Das Lebende lebendiger werden lassen - Hans-Peter Dürr - E-Book

Das Lebende lebendiger werden lassen E-Book

Hans-Peter Dürr

4,9

Beschreibung

Klimawandel, Kriege, Kapitalismuskrise – der Ausnahmezustand droht zum Normalfall zu werden. Spätestens seit Fukushima ist die Einsicht, „dass sich etwas ändern muss“, so weit verbreitet wie nie zuvor. Die Zeit für einen gesellschaftlichen Wandel ist reif. „Nachhaltigkeit“ ist zu einer Chiffre für jene „andere Welt“ geworden, die sich viele ersehnen. Doch warum fällt uns der individuelle wie gesellschaftliche Wandel zu mehr Nachhaltigkeit so schwer? Warum befreien wir uns nicht von dem Ballast einer verschwenderischen Konsumgesellschaft, von der Abhängigkeit begrenzter fossiler Ressourcen? Wie ließe sich Frieden schließen – mit sich, mit den Mitmenschen, aber auch mit der Natur? Hans-Peter Dürr liefert Antworten auf diese und andere Fragen. In seinem hier vorgestellten 'Wörterbuch des Wandels' reflektiert der Träger des Alternativen Nobelpreises die zentralen Themen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen auf dem Weg in eine zukunftsfähige Gesellschaft: von A wie Arbeit bis Z wie Zukunft. Hans-Peter Dürr zeigt Wege auf, wie wir mit neuem Denken und beherztem Tun die Krisen unserer Zeit bewältigen können, um unser eigenes Leben wie das aller anderen wieder lebendiger werden zu lassen.

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Hans-Peter Dürr

Das Lebende lebendiger werden lassen

Wie uns neues Denken aus der Krise führt

Herausgegebenvon Manuel Schneider

ClimatePartner

Dieses Buch wurde klimaneutral hergestellt. CO2-Emissionen vermeiden, reduzieren, kompensieren – nach diesem Grundsatz handelt der oekom verlag. Unvermeidbare Emissionen kompensiert der Verlag durch Investitionen in ein Gold-Standard-Projekt. Mehr Informationen finden Sie unter: www.oekom.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2011 oekom verlag, München

Gesellschaft für ökologische Kommunikation mbH

Waltherstraße 29, 80337 München

Visuelle Gestaltung + Satz: Ines Swoboda

Titelgestaltung: Torge Stoffers

Titelbild: Schmetterling, shutterstock, Ambient Ideas

Alle Rechte vorbehalten.

eISBN: 978-3-86581-378-7

Inhalt

Vorwort des Herausgebers

Einleitung

KAPITEL I

Neues Denken für eine Welt von morgen

KAPITEL II

Nachhaltigkeit und das Paradigma des Lebendigen

KAPITEL III

Wörterbuch des Wandels

Arbeit

Atomkraft

Energie

Frieden

Nachhaltigkeit

Poesie

Transzendenz

Verantwortung

Wirtschaft

Wissenschaft

Zivilgesellschaft

Zukunft

Zur Person Hans-Peter Dürr

Vorwort des Herausgebers

»Eine andere Welt ist nicht nur möglich, sie ist im Entstehen. An einem ruhigen Tag kann ich, wenn ich sehr genau lausche, ihren Atem hören.« Die indische Schriftstellerin und politische Aktivistin Arundhati Roy formuliert eine Haltung und Erfahrung, die zuversichtlich stimmt und Mut macht – trotz der vielfältigen Krisen unserer Zeit.

Beides tut not. Denn viele Menschen erleben die offenkundige Krise des Kapitalismus, den spürbaren Klimawandel, die Verknappung fossiler Energien (»Peak Oil«) als Sinnkrise des Wirtschafts- und Wohlstandsmodells westlicher Prägung. Wer geglaubt hat, es könnte nicht schlimmer kommen, wurde in jüngster Zeit eines Besseren belehrt. Im April 2010 havarierte die Ölplattform Deepwater Horizon und hinterließ ein ökologisches Desaster im Golf von Mexiko – und berechtigte Zweifel an der Handlungsfähigkeit von Regierungen und der Verantwortungsbereitschaft mancher Wirtschaftskonzerne. Ein Jahr später brachte ein Erdbeben den Super-GAU für das japanische Atomkraftwerk Fukushima; zurück bleibt – für Jahrhunderte – eine ra dio aktive Todeszone in unmittelbarer Nachbarschaft der Millionenmetropole Tokio.

Was aber ist die Botschaft hinter diesen apokalyptischen Bildern? – Zunächst wird offenkundig: Erdöl und Atomkraft – die Pfeiler, auf denen die westliche Welt steht – wanken beträchtlich. Die Kosten, die wir (und die Natur) zur Aufrechterhaltung unseres energetisch exzessiven Lebensstils zu tragen haben, sind enorm und erscheinen in keiner Betriebsbilanz. Wir sehen aber auch auf einer tieferen Ebene, was passiert, wenn die Rationalität von Naturwissenschaft und Hochtechnologie auf eine merkwürdige Paarung aus »Gottvertrauen und Gott-sein-Wollen« (Claus Biegert) trifft. Es entsteht eine explosive Mischung aus technokratischer Hybris, Profitkalkül einzelner Firmen, Versagen staatlicher Aufsicht und die offenkundige Bereitschaft zu Menschenopfern. Ein salopper Umgang mit dem ominösen »Restrisiko«, das einzugehen die Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft offenbar achselzuckend bereit sind. Ein »wachstumsfrommes« Handeln, das im Rausch des technologischen Fortschritts Fehler nicht mehr erlaubt – und deshalb im präzisen Wortsinne als »unmenschlich« zu bezeichnen ist. Denn Fehler zu machen ist menschlich, gehört zur conditio humana. Die Katastrophe von Fukushima zeigt: Wir haben uns eine Welt geschaffen, für die wir Menschen nicht (mehr) geschaffen sind. Sie überfordert und entgleitet uns. Und hinterlässt eine verstrahlte und kontaminierte Zukunft, die für niemanden mehr eine lebenswerte Gegenwart sein wird.

Angesichts dieser – letztlich vorhersehbaren – Katastrophen und des politischen Lärms, den sie ausgelöst haben, fällt es schwer, mit der indischen Dichterin Arundhati Roy den »Atem einer entstehenden neuen Welt« zu spüren. Und dennoch: Die grundsätzliche Wandlungsbereitschaft, die Einsicht, »dass sich etwas ändern muss«, ist in unserer Gesellschaft seit den jüngsten Ereignissen so weit verbreitet wie nie zuvor. Die Zeit für einen gesellschaftlichen Wandel ist reif. »Business as usual«, ein schlichtes »Weiter so!« klingt in den Ohren aufmerksamer Zeitgenossinnen und Zeitgenossen eher als Bedrohung denn als Beruhigung. »Nachhaltigkeit« ist zu einer Chiffre für jene »andere Welt« geworden, die sich viele ersehnen.

Gleichwohl erleben sich die meisten Menschen in ihrem Handeln als »blockiert«. Wenigen gelingen erste Schritte hin zu einer nachhaltigen, naturverträglichen und sozial sensiblen, achtsamen Lebensführung. Noch weniger verfügen über den Mut und »langen Atem«, sich von all dem zu befreien, was uns festhält in einer Gegenwart, die nachweislich keine Zukunft hat. Selbst denjenigen, die eigene Kinder oder Enkel haben, fällt es schwer, generationenübergreifend zu denken und zu handeln und auf diese Weise der Zukunft ihrer Kinder eine Heimat in ihrem Leben zu geben.

Wovor haben wir Angst? Warum fällt uns der individuelle wie gesellschaftliche Wandel zu mehr Nachhaltigkeit so schwer? Warum befreien wir uns nicht von dem Ballast einer verschwenderischen Konsumgesellschaft, von der Abhängigkeit begrenzter fossiler Ressourcen und damit von den sich abzeichnenden globalen Verteilungskämpfen? Wie ließe sich Frieden schließen – mit uns und mit unseren Mitmenschen, Frieden aber auch mit der äußeren Natur, unserer natürlichen Mitwelt?

Diese Fragen stehen im Zentrum des neuen Buches von Hans-Peter Dürr. Seine Antwort mag zunächst überraschen: Ausgerechnet die Erkenntnisse aus der modernen Quantenphysik, die in den ersten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts das naturwissenschaftliche Weltbild revolutioniert haben (jedoch bislang spurlos in unserem Alltagsverständnis von Natur geblieben sind), sollen den Weg in eine gute Zukunft weisen.

Im Mittelpunkt steht dabei die Überwindung des materialistischen Weltbilds durch die neue Physik, allem voran die Einsicht, dass Materie nicht aus Materie aufgebaut ist. Wenn wir Materie immer weiter auseinandernehmen und zu ihrem »Innersten« vordringen – bleibt am Ende nichts mehr übrig, was uns an Materie erinnert: kein Stoff, nur noch Form, Gestalt, Symmetrie, Beziehung. So die ebenso irritierende wie faszinierende Erkenntnislage der neuen Quantenphysik. Sie bedeutet die Um kehrung unseres bisherigen Verständnisses von Materie und Form: Das Primäre ist Beziehung, der Stoff das Sekundäre. Im Grunde bleibt nur etwas, was in der Deutung von Hans-Peter Dürr mehr dem Geistigen ähnelt: eine Welt voller Möglichkeiten – ganzheitlich, offen, lebendig. Und das zweite, was uns die neue Physik lehrt: Alles ist mit allem verbunden, nichts in der Natur ist isoliert, bloßer »Teil«. Wie umgekehrt das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Auch wir Menschen sind, so Dürr, »nicht Teile einer Wirklichkeit, sondern beteiligt an einer Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit wird in jedem Augenblick neu ge schaffen, und so bereichert jeder kreative Beitrag von uns die Wirklichkeit unserer Zukunft.« Das bedeutet: Wenn alles mit allem zusammenhängt, ist nichts umsonst, nichts vergeblich!

Das Besondere an Hans-Peter Dürr ist, dass er bei dieser abstrakten, naturphilosophischen Weltsicht nicht stehen bleibt, sondern in einer lebendigen, bilderreichen Sprache deren Konsequenzen für unsere Lebenswelt aufzeigt. Entsprechend ist auch dieses Buch aufgebaut: Nach den ersten beiden Kapiteln, die in das neue Denken der Physik einführen, die Grenzen des materialistischen Weltbilds aufzeigen und das Paradigma des Lebendigen als Basis für unser individuelles wie gesellschaftliches Zukunftsengagement einführen, besteht der Hauptteil des Buches aus einem »Wörterbuch des Wandels«. Zwölf zentrale Themen und Konfliktfelder der Gegenwart, mit denen wir uns auf dem vor uns liegenden Weg in eine zukunftsfähige Gesellschaft intensiv auseinandersetzen müssen, werden gedanklich vertieft und alltagsnah behandelt: von A wie Arbeit und Atomkraft bis Z wie Zivilgesellschaft und Zukunft.

Auch wenn er dabei die Grenzen der Physik als akademischer Disziplin immer wieder überschreitet, spricht Hans-Peter Dürr in seinem Buch als Naturwissenschaftler. Sein Antrieb, Physiker zu werden und insbesondere zu den Atomen, den Atomkernen und Elementarteilchen hinabzusteigen, entsprang nach Krieg und Zusammenbruch dem Wunsch, »zu erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält«. Er suchte nach den Irrungen und Wirrungen des Krieges den Weg zu verlässlicher, nicht von fehlbaren Menschen diktierter Wahrheit. Dass Hans-Peter Dürr auf dem Wege hinunter »ins Innerste der Welt« nicht nur »Philosophen« wie dem Nobelpreisträger Werner Heisenberg begegnete, sondern mit Edward Teller auch Kernphysikern, die Atombomben bauten, war nicht seine Absicht. Es war aber Grund und Anlass für ihn, ein »passionierter Grenzgänger« zu werden. Ihm wurde die Ambivalenz der Forschung deutlich: dass tiefe Einsichten auch unmittelbar zu Kenntnissen führen, die unsere Lebenswelt einschneidend verändern, ja sie zerstören können.

Hans-Peter Dürrs Buch macht Mut. Mut zu einem anderen Denken. Mut zu einem anderen Leben. »Die Zukunft ist offen«, lautet das Credo des renommierten Physikers und Naturphilosophen. Wir können die Enge unseres materialistischen Weltbilds überwinden und zu einem Leben in besserem Einklang mit der Natur zurückfinden. Der Träger des Alternativen Nobelpreises zeigt Wege auf, wie wir mit neuem Denken und beherztem Tun die Krisen unserer Zeit bewältigen. Und damit unser eigenes Leben und das aller anderen lebendiger machen. Das hier vorgelegte Buch ist die Quintessenz seines Denkens: theoretisch fundiert und dennoch nah am Leben und seinen Fragen. Wer sich Zeit und Ruhe nimmt, den Gedanken Hans-Peter Dürrs zu folgen, der kann den Atem jener anderen Welt hören, die nicht nur möglich, sondern im Entstehen ist.

München, im Sommer 2011

Manuel Schneider

Zum Herausgeber

Dr. Manuel Schneider, seit dem Studium der Philosophie in der Ökologiebewegung als Berater, Projektentwickler, Autor und Herausgeber beruflich tätig, darunter in verschiedenen Projekten mit Hans-Peter Dürr. Er arbeitet in München u. a. als Geschäftsführer des oekom Vereins und der Selbach-Umwelt-Stiftung.

Einleitung

Leben ist ein erstaunliches Phänomen. Eine außerordentliche Seltenheit in unserer Welt, wenn nicht sogar einzigartig in unserem großen Kosmos, der sich vor etwa fünfzehn Milliarden Jahren aus einem Urknall entwickelt haben soll. Von unserer Kenntnis der unbelebten Materie her, die uns auf der Erde umgibt und das Universum in Form von unzähligen Sonnen, Sternhaufen und Galaxien füllt, erscheinen die belebten Formen der Materie wie reine Wunder: als äußerst unwahrscheinliche, komplexe, empfindliche und verletzbare Organisationen von Materie, die nur unter ganz begrenzten äußeren Bedingungen existieren können. Kleinste Abweichungen dieser Bedingungen bringen sie zum Kippen, führen zu ihrem Tode, verwandeln sie in stabilere unbelebte Formen.

Leben ist, so besehen, immer in Gefahr, weil es nicht auf einem stabilen Gleichgewicht beruht. Es verdankt seine relativ hohe Beständigkeit einer ausgleichenden Bewegung, einem Fließgleichgewicht, ganz ähnlich wie wir dies beim Gehen bewerkstelligen, indem wir geschickt von einem labilen Bein zum anderen wechseln und uns dadurch fortbewegen. Mit seinem Bewusstsein und seiner Fähigkeit zum absichtsvollen Handeln hat der Mensch eine neue Stufe des Lebendigen erklommen. Sie ermöglicht ihm, die Welt auf doppelte und recht unterschiedliche Weise wahrzunehmen. Er erlebt sie zunächst ganz unmittelbar innerlich, weil er, wie alles andere, »Teil« dieser Welt ist; und erfährt sie dann nochmals anders über seine Sinne in seinem hellen Bewusstsein als etwas Äußeres, von sich selbst Abgetrenntes. Es ist diese Be tonung der äußeren Welt, die von der Trennung ausgeht, durch die der Mensch sich selbst als Lebewesen in Frage stellt und mit sich selbst auch ein Großteil des höher entwickelten Lebens auf der Erde in Gefahr bringt. Es ist die Negierung der inneren Wahrnehmung der Wirklichkeit als einer Ganzheit, welche den Menschen zu seiner Naturvergessenheit führt und ihn dazu verleitet, sich im Wettstreit mit anderen den Ast abzusägen, auf dem er sitzt.

Es ist eine Tragödie, dass dieser homo sapiens sapiens, diese wohl flexibelste, differenzierteste und lebendigste Kreatur sich heute anschickt, seine eigene Lebendigkeit und die der anderen Mit lebewesen nur als die Bewegung einer raffinierten, aber determinierten Maschine zu deuten. Dieses Missverständnis kann verheerende Folgen zeitigen, vielleicht nicht der katastrophalsten Art, was ein vorzeitiges Ende alles Lebens auf unserem einmaligen Planeten bedeuten könnte. Wahrscheinlicher erscheint, dass es den Menschen als letztes Glied der Evolution am empfindlichsten treffen wird. Denn dieses hochkomplexe, vielfältig austarierte und eben deshalb recht robuste Biosystem kann in seiner Gesamtheit in der einen oder anderen Form auch ohne uns Menschen leben. Die Natur braucht uns nicht. Wir aber brauchen sie. Ohne das Biosystem der Natur und seine ganz speziell auf der Erdoberfläche ausgebildete Form, in die wir evolutionär hineingewachsen und symbiotisch eingepasst sind, können wir Menschen nicht sein.

Die Geschichte der Menschheit ist reich an Beispielen, wo neue tiefe Erkenntnisse über die Wirklichkeit dazu verleiteten, diese neuen Einsichten als die letzte und eigentliche Wahrheit zu betrachten, nach der sich nun das Leben der Menschen und der Zivilisation auszurichten hätte, um künftig nicht mehr zu scheitern. So musste sich der Papst unlängst für den Übereifer und die Überheblichkeit seiner Diener entschuldigen, die etwa einen Galilei 1633 bei Androhung des Verbrennungstodes seine Thesen abschwören ließen, dass die Erde sich täglich um ihre Achse und jährlich um die Sonne drehe. Die Geschichte hat in diesem Fall gegen die Behauptungen der Kirchenmänner entschieden und dies eindeutig. Galilei hatte zweifellos recht, die Kirche nicht. Doch laufen heute die Naturwissenschaftler mit ähnlicher Arroganz Gefahr, den Wahrheitsanspruch ihrer Aussagen über die Struktur der Wirklichkeit und deren Gesetzlichkeit nun ihrerseits fahrlässig zu überhöhen und zu verabsolutieren.

Die vielfältigen, teilweise euphorischen Vorstellungen mit Blick auf das begonnene neue Jahrtausend lassen uns vergessen, dass sich durch die neuen Erkenntnisse der Physik im Mikrokosmos zu Beginn des 20. Jahrhunderts unser bisheriges wissenschaftliches Weltbild grundlegend verändert hat. Das Erstaunliche dabei ist, dass sich diese revolutionären Einsichten in den vergangenen bald hundert Jahren seit ihrer theoretischen Klärung kaum auf die anderen Wissenschaften ausgewirkt und nur ganz oberflächlich Eingang in das allgemeine Denken unserer Gesellschaft gefunden haben.

Und dies nicht etwa, weil die darin entwickelten Ideen sich nicht wissenschaftlich bewährt haben oder durchsetzen konnten. Im Gegenteil, sie bilden heute praktisch unangefochten das Fundament, auf dem die exakten Naturwissenschaften aufbauen. Sie haben darüber hinaus durch die damit verknüpfte neue Technik auch unsere Gesellschaft im Guten wie im Bösen um fassend und tiefgreifend verändert. So hat sich durch die Mikroelektronik und Halbleitertechnik unsere industrielle Gesellschaft zu einer In formationsgesellschaft gewandelt, in der praktisch unbegrenzte Datenmengen verarbeitet, geordnet und in weniger als einer Zehntelsekunde bis zu entferntesten Orten unserer Erde gebracht werden können. Wobei dies leider, doch verständlicherweise, nicht eine ähnlich schnelle Verständigung zwischen den Menschen gefördert hat, sondern durch die Globalisierung eher die traditionellen Spannungen zu verstärken scheint. Die Entfesselung der Energien in den Atomkernen haben durch die Atombomben und die »friedliche« Nutzung der Kernenergie uns Menschen Kräfte in die Hand gegeben, mit denen wir heute uns selbst und den höher entwickelten Teil der Biosphäre in Sekundenschnelle vernichten oder ganze Areale für uns Menschen auf Jahrhunderte unbewohnbar machen könnten, wie die großen Reaktorunglücke in Tschernobyl oder jüngst in Fukushima gezeigt haben.

Wie ist es möglich, dass alle diese vielfältigen, erstaunlichen und gewaltigen Konsequenzen der neuen Physik wissenschaftlich und gesellschaftlich angenommen und in den Alltag integriert wurden, ohne gleichzeitig auch damit die eklatant andere Weltsicht zu übernehmen, durch welche diese Physik erst »verständlich« wird? Der Hauptgrund hierfür dürfte sein, dass die neuen Vorstellungen, die uns die neue Physik abverlangt, nicht nur schwer verständlich und »verdaulich« sind. Sie verändern auch unser Weltbild auf eine grundlegende und zunächst durchaus verstörende Art und Weise. Sie zeigen aber auch Wege auf, wie wir den vielfältigen Krisen unserer Zivilisation begegnen und sie überwinden können. Von beidem soll in diesem Buch die Rede sein: vom neuen Denken und von neuem Mut und Han deln in Krisenzeiten wie den unsrigen.

KAPITEL I

Neues Denken für eine Weltvon morgen

 

Es ist bald 100 Jahre her, dass sich im Denkgebäude der Physik – ausgelöst von den ersten Arbeiten Max Plancks und Albert Einsteins – eine Revolution ereignet hat, die bis heute unser physikalisches Weltbild radikal verändert: die Quantentheorie. Zunächst waren es alte Streitfragen der Physik, die man mit Hilfe der Quantentheorie in einem ganz neuen Licht sehen und miteinander versöhnen konnte. Letztlich geriet jedoch mehr und mehr das alte Weltbild der Physik und mit ihm die Grundlagen auch unseres Alltagsverständnisses von Physik und vom Aufbau der Natur ins Schwanken. Den Grundstein für das daraus resultierende revolutionär neue Weltbild legten 1925 mein Lehrer Werner Heisenberg und der dänische Atomphysiker Niels Bohr.

Es verlangt uns einiges ab, dieses »Neue Denken« als Grundlage und Chance für Veränderungen auch unseres Selbst- und Weltverständnisses anzunehmen und zu verstehen. Schließlich sind unsere Vorstellungen, Denkstrukturen und Handlungsmuster durch das klassische Weltbild entscheidend geprägt worden. Sein Fundament wurde durch Galilei, Descartes und Newton im 17. Jahrhundert gelegt und war seinerseits das Ergebnis eines mit der Renaissance einsetzenden beispiellosen Triumphzuges in der Entwicklung der menschlichen Zivilisation. Sie eröffnete dem selbstbewussten, fragenden und forschenden Menschen die prinzipielle Möglichkeit echter Aufklärung, verlässlichen Wissens, sicherer Prognosen und damit auch praktisch die Aussicht auf eine unbegrenzte Beherrschung der Natur.

Verkehrte Welt

Die klassische Welt ist mechanistisch, unserer greifenden Hand angemessen: Ihre Inhalte sind begreifbar und in unserem rationalen Denken, einem virtuellen Handeln gleichend, durch Begriffe symbolisch fassbar und deutbar. Diesem Weltbild zufolge ist Natur stofflich, materiell. Wir können sie zerlegen, ohne dass sie ihre materiellen Eigenschaften verliert. Daher war es für die Naturwissenschaftler und insbesondere die Physiker naheliegend, durch die präzise Erforschung der materiellen Welt und ihrer Naturgesetze die Welt zunächst vollständig zu zerlegen. Zu diesem Zweck ist es notwendig gewesen, nach der »reinen Materie« zu suchen. Die Suche nach der reinen Materie bedeutete die Suche nach dem »Unteilbaren«, dem »A-tom«. Es war die Suche nach dem Kleinsten, aus dem sich alle materiellen Formen zusammensetzen. Bei den kleinsten Bausteinen der chemischen Elemente glaubte man sich am Ziel und nannte sie »Atome«. Sie schienen unspaltbare Kandidaten reiner Materie zu sein und die Erkenntnis lautete: Primär existiert der Stoff, die Materie, die durch immer weitere Zerlegung schließlich unzerlegbar (atomar) wird. Wir sprechen von kleinsten Teilchen, die sich nicht weiter zerbrechen lassen. Ihnen wird die Eigenschaft zugeschrieben, dass sie im Laufe der Zeit immer mit sich selbst identisch bleiben. Durch die zeitliche Kontinuität der Materie wird so eine Kontinuität der Welt gewährleistet. Die beobachtbaren Veränderungen in der Welt geschehen in dieser Sichtweise durch Umordnen dieser kleinsten Teilchen. Die Welt ist ein großer Sandsack isolierter Teilwelten, die mit sich selbst identisch bleiben und nur mit ihren nächsten Nachbarn in Beziehung stehen, mit ihnen eine Wechselwirkung eingehen. Die Kräfte gehorchen einfachen Gesetzen und erlauben deshalb präzise Veränderungen durch gezielte Eingriffe. Sie ermöglichen Handeln mit gezielter Absicht.

Was machte die klassische Physik so erfolgreich? Die klassische Physik hat folgende Vorstellung: Außerhalb von uns existiert eine Welt, die ohne uns, als ihren Betrachter, auch existiert in Form von Objekten, Gegenständen. Die Wirklichkeit ist Realität. Realität (lateinisch res: das Ding) meint, dass die Welt aus Dingen, das heißt aus Materie besteht. Diese Materie existiert in einem dreidimensionalen Raum und in der Zeit. Das Bemerkenswerte an der Zeit ist dabei, dass diese sich anders artikuliert als die drei Raumdimensionen. Nur ein Zeitpunkt, die augenblickliche Gegenwart, ist uns zugänglich. Das JETZT, was wir unmittelbar erleben, ist kurz und wird sofort unwiederbringlich Vergangenheit. Denn schon ist eine neue Gegenwart da, ein neues JETZT, das uns aus einer vorgestellten Zukunft erreicht. Es bleibt dabei unverständlich, warum uns die Wirklichkeit nur in einem Nacheinander, Schicht für Schicht, aufgetischt wird, wo doch, was in Zukunft passiert, für unser Leben und Überleben so wichtig ist. Es gelingt uns jedoch, diese Ignoranz durch die erlebte Feststellung zu überwinden, dass die jeweiligen Gegenwarten nicht einfach aufeinander folgen, sondern dass hier ein tieferer Zusammenhang besteht, eine »kausale Verknüpfung«, bei der bestimmte »Ursachen jetzt« zu bestimmten »Wirkungen später« führen. Die Belegungen der Schichten folgen bestimmten Gesetzmäßigkeiten, Naturgesetzen. Das Zukünftige wird dadurch in seiner speziellen Ausprägung festgelegt und für uns vorhersehbar. Die Welt läuft, ähnlich wie ein mechanisches Uhrwerk, eindeutig determiniert ab.

In der Technik verwenden wir diese Gesetzmäßigkeiten, um das Zukünftige für unsere Zwecke geeignet zu gestalten. Doch diese Gestaltungsmöglichkeit funktioniert nur, wenn der Mensch als Zukunftsgestalter nicht selbst Teil des determinierten Uhrwerks ist. Wir postulieren deshalb für den Menschen eine zusätzliche geistige Dimension und mit dieser die Möglichkeit des Wissens. Die geistige Dimension soll nichts mit der mechanistischen Natur zu tun haben, sondern sie ist »Gott ähnlich«. Wir erleben uns praktisch als vom »lieben Gott« beauftragt, auf dieser Erde in seinem Namen, gewissermaßen als Mitschöpfer, einzugreifen und das Weltgeschehen möglichst in Richtung des Guten zu lenken. Daraus erwächst die Maxime: »Wissen ist Macht«.

Wir haben also im Rahmen der klassischen Beschreibung die Vorstellung einer streng determinierten Natur, die sich von einem mit Geist begabten und einsichtsvollen sowie mit erlerntem Wissen und vielfältigen Fertigkeiten ausgestatteten Menschen absichts voll manipulieren und in den Griff bekommen lässt. Er muss dazu den Zustand der Welt und ihre Gesetzmäßigkeiten möglichst genau kennen. Aufgrund der Verschiedenartigkeit der geistigen und materiellen Dimension fallen bei dieser Betrachtungsweise Mensch und Natur prinzipiell auseinander. Die Natur wird gottlos erniedrigt, der Mensch göttlich erhöht, der Trennungsstrich willkürlich gezogen. Aber warum soll der Mensch so verschieden sein von seinen näheren und entfernteren Verwandten im Tierreich, abgetrennt vom ganzen wunderbaren Reich des Lebendigen?

Aufgrund der klassischen Vorstellungen bedeutet mehr Wissen einen Machtzuwachs. Man möchte immer genauer beschreiben, was ist. Man stellt fest: Was ist, ist Materie. Aber die Materie hat auch noch Form. Wir sagen deshalb: Die Materie ist das Grundlegende, die Form ist eine abgeleitete Eigenschaft, die etwas mit der Anordnung der Materie zu tun hat. Gibt es Materie, die keine Form mehr hat? Um sie zu finden, zerlegen wir Materie immer weiter, um schließlich formlose Materie zu erhalten. Kleinste Teilchen, die sich nicht weiter zerlegen lassen, sollten formlos sein. Wir nennen sie »A-tome«, die Unzerlegbaren. Aber auch sie erweisen sich bei genauerer Betrachtung als zerlegbar in kleinere Einheiten: Atomkerne, Elementarteilchen usw. Kaum wähnen wir uns beim Allerkleinsten angekommen zu sein, geht es weiter und der Verdacht verdichtet sich, dass wir nie an ein Ende kommen werden. Aber wir kommen zu einem Ende, doch auf eine ganz unerwartete Weise.

Wenn wir die Materie immer weiter auseinandernehmen, in der Hoffnung die kleinste, gestaltlose, reine Materie zu finden, bleibt am Ende nichts mehr übrig, was uns an Materie erinnert. Am Schluss ist kein Stoff mehr, nur noch Form, Gestalt, Symmetrie, Beziehung. Die moderne Physik kommt zu der überraschenden Erkenntnis: Materie ist nicht aus Materie aufgebaut! Diese Erkenntnis war und ist nach wie vor sehr verwirrend. Wenn Materie nicht aus Materie aufgebaut ist, dann bedeutet das: Das Primat von Materie und Form dreht sich um: Das Primäre ist Beziehung, der Stoff das Sekundäre. Materie ist der neuen Physik zufolge ein Phänomen, das erst bei einer gewissen vergröberten Betrachtung erscheint. Materie/Stoff ist geronnene Form. Vielleicht könnten wir auch sagen: Am Ende allen Zerteilens von Materie bleibt etwas, das mehr dem Geistigen ähnelt – ganzheitlich, offen, lebendig: Potenzialität, die Kann-Möglichkeit einer Realisierung. Materie ist die Schlacke dieses Geistigen – zerlegbar, abgrenzbar, determiniert: Realität.

In der Potenzialität gibt es keine eindeutigen Ursache/Wirkung-Beziehungen. Die Zukunft ist wesentlich offen. Es lassen sich für das, was »verschlackt«, was real geschieht, nur noch Wahrscheinlichkeiten angeben. Es gibt keine Teilchen, die unzerstörbar sind, die mit sich selbst identisch bleiben, sondern wir haben ein »feuriges Brodeln«, ein ständiges Entstehen und Vergehen. In jedem Augenblick wird die Welt neu geschaffen, jedoch im Angesicht, im »Erwartungsfeld« der ständig abtretenden Welt. Dies ist auch der Grund, warum uns die Zukunft verschlossen bleibt: Sie wird uns nicht vorenthalten, sondern sie existiert gar nicht. Die alte Potenzialität in ihrer Ganzheit gebiert die neue und prägt neue Realisierungen, ohne sie jedoch eindeutig festzulegen.

In diesem andauernden Schöpfungsprozess wird ständig ganz Neues, Noch-nie-Dagewesenes geschaffen. »Alles« ist daran beteiligt. Das Zusammenspiel folgt bestimmten Regeln. Physikalisch wird es beschrieben durch eine Überlagerung komplexwertiger Wellen, die sich verstärken und schwächen können. Es ist ein Plussummenspiel, bei dem Kooperation zur Verstärkung führt. Der zeitliche Prozess ist nicht einfach Entwicklung und Entfaltung beziehungsweise ein »Auswickeln« von bereits Bestehendem, von immerwährender Materie, die sich nur eine neue Form gibt. Es ist vielmehr echte Kreation: Verwandlung von Potenzialität in Realität, materiell-energetische Manifestation des Möglichen.

Das mag eine schlechte Nachricht für diejenigen bedeuten, die Natur manipulieren und letztlich fest »in den Griff« bekommen wollen. Denn wir können prinzipiell nicht genau wissen, was unter vorgegebenen Umständen in Zukunft passieren wird. Und dies, wohlgemerkt, nicht aus noch mangelnder Kenntnis, sondern als Folge der Sowohl/Als-auch-Struktur der Potenzialität, die mehr die lose Verknüpfungsstruktur freier Gedanken besitzt beziehungsweise einer »Ahnung« gleicht. Dies imitiert die Entstehung von unabhängigen Subsystemen, die grob wie Teile des Gesamtsystems fungieren, aus denen dieses Gesamtsystem dann als »zusammengesetzt« erscheint. Dies ist aber nie der Fall, weil der Zusammenhang viel tiefer geht, so wie etwa die sichtbar getrennten weißen Schaumkronen auf stürmischer See nicht die Behauptung rechtfertigen, das Meer sei aus Wellen und Schaumkronen zusammengesetzt. Das Sinnstiftende im Zusammenwirken der Als-ob-Teile entsteht immer aus dem Ganzen, das sie einschließt. Dieses Ganze, Eine, ist immer da, ob das Meer »leer«, glatt und ruhig sich ausbreitet oder ob es »voll«, hoch differenziert sich im Sturme wellt. Das Zusammenspiel der Wellen führt zu einer Orientierung, die so aussieht, als gäbe es ein vorgegebenes Ziel. Aber der Weg, das konstruktive Zusammenspiel, gebiert das Ziel.