Das Leuchten der Inselblumen - Mina Gold - E-Book
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Das Leuchten der Inselblumen E-Book

Mina Gold

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Beschreibung

Das große Glück kommt in kleinen Wellen

Das blaue Meer, der Wind in den Haaren, das Leuchten der Dünen: Anna ist glücklich auf der schönen Nordseeinsel Texel. Gemeinsam mit ihrer großen Liebe Ole genießt sie die Zweisamkeit und endlich hat sie den Mut, einem Geheimnis aus ihrer Kindheit auf den Grund zu gehen. Nur ihr Blumencafé bereitet ihr Sorgen, denn immer mehr Kunden bleiben aus. Da erfährt sie von einer unerwarteten Erbschaft: Ihre verstorbene Nachbarin Roos hat ihr das Haus mit dem wunderschönen Rosengarten vermacht. In Anna reifen Pläne für eine neue Zukunft und sie hat eine Idee, wie sie ihr Café zu neuem Leben erwecken kann. Doch dann steht auf einmal ihre gesamte Existenz auf dem Spiel ...

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Seitenzahl: 576

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MINA GOLD, geboren 1987, arbeitet als freiberufliche Korrekturleserin und Lektorin. Um ihre Liebe zu schönen Dingen auszuleben, betreibt sie außerdem ein Schmucklabel. Gemeinsam mit ihrem Hund Rosali und ihrer Büchersammlung lebt sie in Berlin Neukölln. Das Leuchten der Inselblumen ist der zweite Band der Inselblumen-Serie.

Außerdem von Mina Gold lieferbar:Der Sommer der Inselblumen

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MINA GOLD

DASLEUCHTEN

DER

Insel

Blumen

ROMAN

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Copyright © 2021 by Penguin Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlag: Bürosüd, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Literaturagentur Dorothee Schmidt

Umschlagmotiv: www.buerosued.de

Redaktion: Susann Rehlein

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-24327-2V001

www.penguin-verlag.de

Ein Gärtner ist anders als die andern, und das kommt von unserem Umgang mit Blumen.

Mercè Rodoreda

Prolog

Es war ein stürmischer Abend auf der kleinen Insel. Das dunkle Nordmeer toste an die Strände, und die Wipfel der Kastanien auf dem Platz neben der Fischbude bogen sich im Wind. Umgeben von wirbelnden Blättern, lief eine Gestalt durch die Gassen der Altstadt. Sie stemmte sich gegen die Böen, die ihr immer wieder den Schal von den Schultern zerrten. Es war spät, und die Frau unter dem Schal war müde. Die kleinen Läden rechts und links von ihr warteten dunkel und verlassen auf den Morgen. Das Schaufenster eines blauen, efeuüberwachsenen Hauses aber war hell erleuchtet, und der warme Schein, der auf das Kopfsteinpflaster fiel, zog sie an, ließ sie näher treten und durch die Scheibe spähen.

Hinter einer blauen Theke stand eine junge Frau und tippte etwas in die Ladenkasse. Ihre Stirn war konzentriert zusammengezogen, und soeben wischte sie sich gedankenverloren eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht. Neben ihr auf der Theke saß eine blonde Frau im Schneidersitz und aß etwas, das wie eine Lakritzstange aussah. Sie redete gestikulierend auf die Schwarzhaarige ein, die immer wieder abwesend nickte.

Die Frau auf der Straße kannte die beiden. Sie kannte auch die blaue Theke und die alte Ladenkasse.

Plötzlich kam ein sehr kleiner und sehr dicker brauner Hund aus dem hinteren Teil des Ladens getrottet, gefolgt von einem hochgewachsenen weißblonden Mann in einem karierten Hemd. Der Mann trat hinter die schwarzhaarige Frau und schlang die Arme um sie. Als er sie hochhob und ihren Nacken küsste, lachte sie und versuchte ihn abzuwehren, und auch wenn die Frau vor der Scheibe das Lachen nicht hören konnte, so wusste sie doch genau, wie es klang. Fröhlich und warm, das Lachen einer glücklichen Frau. Der Mann ließ sie wieder los und trat nun zu der blonden Frau, die seine Schwester sein musste, denn sie war genauso groß und gutaussehend wie er. Er entwand ihr die Lakritzstange und stopfte sie sich grinsend in den Mund, woraufhin sie ihn spielerisch in den Bauch boxte. Der kleine Hund bellte und drehte sich freudig im Kreis.

Die Frau auf der Gasse trat näher, ihre Nase berührte nun beinahe die Scheibe. Um ihren Mund lag ein bitterer Zug, sie biss so fest die Zähne zusammen, dass ihre Lippen zu einem weißen Strich wurden. Blumen über Blumen standen in dem Raum, verteilt in Eimern und arrangiert in Töpfen und Gestecken. Hinter der Theke quoll eine Pinnwand fast über von Bestellzetteln und Listen. Im Hinterzimmer sah sie ein Feuer im Ofen lodern. Sie nahm all dies in sich auf und spürte einen dunklen Stachel, der sich in ihr Herz bohrte. Aber auch einen anderen Schmerz, der sogar noch tiefer saß und ihr sehr vertraut war.

Plötzlich sah die schwarzhaarige Frau von der Kasse auf. Ihre Blicke trafen sich, und die Frau auf der Gasse trat einen Schritt zurück. Hastig drehte sie sich um, zog den Schal enger um ihren Körper und machte sich wieder auf ihren einsamen Weg durch die dunkle Stadt. Bald war sie zwischen den Häusern verschwunden, und nur noch der Wind heulte über die kleine Gasse.

1

»Dieser Dackel ist zu dick!«

Anna seufzte und vergrub die Hände in den Jackentaschen. Wie oft sie sich das in letzter Zeit schon angehört hatte. »Das weiß ich auch«, sagte sie.

»Er schleift am Boden.«

»Mama!«

»Ich sag ja nur. Schließlich ist er mein einziger Enkel. Ich mache mir Gedanken.«

Anna rollte mit den Augen. »Er ist eben winzig, da nimmt man schnell zu. Er braucht nur ein bisschen Fitness.«

»Mit ein bisschen Fitness ist es da nicht mehr getan, Anna. Irgendwann kriegt er Herzverfettung, willst du das vielleicht?«

Wieder seufzte Anna. Warum konnte ihre Mutter nie lockerlassen. Immer musste sie auf einem Thema so lange herumreiten, bis sie ihr Gegenüber vollkommen zermürbt hatte. »Natürlich nicht«, grummelte sie. »Ich weiß, er ist pummelig, aber …«

»Pummelig ist da gar nichts! Fett, Anna, der Hund ist fett. Sieh den Tatsachen ins Auge. Er schaut aus wie eine Stopfente.«

»Psst. Er hört dich doch!« Anna blickte auf Harry hinunter. Als er mit treuem Blick zu ihr hochsah, wölbte sich sein kleiner Nacken in drei Ringen. Wenn ihre Mutter nur nicht so offensichtlich recht hätte mit ihrer Kritik. Das machte es schwierig, ihr zu widersprechen. Die meisten Menschen in Annas Umfeld hatten inzwischen begriffen, dass Harrys Übergewicht bei ihr ein äußerst empfindliches Thema war, und vermieden es tunlichst, sie darauf anzusprechen. Aber Gloria Fischer neigte nicht dazu, Konflikten aus dem Weg zu gehen.

Im Gegenteil.

Sie sprang ihnen mit wehendem Seidenschal in die Arme.

»Ich widerspreche dir ja gar nicht!«, beschwichtigte Anna, weil sie wusste, dass ihre Mutter nicht klein beigeben würde, ehe sie Besserung gelobte.

Gloria ging darauf nicht ein, lächelte aber dünn zum Zeichen, dass sie die Wahrhaftigkeit von Annas Einsicht anzweifelte. »Na, mein Schatz, kommst du mal zu deiner Oooomi?«, säuselte sie dann und hockte sich hin, woraufhin ihr Harry freudig in die Arme sprang und ihr wild übers Gesicht leckte.

»Huch. Nein! Aus! Pfui!« Entsetzt drückte sie seine Schnauze weg. Harry verfing sich mit den Vorderpfoten in ihrem bunten Schal, und Anna sah mit verschränkten Armen dabei zu, wie ihre Mutter vergeblich versuchte, ihn daraus zu entwirren und gleichzeitig von ihrem Gesicht fernzuhalten. »Nun hilf mir eben!«, schnauzte Gloria sie an.

Anna pflückte Harry wortlos von ihr ab und setzte ihn auf den Boden zurück.

»Fett und unerzogen!«, beschwerte Gloria sich und richtete ihre Bluse.

»Du wolltest doch, dass er zu dir kommt«, verteidigte Anna ihren Dackel.

»Meine Kritik galt ja auch nicht ihm. Er kann nichts dafür. Die Schuld trägt immer das Frauchen. Du lässt ihn ja sogar in deinem Bett schlafen, was ihn nebenbei bemerkt nicht nur verzieht, sondern auch höchst unhygienisch ist.«

»Du hast ihn eben über dein Gesicht lecken lassen!«

Diesen Einwand überging ihre Mutter. »Hier auf der Insel ist es wahrscheinlich nicht so leicht, jemanden zu finden, aber ich kenne in Hamburg eine Trainerin. Die hat die Dogge von Inge trainiert, du weißt schon, Inge aus der Galerie. Die mit den Krampfadern. Jedenfalls hat die Trainerin Inges Dogge dazu gekriegt, auf Kommando einfach umzufallen. Boom!« Sie hob den Zeigefinger, zielte und blies imaginären Rauch vom imaginären Colt. »Toter Mann! Und dieser Hund konnte vorher nicht mal ›Sitz‹! Ich sage dir, das tut vielleicht einen Schlag, wenn so ein Riesenvieh plötzlich umkippt. Die würde Harry bestimmt einen Trainingsplan zusammenstellen. Vielleicht solltest du auch auf Lightkost umstellen. Ich werde Inge nach der Nummer dieser Trainerin fragen.«

»Fein, wenn du magst.« Einfach aufgeben und so tun, als würde sie kooperieren, das war der einzige Weg, um Gloria zu entkommen.

»Rufst du sie dann auch an?«

»Na sicher, Mama.«

»Anna!«

»Ich rufe sie an, auf jeden Fall!« Wenn am St. Nimmerleinstag die Hölle zufriert, fügte sie in Gedanken hinzu und lächelte ihre Mutter an. »Es liegt ja nicht nur an mir, die ganze Insel füttert ihn mit durch!« Anna hob hilflos die Arme. »Niemand kann ihm widerstehen, von der Bäckerin bekommt er Streuselkuchen, bei Luuk holt er sich Brot aus dem Schweinetrog, bei Tom kriegt er Küchenabfälle, und Roos gibt ihm immer …« Sie brach ab und erstarrte. »… Roos hat ihm immer …« setzte sie an … Aber sie konnte nicht weitersprechen.

Einen Moment hatte sie es tatsächlich vergessen, hatte vergessen, dass Roos nicht mehr lebte.

Sofort milderte sich der strenge Ausdruck in Glorias Gesicht. »Ach Annakind«, sagte sie. »Komm her!« Sie nahm ihre Tochter in den Arm, und Anna presste ihr Gesicht an den Hals ihrer Mutter und atmete den vertrauten Geruch ihres Parfums ein, das sie viel zu süß fand und doch irgendwie liebte.

Anna und ihre Mutter standen in Den Burg vor Annas kleinem Blumenladen. Über ihnen am Himmel schrien ein paar Möwen, und die Luft roch nach Salz. Der Wein, der sich um die blaue Fassade bis zum Schindeldach hinaufrankte und in den letzten Wochen die Farbe eines Sonnenuntergangs angenommen hatte, ließ allmählich die Blätter fallen. Im Laubwerk zeigten sich bereits erste Lücken. Der Herbst hatte sich auf die Insel geschlichen, ohne dass sie ihn richtig wahrgenommen hatte, und nun machte er sich genauso heimlich wieder aus dem Staub. Das kleine Schaufenster mit der Aufschrift Planten un Blomen war dunkel, und der Laden wirkte verlassen. Traurig, dachte Anna, als sie ihn betrachtete. Er sieht traurig aus.

Auch im reetgedeckten Haus nebenan brannten keine Lichter. Aber Anna vermied den Blick dorthin. Ihr bemaltes Schild über der Tür, auf dem Harry hinter einer Ranunkel hervorschaute, knarzte leise im Wind. Anna und die Blumen, dachte sie wehmütig, als sie es betrachtete. Plötzlich durchfluteten sie die Erinnerungen. Es schien doch erst ein paar Tage her, dass sie das Schild bemalt hatte, im Hinterzimmer ihres damals noch mitten in der Renovierung steckenden Ladens. Jeden einzelnen Pinselstrich hatte sie voller Hoffnung und Vorfreude gesetzt, das Schild war ihr vorgekommen wie das Symbol für ihren Neuanfang.

Natürlich war alles nicht erst ein paar Tage sondern viele Monate her, aber es erschien ihr nur ein Augenblick vergangen zu sein. Ein Herzschlag, und alles war anders. Ein ganzer Sommer nur noch Erinnerung. Ein Leben einfach zu Ende.

Einen Moment schloss Anna die Augen, als sie an Roos dachte und ihren plötzlichen, unerwarteten Tod. Wie anders wäre alles verlaufen, wäre Roos nicht gewesen, ihre alte Nachbarin aus dem Reethaus, die sie schon an ihrem ersten Tag im Laden kennenlernte, als Harry durch den Zaun ausbüchste und zu ihr auf die Veranda lief, wie er es im Laufe des kommenden Sommers Hunderte Male tun würde. Roos war ihre Rettung gewesen, nicht nur für den Laden, sie war auch die erste Freundin, die Anna auf der Insel fand. Niemanden hatte sie damals gekannt. Allein hatte sie die vielen ersten Nächte in ihrer Küche auf dem alten Hof ihrer Großeltern gesessen, hatte dem Knacken des Ofens, dem Heulen des Windes und dem Flüstern der Vergangenheit gelauscht und sich gefragt, ob sie hier jemals ankommen würde. Ihre Großeltern waren schon lange tot, der Bruijnshof, auf dem sie als Kind so viele goldene Sommer verbrachte, hatte viele Jahre leer gestanden. In den ersten Wochen hatte es sich angefühlt wie ein Geisterhaus voller Erinnerungen, die ihr wie stumme Schatten folgten, wo auch immer sie hinging. Sie hatte geglaubt, damit umgehen zu können, dass sie hier vor beinahe zwanzig Jahren an einem trügerisch friedlichen Sommertag ihre Schwester Anouk verloren hatte. Ihr Tod war bis heute nicht aufgeklärt worden.

Doch Anouk war noch immer hier.

Anna hatte es sofort gespürt. Ihre Schwester streifte nachts durch das dunkle Haus, versteckte sich im Garten, flüsterte ihr im Schlaf Erinnerungen ins Ohr. Anna hörte Anouk im Klang des Windes, sah sie im Schäumen der Wellen, fand sie im Geschmack der Erdbeeren ihrer Großmutter. Bald waren die Träume gekommen und mit den Träumen schließlich jene seltsamen Ereignisse der letzten Monate, die sie auch jetzt noch erschaudern ließen, wenn sie daran dachte.

Hier, im hellen Licht des Tages, mit Harry und ihrer Mutter an ihrer Seite, schien ihr das alles jedoch seltsam unwirklich. Neblige Erinnerungen, von denen man nicht genau wusste, ob sie jemals Wirklichkeit gewesen waren.

Wenn Gloria in der Nähe war, wagten die Geister der Vergangenheit sich ohnehin seltener hervor. Wahrscheinlich hatte ihre Mutter beizeiten gelernt, sie in Schach zu halten. Ihre laute Stimme übertönte das Flüstern in den Ecken, und ihr Parfum vertrieb alle anderen Gerüche, die Erinnerungen in Anna hätten wecken konnten, wie den Duft von frisch gebackenem Kuchen, der sie nun immer unwillkürlich traurig machte, weil sie ihn so stark mit Roos verband.

Wenn Anna allein war, fiel es ihr seit Roos’ Tod schwer, unbeschwert zu sein. Es war einfach zu viel Schlimmes passiert. Beinahe fühlte sie sich nun genau wie damals, als sie neu auf der Insel angekommen war. Schon nach wenigen Tagen hatte sie alles hinschmeißen und abreisen wollen. Wenn sie jetzt darüber nachdachte, war es Ironie des Schicksals: Wären Karin und Simon nicht gewesen, sie hätte sicher ihre Zelte hier abgebrochen und wäre reumütig zurückgekehrt nach Hamburg. Doch zu schwer wog der Schmerz, den die beiden ihr zugefügt hatten. Karin, ihre beste Freundin, und Simon, ihre große Liebe. Niemals würde sie darüber hinwegkommen, dass die beiden sie miteinander betrogen hatten. Nur eines war ihr damals klar gewesen: Wenn sie überhaupt eine Chance haben wollte, musste sie weg aus Hamburg, weg aus Deutschland, weg von den beiden, die ihr alles genommen hatten; ihr Vertrauen, ihre Lebensfreude, ihre Sicherheit und letztlich ihr Zuhause.

Verrückt war es ihr in jenen ersten Tagen erschienen, ihr Vorhaben, ihr großer Traum: auf Texel ein Blumencafé zu eröffnen. Als sie mit ihrem roten Ford gen Norden geknattert war, mit nichts als ein paar Koffern und der treuen Unterstützung ihres Dackels Prince Harry im Gepäck, war sie noch optimistisch gewesen. Doch die ersten Zweifel kamen bereits auf der Überfahrt mit der Fähre, als die Erinnerungen an früher sich mit dem Kreischen der Möwen vermischten und die Vergangenheit die Gegenwart zu übertönen drohte. Aber Aufgeben war letztlich keine Option gewesen. Ihr Großvater hatte immer gesagt, dass sie eines Tages zurückkehren würde. Anna war ein Inselkind, und Inselkinder kamen immer zurück. Sie konnten gar nicht anders.

Und so war sie hier gelandet.

Und auf dem kleinen grünen Fleck im Nordmeer hatte der aufregendste Sommer ihres Lebens auf sie gewartet.

Allerdings war es nicht nur der aufregendste Sommer gewesen, sondern auch ein Sommer voller Dramatik, voller Selbstzweifel, voller dunkler Stunden und Einsamkeit.

Ihre Mutter schien zu sehen, dass sie in Gedanken gerade ganz weit weg war, denn sie lächelte plötzlich, hob fragend eine Augenbraue und winkte ihr zu. »Wo bist du?«

Anna schüttelte nur den Kopf. »Hier!«, erwiderte sie. Aber sie konnte nicht verhindern, dass die Erinnerungen weiter auf sie einströmten.

Im Rückblick war kaum zu glauben, was alles passiert war in diesen wenigen Monaten, nach ihrer Flucht aus Hamburg, ihrem Neuanfang auf Texel, jenen Monaten, in denen der Bruijnshof und der Laden langsam zu ihrem Zuhause wurden. Bereits als sie das Schild mit den Blumen fertig gemalt hatte, war alles anders gewesen. Sie hatte Roos kennengelernt, ihre alte Nachbarin, die sich im Reethaus neben dem Laden ihre Einsamkeit mit Kuchenbacken und Gärtnern vertrieb. Harry hatte sie zusammengeführt. Von der ersten Sekunde an hatte der kleine Dackel sich in die alte Dame verliebt – und sie sich in ihn, sodass eine ganz besondere Freundschaft zwischen den beiden entstand, die Anna manchmal ein wenig eifersüchtig gemacht hatte. Aber eigentlich war es ihr genauso gegangen; auch sie hatte Roosalinda Van der Meer vom ersten Augenblick an in ihr Herz geschlossen. Die alte Dame hatte ihr oft beim Renovieren Gesellschaft geleistet und sich gefreut, dass wieder Leben in das verlassene Haus nebenan kam. Und mit ihren berühmten Van-der-Meer-Kuchen hatte sie den Laden schließlich vor dem Untergang bewahrt.

Dann hatte Anna sich auf der Insel eine neue Physiotherapeutin gesucht, da die neue Hüfte, die ihr vor Kurzem eingesetzt worden war, noch Probleme bereitete. So war die wunderschöne, warmherzige, taffe Britt in ihr Leben getreten, die beste Physiotherapeutin, die sie je hatte, und außerdem rasch einer der wichtigsten Menschen in ihrem Leben, eine Freundin, mit der sie alles teilen konnte, so wie sie früher mit Karin alles geteilt hatte. Und mit Britt war Ole gekommen, Britts riesiger weißblonder Bruder. Tierarzt, Handwerker, Fischer und unerschütterlicher Optimist in einem, hatte er mit seinem ganz eigenen Charme sofort Annas Gefühle durcheinandergerüttelt.

Als sie an Ole dachte, musste Anna lächeln. Doch ein Blick zu Roos’ Haus hinüber, das dunkel und verlassen dastand, genügte, um das Lächeln wieder zu vertreiben.

Von Anfang an hatte ein Unbekannter versucht, Anna das Leben auf der Insel so schwer wie nur möglich zu machen. So viele seltsame, erschreckende Dinge waren passiert, dass ihr das Ganze im Nachhinein vorkam wie eine Schauergeschichte. Viele hatte sie verdächtigt, doch irgendwann hatte sie herausgefunden, wer dahintersteckte: Sem, ein alter Schulfreund ihrer Schwester, und Roos’ Enkelsohn. Dann war Roos gestürzt, und dabei hatte sich herausgestellt, dass sie schwer krank war – und dass Sem etwas mit Anouks Tod und nun auch mit Roos’ Sturz zu tun hatte. Als Anna ihn zur Rede stellte, war es zu einer Auseinandersetzung gekommen. Er hatte sie angegriffen und bewusstlos geschlagen. Ole hatte sie in letzter Sekunde gerettet und sich dabei schwere Verletzungen zugezogen.

Roos war gestorben, ohne noch einmal aufzuwachen. Sie hatte ihnen nicht mehr sagen können, was wirklich passiert war, und hatte Anna mit ihren ganzen ungeklärten Fragen alleine gelassen. Seitdem war alles anders. Manchmal schien es ihr, als habe sich selbst die Insel verändert. Die letzten Wochen hatte sie wie in einem Nebel verbracht. Ob sie jemals herausfinden würden, wie alles zusammenhing? Sem war im Gefängnis, Roos war gestorben, und das Rätsel um Anouks Tod schien präsenter und gleichzeitig verworrener denn je. Und nun stand nicht nur der Laden, sondern auch Anna mal wieder vor einem Neuanfang.

Seufzend blickte sie auf das knarzende Schild. Sie wusste nicht, wie lange sie noch durchhalten würde. Seit der Auseinandersetzung mit Sem wartete sie jeden Tag darauf, dass ihre Kündigung im Briefkasten lag, dass er und seine Mutter Femke sie rausschmeißen würden. Schließlich gehörte ihnen das Haus. Anna hatte jeden Cent und unzählige Arbeitsstunden in die Renovierung und Eröffnung gesteckt. Wenn sie den Laden verlor, hatte sie auf der Insel keine Zukunft mehr.

Jeden Morgen, wenn sie die Post holte, hatte sie Magenschmerzen. Immer, wenn das Telefon klingelte und auf dem Display eine unbekannte Nummer erschien, zitterten ihre Hände ein wenig, wenn sie abnahm. »Du musst einfach mit ihr reden, es gibt keine andere Möglichkeit!«, sagte Ole beinahe jeden Tag. Aber sie traute sich nicht. Was, wenn sie dadurch alles noch schlimmer machte? Wenn sie die Kündigung so erst heraufbeschwor.

Wenn sie den Laden doch kaufen könnte! Aber das traurige Schaufenster, vor dem sie gerade standen, sprach Bände. Momentan kamen so wenige Kunden, dass sie gerade einmal die Miete zusammenbekam. Die Hoffnung, das kleine blaue Haus irgendwann ihr Eigen zu nennen, rückte mit jedem schlechten Verkaufstag weiter in die neblige Zukunft, und an ihre Stelle drängelten sich Sorgen um die Gegenwart. Lange würde sie die Flaute, die nach Roos’ Tod eingesetzt hatte, nicht überstehen können. Nachdenklich kickte sie mit dem Fuß einen kleinen Stein beiseite. Wie es wohl weitergehen würde mit Anna und die Blumen?

Ihre Mutter neben ihr schien im selben Moment den gleichen Gedanken zu haben. Auch sie blickte mit schief gelegtem Kopf nach oben und sah auf das Bild. »Es wird jetzt alles ein bisschen anders werden«, sagte sie leise. »Sicher wird die erste Zeit nicht leicht. Aber du schaffst das! Du schaffst alles, Annakind!«

Anna lächelte. Nicht oft bekam sie von Gloria Zuspruch. Sie legte den Arm um ihre Mutter und drückte das Gesicht trostsuchend in ihre Windjacke.

Anna hatte sich ein paar Tage Urlaub genommen. Ihre Eltern waren zu Besuch auf der Insel, und sie wollte ihnen genug Zeit widmen. Wenn sie den ganzen Tag im Laden stand und nicht als Puffer fungieren konnte, hatte sie außerdem Angst, die beiden könnten sich auf dem Hof gegenseitig niedermetzeln.

Ihre Eltern waren nicht einfach so gekommen. Sie waren zu einem Gespräch auf die Polizeiwache bestellt worden, wo der mit dem Tod ihrer Schwester betraute Kommissar sie über die neuesten Ermittlungen aufklären wollte. Nur deshalb waren ihre Eltern beide gleichzeitig zu Besuch, was Anna normalerweise unter allen Umständen vermieden hätte.

Heute hatte sie mit ihrer Mutter einen Spaziergang durch die Stadt gemacht und ihr den Laden gezeigt. Gloria war nun schon fünf Tage auf der Insel, und langsam begann Anna, ihre Abreise herbeizusehnen.

»Wo bleibt er nur?«

»Er kommt sicher gleich.«

»Er macht das absichtlich, er weiß ja, wie es mich aufregt.«

Anna hatte in den letzten Tagen so viel mit den Augen gerollt, dass sie schon Angst hatte, ihr Gesicht würde irgendwann so stehen bleiben. »Wie wäre es dann, wenn du ihm entgegenspielst und dich einfach mal nicht aufregst?«

»Das könnte ihm so passen!«

»Er ist gerade mal fünf Minuten zu spät.«

»Verteidige ihn nicht auch noch!«

Plötzlich bimmelte es hinter ihnen, und als Anna sich erschrocken umdrehte, kam ihr Vater auf einem Fahrrad die Gasse entlanggeholpert. So ungewohnt war es, ihren distinguierten Akademikervater auf einem Rad sitzen zu sehen, dass sie nicht anders konnte, als laut zu lachen. Etwas steif und sichtlich ungeübt, aber fröhlich winkend, kam er ihnen entgegen und machte eine Vollbremsung vor seiner Ex-Frau, die pikiert zur Seite hopste und so tat, als wäre er eine Gefahr für Leib und Leben. »Oh Gott! Also wirklich. Pass doch auf, Horst!«

»Entschuldige Gloria, mit dem Rücktritt komme ich noch nicht so richtig klar.« Er stieg umständlich ab, umarmte Anna und gab seiner Ex-Frau einen Luftkuss auf die Wange, den sie mit saurer Miene erwiderte.

Die beiden hatten sich in der letzten Zeit ein wenig zusammengerauft – Anna hatte den Verdacht, dass es ihr zuliebe geschah – und es bisher sogar auf dem Hof zusammen ausgehalten, ohne sich die Köpfe einzuschlagen. Sie hatte aber auch alles dafür getan, sie zu trennen, war mit ihrem Vater jeden Tag um die Nordspitze spaziert und hatte ihre Mutter aus dem Haus gelockt, so oft sie konnte, mit ihr einen Wollworkshop und eine Käseverkostung gemacht und sie zu Yoga am Strand gezwungen, was aber angesichts der nassen Kälte, die gerade auf der Insel herrschte, nur mäßig gut angekommen war. Ihr Vater hatte anscheinend ihren heutigen »Frauennachmittag«, wie er es mit seltsamer Betonung nannte, genutzt, um ein wenig im Alleingang die Insel zu erkunden. Er hatte eine frische Röte auf den Wangen, und seine Augen blitzten aufgeregt.

»Ist das etwa ein Motor?«, fragte Gloria jetzt verächtlich und deutete auf einen Kasten, der hinten am Fahrrad hing.

Annas Vater nickte. »E-Bike«, verkündete er stolz. »Beschleunigt von null auf vierzig in zwanzig Sekunden.«

»Na, wer’s braucht … Deinem Bauch würde ein nicht ganz so rentnerhaftes Sportgerät besser tun.«

Horst überging den spitzen Ton mit einem gutmütigen Lächeln. »Komm, hüpf auch mal drauf.« Er hielt Gloria das Rad hin, die entsetzt zurückwich.

»Wie bitte?«

»Es ist großartig, ich bin nur so durch die Dünen gefegt. Gegenwind? Kein Problem, das Baby hat eine Turbofunktion! Hat sich fast angefühlt wie damals die Motorroller in Italien. Weißt du noch, an der Amalfiküste?«

Überraschenderweise lächelte Annas Mutter plötzlich. »Als du die Fischvergiftung hattest und ich den Sonnenbrand, mit dem ich ins Krankenhaus musste.«

Er nickte. »Trotzdem unser bester Urlaub, oder?«

»Das war er wirklich. Wir hatten diese kleine Wohnung direkt über dem Hafen, und jeden Morgen haben wir den Fischern zugesehen, wie sie die Boote ausladen.« Gloria hatte sich zu Anna umgedreht, und ein träumerischer Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. »Man ist aufgewacht vom Schreien der Möwen, und dann gab es frischen Kaffee und Bomboloni, das sind diese herrlichen Krapfen mit Cremefüllung, weißt du? Gibt es nur in Italien. Ich habe vier Kilo zugenommen in dem Urlaub.«

»Stand dir aber ausgezeichnet!« Ihr Vater zwinkerte seiner Ex-Frau zu, und Anna sah mit Entsetzen, dass ihre Mutter verlegen lächelte und sich eine leichte Röte auf ihre Wangen stahl.

»Alles war immer voller Möwen, wegen der Fischerboote. Eine hat deinem Vater aufs Hemd gekackt.« Sie lachte. »Wir haben jeden Abend in dem kleinen Restaurant unten im Haus gegessen. Irgendwann hatten sie die Vorspeisen schon bereit, wenn wir hereinkamen.«

»Vorzüglicher Service!« Auch ihr Vater lächelte vor sich hin. »So was findet man in Deutschland nicht.«

Anna beobachtete die beiden misstrauisch. Das passierte manchmal, diese gemeinsamen Ausflüge in die Vergangenheit, bei denen ihre Eltern plötzlich nicht mehr erbitterte Gegner waren, sondern zu ihrer alten Verbundenheit zurückfanden und sich an die Zeit erinnerten, in der sie vernarrt ineinander gewesen waren. Sie liebten sich noch immer, das wusste sie. Beide fragten Anna ständig über den jeweils anderen aus und taten dann so, als wären sie eigentlich nicht im Mindesten interessiert, und ihre Mutter hasste die Freundin ihres Vaters mit einer Leidenschaft, die nur mit tiefster, grünster Eifersucht zu begründen war.

»Damals ist deine Schwester entstanden, wusstest du das?«, fragte ihre Mutter.

Plötzlich schlug die Stimmung um. Ihr Vater sah mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht zu Boden, und auch das Lächeln auf Glorias Gesicht erstarb.

Anna fühlte ein Ziehen in der Brust. »Nein, wusste ich nicht, und ich muss es mir auch nicht unbedingt vorstellen, danke«, sagte sie lachend und versuchte, die Unbeschwertheit zu retten, die eben noch die Unterhaltung getragen hatte.

»Wann ist noch mal der Termin?«, fragte ihr Vater mit belegter Stimme und räusperte sich. Sie alle wussten ganz genau, wann der Termin war, die letzten Tage waren von seinem drohenden Schatten überlagert gewesen, wie von einem nahenden Gewitter, das den Horizont verdunkelte.

»Morgen um fünf«, sagte Anna leise, und er nickte. Ihre Mutter tupfte sich die Augen.

»Nur der Wind!«, lächelte sie, als Anna sie besorgt ansah.

»Wir schaffen das!« Plötzlich nahm ihr Vater Gloria in die Arme, die einen Moment erschrocken die Augen aufriss und dann seine Umarmung erwiderte und ihn so fest an sich drückte, dass Anna wegschauen musste, weil sie das Gefühl hatte, jeden Moment in Tränen auszubrechen.

Ihre Eltern lösten sich voneinander, ihr Vater räusperte sich und spielte an der Gangschaltung herum, und ihre Mutter fummelte ein Taschentuch aus ihrer Jacke und schnäuzte sich, mit einem traurigen Lächeln in Richtung Anna.

»Hört mal, ihr zwei, es kann nichts passieren morgen!« Ihr Vater sah plötzlich entschlossen und fast ein bisschen wütend aus. »Anouk kommt nicht mehr zurück, was auch immer sie herausfinden. Ich weiß, dass es sich gerade so anfühlt, als würde alles noch einmal von vorne losgehen, aber das stimmt nicht. Jetzt geht es nur darum, dich so gut wie möglich zu schützen und diesem irren Typen Einhalt zu gebieten!«, sagte ihr Vater und sah Anna an.

Sie nickte. »Er ist ja im Gefängnis.«

»Und da wird er hoffentlich auch bleiben, bis er verrottet!« Horst schlug mit einer Hand auf den Lenker, sodass die Klingel leise bimmelte.

»Papa!«

»Was denn?«

»Es steht doch gar nicht fest, dass er wirklich etwas damit zu tun hatte.«

»Aber Anna, er hat es so gut wie zugegeben! Das hast du selber gesagt. Außerdem hat er dich krankenhausreif geschlagen«

»Na ja, ich …« Sie stockte. Es war schwer zu erklären. Sie hatte in den letzten Wochen immer wieder über Sems Worte nachgedacht, hatte sie im Kopf hin und her gewälzt und versucht, einen Sinn daraus zu ziehen. Dass sie das Bewusstsein verloren hatte nach dem Gespräch, war nicht hilfreich, sie konnte nicht ganz sicher sein, sich richtig zu erinnern, auch wenn sie eigentlich das Gefühl hatte, jedes einzelne Wort von ihm noch zu höre: Deine schöne Schwester mit dem schwarzen Haar wie Schneewittchen, und den Sommersprossen und den Augen, die aussahen wie die Wellen an einem stürmischen Sommertag. »Ich bin mir nicht sicher, wie er es gemeint hat«, sagte sie schließlich. »Er weiß etwas, das steht fest. Aber er wirkte so … verzweifelt. Und als ich ihn gefragt habe, also direkt gefragt, was er meinte, als er von Anouk gesprochen hat, da war dieser seltsame Ausdruck in seinem Gesicht. Es wirkte fast, als sei er … traurig über ihren Tod.«

Ihre Mutter gab ein ersticktes Geräusch von sich. Für Gloria war es besonders schwer gewesen, zu akzeptieren, dass die Femke und ihr Sohn etwas mit dem Tod ihrer Tochter zu tun hatten. Die Femke hatte jahrelang Glorias hilfsbedürftige Mutter gepflegt, sie war in ihrem Elternhaus ein und aus gegangen, sie hatte auf Anna aufgepasst, als sie nach dem Anruf von der Polizei im Krankenhaus waren und mit gebrochenen Herzen nach Hause kamen. Gloria selbst hatte ihr diese Verantwortungen überlassen, und nun musste sie damit leben, dass sie eventuell eine Mörderin in ihr Haus gelassen hatte.

»Also, was ist? Probieren wir nun diesen Seetangburger, von dem du immer sprichst und vor dem ich mich ein bisschen fürchte?«, fragte Annas Vater.

Sie nickte. »Am besten schließt du dein Rad irgendwo an. Für wie lange hast du es ausgeliehen?«

»Zwei Tage. Dachte, ich mache Nägel mit Köpfen. Ich kann dem Inselkäse einfach nicht widerstehen, und Regina klagt schon so lange über meine Figur. Muffin Top nennt sie das. Hast du das schon mal gehört, was soll das überhaupt sein?«

Anna hatte Harry in den Korb gehoben, der vorne auf das E-Bike montiert war, und ging nun langsam neben ihrem Vater her, der das Rad über das Kopfsteinpflaster schob. »Ja, das sind die Speckröllchen, die über den Hosenbund quellen wie Muffinteig über den Rand der Papierform!«, erklärte sie lachend.

Ihre Mutter hatte sich bei ihr untergehakt und schmunzelte jetzt mit spitzem Mund. »Die kriegst du mit ein bisschen Radeln nicht weg, Horst. Vor allem nicht, wenn du nur oben drauf sitzt und die Turbofunktion die Arbeit machen lässt. Ich sage schon seit Jahren, du sollst dich wieder beim Tennis anmelden. Irgendwann ist es zu spät, und Regina verlässt dich für einen fitteren Kollegen.«

»Ach was, sie liebt meine Kurven«, erwiderte ihr Vater unbeeindruckt. »Außerdem habe ich überlegt, mit Yoga anzufangen«, setzte er hinzu, und Anna verschluckte sich an ihrem Kaugummi.

2

Die Polizeiwache von Texel war ein hässlicher Neubau am Rande der Hauptstadt Den Burg. Eine zerstreut wirkende Sekretärin, die sie aber neugierig musterte, nachdem sie erklärt hatten, warum sie da waren, führte sie den Gang entlang zu einem verglasten Büro. Anna hatte das Gefühl, hier schon einmal gewesen zu sein, auch wenn sie sich nicht erinnern konnte, dass ihre Eltern sie jemals mitgenommen hatten. An einem großen Holztisch saß Hauptkommissar Sanders, den Anna noch verschwommen von früher kannte, neben ihm ein Mann Mitte vierzig, mit rotem Bart. Beide tranken Kaffee und waren in ein Gespräch vertieft. Sobald er sie durch die Schreibe gewahrte, stand Sanders auf, und als sie eintraten, umarmte er zu Annas Überraschung zuerst ihre Mutter und dann ihren Vater, dem er auf den Rücken klopfte, als wären sie alte Freunde, die sich lange nicht gesehen hatten. Ihr wurde schlagartig klar, wie viel sie damals nicht mitbekommen hatte. Sie war noch so jung gewesen, dass ihre Eltern alles, was die Ermittlungen anging, so gut wie möglich von ihr abgeschirmt hatten. Aber anscheinend hatte sich so einiges abgespielt, von dem sie nichts wusste.

»Gloria, Horst. Wie lange ist das her? Schön, euch wiederzusehen, auch wenn ich mir natürlich andere Umstände gewünscht hätte.« Sanders deutete auf die bereitgestellten Stühle. »Anna!« Er lächelte und schüttelte auch ihr die Hand. »Ich erinnere mich noch gut an dich!«

Anna konnte das leider nicht erwidern, sie wusste gerade mal seinen Namen. Aber sie mochte ihn sofort, er wirkte ehrlich und klug, genau wie man sich einen Hauptkommissar vorstellte. Nur hatte das auch nicht geholfen, den Tod ihrer Schwester aufzuklären. Aber anscheinend nahmen ihre Eltern ihm nicht übel, dass es auch nach so vielen Jahren noch keine Spur gab. Er wirkte wie ein Mann, der alles in seiner Macht Stehende getan hatte und mit sich im Reinen war. Manche Fälle, dachte Anna, als sie sich setzte, konnten vielleicht einfach nicht gelöst werden.

Auch der rothaarige Mann stand nun auf und schüttelte ihnen die Hände. Sanders stellte ihn als Kommissar Neeson vor. »Cold Cases«, fügte er hinzu, und sie sahen sich überrascht an.

Er nickte. »Wie ihr sicher wisst, ist die Gesetzeslage in unserem Land etwas anders als bei euch. In Deutschland verjährt Mord nicht, hier jedoch schon. Trotzdem ist es nicht so, dass wir nach Ablauf der Fristen einfach aufhören zu suchen. Wann immer es neue Hinweise gibt, wird gefahndet. Dass Anouk die deutsche Staatsangehörigkeit hatte, erleichtert die Sache. Bei einem solchen internationalen Fall gäbe es eventuell die Chance, die Verjährung auszusetzen. Außerdem wissen wir ja auch nicht mit Sicherheit, dass sie einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen ist, auch wenn einiges darauf hindeutet. Langer Rede kurzer Sinn«, er lächelte Anna beruhigend zu, die erschrocken zusammengezuckt war, »die neuen Hinweise haben mich dazu veranlasst, Unterstützung in Den Haag anzufragen. Ich möchte euch keine falschen Hoffnungen machen, es ist sehr gut möglich, dass niemals jemand zur Verantwortung gezogen werden kann. Aber ich bin persönlich der Meinung, dass wir trotzdem nicht aufgeben sollten. Neeson hier wird sich der Sache annehmen.«

»Aber, warum kannst du das denn nicht selbst machen?«, fragte Gloria erschrocken.

Sanders schien die Frage erwartet zu haben. »Weil ich sechsundsechzig bin!«, erwiderte er ruhig. »Es wird Zeit, das Ruder abzugeben, ich gehe im Sommer in Pension. Außerdem bin ich kein Cold Cases Spezialist. Neeson hier schon!« Er deutete auf seinen Kollegen, der ihnen ruhig entgegenblickte. »Er ist nun seit vier Jahren bei den Cold Cases. Er hat den Seilmord in Den Haag aufgeklärt, ihr habt vielleicht davon gehört.«

Sie nickten alle, denn sie kannten den blutigen Fall aus den Zeitungen. Annas Mutter schien etwas beruhigter und musterte Neeson neugierig, wenn auch noch misstrauisch. Er begegnete ihrem Blick und hielt ihm stand. Anna fand das gut. Man durfte sich von ihrer Mutter nicht einschüchtern lassen.

Neeson räusperte sich und lehnte sich ein wenig im Stuhl vor. Er hatte eine tiefe Stimme und einen merkwürdigen Akzent, den Anna nicht einordnen konnte. »Wir haben in den Niederlanden in jeder Polizeiregion eine Cold-Cases-Einheit«, erklärte er. »Ich habe darum gebeten, mit diesem Fall betraut zu werden. Er hat mich schon immer … wie soll ich sagen … fasziniert.« Annas Vater runzelte bei diesen Worten die Stirn, aber Neeson sprach schnell weiter. »Es geschehen nicht oft Verbrechen auf der Insel. Ich bin hier aufgewachsen, und auch wenn ich jetzt nicht mehr dauerhaft hier lebe, so ist es mir eine Herzensangelegenheit.«

»Wenn Sie nicht hier leben, wie wollen Sie dann an dem Fall arbeiten?«, fragte Annas Vater.

»Ich bin vorübergehend hierher versetzt. Das wird oft so gehandhabt, wir haben eben nicht überall geschulte Leute vor Ort. Erst mal für einen begrenzten Zeitraum, in dem ich hoffentlich mit den Ermittlungen vorankomme. Danach wird ausgewertet und neu entschieden, ob wir weitermachen.«

Ihr Vater nickte. »Also wenn Sie nichts herausfinden, dann wird der Fall wieder vergessen?«, fragte er ohne direkten Vorwurf, aber mit einer tief sitzenden Verbitterung in der Stimme.

»Er wird niemals vergessen«, widersprach Neeson so nachdrücklich, dass Anna überrascht aufblickte und auch ihr Vater nichts mehr erwiderte, sondern sein Gegenüber interessiert musterte. »Ich kann Ihnen nur versichern, dass ich mein Möglichstes tun werde. Es wird schwierig, sicher. Nach so langer Zeit ist es immer schwierig. Aber es gibt neue Entwicklungen, neue Wege, die wir noch nicht gegangen sind.« Er schlug ein Notizbuch auf und drückte ein paar Mal mit dem Daumen auf seinen Kuli, sodass es leise klackte. »Wie lange sind Sie noch auf der Insel?«, frage er und sah erst Annas Mutter, dann ihren Vater an.

»Bis übermorgen«, antworteten beide gleichzeitig.

Er nickte und machte sich eine Notiz. »Ich möchte mit Ihnen Einzelgespräche führen. Wann immer es Ihnen passt. Es wird eine Weile dauern, also planen Sie bitte ein wenig Zeit ein.« Er sah Anna an. »Wir zwei können auch einen späteren Termin ausmachen, Sie laufen mir ja nicht weg.«

Sie fand die Formulierung etwas seltsam, nickte aber. »Das stimmt.«

»Gut, wann würde es ihnen passen, Gloria?«

Er verabredete sich mit ihren Eltern für den nächsten Tag und mit Anna zu einem Treffen in der kommenden Woche. Als sie sich von den Beamten verabschiedet hatten und wieder draußen waren, standen sie einen Moment etwas verloren auf dem Parkplatz herum.

»Nun, das ist vielleicht gar nicht schlecht.« Ihr Vater rieb sich erschöpft die Stirn. »Ich mag Sanders, aber man muss es ja einmal aussprechen, viel erreicht hat er nicht.«

Gloria stimmte ihm zu. »Ich hatte denselben Gedanken. Es ist seltsam, dass er nicht mehr der Verantwortliche sein wird, aber wir können es nicht ändern, und Neeson wirkt zumindest … entschlossen.«

Ihr Vater nickte. Dann wandte er sich Anna zu. »Also, morgen Abend lernen wir ihn dann endlich richtig kennen, deinen Schweden?«, fragte er, und Anna zuckte kurz zusammen, weil sie mit den Gedanken ganz weit weg gewesen war.

»Äh, ja sicher!«, bestätigte sie. Innerlich stöhnte sie auf. Das hatte sie für einen Moment ganz vergessen.

Ihre Eltern und Ole waren sich noch nicht begegnet. Das Letzte, worauf sie Lust hatte, war ein steifes Abendessen mit ihren verfeindeten und momentan sichtlich aufgewühlten Eltern und ihrem neuen Freund. Sie hatte Angst, wie sich ein solches Zusammentreffen auf ihre Beziehung auswirken würde, die sie zwar eigentlich als stabil einschätzte, die aber nichtsdestotrotz noch zu neu war, um schon so auf den Prüfstand gestellt zu werden. Sie würden sich aus der Perspektive ihrer Eltern sehen, die immer alles genau wissen wollten und zu viele Fragen stellten. Fragen, über die sie und Ole selbst noch nicht gesprochen hatten, da war sie sicher.

3

»Ich dachte, Sie sind Handwerker!« Gloria ließ überrascht ihr Glas sinken.

Ole lächelte. »Du, bitte. Und na ja, die Annahme liegt nahe, schließlich habt ihr mich ja kennengelernt, als ich Annas Laden renoviert habe. Aber nein. Ich bin Handwerker, aber nur, wenn ich kein Tierarzt bin.«

»Also warum hast du das denn nicht erzählt?« Empört wandte Gloria sich an ihre Tochter.

»Ich dachte irgendwie, das hätte ich bereits.« Anna zuckte die Schultern. »Wir haben ja nicht so oft gesprochen in letzter Zeit, und wenn, dann ging es um andere Dinge …«

»Wirklich, Anna, das hättest du ja nebenbei einmal erwähnen können.«

Anna tauchte gerade ein Stück Weißbrot in eine kleine Pfütze grün-goldenes Olivenöl. »Tut mir leid!« Genervt nahm sie einen Schluck von ihrem Eistee.

»Gloria, es ist doch klar, dass sie anderes im Kopf hatte.« Ihr Vater legte seiner Ex-Frau beruhigend eine Hand auf den Arm, und sie warf ihm einen wütenden »Nun-tu-nicht-so-verständnisvoll«-Blick zu.

»Du bist also Tierarzt, das ist ja mehr als interessant. Hast du eine eigene Praxis?«, fragte Horst dann, an Ole gewandt.

»Noch nicht, ich bin momentan eher auf Dackel spezialisiert.« Ole zwinkerte Anna zu, die sich in ihrem Stuhl zurücklehnte und dabei zusah, wie ihre Eltern ihn in die Mangel nahmen und ihn ausquetschten, als säße er auf der Anklagebank. Er schlug sich gut, wenn er auch ab und zu ins Straucheln kam, als er zum Beispiel nicht erklären konnte, warum er sich für ein Haus verschuldet hatte, obwohl er alleinstehend war, und warum er so lange nach seinem Studienabschluss noch keine eigene Praxis hatte. Allerdings ließ mit der Zeit die Intensität des Kreuzverhörs nach. Fast konnte sie dabei zusehen, wie ihre Eltern sich entspannten. Das Lachen wurde lauter, die Unterhaltung flüssiger, und ihr Vater bestellte eine zweite Flasche Wein.

Ole hatte sie eingewickelt.

Ich hätte auf seinen Charme vertrauen sollen, dachte Anna und lächelte in sich hinein, während sie einen Bissen von ihrer gefüllten Paprika nahm. Sie saßen bei Tom im Strandpaal und schauten zu, wie der glühende Ball der Abendsonne langsam in den schäumenden Wellen versank.

Tom hatte sich selbst übertroffen und ein richtiges kleines Büfett vor ihnen aufgebaut. Sein bester Tisch war für sie eingedeckt gewesen, und er hatte sich strikt geweigert, ihnen die Speisekarten zu überlassen. »Lehnt euch einfach zurück!«, hatte er gesagt und verschwörerisch gelächelt. Gloria hatte ein wenig protestiert, es war nicht ihre Art, sich vorschreiben zu lassen, was sie zu essen hatte, aber nach ein paar klaren Worten, die Anna in ihr Ohr zischte, hatte sie sich grummelnd gefügt und schien nun mehr als zufrieden mit der Auswahl, die Tom ihnen aufgetischt hatte. Außerdem hatte er ihr die Jacke abgenommen und den Stuhl zurückgezogen, und Anna hatte genau gesehen, dass ihre Mutter die Aufmerksamkeit genoss.

Als sie schließlich ihre Eltern in ein Taxi verfrachtet hatten und im Auto Richtung Stormvogel fuhren, Oles Haus in den Dünen, war Anna erschöpft wie schon lange nicht mehr, aber auch von jener beschwipsten Glückseligkeit erfüllt, die man nur bekommt, wenn ein drohendes Übel plötzlich abgewendet war und die Erleichterung darüber zusammen mit dem Alkohol ein beinahe schwereloses Gefühl der Zufriedenheit in einem auslöste. Es waren anstrengende Tage gewesen. So schön es auch war, ihre Eltern bei sich zu haben, die angespannte Situation zwischen den beiden und noch dazu der mehr als bedrückende Grund, aus dem sie diesmal auf der Insel waren, hatten dazu beigetragen, dass sie unter einer Daueranspannung litt, die nun langsam, Tröpfchen für Tröpfchen, von ihr abperlte. Die Gespräche mit Kommissar Neeson am Nachmittag hatten ihre Eltern zusätzlich aufgewühlt, und sie hatte dem Abend mit wachsendem Unmut entgegengesehen. Nun wusste sie nicht mehr, wovor sie eigentlich solche Angst gehabt hatte.

»Du bist einfach toll!«, sagte sie, und Ole sah sie verwundert an.

»Das klingt, als hättest du das gerade erst gemerkt.«

»Es ist mir heute Abend noch einmal ganz deutlich geworden«, sagte sie und lehnte sich im Sitz zu ihm rüber, sodass sie ihn küssen konnte. Eigentlich hatte sie nur einen kurzen Schmatzer beabsichtigt, aber er roch so gut, dass sie gleich an seinem Hals hängen blieb.

Ole grunzte verzückt. »Ist da jemand vielleicht leicht angetrunken?« fragte er lächelnd und fuhr fast in den Graben, als Anna plötzlich sanft zubiss.

»Vielleicht leicht«, lachte sie, und er schubste sie auf ihre Seite zurück. »Wenn du nicht an einem Baum enden willst, hörst du damit lieber sofort auf«, brummte er.

Im Stormvogel angekommen, wollte keiner von ihnen den Abend schon beenden. Sie waren so gut gelaunt, dass sie in der Küche ein paar Songs zu den Klängen aus Oles altem Radio tanzten, in Socken über den Holzboden schlitterten und sich dabei gegenseitig in Showeinlagen überboten, bei denen Schneebesen und Kochlöffel als Mikro fungierten. Aber weil Harry, von ihrer ausgelassenen Stimmung angesteckt, irgendwann anfing, wie verrückt zu bellen, sich im Kreis drehte und im Übermut versuchte, in ihre Hosenbeine zu beißen, beschlossen sie, doch lieber ins Wohnzimmer überzusiedeln. Ole holte Scheite aus dem Schuppen und entfachte ein Feuer im Kamin, während Anna Rotwein aufwärmte und eine Prise Nelken und Zimt hinzugab.

Als das Feuer knisterte und der Schein der Flammen das offene Gebälk des Wohnzimmers rot erglühen ließ, holten sie ihre Bettdecken und setzen sich auf den Teppich. Ole schob die Terrassentür auf, damit sie die Wellen hören konnten, deren Schall hier in besonders stillen Nächten über die einsame Heide wanderte.

Harry sprang auf Annas Bauch und kuschelte sich dort ein, Anna lehnte sich an Oles Brust und zog die Decken über sie drei. So saßen sie eine ganze Weile einfach da, lauschten dem Feuer und den Wellen, während das Licht des Leuchtturms über die Wände geisterte und aus ihren Tassen der Dampf aufstieg.

Obwohl durch die offene Tür eisige Winterluft zu ihnen hereindrang, die nicht mal die Flammen erwärmen konnten, genoss Anna jede Sekunde. Der Geruch nach Salz, Rotwein, Holzfeuer und Kälte war eine betörende Mischung. »Ich könnte ewig hier so sitzen!«, sagte sie leise und drückte Oles Hand, die warm auf ihrem Bauch lag.

»Ich auch«, brummte er, und sie hörte, dass er lächelte. »Wusstest du eigentlich, dass ich genau das von Anfang an so an dir mochte?«

»Meinen Nacken?«, fragte Anna erstaunt, denn er hatte gerade begonnen, langsam ihren Hals abzuküssen. Ole schnaubte belustigt, und sein warmer Atem kitzelte sie im Ohr.

»Den natürlich auch. Aber ich meinte, dass du in einer eisigen Winternacht den Wellen zuhören willst. Dass es dir nicht zu kalt oder zu ungemütlich ist. Dass du diese Dinge genauso magst wie ich.«

Auch Anna musste lächeln und drehte sich vorsichtig zu ihm um, damit sie Harry nicht weckte, und küsste ihn. »Wir passen schon ganz gut zusammen, was?«, fragte sie neckisch, und er nickte.

»Weißt du übrigens, von wo aus man die Wellen auch ganz wunderbar hören kann?« Ole hatte jetzt ein listiges Funkeln in den Augen. »Vom Schlafzimmer!«

»Ach, was du nicht sagst, das ist mir ja noch gar nicht aufgefallen!« Anna verschränkte die Hände in seinem Nacken, damit sie ihn besser küssen konnte. »Das musst du mir unbedingt zeigen!«

»Zu Befehl!« Ole sprang auf und schaffte es, sowohl Anna als auch Harry in einem Schwung hochzuheben, sodass Anna erschrocken aufkreischte und sich an seinen Hals klammerte.

»Oh, mein Kreuz! Harry muss unbedingt auf Diät gesetzt werden!«, stellte Ole fest und schaukelte sie beide prüfend in seinen Armen hin und her, als wolle er ihr genaues Gewicht bestimmen.

»Nein, das bin ich. Ich habe heute viel zu viel Pasta gegessen!«, sagte Anna gut gelaunt und biss ihn ins Ohr, während sie mit einer Hand Harry festhielt, der irritiert knurrte und versuchte, auf ihrem Bauch das Gleichgewicht zu halten.

»Ach so, verstehe. Na schauen wir mal, ob ich es bis nach oben schaffe!«

»Ich bin da ganz zuversichtlich!«, lachte sie. »Aber weißt du, ich kann auch selber laufen!«

»Ja, aber so ist es doch viel romantischer. Heb mal eben noch die Decken auf, die brauchen wir!«, befahl Ole und kippte sie in seinen Armen nach unten, sodass sie nach den Decken angeln konnte. Genau in diesem Moment sprang Harry bellend auf, stieß Anna unsanft die Pfoten in den Magen und sprang über ihr Gesicht hinweg auf den Boden. Anna zappelte erschrocken, und als Antwort ließ Ole sie fallen. Sie landete mit einem dumpfen Rumms auf den Decken. Harry schoss bellend zur offenen Tür hinaus, wo er anscheinend gerade ein paar Gänse oder Enten gehört hatte, die er nun unbedingt vertreiben musste.

»Aua!« Anna lachte und rieb sich den Hintern.

»Tschuldigung, aber du hast so gezappelt!« Ole ging zur Tür und schob sie zu. »Ist vielleicht ohnehin besser, wenn er kurz draußen bleibt!«, sagte er zwinkernd. Harry hatte die Angewohnheit, immer dazwischen zu gehen, wenn sie sich näherkamen, sodass sie ihn ziemlich oft ins Bad sperren mussten.

»Ja. Und bleiben wir doch auch einfach hier, jetzt lieg ich ja schon mal!«, sagte Anna und streckte die Arme nach Ole aus.

»Gute Idee, mein Rücken hat auch schon gefährlich geknackt!« Ole grinste und warf sich mit einem Satz auf Anna und den Deckenhaufen. Sie wich kreischend aus, doch er zog sie in seine Arme.

4

Am nächsten Tag brachte Anna ihre Eltern zur Fähre, und das Gefühl der schwerelosen Erleichterung des Vorabends, das zuvor leider parallel mit Abnahme des Alkoholpegels gesunken war, stellte sich wieder ein. Sie liebte ihre Eltern, aber einer alleine war schon anstrengend. Beide zusammen waren schlicht und einfach zu viel des Guten.

Als das Schiffshorn blies und das Wasser um den Anlegesteg schäumte, winkte Anna glücklich den vielen Leuten an Bord, unter denen sich irgendwo Horst und Gloria befanden, wahrscheinlich schon in den nächsten Streit vertieft, und dachte, dass doch gerade eigentlich alles ganz gut aussah. Der Besuch war überstanden, der Fall Anouk war an einen Kommissar übergeben worden, der sich sicherlich gewissenhaft darum kümmern würde, und ihre Eltern hatten Ole kennengelernt und sie nicht blamiert. Augenscheinlich fanden sie ihn sogar toll. »Ein wenig unorthodox für einen Tierarzt, aber generell reizend«, waren die abschließenden Worte ihrer Mutter gewesen, und Anna fand, dass es das genau traf.

Auf dem Nachhauseweg kaufte sie ein und holte zwei große Pizzen mit Ananas und Brokkoli von Mario, der ihr wie immer eine Gratis-Tüte Knoblauchbrot und eine Flasche Wein obendrauf legte. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, womit ihm Ole damals so aus der Patsche geholfen hatte, dass der Pizzabäcker ihm und seinen Freunden noch Jahre später das Essen hinterherwarf. Aber die beiden waren, was diese Sache anging, seltsam verschwiegen, und so bohrte sie nicht nach und freute sich einfach über ihr Knoblauchbrot.

Als sie Giovanni, ihren Ford, in die Einfahrt des Hofes lenkte, blockierte ihr ein Postauto den Weg. Auf der Motorhaube saß ein junger Mann und rauchte eine Zigarette. Als er die Reifen knirschen hörte, drehte er sich um.

Anna kurbelte die Scheibe herunter.

»Na wunderbar, dass Sie kommen. Hab mir gedacht, ich rauch schnell eine, vielleicht hab ich ja Glück, und es taucht noch wer auf«, rief er. Er blies weißen Rauch aus der Nase, kramte dann im Auto herum und hielt ihr schließlich einen Umschlag hin. »Hab ’n Einschreiben!«

Anna kritzelte verwundert aus dem Autofenster hinaus ihre Unterschrift auf sein elektronisches Pad und setzte dann zurück, damit er aus der Einfahrt fahren konnte. Der Brief sah wichtig aus, offiziell. Sie warf ihn auf den Beifahrersitz und blickte ihn misstrauisch an. Sie würde mit dem Öffnen noch bis nach der Pizza warten, denn sie hatte so ein Gefühl, dass er nichts Gutes verhieß. Wann bekam man schon jemals offizielle Post, in der etwas Positives stand. Notariskantoor Mesmann, stand auf dem Absender.

»Ein Notariat … seltsam«, murmelte sie und nahm beim Aussteigen den Brief in den Mund, um die Hände freizuhaben. Sie klemmte sich die Pizzakartons unter den Arm, packte Knoblauchbrot, Wein und ihre Handtasche obendrauf und nahm die Einkaufstüte unter den anderen Arm, damit sie nicht zweimal laufen musste. Als sie abschloss, ließ ein lautes Bellen sie zusammenzucken, dem gleich darauf ein Winseln folgte. »Oh nein, Harry. Tut mir leid, ich hab dich ganz vergessen.« Sie wuchtete die Pizzen auf das Autodach und befreite Harry, der beleidigt an ihr vorbeischoss und zum Nachbarhof rannte.

»Hey, es gibt gleich Abendessen!«

Er ignorierte sie und hielt auf den Hühnerpferch zu.

»Okay, eine halbe Stunde. Aber frag erst, ob sie Zeit zum Spielen haben!«, rief Anna und belud sich erneut mit ihren Einkäufen. »Und du musst heute auch baden!«

Der Postmann, der gerade bei ihrem Nachbarn Luuk etwas eingeworfen hatte, sah sie stirnrunzelnd an, als er in sein Auto stieg. Er schien zu denken, dass sie eine ziemlich ordentliche Meise hatte.

In der Küche ließ sie Pizzen und Tüten auf das rote Samtsofa fallen und riss noch im Stehen den Brief auf. Plötzlich konnte sie keine Sekunde länger warten. Mit gerunzelter Stirn überflog sie den Inhalt. Dann griff sie zum Handy.

»Ich habe ein Einschreiben von einem Notar bekommen«, rief sie ohne Begrüßung ins Telefon.

»Ich auch!«, antwortete Ole verwundert.

»Was, und da rufst du mich nicht sofort an?«

»Habe ich, du bist nicht rangegangen!«

»Oh.« Anna sah auf das Handy und bemerkte jetzt erst die zwei verpassten Anrufe.

»Ups. Tut mir leid, nicht gehört. Was steht in deinem drin?«

»Eine Vorladung zur Testamentseröffnung von Roos«, sagte er, und sie konnte an seiner Stimme hören, wie sehr er sich darüber wunderte.

»Bei mir auch! Ist das nicht seltsam? Sie hat ein Testament? Und anscheinend sind wir darin erwähnt. Aber warum erfahren wir das erst jetzt? Ihre Beerdigung ist doch schon Wochen her.«

»Ich verstehe es auch nicht.« Ole klang so ratlos, wie sie sich fühlte. »Vielleicht dauert es, so etwas zu regeln. Ich habe damit keine Erfahrung. Ich schätze, wir werden hingehen müssen und es herausfinden.«

»Ja.« Anna hatte ein mulmiges Gefühl. »Es bringt wohl nichts, sich jetzt verrückt zu machen. Wann kommst du? Ich habe Pizza geholt.«

»Oh.«

»Was?«

»Ich habe auch Pizza geholt.«

»Ernsthaft? Da hätte Mario ja ruhig mal einen Ton sagen können.«

»Er traut wahrscheinlich jedem von uns zu, locker zwei Pizzen zu schaffen, und hat sich nicht groß gewundert.«

»Ja, das würde es erklären«, lachte Anna und legte auf.

5

Wie immer, wenn sie die Tür zum Laden öffnete und der Geruch nach altem Holz und Blumen in ihre Nase drang, überflutete Anna ein seltsames Gefühl. Den verrosteten Schlüssel ins Schloss zu stecken, die kleinen Glöckchen über der Tür bimmeln zu hören, als Erstes die Kaffeemaschine anzuschmeißen und den Ofen zu befeuern, das alles war noch vor ein paar Wochen wie Nachhausekommen für sie gewesen. Ein kleines Ritual, auf das sie sich jeden Morgen gefreut hatte.

Nun versetzte ihr allein der Anblick des Hauses, in dem sich ihr Blumenladen befand, einen Stich ins Herz.

Früher war der Laden ihr kleines Refugium gewesen. An die Theke gelehnt einen Espresso zu trinken, über die Blüten nach draußen auf die kleine Gasse zu blicken, wo Anton im Schnapsladen seine Flaschen sortierte und Leentje frischen Streuselkuchen in die Bäckertheke legte, hatte ihr ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit verliehen. Sie gehörte dazu, sie war ein Teil der kleinen Stadt, ein Teil der Insel. Und Roos nebenan zu wissen, nur darauf zu warten, dass sie anrufen oder an die Scheibe des Hinterzimmers klopfen würde, um einen Tee mit ihr zu trinken oder neuen Kuchen zu bringen, hatte dazu beigetragen, dass sie sich hier endlich zu Hause und nicht mehr einsam fühlte.

Anna seufzte tief. Sie stand an ihrem Pflanztisch, aber ihre Hände ruhten schon seit beinahe zehn Minuten bewegungslos auf einem Strauß Levkojen. Traurig sah sie sich um. Die knarzenden Dielen und der kleine, mit Eis überzogene Hinterhof, der bollernde Ofen, Harry in seinem Körbchen … der Laden hätte in diesem Moment gar nicht gemütlicher sein können. Und doch fühlte es sich falsch an, fremd. Als habe sich etwas Unsichtbares verschoben und die Welt aus den Angeln gerückt. Plötzlich war sie wieder einsam hier, auf der kleinen Insel inmitten des dunklen, kalten Meeres. Nicht nur Roos’ Tod, auch die Tatsache, dass der Laden Sem gehörte, dass er ihn ihr jederzeit wegnehmen konnte, trug dazu bei, dass sie sich hier nicht länger sicher fühlte.

Außerdem wusste sie genau, dass sie auf der Insel gerade Gesprächsthema Nummer eins war, dass die Menschen über sie flüsterten, sie beobachteten. Niemand wusste genau, was geschehen war, aber alle wussten, dass Anna mit Roos’ Tod und Sems Verhaftung zu tun hatte. Die Gerüchteküche brodelte.

Sie blickte auf ihre Hände und griff dann entschlossen nach der Blumenschere. Auch wenn sie nicht wusste, wie es weitergehen sollte, noch hatte sie einen Laden. Sie würde die Zähne zusammenbeißen und sich dem stellen, was auf sie zukam.

Nur war das leichter gesagt als getan.

Sie hatte sich solche Mühe gegeben, alles herbstlich zu dekorieren, überall Kerzen aufgestellt, Kürbisse ausgehöhlt und bepflanzt und Tannenzapfen an die Decke gehängt. Blumen über Blumen warteten in ihren Eimern auf ein neues Zuhause. Bereits seit über einer Stunde hatte sie geöffnet, aber es waren bisher kaum Kunden hereingetröpfelt, und fast alle hatten nur über Roos sprechen wollen.

Aber Anna konnte nicht über Roos sprechen.

Deswegen war sie freundlich gewesen, hatte jedoch auch jeden Versuch einer längeren Konversation sofort abgeblockt. Viele meinten es gut, die meisten aber waren einfach nur neugierig.

Sie legte die Schere wieder hin, ging zu Harry, bückte sich und streichelte ihm über den Bauch. Er lag auf dem Rücken neben dem Feuer und schnarchte leise. Als er sie spürte, öffnete er ein Auge, leckte ihr liebevoll über die Hand und schlief sofort wieder ein. »Ich wäre auch gerne so sorglos wie du!«, flüsterte sie. Dann ging sie nach vorne zur Theke und schmiss die Kaffeemaschine an. In einer Stunde würde Britt sie zur Mittagspause abholen, und heute Abend wollten sie mit Ole und seinen Eltern Viola und Henk zusammen im Stormvogel Käsefondue machen. Es war also nicht alles anders. Sie hatte noch ihre Freunde, sie hatte Ole und seine laute, lustige Familie, sie hatte den Stormvogel und den Bruijnshof, Harry, ihren Garten daheim und ihre Blumen.

Erst mal einen Kaffee, dachte Anna und roch an den duftenden Bohnen. Kaffee macht alles besser.

Eine Woche später kehrte sie abends müde nach Hause zurück. Der kleine weiße Bruijnshof, den Anna einst von ihren Großeltern gerbt hatte, war umgeben von knorrigen Apfelbäumen und nebligen Wiesen. Dunkel und verlassen lag er da, mit seinem Reetdach und dem schiefen Schafstall, und wie so oft wünschte sie sich, dass jemand hinter den Fenstern auf sie wartete, so wie früher. Nur auf dem Hof nebenan brannte Licht, aber ihr Verhältnis zu Luuk war sehr abgekühlt. Sie grüßten sich noch, wechselten manchmal ein paar Worte über den Zaun. Sie brachte nach wie vor ihre Gemüsereste zu seinen Wollschweinen und Harry lief fast jeden Tag rüber, um mit den Hühnern zu spielen, aber mehr wollte Anna vorerst nicht zulassen. Zwar teilten sie sich das Sorgerecht für Enie, Annas halbes Huhn, das Luuk ihr damals zum Einzug geschenkt hatte, aber Enie machte ohnehin meist ihr Ding, wanderte zwischen den Höfen hin und her, wie sie lustig war, und brauchte nicht viel Erziehung. Das war auch besser so, denn seit den Geschehnissen im letzten Jahr fand Anna, dass eine gesunde, höfliche Distanz ihr und Luuk gut tat.

Als Anna die Haustür aufschloss und das Licht anknipste, nahm sie sofort den altvertrauten Geruch nach Steinen, Kalk und Schafwolle wahr, der zwischen den Wänden hing. Heute schien der Geruch noch ein wenig stärker, ihr Gefühl beim Eintreten ein wenig wehmütiger als sonst.

Wahrscheinlich, weil sie gerade der Vergangenheit begegnet war.

Sie kam von ihrem Gespräch mit Kommissar Neeson, und obwohl es gut verlaufen war, hatte es sie doch stärker mitgenommen als erwartet. Sie warf ihre Handtasche in die Ecke neben der Treppe, zog die Schuhe aus und tapste in die Küche, wo sie sich auf das rote Samtsofa ihrer Großeltern fallen ließ, das sie gleich nach ihrem Einzug neben den Kamin geschoben hatte. Das Feuer war aus, aber sie hatte keine Energie, es anzuschüren.

So erschöpft hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt. Der Tag war ihr ewig erschienen. War es wirklich erst heute Morgen gewesen, dass sie hier am Tisch mit Harry zusammen Croissants und Porridge gefrühstückt hatte? Den ganzen Vormittag über hatte sie den Laden geputzt, das Fenster neu dekoriert, Sträuße gebunden, die niemand kaufte, und auf Kunden gewartet, die nicht kamen. Den Rest des Tages hatte sie von früher erzählt, was auf bestimmte Weise anstrengender gewesen war als all die körperliche Arbeit zuvor. Sie spürte eine tiefe Sehnsucht nach einem Teller Spaghetti und einer heißen Dusche. Und vielleicht einer Fußmassage. Für mindestens zwei dieser drei Wünsche brauchte sie aber eine andere Person, denn sie war viel zu müde, um noch Nudeln zu kochen, und ihre Füße selber zu massieren, war auch keine verlockende Aussicht. Leider war das Haus leer. Nicht mal Harry war da, den hatte sie bei Britt gelassen, um in Ruhe mit Kommissar Neeson reden zu können, und nun herrschte eine seltsame Stille um sie her. Aber eigentlich war sie froh, dass sie seine wuselige Lebhaftigkeit jetzt nicht erwidern musste. Duschen werde ich gerade noch schaffen, dachte sie, stand wieder auf und schleppte sich die knarzende Treppe hinauf in den ersten Stock. Dort gab es mehrere Zimmer, aber Anna benutzte nur eines. Seit ihrem Einzug hier bewohnte sie das alte Schlafzimmer ihrer Großeltern. Inzwischen hatte sie ihm ein neues Gesicht verpasst, die dunklen alten Möbel hellblau angemalt, geblümte Vorhänge aufgehängt und einen Lesesessel ans Fenster gestellt. Nun erinnerten einzig die Porträts auf der Kommode daran, wer hier einst gelebt hatte. Das niedrige Badezimmer mit den Holzdielen, der Blümchentapete und den türkisfarbenen Kacheln sah hingegen noch immer genauso aus wie früher. Hier fühlte sie sich immer, als wäre sie für einen Augenblick aus der Zeit gefallen, war wieder als kleines Mädchen den Sommer über hier auf dem Hof. Sie knipste die kleinen Lampen über dem Spiegel an und betrachtete einen Moment ihr erschöpftes Gesicht. Nein, sie war kein Kind mehr und dies war kein unbeschwerter Sommerbesuch. Dies war die Gegenwart.

Und momentan wollte sie am liebsten vor ihr davonrennen.

Als sie unter dem heißen Strahl stand und die Augen schloss, merkte sie, wie sehr sie das Gespräch aufgewühlt hatte.

Ole wollte mitkommen, Neeson wiederum hatte darauf bestanden, sie alleine zu treffen. »Die Menschen öffnen sich mehr, wenn niemand dabeisitzt, vor dem sie vielleicht Hemmungen haben«, hatte er am Telefon gesagt. »Ich führe solche Gespräche grundsätzlich unter vier Augen.«

»Aber ich war ja gar nicht dabei damals, ich weiß nichts, was Sie nicht auch wissen«, war ihr Einwand gewesen.

»Seien Sie sich da nicht zu sicher!«, hatte er gesagt und das Telefonat beendet.