulter, Genosse. Das bringt Unglück.» Meine Mutter brachte ein angespanntes Lächeln zustande und fing an, die Tassen abzuräumen. Mein Vater ging ganz langsam zum Fernseher und stellte ihn lauter.

Milka und ich schwiegen weiter, obwohl uns ein paar Fragen auf der Zunge brannten; wir wussten, dass wir uns nicht einmischen durften, wenn meine Eltern stritten, dass wir den Streit, den sie vor Jahren begonnen und ununterbrochen fortgesetzt hatten, nicht stören durften. Manchmal sah es so aus, als würden sich meine Eltern noch vor meinem Abitur scheiden lassen; dann wiederum war ich mir sicher, dass sie für immer zusammenbleiben und auf demselben Kissen alt werden würden. Als ich älter wurde und sie sich kaum noch stritten, fand ich das beinahe besorgniserregend und suchte Vorwände, um meine Eltern zu einem Meinungskrieg aufzustacheln. Damals war das Zimmer aufgeheizt, es gab Freiheit, Vertrautheit, Begehren, alles wichtige Dinge.

«Streiten sich deine Eltern auch, wenn sie Sex haben?», fragte Milka, als wir an jenem Nachmittag spazieren gingen. Sie trug einen langen grauen Mantel und einen dazu passenden kalottenförmigen Hut, sodass sie von der Seite wie eine Ägypterin wirkte – mit dem langen Hals, den hohen Wangenknochen und der hochmütigen Nase.

«Ich glaube nicht, dass sie Sex haben», antwortete ich lachend.

«Ein Glück. Meine tun nichts anderes – rammeln wie die Karnickel.»

«Woher weißt du das?»

«Ich hör’s. Meine Mama schreit, weil mein Stiefpapa einen Riesenschwanz hat. Der tut ihr weh.»

Ich stolperte, und Milka bekam mich am Mantelärmel zu fassen und fing mich auf. Sie biss sich auf die Lippen, bis sie kirschrot aussahen in ihrem bleichen Gesicht.

«Ist das dein Ernst?», fragte ich.

«Was?»

«Das mit seinem Ding.» Ich brachte das Wort ‹Schwanz› nicht über die Lippen. Es klang irgendwie unangenehm, wie rohes Fleisch.

«Ja. Danach läuft er gern nackt herum.»

«Und deine Mama? Sagt die gar nichts?» Ich versuchte, mir Milkas Stiefvater vorzustellen, einen Bären von einem Mann, groß und haarig, mit tätowierten Fingern, wie er nackt durch die Wohnung stolzierte.

«Sie läuft auch nackt herum», sagte Milka grinsend. Sie rannte zu den Schaukeln und ließ ihren mageren Hintern auf den schmalen Metallsitz plumpsen.

Der Spielplatz war leer und im Sandkasten türmte sich Schnee. Ich zwängte mich in den anderen Schaukelsitz und hielt mich an den dicken rostigen Ketten fest. Eine Weile schaukelten wir schweigend, die Ketten ächzten und quietschten. Der Himmel war grau und wolkenverhangen. Fetzen musselinweißer Luft trieben durch die Bäume, die vor den trostlosen Betonmietshäusern ganz steif und feierlich wirkten. Wenn der Wind durch die Äste fuhr, klapperten sie wie alte Knochen. Sie erinnerten mich an den Krieg, an die Blockade, die gefrorenen Leichen, die sich in den Straßen auftürmten. Das war fast vierzig Jahre her, doch meine Großmutter und meine Eltern redeten immer noch über den Krieg, als sei er erst kürzlich beendet worden: von all den zerstörten Gebäuden, die wieder aufgebaut werden mussten, von all den Toten, über die das Land weiter trauerte.

«Ich wünschte, meine Eltern würden mehr streiten.» Milka sog die kalte Luft geräuschvoll ein.

«Wieso? Was meinst du damit?»

«Nichts. Nur, dass deine Eltern fluchen und schreien, ohne sich Gedanken zu machen, und dass sie beide Universitätsabschlüsse haben. Meine sagen nie etwas Unanständiges und arbeiten in einer Konservenfabrik.»

«Meine Eltern tun eigentlich nichts anderes als Raketenbaupläne nach Fehlern abzusuchen, sobald die Ingenieure die Zeichnungen fertig haben.»

«Und wenn es keine Fehler gibt?»

«Dann wird die Konstruktion genehmigt. Aber wenn jemand anders einen Fehler entdeckt, können meine Eltern ihre Stelle verlieren.»

«Was passiert, wenn nicht falsch gezeichnet wurde, sondern wenn der Bauplan den Fehler enthält?» Milka hatte sich fest mit den Füßen abgestoßen, die in zerschrammten Lederstiefeln steckten; sie war hoch über mir und der Wind verschluckte ihre Worte, sodass ich sie nicht verstehen konnte.

«Was für ein Bauplan?», schrie ich.

Doch sie gab keine Antwort und schaukelte immer höher, bis ich Angst bekam, sie würde sich überschlagen. Ich brüllte: «Du bist viel zu hoch, komm runter!»

Sie nickte und sprang von der Schaukel: Mit den Armen in die Hüften gestemmt und ihrem aufgeknöpften Mantel, der sich zu zwei Flügeln entfaltete, flog sie wie ein Vogel. Beim Anblick ihres Körpers, der furchteinflößend und dabei so anmutig und frei wirkte, sprang ich auch von der Schaukel und fiel direkt nach unten. Ich landete ein paar Schritte von meiner Freundin entfernt, die sich aufsetzte und sich den Schnee aus dem Gesicht und von den Händen wischte. Als sie eine Zigarette aus der Manteltasche holte, waren ihre Handteller blutig.

«Du bist verrückt», sagte ich. «Du hättest … du hättest dir wehtun können. Du hättest tot sein können oder so.»

«Wär das nicht was: Am selben Tag zu sterben wie unser kommunistischer Führer?» Sie blies mir Rauch ins Gesicht, den ich wegwedelte.

«Wahnsinn», sagte ich. «Der Tod ist das Nichts.» Ich riss ihr die Zigarette aus der Hand und zog kurz daran, und dann noch einmal. «Scheiße. Du hast mir wirklich Angst gemacht. Scheiße noch mal.»

Sie starrte mich an, mit bleichem Gesicht und furchtloser Miene, einen Schwung dunkelgoldenes Haar über der Stirn. Ihr Hut fiel herunter und sie fing ihn auf, schüttelte den Schnee ab und setzte ihn wieder fest auf den Kopf. Sie wirkte ein bisschen beunruhigt. «Sterben oder nicht sterben? Hm, eine verdammt gute Frage. Im Gymnasium wird Hamlet aufgeführt. Wie jedes Jahr. Bald sind wir dran.» Sie schnappte sich die Zigarette zurück. «Das ist die Letzte. Ich muss noch ein paar mehr von meinen Eltern klauen. Wenn sie Sex haben, rauche ich.»

«Du rauchst zu Hause?»

«Ja. Meine Eltern ja auch, deshalb merken sie nichts.»

«Meine rauchen nicht. Aber ich glaube, mein Papa raucht heimlich. Das rieche ich, wenn er von der Arbeit kommt.»

«Puh! Warum sollte man heiraten, wenn man nicht mal in der eigenen Wohnung rauchen darf?» Sie bot mir die letzten paar Züge an, die ich ablehnte, als sie gerade sagte: «Bei mir kannst du so viel rauchen, wie du willst, und du bekommst ein eigenes Bett und die Hälfte von meinem Königreich.» Sie warf die glimmende Zigarettenkippe in den Schnee, wo sie zischend erlosch.

«Wieso die Hälfte?», fragte ich.

«Willst du das ganze Königreich? Du kannst es haben – so viel du tragen kannst, aber beklag dich hinterher nicht, Anja Ranewa, und bleib nicht stehen, bleib verdammt noch mal niemals stehen, auch nicht, wenn ich gestorben bin.»

«Warum das denn?»

«Weil ich sonst zurückkomme und dich quäle.»

«Ohne Scheiß?»

Ich lachte und Milka lachte ebenfalls; wir ließen uns in den Schnee fallen, rieben uns die Gesichter gegenseitig mit Schnee ein und mussten heftig blinzeln. Der Schnee war gleichzeitig harsch und weich. Er klebte uns an den Wimpern und auf der Haut und begann dann zu schmelzen und tröpfchenweise an unseren kalten, roten Wangen herunterzufließen.

3

Meine Großmutter glaubte immer, Gott hätte einen Plan, und dass man ein Leben lang brauchte, um diesen Plan zu würdigen. Meine Eltern widersprachen ihr nie direkt, auch wenn mein Vater meine Mutter immer fragte: «Wie kann sie so was sagen? Nach allem, was sie durchgemacht hat. Der Krieg und die Blockade – wo soll da der Plan gewesen sein?»

Meine Mutter erwiderte dann nur schulterzuckend: «An irgendwas muss man doch glauben. Ohne Hoffnung ist das Leben unerträglich. Meinst du nicht, dass sie deshalb überlebt hat? Weil sie geglaubt hat, dass das ihre Bestimmung war?»

«Plan hin oder her, es sind die Menschen, die ihn in die Tat umsetzen. Wir tragen die Verantwortung, nicht Gott. In unseren Taten gibt es keine göttliche Vorherbestimmung.»

«Wenn es keinen Plan gibt, keine Vorsehung, wie kommt es dann, dass sie und ich überlebt haben?», sagte meine Mutter dann. «Als die Stadt fast eine Million Menschen in nicht einmal neunhundert Tagen verlor? Wieso sind wir nicht erfroren oder verhungert? Warum wurden wir nicht von den Nachbarn aufgegessen?»

«Ein Sauglück», sagte mein Vater dann und gab ihr einen Kuss. «Reines, wunderbares Sauglück.»

Als Juri Andropow im Herbst 1982 an die Macht kam, gab es viel Hoffnung, aber vielleicht nicht so viel Glück. Man wusste wenig über ihn, nur dass er im Krieg eine Gruppe Partisanen angeführt hatte und während der Ungarnkrise 1956 Sowjetischer Botschafter in Ungarn gewesen war und dann Leiter des KGB wurde. Man munkelte, er habe dem KGB befohlen, Autounfälle, Herzinfarkte und Scheinsuizide zu inszenieren, um seine Rivalen auszuschalten. Manche sagten auch, er sei der Kopf des Berliner Mauerbaus gewesen. Wieder andere behaupteten, Andropow sei sowohl am Attentat auf den Papst 1981 beteiligt gewesen als auch am Tod Breschnews. Es gab jedoch auch diejenigen, die sagten, er sei gar kein solches Monster, bewundere insgeheim die westliche Kultur, liebe Jazz und sei genauso krank und erschöpft wie das System.

Während seiner kurzen Regierungszeit machte Andropow jedoch den Versuch, unsere stagnierende Wirtschaft wiederzubeleben und die Arbeitsdisziplin und Moral zu stärken. Meine Eltern gingen früher zur Arbeit und kamen später nach Hause, machten Überstunden, gingen zu Bürobesprechungen und berieten sich mit Kollegen über neue Projekte. Meine Eltern bekamen keine Gehaltserhöhung, doch ihr Tag dehnte sich in die Nacht hinein und die Sorge über eine ungewisse, unvorhersehbare Zukunft wurde zur Dauersorge. Ich sah sie beim Abendessen über ihre Teller gebeugt grübeln oder neue Vorschläge an den Rand alter Zeitungen schreiben. Außerdem fingen sie an, Geld zu sparen, und zweigten von dem wenigen, was sie verdienten, fünf oder zehn Rubel ab, die sie in einem Wollsocken versteckten. Als sie hundert Rubel gespart hatten, brachten sie das Geld auf die Bank, obwohl ihnen ein paar Freunde und Nachbarn davon abrieten.

Meine Großmutter bekam eine monatliche Pension, die sie meiner Mutter gab – bis auf ein paar Rubel, die sie in Büchern versteckte. Meine Eltern wussten das natürlich, ließen sich aber nichts anmerken. Wenn Milka und ich Zigaretten kaufen wollten, gingen wir manchmal die Regale durch, zogen dicke Bände hervor und blätterten sie durch, bis wir genug Geld für ein Päckchen Stolichnjie oder Kosmos hatten. Noch Jahre danach fand meine Mutter immer wieder Großmutters Geld – neue glatte Scheine, die in Büchern von Dostojewski, Tolstoi, Turgenjew und Tschechow steckten.

Es war an einem Nachmittag Anfang Mai, der Duft nach Flieder und Traubenkirsche lag in der Luft. Der Frühling hatte die Arme ausgebreitet, an den Bäumen kräuselten sich die Blätter und von den Pappeln flog Flaum. Fasziniert von der erstaunlichen Seidigkeit des Pappelschnees versuchten Milka und ich ihn zu berühren: Er schwebte in großen, flauschigen Flocken umher und landete auf unseren Gesichtern und Händen. Der Himmel war von einem keuschen Blau, nur hoch oben flimmerten ein paar Wolken. Im sanften Sonnenglanz wirkte alles heiterer, in ein dickflüssiges, sinnliches Licht getaucht: das rissige Pflaster und die düsteren Häuser mit den Schusterläden, Apotheken, Bäckereien und Kleidergeschäften.

Das Viertel war voller junger Frauen, die die Gehsteige entlangeilten, auf Bänken saßen oder auf Spielplätzen Kleinkindern hinterherjagten. Ihre Bewegungen hatten etwas Unbefangenes, Luftiges, die Art, wie sie die Hüften schwangen oder Babys hochnahmen, selbst wie sie die Einkaufsnetze trugen, aus denen Lebensmittel quollen – Milch, Kefir, Tworog und lebender Fisch in Packpapier. Manchmal blieben die Frauen stehen und nahmen die Einkaufstaschen in die andere Hand oder hängten sie sich über die andere Schulter, ohne sie zwischendurch abzustellen, und gingen dann weiter.

Die meisten Frauen trugen Schwarz, Braun oder Grau, die einzigen Farben, die man in sowjetischen Läden bekam, in denen die Kleiderauswahl sich seit der Revolution nicht geändert hatte. Milka sagte einmal, wir lebten in einem großen Brutkasten, statt Hühnern züchte die Regierung Menschen. Alle sahen gleich aus und dachten dasselbe, deshalb könne, wenn jemand starb oder verschwand, ein anderer Staatsbürger leicht dessen Platz einnehmen. «Ist doch einleuchtend», sagte sie. «Wenn ich sterbe, kannst du mich ersetzen. Wir gehen in dieselbe Schule, lesen dieselben Bücher, schreiben dieselben Aufsätze und werden von denselben Lehrern unterrichtet. Wir sehen dieselben Filme, hören dieselbe Musik und essen dieselben Speisen. Und schlafen seit Ewigkeiten im selben Bett. Sogar unsere Stimmen ähneln sich. Das sagen alle. Nur dass du dunklere Haare hast und größere Titten, aber in dieser verdammten Schuluniform sieht man das sowieso nicht. Wahnsinn, was?» Ich weiß noch, dass ich geltend machte, sie und ich seien doch zwei völlig verschiedene Menschen, doch als sie mich dann fragte, inwiefern, wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Wir waren tatsächlich zwei sowjetische Teenager, die im selben System aufwuchsen, und dass ich meine Eltern liebte, während sie ihre hasste, änderte in Wirklichkeit nicht viel an unserer Erziehung, daran, wie wir uns anzogen und welche Pläne wir für unser Leben schmiedeten, oder wie wir die Welt sahen, die von ihrem Fenster aus genauso trostlos und monoton wirkte wie von meinem.

Ich sah zwei alte, gebeugte, zittrige Frauen über die Straße gehen. Mit ihrem Nieselhaar und ihrer brüchigen blassen Haut wirkten sie, als hätte der Winter sie völlig ausgebleicht.

Plötzlich empfand ich großes Mitleid mit Milka und mir. «Eines Tages sind wir auch so», sagte ich und deutete auf die Frauen, die sich mit schildkrötenhafter Geschwindigkeit fortbewegten und auch wie Schildkröten aussahen – verschrumpelte Gesichter, grobe braune Mäntel, kleine Füße in hässlichen, zerschrammten Schuhen.

«Wenn ich so lange lebe», sagte Milka und beäugte die Frauen.

«Warum nicht?»

«Willst du so alt werden?»

«Nein.»

«Ich auch nicht. Wir müssen nach Paris oder Rom flüchten. Da altern die Frauen nicht.» Sie lachte, nahm die Schlüssel aus ihrer Schulmappe und ging die Treppe hinauf.

Unsere Wohnung war groß; wir hatten drei Zimmer, Milkas Eltern hatten nur zwei. Doch sie wohnte näher an der Schule, sodass wir nach dem Unterricht oft zu ihr gingen und uns Fleischwurst brieten und Kartoffeln kochten, saure Gurken aufschnitten, die ihre Mutter eingelegt hatte, und Pflaumenwein tranken, den ihr Stiefvater das ganze Jahr über in großen Glaskanistern gären ließ. Wir schenkten uns ein bisschen Wein ein, füllten den Kanister mit einem Schuss Wasser auf und stellten ihn dann wieder hinter den Küchenvorhang. Satt und ein bisschen beschwipst vergruben wir uns dann in Milkas Zimmer, fütterten die Fische in ihrem Aquarium und lauschten Freddie Mercury, der auf einem ramponierten Kassettenrekorder We are the champions heulte. Obwohl wir nicht alles verstanden, liebten wir diesen Song. Wir grölten mit, so laut wir konnten, und stellten uns einen dünnen schwarzhaarigen Mann in engen Lederhosen und Netzhemd vor, der seine Hände über unsere Körper gleiten ließ.

Wie alle Mädchen in unserem Alter träumten wir davon, geküsst, berührt und verhätschelt zu werden. Wir träumten von der großen Liebe und von starken, hübschen Jungs, die uns retten konnten: vor unseren Eltern und überfüllten Wohnungen, in denen es immer hektisch zuging, vor unseren niemals endenden lästigen Aufgaben. Wir träumten von Liebe, die zu Herzen ging wie Feuer, das einen Waldbrand entfacht und alles verbrennt. Wir träumten von einer Liebe, die wie ein Erdbeben war, oder wie eine reißende Flut, die uns den Boden unter den Füßen fortriss und uns einen Augenblick lang atemlos in der Luft hielt, so ass die Welt, egal wie hässlich und unverändert sie sein mochte, plötzlich wie eine wundervolle Blume aufblühte und wir eines Morgens, wenn wir aus dem Fenster schauten, Farben sehen würden, Explosionen von Türkis und Zitronengelb und Malve, statt der harten, öden Gleichförmigkeit der Häuser, die eher Gefängnissen ähnelten.

Meine Eltern sprachen nie von Liebe, nur von ihrer Pflicht – gegenüber der Familie und gegenüber dem eigenen Land. Ich wusste, dass sie einst jung gewesen waren, aber sie konnten sich nicht daran erinnern, verliebt gewesen zu sein, beziehungsweise was Verliebtsein bedeutete. Weil sie beide arbeiteten und weder Zeit noch Geld hatten, um ins Kino, ins Theater oder ins Restaurant zu gehen, hatten sie sich vor ihrer Heirat nur zweimal getroffen. Sechzehn Jahre später konnte sich meine Mutter nur noch daran erinnern, dass mein Vater sich beim Küssen als nicht sehr begabt erwies und dass sein Vollbart sie im Gesicht, am Hals, an der Brust und am Bauch kratzte. Mein Vater erinnerte sich noch, dass er sich zweimal am Tag rasieren musste – morgens und abends. Und dass er immer Hunger hatte. Sie heirateten nicht, weil sie sich ineinander verliebt hatten, sondern weil man heiraten musste, wenn man rechtmäßig Sex haben wollte. Da meine Eltern sich nicht freinehmen konnten, fuhren sie nicht in die Flitterwochen. Und weil sie beide keine eigene Wohnung hatten, verbrachten sie die Nächte meist weiterhin getrennt voneinander; beide wohnten in Gemeinschaftswohnungen, die sie sich mit Nachbarn und Verwandten teilten. Als sie sich eine eigene Wohnung leisten konnten, zogen sie zusammen und sparten für ein Appartement in einem Haus, das eine Wohnungsbaugenossenschaft im kommenden Jahrzehnt bauen wollte. In ihre neu gemietete Einzimmerwohnung brachte mein Vater eine Decke und einen Küchenschemel mit; meine Mutter steuerte einen Kochtopf und ein altes Federkissen bei. Eine Zeit lang schliefen sie auf ihren Mänteln und auf diesem einen Kissen. Sie saßen im Schneidersitz auf dem Boden und aßen gekochte Kartoffeln oder Eier.

«Wusstest du, dass reiche Frauen im achtzehnten Jahrhundert ihre Kinder nicht stillen mussten? Das erledigte eine Leibeigene für sie. Zu der Zeit hätte ich auch gerne gelebt», sagte Milka, ließ ein bisschen trockenes Fischfutter ins Aquarium sinken und kletterte auf ihr Bett. Sie legte sich hin und faltete die Hände im Nacken zu einem Kissen.

Milka war eine Träumerin. Wenn wir nicht zusammen waren, las sie meistens, ließ sich von fernen, schönen Welten verführen, die völlig anders waren als die Welt, in der wir aufgewachsen waren. Sie war wie mein anderes Ich, dünner und klüger, eine verfeinerte Version, durch die ich meine eigenen Sehnsüchte und Unsicherheiten entdeckte.

Ich streckte mich neben ihr aus und sagte: «Und wenn du als Leibeigene geboren worden wärst? Dann gehört dir gar nichts. Nicht mal deine Titten. Weißt du, was damals mit Leibeigenen geschah, die sich schlecht benahmen? Sie wurden bei lebendigem Leibe bis zum Hals eingegraben und von ausgehungerten Hunden aufgefressen.»

«Dann hätte ich eben einen Prinzen geheiratet und wäre auf sein Schloss gezogen.»

«Ein Prinz hätte nie eine arme Leibeigene geheiratet. Warum für etwas bezahlen, das man kostenlos kriegt?»

«Was ist mit Praskowja Schemtschugowa und Graf Scheremetew? Sie war siebzehn Jahre lang seine Geliebte. Und als die Leibeigenschaft abgeschafft wurde, heiratete er sie.»

Milka drehte sich auf den Bauch und lag schlaff und träge da, mit traumverhangenem Blick. Sie öffnete lächelnd den Mund, und ihre Schneidezähne waren wie zwei Perlen in einer halb offenen Muschel.

«Sie war Schauspielerin in seinem Theater», sagte ich. «Sie war großartig und sang wie eine verdammte Nachtigall. Solche Talente hast du nicht. Sie ist übrigens mit vierunddreißig oder so gestorben, als sie seinen Sohn zur Welt brachte.»

«Ganz schön alt, vor allem für die damalige Zeit. Da fingen sie schon mit zwölf an zu vögeln, oder noch früher.»

«Womit wir Jahre im Hintertreffen wären.»

«Du vielleicht, Ranewa», sagte Milka.

«Hattest du etwa schon Sex und hast es mir nicht erzählt?»

«Wieso? Hätte ich dich direkt danach anrufen sollen? Um dir mein zerrissenes Jungfernhäutchen zu beschreiben?»

«Igitt, das will ich nicht hören.»

«Deshalb hab ich dich nicht angerufen. Aber alles war voller Blut.»

«Wie viel denn?»

«Keine Ahnung.»

«Ein Löffel voll? Eine Tasse?»

«Ich hab’s nicht gemessen. Eine Suppenkelle voll.»

«Du lügst.»

«Nein.»

«Wer ist der Typ? Jemand, den ich kenne?»

Ihr Gesicht spannte sich an. Sie wurde rot und schüttelte den Kopf. «Ein Nachbar. Nichts Besonderes. Er hatte Geburtstag und ich hatte kein Geschenk für ihn, deshalb hab ich ihm meine Jungfernblüte überreicht.» Sie verzog mürrisch den Mund.

Als sie das sagte, kam mir der Gedanke, dass sie vielleicht log, dass ich denjenigen, mit dem sie geschlafen hatte, vielleicht kannte und sie seinen Namen nicht verraten konnte.

«Hat es wehgetan? Wie sehr, auf einer Skala von eins bis zehn?», fragte ich.

«Vierundzwanzig!»

«So schlimm?»

«Noch viel schlimmer.»

«Ein Mädchen aus meiner Schwimmmannschaft hat behauptet, es sei keine große Sache: genauso, als würde man sich in den Finger stechen.»

«Na ja, vielleicht hat sie eine Gummimuschi und spürt überhaupt nichts. Oder sie hat sie jahrelang mit Kerzen gedehnt, damit es später nicht wehtut.» Milka gab einen kurzen, jähen Gluckser von sich und sagte dann: «Sag das auf keinen Fall weiter.»

«Nein», sagte ich. «Ich mach einen Aushang am Schwarzen Brett.»

Sie kniff mich in den Oberschenkel und zog mir ein Kissen übers Gesicht. «Cause we are the champions of the world», plärrte der Kassettenrekorder, und genau in dem Moment dachte ich, dass die Welt ein riesiger, wunderbarer Ort ist und dass ich sie vielleicht nie zu Gesicht bekommen würde. Ich stellte mir vor, dass die Leute überall demselben Song lauschten, sich dabei an den Händen hielten und einen fortlaufenden Kreis bildeten, ein buntes Band oder einen Gürtel, rings um die ganze Erde. Und dann fragte ich Milka: «Was, meinst du, bedeutet eigentlich ‹champions of the world›?»

Sie gab keine Antwort, drehte sich auf die Seite, rollte sich ein und wurde ganz still. Die Kassette war zu Ende und der Kassettenrekorder lief lautlos weiter und hielt dann an.

«Willst du spazieren gehen?», fragte sie schließlich.

«Wir sollten lernen. Morgen schreiben wir eine Mathearbeit.»

«Wie öde.»

«Der neue Lehrer ist streng. Der gibt uns keine gute Note, nur weil wir süß sind.»

«Du findest, dass wir süß sind?»

«Oh ja. Aber du musst zunehmen. Jungs mögen Kurven. Möpse. Ärsche.»

«Denen gefällt alles, was nach Muschi klingt.»

«Trotzdem musst du mehr essen.»

«Ich esse dann, wenn ich was zu essen finde. Wenn er was im Kühlschrank lässt.» Mit ‹er› meinte sie ihren Stiefvater, dessen Namen Milka nie aussprach.

«Möchtest du mit uns auf die Datscha fahren?», fragte ich.

«Hab ich eine Wahl?»

«Nein», sagte ich grinsend, «eigentlich nicht.»

Sie nahm ihre Schulmappe, die auf dem Boden lag, und zerrte ein paar Schulbücher heraus.

«Hast du wirklich mit deinem Nachbarn geschlafen oder war das gelogen?», fragte ich.

«Nur, dass er mein Nachbar ist, war gelogen.» Sie zog die Wangen mit den Zeigefingern nach oben und mimte ein Lächeln.

Draußen wurde es dunkel und im Zimmer zitterten Schatten. Das Aquarium auf Milkas Schreibtisch war noch zu sehen, aber ich erkannte weder Fische noch Steine und sah nur trübes, moosgrünes Wasser.

4

Unsere Datscha stand in einer kleinen, dicht bebauten Datschasiedlung auf einem Hügel sechzig Kilometer von Moskau entfernt. Jedes Haus war abgezäunt, und das dazugehörige Land wurde nach einem genau festgelegten Plan genutzt, was den Menschen ein Gefühl von Ordnung verschaffte. Es gab praktisch keine Gärten, nur schmale gepflasterte Wege oder Trampelpfade, die sich zwischen Blumenbeeten, Obstbäumen und Komposthaufen entlangschlängelten. Fast alle Datschabesitzer hatten einen Gemüsegarten und bauten außerdem Erdbeeren, Himbeeren, Stachelbeeren, Johannisbeeren und Äpfel an. Ihr Obst und Gemüse machten die Leute aus der Stadt ein und kamen so durch den Winter. Meine Eltern bauten Äpfel an und meine Mutter pflanzte Unmengen von Blumen: Narzissen, Gladiolen, Tagetes und Gänseblümchen. Sie behauptete fest, die Welt könne mehr Schönheit vertragen, zumindest periodisch.

Unser Haus war einfach. Es hatte zwei Schlafzimmer und eine Küche mit einem sperrigen, antiquierten Herd und einem schweren Tisch voller Narben, der seit drei Generationen im Besitz unserer Familie war. Die vielen Flecken, Schnitte und Brandstellen waren geschichtsträchtige Male, die von Liebe und Streit erzählten. Weil meine Großmutter dauernd etwas einmachte, roch es in der Küche immer nach Obst. Es roch auch nach Wildpilzen, die an langen, dreifachen Nähgarnfäden trockneten: Die Fäden hatte sie wie Neujahrsgirlanden quer durch den Raum und über die Fenster gespannt, die von den diversen Kochdämpfen beschlagen waren. Da wir kein Wohnzimmer hatten, stand unser Fernseher eingequetscht in einer Ecke neben dem Kühlschrank. Wir hätten ein zusätzliches Zimmer anbauen können, doch dann hätten wir die Bäume fällen müssen, was meine Eltern nicht wollten.