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Beschreibung

Während gemütlichen Adventstagen im Hotel, inmitten von Traditionen wie Guetzlibacken und Baumschlagen, auf dem Weihnachtsmarkt oder der erbitterten Suche nach dem besten Fondue für den Heiligen Abend im Kreise der Familie … Bei Krimigrößen wie Silvia Götschi, Gabriela Kasperski, Marcel Huwyler, Christoph Simon, Ulrich Knellwolf oder Petra Ivanov geht es nur selten besinnlich zu. Der einen oder dem anderen kommt das Verbrechen aber auch ganz gelegen. Allerhand Intrigen, spontane Racheaktionen und späte Vergeltung sorgen für friedliche Stimmung, sodass man sich pünktlich zum Fest der Liebe auf die wirklich wichtigen Dinge konzentrieren kann.

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Seitenzahl: 249

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das letzte Fondue

Weihnachtliche Krimigeschichten aus der Schweiz

Atlantis

Marcel HuwylerHerr Wälti und das letzte Fondue

Morgen war Heiligabend, und seine Anni würde ihm die Hölle heißmachen.

Wälti hatte vergessen, das Käsefondue zu besorgen.

Seit sie verheiratet waren – fast genauso lange, wie er Taxi fuhr, nämlich etwas über vierzig Jahre –, war bei ihnen zu Hause am 24. Dezember nie etwas anderes zum Znacht auf den Tisch gekommen als ein Frisch Fondue L’Original. War eisernheilige Tradition beim Ehepaar Wälti, ein anderes Menü kam nicht infrage. Dabei war das flüssige Festmahl nicht mal besonders fein, ja eigentlich eine Zumutung. Ein billiges Fixfertig-Fondue aus dem Discounter, zusammengekleistert aus Schmelzkäseresten, Château Miserabel und einer Menge E-Nummern. Labberig auf der Gabel, gummig im Gaumen, födläbleich im Geschmack und blähschwer im Bauch. Das Frisch im Produktnamen war kein Qualitätsmerkmal, sondern der Familienname des Herstellers.

Nichtsdestotrotz lieben die Wältis das Frisch Fondue L’Original, ihr Evergreen in Eitergelb. Ein jährlich wiederkehrendes Ritual an Heiligabend – und der Beweis, dass man aus Fehlern nichts lernt, solange man sie feierlich begeht.

Und jetzt hatte Wälti vergessen, das Fondue einzukaufen.

Seit der ersten Dezemberwoche hatte Anni ihm in den Ohren gelegen, er solle doch bitte schön rechtzeitig an das Fondue denken. »Verplempere es nur ja nicht«, hatte sie ihm eingeschärft. »Du weißt doch, die von Frisch sind immer im Nu ausverkauft.«

Aber jetzt war es exakt so gekommen.

Schuld daran war das Wetter. Ein seit zwei Wochen wütendes Sturmtief brachte Unmengen von Neuschnee, verursachte chaotische Straßenverhältnisse und bescherte Wälti ein Gstürm an zusätzlichen Taxigästen. Extraschichten hatte er einlegen müssen, Überstunden machen; Sonderfahrten waren vom Chef verlangt worden … und prompt hatte Wälti wegen der vielen Arbeit das Frisch Fondue L’Original verschwitzt.

Erst heute Morgen dann – es war der 23. Dezember –, als er wie jeden dritten Donnerstag im Monat Frau Fritschi von ihrer Wohnung im zweiten Bezirk zur Orthopädie-Praxis in den elften hinauschauffierte, hatte ihn die säuerlich-käsige Ausdünstung der kranken Alten wieder an Annis Einkaufsauftrag erinnert. Jesses, das Fondue! Wältis Gesichtsfarbe machte schlagartig der Wetterlage Konkurrenz, und trotz maximal aufgedrehter Sitzheizung tschuderete es ihn am ganzen Körper. So schnell es die Schneeketten auf seinen Reifen zuließen, steuerte er einen Discounter nach dem anderen an, quälte sich schließlich sogar zu den Länden in der Agglo draußen, nur um feststellen zu müssen, dass Frisch Fondue L’Original in sämtlichen Filialen restlos ausverkauft war.

Anni würde toben. Schrille Nacht, heilige Nacht. Das auch noch – auch das noch. Hatte er doch schon bei ihrem Weihnachtsgeschenk versagt. Sie wünschte sich den neuen BlitzFix-ProMix s10ni, den Rolls-Royce unter den muttimultifunktionalen Küchengeräten. Doch das edle Teil war schwerer zu beschaffen als »Die Pille danach« im Vatikanstaat. Wälti hatte alle Haushaltswarengeschäfte im Umkreis von fünfzig Kilometern abgeklappert, doch die Fachhändler führten bloß lange Wartelisten und entschuldigten sich für Lieferfristen bis in den Spätfrühling hinein. Kurz und gar nicht gut: Wälti konnte seiner Frau kein Küchenwunder unter das Bäumchen legen. Und er befürchtete, dass der Wellness-Gutschein für einen Tageseintritt in einem Thermalbad im Aargau sowie das sündhaft teure Foulard aus Siam-Seide, das er im Edelkaufhaus Hauger’s besorgt hatte, Anni nur mäßig besänftigen würden.

Und zu allem Unglück musste er jetzt also auch noch die vergessene Käsesuppe auslöffeln.

 

Gegen vier an diesem Nachmittag machte Wälti Feierabend. Es wurde ihm gerade alles zu viel. Der Kummer wegen Fondue und Anni-Geschenk umwölkte sein Gemüt, und die Fahrgäste waren heute besonders mühsam. Vergrippt und gestresst schnäuzten und schnauzten sie herum, beschwerten sich, weil es nicht schneller vorwärtsging, knauserten mit dem Trinkgeld und – für Wälti das Allerschlimmste – verunreinigten die Fahrgastzelle. Bei den tropfnassen Mänteln und Schirmen sowie dem Schneematsch an den Schuhen drückte Wälti ja noch ein Auge zu, und gegen die penetranten Glühweinfahnenträger und Firmenapéro-Ausdünster half ein Spraysprutz Waldfrisch, das er stets im Handschuhfach bereithielt, aber beim Knabbern von Weihnachtsgebäck in seinem Taxi hörte bei ihm die Nächstenliebe auf. Ledersitze und Fußteppich voller Guetzlibrösmeli – ging ja gar nicht. Vier Mal bereits hatte Wälti heute den Akku-Handstaubsauer aus dem Kofferraum holen und im Fond des Wagens sauber machen müssen.

Vollends aus dem Lot gebracht hatte ihn dann aber ein Vandalenakt auf sein Taxi. Während der Mittagspause löffelte er bei Seppi’s am Bistrostehtisch eine schnelle Fidelisuppe; keine Viertelstunde ließ er seinen Wagen unbeaufsichtigt, doch als er zurückkam, hatten irgendwelche Soibuäbä das Markenzeichen auf der Motorhaube abgebrochen und mitlaufen lassen. Der Mercedes-Stern war weg. Wälti hatte mit den Tränen gekämpft. Was waren das nur für Menschen, die sich zu Weihnachten an den Sternen versündigten?

Und zu dem allen hinzu noch dieses Verkehrschaos. Die Stadt versank im Schnee. Weiße Weihnachten in Ehren, aber so zu täxelen war nun wirklich nicht mehr lustig. Wälti hatte die Nase voll. Er meldete sich bei der Dispo in der Zentrale bis zum 26. Dezember ab, löschte das leuchtende Taxischild auf dem Wagendach und überlegte sich auf der Heimfahrt schon mal, wie er Anni davon überzeugen könnte, es an Heiligabend doch mal mit einem feinen Schinkli oder einem Filet im Teig zu probieren.

Um dem Verkehrskollaps in der City auszuweichen, wählte Wälti eine Alternativroute via Flughafenautobahn. Doch selbst hier stauten sich die Autos. Zuerst kam er noch im Schritttempo vorwärts, doch dann ging plötzlich gar nichts mehr. Im gleichen Augenblick meldete ihm die Traffic-App seines Handys mehrere Unfälle vor ihm auf dem Zubringer zum Flughafen. Es schneite Leintücher, der Eiswind pfiff, und die Schneeverwehungen auf der dreispurigen Fahrbahn wurden immer höher. Deren Buckel und Wellen erinnerten Wälti an seine Hochzeitsreise auf Gran Canaria, als er und Anni an einer Jeepsafari durch die Sanddünen teilgenommen hatten.

Das hier konnte dauern. Er schickte Anni eine Kurzmitteilung:

Aufm Heimweg. Aber großer Stau.

Sie schrieb umgehend zurück.

Jänu.

Wälti schaltete das neue Autoradio ein. Ein Kinderchor sang ein spanisches Weihnachtslied. Er wechselte schnell den Sender. Ein Sprecher verlas die Lokalnachrichten. In der City hatte kurz nach zwei ein Raubüberfall stattgefunden. Eine unbekannte Täterschaft – gemäß Zeugenaussagen zwei oder drei Personen – hatte im Hauger’s das Personal an der Hauptkasse mit Faustfeuerwaffen bedroht und sämtliche Einnahmen geraubt. Die Täter waren flüchtig.

Wältis Lippen versteinerten. Die Menschheit verrohte, der Planet kollabierte, die Welt ging unter, und seit ein paar Monaten gab es auf Befehl der Landesregierung hin nicht einmal mehr UKW-Sender, sondern bloß noch dieses DAB. Extra ein anderes Radio hatte er deswegen kaufen und einbauen lassen müssen. Kostete alles. Wie gesagt, die Welt ging bachab. Er wechselte den Sender. Eine Pop-Sängerin schmetterte »All I want for …« irgendwas für irgendwen. Wälti atmete schwer aus und schaltete das Radio ab.

Obwohl die Scheibenwischer auf Höchststufe schaufelten, wurde die Sicht nach draußen immer enger und verschleierter. Er wurde langsam, aber sicher eingeschneit. Wie lange er hier wohl feststecken würde? Die Benzinanzeige stand auf drei Viertel. Er erinnerte sich, von einem Megastau in Pakistan gelesen zu haben, wo bei Schnee und Minustemperaturen zweiundzwanzig Personen in ihren Autos erfroren waren. Oder an den eigenen Abgasen erstickt, weil der Auspuff vom Schnee blockiert wurde. Wälti schaltete den Motor aus.

 

Er schaute zum rechten Seitenfenster hinaus. Neben dem Pannenstreifen im Niemandsland stand ein meerblaues Großflächenplakat, auf dem gelbe Lettern predigten:

Hilf mir, Herr, so ist mir geholfen. Die Bibel.

Wieder atmete Wälti schwer aus. Die Religion und er … Im Gegensatz zu Anni war er kein bisschen gläubig. Nie gewesen. Um nicht vom rechten Weg abzukommen, ließ er sich von seinem Auto-Navi leiten, und der eingebaute Fahrtenschreiber im Taxameter war quasi sein Hüter und Hirte.

Anni war da ganz anders. Betete abends und morgens auf der Bettkante sitzend, las in der Bibel, sang im Kirchenchor St. Cäcilia und besuchte jeden Sonntagmorgen den Gottesdienst. Wälti begleitete sie einmal im Monat dorthin, wohl berechnend freiwillig, dem häuslichen Frieden zuliebe, damit daheim die Kirche im Dorf blieb. Ja, und dann müsste er morgen natürlich auch mit, an Heiligabend, zur Mitternachtsmesse, da würde er auch nicht kneifen können. In diesem Jahr erst recht nicht, wo er in Sachen Käsefondue und Anni-Geschenk doch so sagenhaft sündhaft versagt hatte.

Er und die Religion … Schon Wältiklein hatte die Weihnachtszeit und das eilige, heilige Getue drumherum doof gefunden. Das alljährlich aufgeführte Krippenspiel in der Grundschule war für ihn ein Graus gewesen. Er hatte zwei Mal den Josef mimen müssen, einmal einen der Heiligen drei Könige sowie je einmal den Ochsen, den Esel, ja sogar eine Palme. Wie zum Teufel stellte man eine Palme religiös-pantomimisch korrekt dar? Und bei jedem Krippenspiel hatte ihn die Lehrerschaft zum Blockflötenspielen genötigt. Grauenhaft. Fiiiep, föööp, pffff – und getropft hatte das!

Sowieso, diese Weihnachtsgeschichte der christlichen Religion. Dünne Story, hatte Wälti schon immer gedacht. Jungfrau wird schwanger und behauptet, es sei von einem Geist. Ihren Verlobten kratzt das wenig, weil … hey, sie ist ja trotzdem immer noch Jungfrau und behält selbst nach ihrer Jungfrauengeburt den Status der immerwährenden Jungfräulichkeit. Wer sich so besemmelt benahm, fand Wälti, hatte es nicht anders verdient, als in einem Stall schlafen zu müssen.

In dem Moment wurde er in seinem Taxi überfallen.

 

Die Beifahrertür und die beiden hinteren Türen wurden gleichzeitig aufgerissen, und zusammen mit einer zünftigen Ladung Wind, Schnee und Kälte fegte es drei Personen herein. Zwei Männer und eine Frau.

Wälti erschrak dermaßen, dass sein grauer Seitenscheitel alle Spannkraft verlor und ihm mitten über das Gesicht plampte.

»Hallo! Exgüsi. Sie … Sie können doch nicht einfach so …«

»Sie retten unser Leben, guter Mann«, sagte der Kerl auf dem Beifahrersitz und zog die Tür zu.

Der war nicht von hier, hörte Wälti sofort, weil er jedes deutsche Wort melodiös-explosiv zerhackte.

Der Kerl grinste Wälti mit schneeweißen Zähnen an und sagte: »Das Wetter da draußen … grauenhaft. Gut, dass wir Sie entdeckt haben.«

»Hören Sie, ich bin außer Dienst. Ich fahre heute keine Gäste mehr. Also, eigentlich bin ich bereits im Weihnachtsurlaub. Ich muss Sie leider bitten, mein Taxi …«

»Schön warm haben Sie’s hier drin«, hackratterte der Beifahrer. Er schien Wältis Einwand gar nicht gehört zu haben oder ignorierte ihn bewusst, lehnte sich stattdessen auf dem Beifahrersitz zurück und machte mit den Schultern Einkuschelbewegungen.

Die drei kamen aus einer anderen Welt, realisierte Wälti ebenfalls sofort. Vier Jahrzehnte Taxifahren hatten ihm sämtliche Sinne zu Scannern geschärft. Die beiden Männer und die Frau hatten olivfarbene Haut, pechschwarzes Haar, und sie rochen gut … anders. Exotischer, würziger, fremdländischer halt als die einheimischen Fahrgäste.

Die zwei Männer hatten längliche Gesichter, Adlernasen und einen Schnauz. Der auf dem Beifahrersitz hatte zudem einen markanten Kinnbart und erinnerte Wälti an diesen einen Scheich aus dem Monumentalfilm Lawrence von Arabien. Er schaute in den Rückspiegel. Der Kerl auf der Hinterbank trug an beiden Ohren eine Menge kleiner und großer Goldringe, aufgereiht von den Läppchen bis hoch zur Muschel.

Die Frau hatte ein Gesicht von gehobener Eleganz. Ihre Nase war schmal, der Mund klein, die Augen gingen leicht ins Mandelförmige, und Brauen hatte die … Darauf hätte ein Jumbo-Jet landen können.

Wälti tippte auf Araber. Naher oder Mittlerer Osten. Alle drei trugen übergroße schwarze, wie Müllsäcke glänzende Daunenjacken, aber weder Mützen noch Schals oder Handschuhe – dafür weiße Turnschuhe. Aus Stoff. Bei dem Wetter!

Himmel, wo kamen die überhaupt her? Lungerten hier einfach so mitten auf der Autobahn herum. War ja lebensgefährlich!

»Wir haben uns ein wenig verirrt«, sagte der Scheich auf dem Beifahrersitz, als könnte er Wältis Gedanken lesen. »Bringen Sie uns bitte zum Flughafen.«

Definitiv Araber, dachte Wälti. Wahrscheinlich Touristen. Ziemlich sicher aus der luxuriösen Wüstenecke stammend, den Emiraten: Dubai, Doha, Abu Dhabi, so was halt. Er schätzte alle drei auf Mitte dreißig. Keiner trug einen Reisekoffer bei sich, dafür hatte jeder einen kleinen, aber prall gefüllten Tagesrucksack. Und die Frau – Wälti musterte sie heimlich im Rückspiegel – hatte neben sich auf dem Sitz zwei schwarze Papiertragtaschen mit goldener Hauger’s-Aufschrift.

»Weihnachtsgeschenke in letzter Minute«, sagte sie – offenbar war Wältis Rückspiegelblick doch nicht so heimlich gewesen – und zerhäckselte ihre Worte dabei ebenso brachial wie vorhin ihr Scheich-Kollege.

Hauger’s …

Jesses! Es kam Wälti vor, als würde gerade alle Luft aus dem Taxi gesaugt. Plötzlich war ihm alles klar. Der Raubüberfall! Flüchtende Täterschaft, gemäß Zeugenaussagen zwei oder drei Personen, hatte der Radiosprecher gesagt … Drei waren es! Und die befanden sich genau hier, bei ihm, im Taxi. Zusammen mit drei prall gefüllten Rucksäcken.

Obwohl die Heizung im Wagen seit gut einer halben Stunde nicht mehr lief, fand Wälti es plötzlich unerträglich stickig und hitzig hier drin. Er legte die Hände ans Steuer und starrte geradeaus, als ob er durch die zugeschneite Frontscheibe etwas sehen könnte. Jetzt bloß nicht durchdrehen, Wälti, sagte er sich. Ruhig Blut. Er musste die Polizei alarmieren. Aber still und heimlich. Für solche Fälle hatten die Taxifahrer eine App mit Sonderknopf auf ihrem Handy.

»Wo die Polizei wohl bleibt?«, sagte der Scheich und strich sich durch den Kinnbart.

»Was? Äh … Wie kommen Sie jetzt auf die Polizei?« Wälti wagte kaum zu atmen.

»Na, wegen des Auffahrunfalls weiter vorne. Oder was dachten Sie denn, Mister … Wälti?«

Wälti glaubte, das Knacken hören zu können, als das Blut in seinen Adern schockgefror. »Woher wissen Sie, wie ich heiße?«

Der Kerl auf der Rückbank mit den Goldohren beugte sich über die Mittelkonsole nach vorne und deutete auf das Schild Sie werden chauffiert von Herrn Wälti, das neben dem Navi-Bildschirm am Armaturenbrett klebte. »Wälti? Einfach Wälti, ja? Kein Vorname?«, fragte er und zerstörte dabei die Wörter noch schlimmer als seine beiden Vorgänger.

»Ja, alle Welt ruft mich nur beim Nachnamen.« Wälti versuchte, ruhig zu bleiben. Sich jetzt bloß nichts anmerken lassen. Wer weiß, zu was diese Leute fähig waren, wenn sie merkten, dass er wusste, wer sie waren, und was sie getan hatten. Er musste den Ahnungslosen spielen. Ganz den tumben dienenden Taxifahrer. »Zum Flughafen, sehr gern«, sagte er jetzt betont gelassen. »Ich hoffe, der Stau löst sich bald auf. Welches Terminal?«

»Drei«, gab die Frau zur Antwort. »Und sollten wir den Flug verpassen, nehmen wir einfach eine spätere Maschine.«

Unlogisch, überlegte sich Wälti. Wie wollten es die drei Räuber samt erbeutetem Bargeld in ihren Rucksäcken durch die strengen Sicherheitskontrollen am Airport schaffen? Oder war etwa alles ganz anders, und die drei flogen gar nicht weg, sondern hatten am Flughafen im Langzeit-Parking ihren Wagen stehen? Nach dem Raubüberfall von der City zuerst zu Fuß abhauen, dann per Taxi weiter – eine raffinierte Art, alle Fluchtspuren zu verwischen.

»Wohin fliegen Sie?«

»Tel Aviv«, sagte die Frau.

»Aha, Israel.« Die andere Ecke im Nahen Osten, dachte Wälti. »Geht’s nach Hause in den Weihnachtsurlaub?«

»Ganz im Gegenteil«, raunte das Goldohr. »Viel Arbeit und Stress momentan.«

»Ach?«

»Ja, darum müssen wir ja auch spätestens morgen in unserem Land sein.«

»Verstehe«, sagte Wälti und überlegte sich erneut, wie er unauffällig den Notrufknopf auf seinem Handy drücken konnte.

»Feiern Sie Weihnachten?«, fragte die Frau.

»Ich? Aber natürlich, selbstverständlich.«

»Dann glauben Sie also an Ihren Gott?«

»Mein Gott, unser Gott … Äh, ja, nun, das ist ein wenig kompliziert, wissen Sie.« Die Richtung, die dieses Gespräch hier nahm, gefiel Wälti gar nicht. Schnell drehte er sich um und deutete auf die beiden Papiertragtaschen der Frau. »Sie waren bei uns in der City shoppen, wie ich sehe. Weihnachtsgeschenke?«

Sie nickte und zwinkerte ihm zu. »Kann man so sagen. Kosmetika habe ich gekauft.«

»Ich, Parfum«, sagte der Scheich auf dem Beifahrersitz.

»Goldschmuck für mich«, sagte Goldohr.

Jaaa, aber sicher doch, dachte Wälti. Plus die geraubten Tageseinnahmen von Hauger’s in bar. Wartet nur, ihr Gauner. Vielleicht sollte er einfach die Fahrertür aufstoßen, hinaushechten, wegrennen und um Hilfe rufen …

»Sie sind Steinbock, stimmt’s«, sagte die Frau.

Wälti schaute sie entgeistert an.

»Ihr Sternzeichen? Steinbock, ja? Weil: diszipliniert, kontrolliert, äußerst beherrscht, ein Einzelkämpfer – typischer Steinbock.«

»Woher …?«

»Und zwar«, mischte sich der Scheich ein, »mit Aszendent Jungfrau: Sie gehen die Dinge strukturiert und ruhig an. Außerdem sind Sie bescheiden …«

»… und Ihr ganzes Leben auf der Suche nach Selbstverbesserung sowie Perfektion«, ergänzte Goldohr von der Rückbank aus. »Steinbock mit Aszendent Jungfrau, ist ja sternenklar.«

Alle drei lächelten Wälti zu. Der fühlte sich gerade, als hätten die ihm hier die Hose runtergezogen.

»Astrologie ist unser Hobby«, erklärte die Frau und hob wie zur Entschuldigung die Schultern. »Lesen Sie jeweils Ihr Horoskop?«

»Ach, wissen Sie«, erwiderte Wälti, »ich hab’s nicht so mit den Sternen.«

»Aber Ihr Taxi ist doch ein Mercedes?«

»Ja, seit heute mit geklautem Kühlerhauben-Stern«, schnaubte Wälti. Dann griff er schnell nach seinem Telefon. Ihm war eben eine Idee gekommen. »Sie erlauben kurz?« Er nickte seinen Fahrgästen mit Unschuldsmiene zu und weckte das Display seines Handys auf. »Jemand wartet auf eine Nachricht von mir.« Er feixte innerlich, das wäre die Gelegenheit, den Notrufknopf …

»Macht sich Ihre Frau Anni daheim Sorgen?«, fragte die Frau.

Wälti entglitt vor Schreck das Handy. Es fiel zwischen die Pedale. Himmel noch mal, er konnte sich nicht erinnern, den Arabern von Anni erzählt zu haben. Oder doch? Hatte er? Sich vor lauter Ablenkungsgerede, um die Räuber nur ja ahnungslos zu lassen, verplappert? Ja, so musste es wohl sein.

»Haben Sie Kinder?«, fragte der Scheich aus dem Blauen heraus.

»Nein, keine«, antwortete Wälti mit gepresster Stimme, weil er gerade mit ausgestrecktem Arm und dem Gesicht auf das Steuerrad gerichtet nach dem Handy im Fußraum angelte. »Sie?«

»Auch nicht, keine eigenen. Aber einen Patensohn, prächtiger Kerl, plappert wie ein Weltmeister, richtiger kleiner König.«

»Ich auch«, sagte die Frau, »Keine eigenen Kinder, aber einen Patensohn.«

»Bei mir das Gleiche«, tönte es vom Rücksitz.

Die verulken mich doch alle drei, dachte Wälti. Erzählen mir hier allerlei Märchen. Er hatte sein Handy jetzt wieder bei sich, tat so, als checkte er seine Mails, wischte durch ein paar Apps – und drückte dann blitzschnell den Notrufknopf.

»Geben Sie sich keine Mühe, Mann«, sagte das Goldohr.

Wältis Augen wollten aus ihren Höhlen kullern. Ertappt! Das war’s dann wohl. In der nächsten Sekunde würde er die Mündung eines Pistolenlaufs im Nacken spüren. Oder die kalte Klingenspitze eines Dolchs. Und so wurde unser lieber Taxikollege Wälti, einen Tag vor Heiligabend, Opfer eines brutalen …

»Es gibt hier keinen Empfang.« Goldohr streckte Wälti sein eigenes Smartphone vor die Nase – es hatte eine goldene Schutzhülle – und deutete auf die leeren Balken bei der Signalstärke. »Da! Nix. Sehen Sie, das Netz ist überlastet. Wahrscheinlich, weil alle hier im Stau gleichzeitig telefonieren wollen.«

Wälti schloss für einen Moment die Augen. Kein Empfang … bedeutete, dass sein Notruf es nicht rausgeschafft hatte. Alles wieder zurück auf Feld eins. Das hier entwickelte sich immer mehr zu einem Albtraum. Wie sollte er sich bloß verhalten? Drei Kriminelle auf’s Mal hatte er noch nie transportiert. Wobei … er transportierte ja eben gar nicht. Seit über eineinhalb Stunden standen sie jetzt bereits im Stau. Keinen Zentimeter waren sie vorwärtsgekommen. Wie lange dauerte das noch? Die Verkehrs-App auf dem Handy drehte wegen des überlasteten Netzes im Leerlauf – also schaltete Wälti für mehr Informationen das Radio nochmals an.

»… muss auf der Flughafenautobahn mit sehr langen Wartezeiten gerechnet werden. Wie ein Sprecher der Polizei gegenüber Radio-K2 erklärte, wird der Stau noch bis in die späten Abendstunden hinein andauern. Und jetzt, für euch alle, die ihr da draußen steht in der Autoschlange, spielen wir von Wham ›Last …‹« Wälti stellte das Radio aus.

»Das war’s dann wohl mit unserem Flug um zwanzig Uhr«, meinte der Scheich und lächelte.

»Ja, dann halt die nächste Maschine«, sagte Goldohr. Und lächelte auch.

»Oder die übernächste«. Die Frau strahlte regelrecht.

Fand Wälti alles total schräg. Solche schlechten Neuigkeiten derart nonchalant lächelnd hinzunehmen – oder sollte er besser sagen, eiskalt. So selbstbeherrscht verhielten sich eben nur Profikriminelle.

 

»Haben Sie einen Geldschein für mich, Wälti?«, fragte der Scheich.

Jesses, die wollten ihn jetzt aber nicht auch noch ausrauben, oder?

»Einen Zehner oder Zwanziger … Tausender geht auch, egal. Haben Sie?«

Jetzt die Räuber nicht provozieren, tu, was sie von dir verlangen. Mit langsamen Bewegungen, aber zitternden Fingern fischte Wälti aus einem Fach in der Mittelkonsole eine Zehnernote. War das Trinkgeld der alten Frau Fritschi, die ihn heute Morgen mit ihrer käsigen Körperausdünstung an das Fondue erinnert hatte. Wälti streckte dem Kerl den Zehner entgegen, der schnappte sich den Schein – und zerriss ihn in tausend kleine Fetzen.

»Sie, exgüsi, also, das ist doch …« Wälti schnappte nach Luft und Fassung.

Der Scheich stopfte die zehn Franken Konfetti in seine Faust, spuckte drei Mal theatralisch trocken darauf, öffnete seine Hand wieder … und zog einen absolut heilen Zehner heraus.

Bevor Wälti etwas erwidern konnte, griff die Frau nach dem Geldschein, faltete ihn zwei Mal zusammen, pappte ihn zwischen ihre Handflächen, so als betete sie, flüsterte seltsame Worte, öffnete die Hände wieder – und verschwunden war das Geld. Blitzschnell griff sie hinter Wältis linke Ohrmuschel … und zupfte dort den Zehner hervor. Wälti wollte ihn zurückhaben, aber Goldohr auf der Rückbank war schneller. Er zerknüllte den Schein, verbarg ihn in seiner Faust, murmelte etwas unverständlich Abrakadabra-Arabisches, und als er die Hand wieder öffnete, lagen darin fünf Zweifrankenstücke.

»Bitte schön, Ihr Wechselgeld.« Er grinste und ließ das Kleingeld in Wältis ausgestreckte Handfläche klimpern.

»Noch eines unserer Hobbys«, erklärte der Scheich.

»Sie … Sie sind also Zauberer?« Wälti war verwirrt.

»Wir bevorzugen den Begriff Magier«, erwiderte die Frau.

Wälti wusste nicht, was sagen. Ja, was sollte man auch sagen, wenn man mit drei gesuchten Räubern in einem Taxi in einem Megastau in einem Schneesturm saß und die einem erst die Astrologie um die Ohren hauen und dann noch Taschenspielertricks vorführen? Was hier abging, war einfach nur total irre.

»Gefallen Ihnen solche Tricks?«, wollte die Frau wissen.

Wälti zuckte mit den Schultern.

»Zauberei ist doch im Grunde wie Religion«, fuhr sie fort. »Die Menschen sind hin- und hergerissen zwischen dem, was sie sehen, und dem, was sie glauben. Oder wie haben Sie’s mit dem Weihnachtswunder, Wälti? Morgen Abend, die Heilige Nacht? Na, was glauben Sie?«

In seinen über vierzig Jahren als Taxifahrer hatte Wälti für sich einige eiserne Verhaltensregeln aufgestellt. Eine davon lautete: Rede mit dem Gast nie über Politik oder Religion oder die Schutzmaßnahmen zur Coronazeit. Niemals. Eh, warum schaute die ihn jetzt so blöd an?

»Mögen Sie Weihnachten etwa nicht?«, hakte die Räuberin süffisant nach, beugte sich schräg nach vorne zu Wälti und kam seinem Gesicht dabei ziemlich nahe. Sie roch fein, registrierte er. Nach etwas Exotischem, balsamisch-süß und würzig-warm; er kannte diesen Duft von irgendwoher, konnte ihn aber gerade nicht einordnen.

»Ich und Weihnachten, fragen Sie?« Wälti dachte nach. Kriminelle Personen, die über Religion sprachen, neigten womöglich zu weniger Brutalität, sagte er sich. Also machte er mit. Und erzählte den drei Räubern, dass er nicht gläubig sei und mit der Kirche wenig bis gar nichts am Hut habe.

»Und trotzdem feiern Sie Weihnachten?« Der Scheich betrachtete ihn mit schiefem Kopf.

Wälti versuchte es mit einem Witzchen: »Die vielen Geschenke halt.« Und als niemand lachte, faselte er etwas von Tradition und Kultur und Familie, und wie viel das Fest seiner Frau bedeute, und merkte selbst, wie erbärmlich er dabei klang.

Die drei Räuber schauten ihn nur an. Erwiderten nichts. Nickten erst langsam und verzogen die Mundwinkel ein wenig nach unten – lächelten aber am Ende wieder herablassend gönnerhaft. So wie es Pflegepersonal mit Hochbetagten tat.

Um die plötzliche bleischwere und peinliche Stille zu überbrücken, startete Wälti den Motor, und da dieser längst ausgekühlt war, stellte er zusätzlich sämtliche Sitzheizungen an. Sollte keiner behaupten, Taxifahrer Wälti ließe seine Gäste frieren – Gast war Gast, selbst wenn er in den Knast gehörte. Nach drei Minuten stellte er den Motor wieder aus.

Es war jetzt bereits nach sechs. Stockdunkler Abend. Der Schneesturm rüttelte mit unverminderter Stärke am Taxi. Der Stau stand weiterhin. Und Wältis Albtraum wurde noch traumatischer.

 

»Ich habe Hunger«, sagte die Frau.

»Ich auch«, sagte Goldohr.

»Bärenhunger«, sagte der Scheich.

Wälti zuckte mit den Schultern. »Tja, so wie es aussieht, müssen Sie leider wohl oder übel …«

»Essen wir doch etwas«, schlug Goldohr vor.

Und ehe Wälti seine heilige Taxiregel proklamieren konnte – in der Fahrgastzelle werde weder gegessen noch getrunken –, hievte der Kerl hinten seinen Rucksack auf die Sitzbank und schnürte ihn auf.

Wälti wollte sterben.

Gleich würde der Sürmel sein Picknick auspacken: Fladenbrot, Falafel, Kebab. Oder noch schlimmer, Baklava, dieses sirupige Dessert mit Blätterteig, das vor lauter Zucker triefte.

Doch es kam anders. Noch viel schlimmer.

»Kochen wir uns doch etwas Warmes«, sagte Goldohr und begann auszupacken.

Jetzt wollte Wälti wirklich sterben.

Der Kerl zauberte ein Kilo Brot hervor, ein paar langstielige Gabeln, ein tätschrotes Caquelon mit kleinen Schweizerkreuzen drauf, ein Elektro-Rechaud – sowie eine Packung Frisch Fondue L’Original.

Wälti brannten die Sicherungen durch. Das glaubte er jetzt einfach nicht. Da riss er selbst sich den Hintern auf, klapperte den halben Globus nach dieser verdammten begehrten, unschätzbar wertvollen Käsesuppe ab, fand aber keine mehr, und dieser Typ hier packte so mir nichts dir nichts den Heiligen Gral aus.

Goldohr streckte Wälti den Stromstecker des Rechauds hin und bat ihn, den im Zigarettenanzünder einzustöpseln.

Seid ihr wahnsinnig, wollte Wälti schreien.

Mein Taxi wird wochenlang nach Käse stinken, wollte Wälti schreien.

Und alles wird voller Brotbrösmeli sein, wollte Wälti schreien.

Aber er brachte kein Wort heraus. Und tat, was man ihm befahl. Sein Gehirn hatte vor lauter Überforderung auf Leerlauf gestellt. Das Gemüt auf Notfallabschaltung. Der Wille auf egal. Was zu viel war, war zu viel. Und das hier war viel zu viel. Über vierzig Jahre Taxifahren – aber so etwas Schreckliches hatte er noch nie erlebt: Sein geliebtes Taxi wurde gerade zum Fondue-Stübli degradiert.

Er ergab sich. Wehrte sich nicht, als die Räuber das Rechaud auf der Mittelkonsole platzierten, den Alubeutel mit dem eingedickten Käseblock aufrissen und diesen in das Caquelon plumpsen ließen, den roten Topf auf das Rechaud stellten und dann einfeuerten. Sagte kein Wort, als sie den Brotlaib in Stücke brachen und dann noch kleiner in Möckli rissen. Ließ den Gestank zu, ließ die Käsefäden geschehen, die da beim Umrühren daneben spritzten, erstarrt zu Boden fiserleten und zusammen mit einer Million Brotbrösmeli den Fußraum bedeckten. Wälti starrte apathisch zu Boden. Sein gepflegter Teppich sah aus, als hätte ein Riese mit massivem Schuppenproblem den Kopf geschüttelt.

War den Dreien hier denn gar nichts heilig?

»Essen Sie nicht mit?«, fragte die Frau mit vollem Mund.

Wälti schüttelte nur den Kopf. Das Leben war ungerecht. Weihnachten zum Weinen. Und Anni würde sich ganz bestimmt von ihm scheiden lassen.

 

Alles egal. Er regte sich nicht mal mehr auf, als der Scheich nach beendeter Mahlzeit ein Päckchen Zigaretten hervorklaubte, sich jeder der drei einen Stengel ansteckte, um damit das Taxi für ewige Zeiten zu verpesten, zuzuteeren und mit krebserregenden und gesundheitsschädlichen Substanzen zu kontaminieren. Alles egal.

»Auch eine, Wälti? Ist unsere Hausmarke.« Der Räuber grinste verschwörerisch und deutete auf das einbucklige Tier auf dem nikotingelben Päckchen. »Morgen Abend reiten wir drei daheim auf diesen Viechern.«

Wälti hatte sich schon immer gefragt, warum der Hersteller ein Dromedar als Logo verwendete, wenn die Marke doch Camel hieß. Aber auch das war jetzt nicht mehr wichtig. Alles egal.

Dann wurde ihm schwarz vor Augen.

 

Er erwachte, weil er fror. Und ihm alle Knochen wehtaten. Kein Wunder, er saß halb, lag halb auf dem Fahrersitz, zusammengekrümmt und eingerollt wie eine Zimtschnecke. Wälti schreckte auf. Hob den Kopf, öffnete die Augen. Schaute sich um. Die Räuber waren weg. Und draußen wurde es gerade hell, das erkannte er trotz zugeschneiter Scheiben. Ein neuer Tag brach an, der 24. Dezember, der frühe Morgen von Heiligabend. Hatte er etwa die ganze Nacht im Käse-Zigaretten-Koma gelegen?

Aber wohin waren die Räuber verschwunden?

Mit viel Ächzen setzte er sich gerade hin, drückte auf die Zündung, ohne den Motor zu starten, und ließ die Scheibenwischer Klarheit schaffen. Durchsicht schaufeln. Tatsächlich, die Sonne ging gerade auf. Stand noch tief über dem Horizont, irgendwie schüchtern sah sie aus, so zerbrechlich und blass wie ein hauchdünn gelutschter Kinderschleckstängel, und um sie herum am Himmel nicht die kleinste Wolke. Nach über zwei Wochen Sturmwinter zum ersten Mal wieder Stille und Frieden. Und endlich warmes Licht.

Aber … Jesses! … Sah er denn richtig? Er befand sich zu Hause.

Das Taxi stand in der Einfahrt zu seinem Eckreihen-Einfamilienhäuschen am Stadtberg. Schön sauber vorwärts eingeparkt. Wie zum Henker waren er und sein Wagen hierhergekommen? Hatten die Räuber ihn gefahren? Aber, woher sollten die seine Wohnadresse kennen?

Oder hatte er am Ende einfach nur einen bösen Traum gehabt?

Doch ein Kontrollblick auf den mit Brotbrösmeli und Käsepopeln gesprenkelten Teppich im Fußraum bewies ihm schmerzhaft, dass alles kein Traum gewesen war. Sondern ein Albtraum.

Und Himmel noch mal, wie gruusig es hier drin nach Rässkäsemief und kaltem Kippenrauch stank. Wälti verzog das Gesicht, stieß die Fahrertür auf und inhalierte die hereinströmende eiskalte Luft. Kam ihm vor wie eine erfrischende reinigende Dusche mit Weihwasser.

Er stemmte sich aus dem Wagen. Stand in dem kniehohen frischen Neuschnee, streckte die steifen Arme in die Luft, wippte in den Knien, balancierte auf den Zehenspitzen – hemmungsloses Gähnen verbiss er sich, könnte ja sein, das die Nachbarschaft zuschaute – und beugte sein steifes Rückgrat so heftig durch, dass die Wirbel knackratterten wie eine Holzrätsche an der Fasnacht.

Dann entdeckte er den Stern.

Er rieb sich die Augen. Hä? Der Mercedes-Stern, gestern von Vandalen in der City abgeknickt und geklaut … war wieder da. Ja, spann er denn? Wälti stapfte durch den Schneesumpf zur Motorhaube und berührte den Metallstern so vorsichtig, als stünde der unter Strom. Tatsächlich. Einfach so wieder da. Nigelnagelneu. Und wie der funkelte …

Aber, Sternefoifi, wie war der Stern hierhergelangt? Und wie das Taxi? Und er selbst?

Die Räuber jedenfalls, die waren weg. Abgehauen, so viel stand fest. Entweder weiterhin auf der Flucht mit ihrem am Airport abgestellten Fluchtauto, oder sie saßen tatsächlich gerade jetzt in der Frühmaschine nach Tel Aviv. Ins Heilige Land. Das Morgenland.

Wälti stieg wieder in den Wagen und betätigte eine kleine Fernbedienung für die Garage. Das braune Rolltor wellte langsam rumpelnd hoch.

Dann bemerkte Wälti die drei Räuberrucksäcke auf der Hinterbank seines Taxis.

Hatten die Idioten etwa tatsächlich vergessen, das erbeutete Geld mitzunehmen? Er griff nach hinten und hievte den ersten Rucksack zu sich nach vorne auf den Schoß. Öffnete ihn. Schaute hinein. Der enthielt kein Geld. Dafür pures Gold – oder zumindest für Wälti war der Inhalt pures Gold wert. Und für sein Eheleben sowieso. Im Rucksack lag eine Packung Frisch Fondue L’Original.

Ein warmes Glücksgefühl durchflutete ihn. Aha, so