Der Sommer der Inselblumen - Mina Gold - E-Book
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Der Sommer der Inselblumen E-Book

Mina Gold

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Beschreibung

Manchmal liegt das große Glück auf einer kleinen Insel

Als Anna vor den Trümmern ihres Liebeslebens steht, will sie nur eins: weg aus Hamburg. Kurzerhand zieht sie mit ihrem geliebten Zwergdackel Prince Harry auf die Nordseeinsel Texel. Dort möchte sie den Traum von einem eigenen Blumenladen verwirklichen, in dem sie ihre Kunden mit bunten Sträußen und duftendem Kaffee verwöhnen kann. Doch der Neubeginn fällt Anna schwerer als gedacht, denn die sturen Insulaner boykottieren ihren Laden. Und als wäre das nicht schon genug, wird sie mit einem dunklen Geheimnis aus ihrer Kindheit konfrontiert, vor dem sie immer geflohen ist und das sie nun nicht mehr loslässt. Aber zum Glück bekommt Anna Hilfe von dem charmanten Biobauern Luuk, der ihr Herz höher schlagen lässt. Und dann lernt sie ihre bezaubernde alte Nachbarin Roos kennen – und gemeinsam haben sie eine Idee, wie sie den Laden retten können …

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Seitenzahl: 684

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MINA GOLD, geboren 1987, besitzt einen Abschluss in Europäischer Literatur und arbeitet als freiberufliche Korrekturleserin und Lektorin. Um ihre Liebe zu schönen Dingen auszuleben, betreibt sie außerdem ein Schmucklabel. Gemeinsam mit ihrem Hund Rosali und ihrer Büchersammlung lebt sie in Berlin-Neukölln. Der Sommer der Inselblumen ist ihr erster Roman bei Penguin.

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MINA GOLD

DERSOMMER

DER

Insel

Blumen

ROMAN

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PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichen

von Penguin Books Limited und werden

hier unter Lizenz benutzt.Copyright © 2020 by Mina GoldCopyright © 2020 by Penguin Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Literaturagentur Dorothee Schmidt

Umschlag: bürosüd unter Verwendung von Motiven von bürosüd

Redaktion: Christina Riemann

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-24326-5V002

www.penguin-verlag.de

Für meine Schwester Emely

Und wüßtens die Blumen, die kleinen, Wie tief verwundet mein Herz, ie würden mit mir weinen, Zu heilen meinen Schmerz.

Heinrich Heine, Buch der Lieder

Schneeglöckchen

1

Als Erstes bestellte Anna immer einen Kaffee. Das war ihr Ritual. Erst wenn sie die dampfende Tasse auf dem Tablett zu einem Tisch am Fenster trug und die Fähre sich langsam in Bewegung setzte, konnte sie aufatmen.

Heute lag neben der Tasse Kaffee auch noch ein Zimtbrötchen. Der Zuckerguss lief glitzernd zu beiden Seiten hinunter und vermischte sich mit der Butter und den braunen Körnern. Eigentlich hatte sie mit dem Essen warten wollen, bis sie auf der Insel war, aber es sah zu verführerisch aus, und ihre Widerstandskraft war in sich zusammengefallen.

Der Duft, der von dem Gebäckstück ausströmte, ließ Annas Magen leise rumpeln, und schnell schälte sie sich aus ihrer Jacke. Sie war fünf Stunden durchgefahren und ausgehungert, ihre Vorräte hatte sie schon lange aufgebraucht. Bis auf das klein geschnittene Gemüse. Aber das schmeckte schon nach Tupperdose und war bereits trocken und schrumpelig geworden. Sie nahm immer viel zu viel davon mit, in der festen Absicht, sich auch unterwegs gesund zu ernähren, und dann kippte sie es meistens auf einem Rastplatz in den Mülleimer und holte sich doch einen Schokoriegel und ein belegtes Brötchen. Heute hatte sie sich keine Pause erlaubt, und das Gemüse faulte weiter in der Dose auf dem Beifahrersitz vor sich hin. Aber dafür hatte sie auch wie geplant die Nachmittagsfähre geschafft und würde auf Texel ankommen, bevor es dunkel war. Und deshalb gönnte sie sich nun diese dicke, zuckerbeschmierte Sünde. Wenigstens ihre Absicht war gut gewesen.

Sie biss ein so großes Stück ab, dass sie es unauffällig mit der Hand hinterherschieben musste, um es ganz in den Mund zu bekommen. Es schmeckte köstlich, der Hefeteig war noch warm.

Zwei bettelnde braune Augen trafen ihren Blick, und eine winzige Pfote legte sich zaghaft auf ihr Knie.

»Du darfst keinen Zucker, das weißt du genau!« Anna schubste Harry sanft auf den Boden zurück.

Der kleine Dackel winselte enttäuscht, rollte sich dann aber ergeben auf ihren Schuhen ein und legte seinen Kopf auf die Vorderpfoten. Er wusste, dass sie bei Süßigkeiten hart blieb, und hatte gelernt, nicht unnötig lange Zeit mit Betteln zu verschwenden. Seine Augen folgten dennoch stetig dem Zimtbrötchen, und wann immer sie es zum Mund beförderte, wanderten sie mit und verharrten für die Sekunde, die sie zum Abbeißen brauchte, sehnsuchtsvoll auf der Stelle, bevor sie sich wieder in Richtung Teller senkten.

Der Sitz unter ihr vibrierte, das Schiff hatte abgelegt. Anna hob den Blick und sah die Möwen. Die erste hatte sie bereits vor über einer Stunde auf dem Fahnenmast einer Autobahnraststätte erspäht. Bei jeder Fahrt wartete sie auf den Moment, in dem sie die erste Möwe auf den weiten flachen Wiesen oder in den kleinen Wassergräben entdecken würde. Dann wusste sie, dass es nicht mehr weit war. Die Möwen waren die Vorboten des Meeres, immer kam es ihr so vor, als würden sie nur auf sie warten, sie beobachten, einander zurufen, dass Anna auf dem Weg war. Jetzt wurde ihr Kreischen vom Dröhnen des Motors und dem Klirren und Stimmengewirr in der Cafeteria überdeckt, aber sie wusste, dass es da war, laut und schrill und beständig wie das Meer selbst. Durch das angelaufene Fensterglas wirkte es, als wären die Vögel in einem Aquarium gefangen. Sie folgten der Fähre in eleganten Schwingungen, umkreisten das Oberdeck in der Hoffnung auf Brotstückchen, die sie dann gekonnt im Flug auffingen und in einem Stück runterwürgten, während sie schon den nächsten Happen im Visier ihrer kleinen harten Augen hatten. Wie immer erinnerte Anna der Anblick der weißen Körper im Wind an früher, an die Überfahrten ihrer Kindheit, als sie die ganze Fahrt ans Geländer gepresst dagestanden und alle getrockneten Brotvorräte der letzten Wochen in den Wind geschleudert hatte. Stets hatte die beschützende Gestalt ihres Großvaters hinter ihr gewacht, sie an der Kapuze festgehalten, wenn sie sich zu weit nach vorne lehnte, und ihr neue Munition zugesteckt, wann ihre kleinen Hände es verlangten. Es war immer ihr Ziel gewesen, dass eines der Brotstückchen es zur Wasseroberfläche schaffte. Sie wollte sehen, wie es dort aufschlug, wollte sehen, wie die Wellen es erfassten und es in den Schaumkronen trieb. Aber die Möwen waren zu schnell. Sobald sie merkten, dass eine neue Futterquelle an Bord war, umkreisten sie Anna in wilden Scharen, schrien sich gegenseitig schrille Verwünschungen zu und fingen alles, was sie ihnen zuwarf, in Sekundenschnelle auf, noch bevor es überhaupt den Fall gen Wasser begonnen hatte.

Als sie nun an jenes kleine Mädchen dachte, das in einen roten Regenanzug gehüllt und mit einem Stoffhasen unter dem Arm dort gestanden hatte, und sie sich das geduldige, liebevolle Lächeln ihres Großvaters ins Gedächtnis rief, durchströmte sie jene traurige Sehnsucht nach ihrer Kindheit, die sie in den letzten Jahren so oft verspürte. Erst heute wusste sie zu schätzen, dass ihr Großvater jedes Mal mit der Fähre übergesetzt war, um sie auf dem Festland zu empfangen und mit ihnen zusammen die Überfahrt zur Insel anzutreten.

»Es ist vollkommen unnötig!«, hatte ihre Mutter immer gesagt.

»Es macht mir Freude«, hatte er mit ruhiger Stimme geantwortet, und sie konnte sich an kein einziges Mal erinnern, an dem er nicht auf dem Anlegesteg gewartet hatte, wenn sie mit dem Auto vorfuhren. Anna und Anouk hatten immer schon von Weitem nach seiner dunklen Gestalt Ausschau gehalten und hektisch zu winken begonnen, wenn sie ihn erspähten. Groß und unbeugsam wie eine Tanne im Wind, immer in die gleiche dunkle Wachsjacke gehüllt, hatte er wartend aufs Meer geblickt. Und erst wenn ihr Vater hupte, hatte er sich umgedreht, langsam, fast überrascht die Hand zum Gruß gehoben, und ein freudiges Lächeln hatte sein wettergegerbtes Gesicht in unzählige Falten gezogen.

Es war wirklich vollkommen unnötig, dachte auch sie nun jedes Mal, wenn sie sich dem Schiff näherte, und dann spürte sie einen seltsamen Druck auf dem Herzen. Erst nachdem es passiert war, hatte er nicht mehr auf sie gewartet. Von da an war der Steg leer gewesen. Aber sie wusste nicht mehr, ob es ihr damals überhaupt aufgefallen war. Sie waren danach ohnehin nicht mehr oft gekommen, und in ihrer Erinnerung hatten diese Besuche auch nichts mehr mit der Insel, ihrer Kindheit und ihrem alten Leben zu tun. Es waren Besuche in einem anderen Land, einer anderen Wirklichkeit. Immer wenn sie jetzt mit dem Auto auf den Steg fuhr, vermied sie den Blick zu der kleinen Plattform für Fußgänger. Sie wusste genau, dass sie den Geist eines großen, alten Mannes in einer dunklen Wachsjacke dort stehen sehen würde, der für immer hinaus aufs Meer blickte und auf zwei kleine Mädchen wartete, die niemals wiederkommen würden.

Sie fuhr ihren knatternden Ford von der Fähre, es donnerte zweimal laut, als die Stahlplanken des beweglichen Anlegestegs unter den Rädern nachgaben, und dann war sie auf der Insel.

Ein seltsames Gefühl kroch in ihr hoch. Es war die ganze Zeit schon da gewesen, irgendwo im Hintergrund, und jetzt ballte es sich in ihrem Magen zu einem Knoten zusammen. Harry hatte sich auf dem Beifahrersitz aufgestellt und sah aufmerksam aus dem Fenster, als wüsste auch er, dass sie gerade im Begriff waren, etwas Ungewöhnliches zu tun. Seine Ohren waren gespitzt, und er beobachtete mit wachsamem Blick die Polder und Wassergräben, die vor dem Fenster vorbeizogen. Er kam nicht zum ersten Mal auf die Insel, Anna hatte ihn oft mitgenommen in den letzten Jahren, wenn sie ihre Großmutter besuchte, aber er spürte wohl, dass diesmal alles ein bisschen anders war.

Es hatte zu nieseln begonnen, und der Himmel hing schwer über den winzigen Häusern. Ein schönes Willkommen, dachte Anna, lehnte sich am Steuer nach vorne, um besser sehen zu können, und machte die Scheibenwischer an. Sie bemühte sich, die düstere Wolkenbank, die sich am Horizont zusammenballte, nicht als ungutes Vorzeichen zu empfinden.

Bevor sie zum Hof fuhr, wollte sie einkaufen und nahm deshalb die Straße nach Den Burg. Es war der größte Ort hier, der Ort, in dem sie auch ihren Laden aufmachen würde. Auf der Insel gab es mehrere große Lebensmittelgeschäfte, sogar ein paar deutsche Discounter verschandelten das Bild, aber sie mochte diesen Supermarkt am liebsten, weil sie hier früher nicht oft eingekauft hatten. Sie wollte keine Erinnerungen. Jetzt noch nicht. Gedankenversunken schob sie den Einkaufswagen durch die Regale und warf alles hinein, was ihr nützlich erschien.

Hoffentlich funktioniert der Strom, dachte sie und warf Toilettenpapier in den Wagen. Und … o Gott, das Licht! Entsetzt stellte sie sich vor, dass sie ganz alleine in einem verlassenen alten Bauernhaus schlafen sollte, in dem sie kein Licht machen konnte, um die Geister in ihrem Kopf zu vertreiben, und entschlossen nahm sie zwei große Packungen mit Teelichtern, eine Zehnerpackung Streichhölzer, und dann wuchtete sie noch zwei große, überteuerte Säcke Brennholz in den Wagen, die es hier in jedem Supermarkt gab, weil die Feriengäste sich gerne nach ihren langen Strandspaziergängen am Kaminfeuer wärmten. Gerne hätte sie auch eine Taschenlampe mitgenommen, aber sie fand keine.

Sie kaufte Kaffee, Schokolade, eine Zeitung und ein paar Lebensmittel und rannte dann noch einmal zurück, um zwei große Wasserflaschen und Apfelsaft zu holen. Gedankenversunken starrte sie in den Wagen, sondierte den kleinen Haufen und fragte sich, was sie wohl alles vergessen hatte. Harry war jedenfalls versorgt, für ihn hatte sie für die ersten Tage alles aus Deutschland mitgebracht. Er war so sehr an sein extrazartes Futter gewöhnt, dass es seinen kleinen Hundemagen zu sehr durcheinanderbringen würde, wenn sie es plötzlich umstellte. Die Gerüche, die er absonderte, wenn sie von seinem Essensplan abwich, hatten einen so grauenvollen Verwesungscharakter, dass sie da lieber kein Risiko einging. Vorsorglich hatte sie eine ganze Palette Dosen bestellt und im Kofferraum mitgebracht. Sie selbst hatte keinen Hunger mehr und würde wahrscheinlich bis morgen früh gar nichts mehr brauchen, aber die Vorstellung eines leeren Kühlschrankes behagte ihr nicht. Anna kaufte immer lieber zu viel Essen als zu wenig.

Als alles im Kofferraum verstaut war, knallte sie die Klappe zu und stand dann einen Moment ratlos auf dem Parkplatz. Es war fast dunkel inzwischen, der Regen hatte nachgelassen. Menschen strömten geschäftig neben ihr auf und ab, schoben überfüllte Einkaufswagen durch die Pfützen auf dem Asphalt, plauderten fröhlich durcheinander. Sie wickelte ihre Jacke fester um sich und fühlte sich plötzlich allein. Sogar um diese Jahreszeit Ende Februar waren viele Feriengäste auf der Insel, die dem schlechten Wetter trotzten. Familien, Freunde, die zusammen eine schöne Zeit verbrachten, gerade fürs Abendessen einkauften und bald in ihre warmen, hell erleuchteten Häuser zurückkehren und gemeinsam kochen würden. Sie fühlte sich mit einem Mal ausgegrenzt, unsichtbar fast, als wäre sie ein Gespenst, das blass und durchsichtig zwischen den Menschen stand und nirgends dazugehörte, alles wahrnahm, aber selbst nicht gesehen wurde. Einen Moment lang spielte sie mit der Vorstellung, wie es wäre, mit einer dieser Familien ins Auto zu steigen, mit ihnen mitzufahren und Teil ihrer kleinen Einheit zu werden.

Sie rief ihre Mutter an und gab Bescheid, dass sie gut angekommen war.

»Wie ist es?«, fragte Gloria, und ihre Stimme klang angespannt.

»Komisch«, sagte Anna. »Anders.«

»Das war ja zu erwarten.«

»Ja.«

»Es wird schon werden. Wenn du dich einsam fühlst, ruf mich an, Annakind.«

Anna versprach es und legte auf. Dann konnte sie es nicht länger aufschieben. Das ungute Gefühl in ihrem Magen wurde stärker, und kurz entschlossen öffnete sie den Kofferraum wieder und holte die Schokolade hervor, die sie gerade gekauft hatte. Wenn sie was auf das Gefühl drauf aß, würde es vielleicht verschwinden, dachte sie und biss ein großes Stück ab, bevor sie sich ächzend wieder hinters Steuer setzte. Sie machte die Scheinwerfer an und massierte einen Moment lang ihre Hüfte. Die lange Fahrt hatte sie mitgenommen, ihr Bein fühlte sich hart und steif an, und ein unangenehmer, stechender Schmerz bohrte sich schon seit einer Weile in ihren Oberschenkel und kroch langsam den Rücken hinauf. Es wurde Zeit, dass sie sich ein wenig bewegte, sonst würde sie die nächsten Tage gar nicht laufen können. Aber auch so würde die Hüfte ihr Probleme machen, das fühlte sie. So lange in derselben Position zu sitzen war noch immer ein Risiko, obwohl die OP nun über sechs Monate her war. Es war dumm von ihr gewesen, auf der Fahrt keine Pause zu machen.

Harry betrachtete die Tropfen, die am Fenster hinabliefen, und eine Weile waren die einzigen Geräusche im Wagen das Prasseln des Regens und das Rascheln von Annas Schokoladenpapier.

Dann fuhr sie los. Den Schlüssel für den Hof hatte die Femke, eine alte Bekannte ihrer Großmutter, die nur eine Straße weiter wohnte. Anna kannte sie noch aus Kindertagen, in den letzten Jahren hatte sie sie aber nur selten gesehen. Wenn sie an sie dachte, sah sie rote kurze Haare und weiße Clogs vor sich. Eigentlich hieß sie natürlich nur Femke, aber sie hatten schon immer ein »die« vor ihren Namen gequetscht.

Sie stand bereits vor dem Haus, als Anna zehn Minuten später in die Einfahrt holperte. Anna wurde klar, dass sie am Küchenfenster gewartet haben musste, bis sie ihr Auto die Dorfstraße hinaufkommen sah. »Ich hätte ihr sagen sollen, dass ich erst noch einkaufen gehe«, murmelte sie.

»Anna! Ich habe mir schon Sorgen gemacht, wo warst du denn so lange? Deine Mutter hat auch schon angerufen. Sie hat mir gesagt, dass du die Sechs-Uhr-Fähre genommen hast.«

»Ich war noch kurz einkaufen. Ich hoffe, du hast nicht auf mich gewartet.«

»Sicherlich habe ich gewartet.« Die Lippen der Femke waren ein bisschen gespitzt, und Anna entschuldigte sich noch einmal.

Die Femke sah aus, als wolle sie Anna noch einen Moment schmoren lassen, aber dann gab sie sich einen Ruck. »Ach, ist ja nicht schlimm. Aber nächstes Mal sagst du Bescheid.« Sie lächelte, und als sie weitersprach, war ihre Stimme freundlicher. »Egal, jetzt bist du ja da.« Bewundernd griff sie nach einer Strähne von Annas dunklen Haaren und fuhr mit den Fingern daran entlang. »Deine Haare sind ja sogar noch länger als früher.« Dann zog sie sie am Ärmel in Richtung Haustür. »Komm rein, komm rein!«

»Moment!« Anna befreite sich sanft aus ihrem Klammergriff und ging zum Auto zurück. »Ich muss noch Harry holen.«

»Oh, na, wen haben wir denn da?« Sie klang immer noch freundlich, aber Anna bemerkte, dass die Femke nicht mehr ganz so strahlend lächelte wie zuvor. Sie öffnete Harry die Tür, der schon aufgeregt auf dem Beifahrersitz hin und her lief, weil er Angst hatte, alleine im Auto zurückgelassen zu werden.

»Das ist Prinz Harry«, stellte Anna ihn vor, und die Femke beugte sich hinunter, um ihn zu begrüßen. Harry schnupperte kurz an der ihm dargebotenen Hand, grunzte herablassend und lief dann in den Vorgarten, um sich zu erleichtern.

»Ups!« Anna wunderte sich über seine untypisch kühle Art und schämte sich gleichzeitig, dass er ihrer Nachbarin ins peinlich gepflegte Gartenbeet pinkelte. »Harry, doch nicht hier!«

»Ach, das macht doch nichts, Anna. Aber wir haben eine junge Katze. Vielleicht solltest du ihn an die Leine nehmen.«

»Das ist kein Problem. Harry ist da ein wenig ungewöhnlich, er liebt Katzen!«

»Na, so was! Dann hoffen wir mal, dass die Katze ihn auch mag!«

Das Haus der Femke war Anna noch schemenhaft vertraut, obwohl sie es seit mindestens fünfzehn Jahren nicht mehr betreten hatte. Als sie im Flur ihre feuchte Jacke an die ordentliche Garderobe hängte, bemerkte sie, dass der Esstisch im Wohnzimmer gedeckt war. Kerzen flackerten in schicken Leuchtern, und das gute Porzellan war aufgelegt worden. Sie wollte gerade versichern, dass sie sofort wieder verschwinden würde, wenn die Femke ihr nur schnell den Schlüssel für den Hof geben könnte, da begriff sie mit Schrecken, dass das Ganze für sie gedacht war.

»Wir sind ein bisschen spät für Kaffee, aber ich kann dich doch nach der langen Fahrt nicht einfach hungrig in ein leeres Haus gehen lassen«, rief die Femke aus der Küche. »Ich mache Tee. Setz dich, die Apfeltaschen sind noch warm.«

»Aber das wäre doch wirklich nicht …«, rief Anna zurück und hielt dann inne. Der Tisch war schon gedeckt, es wäre mehr als unhöflich, jetzt einfach zu verschwinden. Außerdem … Ein herrlicher Duft wehte zu ihr ins Wohnzimmer. Obwohl sie eben im Supermarkt noch überzeugt gewesen war, heute gar nichts mehr essen zu können, fühlte sie jetzt, dass sie für eine kleine Apfeltasche vielleicht doch noch Platz hatte.

Sie blickte sich um. Viel zu sehen gab es nicht, der Raum war klein, nahm aber trotzdem fast das ganze Untergeschoss des Hauses ein. Die Fransen des Teppichs schienen mit einem Kamm gerade gekämmt worden zu sein, und die riesige Scheibe der Fensterfront schimmerte streifenfrei und war offensichtlich frisch poliert. Anna fragte sich, ob hier nach jedem Regen die Wischtücher ausgepackt wurden. Aus dem Augenwinkel gewahrte sie eine Bewegung. Eine fette rote Katze lag auf dem Sessel vor dem Kamin und schielte gelangweilt zu ihr hinüber.

Was für ein Brocken, dachte Anna. Anders als ihr Hund mochte sie Katzen nicht besonders.

Harry kam aus der Küche, und Anna beobachtete mit angehaltenem Atem, wie die dicke Katze reagieren würde. Als sie ihn sah, fauchte sie laut, hievte sich überraschend agil aus dem Sessel, von dem Anna vermutet hätte, dass sie ihn sonst freiwillig nicht oft verließ, und schoss aus dem Raum. Harry blickte ihr enttäuscht nach.

»Anna! Du bist also gut angekommen!«

Ein junger Mann kam die Treppe hinunter. Er schien etwa in ihrem Alter, hatte braune Augen, dunkle Haare und trug trotz der Wärme im Haus einen dicken Norwegerpulli. Harry schoss freudig auf ihn zu, aber als er sich zu ihm hinabbeugte, reagierte er wie schon zuvor bei der Femke verhalten, schnupperte nur kurz an seinen Hosenbeinen und begann dann wieder damit, das Haus zu inspizieren. Anna fragte sich, was heute mit ihm los war.

Der Mann zuckte mit den Schultern, kam auf Anna zu und zog sie lächelnd in eine feste Umarmung.

Verwirrt versteifte sie sich und trat einen Schritt zurück. Sie konnte das »Kennen wir uns?«, das ihr schon über die Zunge rutschen wollte, gerade noch zurückhalten. Offensichtlich kannten sie sich, nur wusste sie leider nicht, woher.

Der Mann bemerkte ihre Verwirrung und lächelte. »Ich bin’s, Sem! Wir kennen uns von früher … das heißt, du erinnerst dich wahrscheinlich nicht an mich, wie ich aus deinem verwirrten Blick schließe. Aber ich kannte deine … Ich kannte Anouk.« Er verstummte und sah sie unsicher an, offensichtlich hatte er Angst, dass es ein Fehler gewesen war, ihre Schwester zu erwähnen. »Wir haben immer zusammen Dämme gebaut, weißt du nicht mehr?« Um den unangenehmen Moment zu überspielen, sprach er schnell weiter. »Tut mir leid, klar weißt du nicht mehr, wer ich bin, du warst ja jünger als wir, und wir haben uns ewig nicht gesehen. Aber ich erinnere mich noch gut an dich. Du hast uns immer hinterherspioniert.« Er lächelte. »Deine Haare waren schon damals so lang.«

Anna erinnerte sich nun tatsächlich wieder an Sem, Femkes Sohn. Sie hatte vollkommen vergessen, dass er existierte. In den letzten Jahren, als sie hin und wieder auf die Insel gekommen war, um ihre Großmutter zu besuchen, musste er auf dem Festland gewesen sein. Aber sie erinnerte sich an früher. Verschwommen sah sie einen blassen Jungen mit dunklen Locken und verschrammten Knien vor sich, der am Tisch ihrer Großmutter saß und mit ihnen zusammen Fleischklößchen aß und frische Erdbeermilch aus großen Gläsern trank.

Sie grinste. »Ihr habt mich immer von allem ausgeschlossen.«

Erleichterung flackerte über Sems Gesicht. »Du bist uns auf Schritt und Tritt hinterhergelaufen und hast uns immer bei deiner Großmutter verpetzt.«

»Daran kann ich mich nun wieder überhaupt nicht erinnern.« Anna lachte, obwohl sie genau wusste, dass es stimmte. Sie hatte immer alles machen wollen, was Anouk machte. So war das nun mal mit großen Schwestern.

Harry kam wieder ins Zimmer und beschnüffelte nun ausgiebig den Katzensessel.

Sem beobachtete ihn. »Ist das ein Zwergdackel?«, fragte er.

»Sein Dad war einer, ja. Bei seiner Mutter muss noch irgendetwas anderes dabei gewesen sein. Ich vermute, Stinktier und Hase.«

Sem lachte. »Stinktier erklärt sich von selbst. Aber warum Hase? Wegen der Ohren?«

»Nein, weil er ein Feigling ist. Ich nenne ihn auch gerne Prinz Hasenherz. Außerdem kann er Haken schlagen wie ein Weltmeister, besonders, wenn er zum Tierarzt muss.«

Harry schien zu merken, dass sie über ihn sprachen, denn er kam zu Anna, blickte zu ihr hoch und wedelte erwartungsvoll mit dem Schwanz. »Kleiner Stinkwatz«, sagte sie liebevoll und gab ihm einen Klaps.

»Dein Niederländisch ist wirklich gut«, bemerkte Sem.

»Oh, ich bin total eingerostet. Aber es kommt bestimmt bald alles wieder. Zum Glück verstehen die meisten Menschen mich hier ja auch, wenn ich deutsch spreche.«

Die Femke kam ins Zimmer. Sie trug einen Teller mit Apfeltaschen vor sich her. Als sie Anna und Sem sah, die zusammen vor dem Kamin standen, huschte für einen Moment ein seltsamer Ausdruck über ihr Gesicht. »Oh, Sem.« Sie schien überrascht, ihren Sohn zu sehen. Ihr Blick flackerte zwischen ihnen hin und her. »Ich dachte, du wärst … Ihr habt euch schon bekannt gemacht. Du erinnerst dich bestimmt an Anna?«

Zu Annas Erstaunen ignorierte Sem die Frage seiner Mutter. Er setzte sich hin und bedeutete Anna mit einem Lächeln, ebenfalls Platz zu nehmen. Sie ließ sich unsicher auf den Stuhl ihm gegenüber gleiten. Offensichtlich herrschte zwischen den beiden schlechte Stimmung. Vielleicht hatten sie sich kurz vor ihrer Ankunft gestritten. Plötzlich bemerkte sie, dass der Tisch nur für zwei gedeckt war. Der Femke schien es im selben Moment auch aufzufallen. »Oh, wartet, ich hole schnell noch ein Gedeck!« Eilig kramte sie in der Anrichte und stellte einen Teller und eine Tasse dazu. »Vielen Dank. Ich habe das überhaupt nicht erwartet. Du hättest dir nicht solche Mühe machen müssen«, sagte Anna verlegen.

Die Femke winkte ab. »Unsinn. Wir müssen dich doch auf der Insel willkommen heißen.«

Anna biss in eine Apfeltasche und merkte, dass die Femke selbst ihr Gebäck nicht anrührte. Sem hingegen hatte sein erstes Stück schon halb verschlungen.

»Es schmeckt sehr gut!« Anna lächelte wieder.

Die Femke nickte zerstreut. »Ich war gestern noch einmal auf dem Hof und habe nach dem Rechten gesehen. Es ist alles in Ordnung, die Heizung funktioniert, der Strom auch. Natürlich merkt man, dass das Haus schon länger leer steht, aber Sem hat ein bisschen für Ordnung gesorgt, und oben findest du frische Wäsche. Ich habe eine Ladung gewaschen, damit du in deiner ersten Nacht etwas Frisches hast und nicht wie eine Mottenkugel riechst.«

»Oh, das wäre wirklich nicht nötig gewesen!« Bestürzt setzte Anna ihre Tasse ab. Sie war erleichtert, dass der Strom funktionierte, aber es gefiel ihr nicht, dass sie nun in der Schuld der Femke stand.

»Das haben wir gerne gemacht. Wir sind sehr froh, dass du dich entschieden hast, auf die Insel zurückzukommen. Es tut mir jedes Mal weh, an dem Hof vorbeizufahren, wie er da leer und verwaist steht, mit seinen dunklen Fenstern. Dein Großvater hat schon früher immer gesagt, dass du eines Tages hierher zurückkehren würdest. Anna ist ein Inselkind, hat er immer verkündet. Und sieh, wie recht er hatte.«

Anna schluckte. Auch sie erinnerte sich an die Worte ihres Großvaters.

Sem rollte mit den Augen. Ihm war das pathetische Gerede seiner Mutter offensichtlich peinlich. Er versuchte, Anna komplizenhaft zuzulächeln, aber sie sah schnell weg.

Die Femke merkte nicht, dass ihr Sohn sich über sie lustig machte. Munter plapperte sie weiter. »Übrigens hat sich dein neuer Nachbar ein wenig um den Garten gekümmert. Er hat den Hof seit zwei Jahren. Biolandwirt. Vom Festland. Wenn du mich fragst, früher sind wir am Gemüse auch nicht gestorben. Er redet nicht viel, aber ich habe ihm gesagt, er kann seine Hühner auf eure Wiesen lassen, wenn er ab und zu den Rasen mäht. Er züchtet neue Apfelsorten und Gemüse. Keine Ahnung, wie er alleine mit dem Hof klarkommt. Seine Frau ist ihm abgehauen. Niemand weiß, wo sie ist, sie war einfach eines Tages nicht mehr da, aber ich habe gehört, dass sie jetzt irgendwo eine Boutique betreibt. Man sagt, sie hat ihn betrogen, und er hat sie rausgeschmissen und ihr nicht mal erlaubt, ihre Sachen mitzunehmen. Ich habe mich mal ein bisschen umgesehen, als ich Eier bei ihm geholt habe. Im Flur hängt sogar noch ihr Mantel. Montags verkauft er auf dem Markt auf dem Groeneplaats in Den Burg. Wucherpreise, ich sage dir! Bei den Touristen kommt das natürlich gut an, die Leute sind ja froh, wenn sie sich ein gutes Gewissen kaufen können.«

Anna, die in Hamburg selbst nur im Bioladen einkaufte, sagte nichts. Das war aber auch nicht nötig. Es schien, als habe die Femke schon lange mit niemandem mehr geredet und müsste nun alles auf einmal loswerden. Aber Anna war dankbar für die Informationen. Also hatte der Muldershof wieder einen neuen Besitzer. Das war interessant. Dann wäre sie zumindest nicht ganz alleine.

Das Grundstück ihrer Großeltern lag zum Dorfende hin, ein paar Wiesen und Äcker trennten den Hof von den geteerten Straßen, aber auf der rechten Seite grenzte es an den Muldershof. So hatte er zumindest früher geheißen. Die Mulders und die De Brujins waren schon immer ein bisschen zerstritten gewesen, auch wenn Anna nie richtig verstanden hatte, warum. Es hatte sie aber als Kind auch einfach nicht sonderlich gekümmert. Sie wusste nur, dass man vom Muldershof kein Obst essen durfte, auch nicht das heruntergefallene, und man durfte auch nicht die Schafe mit Brot füttern oder in ihren Gräben Dämme bauen. Mal sehen, ob ich das Obst jetzt essen darf, dachte sie.

Die Femke plapperte unaufhörlich auf Anna ein. Als sie sich gerade darüber ausließ, wie viele neumodische Läden es mittlerweile in der Stadt gab und dass zahlreiche einheimische Händler in den letzten Jahren hatten schließen müssen, unterbrach Sem sie plötzlich.

»Letztes Jahr warst du in Griechenland?«, fragte er Anna, als wären sie mitten in einem Gespräch, und biss in seine dritte Apfeltasche. Ein wenig Apfelmus verteilte sich in seinem Mundwinkel, und Anna musste sich zwingen, nicht hinzusehen. Sie war ein wenig schockiert, dass er seine Mutter einfach so unterbrochen hatte, aber er lächelte, als sei nichts geschehen. Die Femke klappte erschrocken den Mund zu, wies ihren Sohn aber nicht zurecht.

Anna wollte ihn gerade fragen, ob er immer so unhöflich war, da begriff sie erst, was er gesagt hatte.

»Was?«, fragte sie und starrte ihn an. »Oh, hat Mama euch das erzählt? Ja. Ich war auf Kreta, mit meiner besten … mit einer alten Freundin.«

Sem nickte. »Ist es nicht toll dort? Diese weißen Felsen, die kleinen Fischerorte … Und die Menschen sind so freundlich. Ich war selbst vor ein paar Jahren einmal da.«

Anna wunderte sich sehr, dass ihre Mutter solche Details aus ihrem Leben erzählt haben sollte. Sie war eigentlich ein sehr diskreter Mensch, außerdem hatte sie die Femke nie besonders gemocht. »Zu neugierig«, hatte sie immer gesagt. »Sie tätschelt dir mitfühlend den Arm und erzählt deinen Klatsch dann im ganzen Dorf herum, so eine ist das. Aber für Connections ist sie unschlagbar. Sie kennt alles und jeden auf der Insel, deswegen müssen wir sie uns warmhalten.«

Die Worte ihrer Mutter noch im Ohr, hakte Anna nach. »Wann hat sie euch das denn erzählt, das ist doch schon so lange her? Als ihr wegen des Ladens telefoniert habt?«

Annas Mutter telefonierte routinemäßig alle paar Wochen mit der Femke, um zu hören, ob auf dem Hof alles in Ordnung war. Seit er leer stand und niemand von ihnen mehr auf der Insel lebte, hatte sich die Femke gegen ein kleines Entgelt um alles gekümmert. Bei ihrem letzten Telefonat hatte Annas Mutter schuldbewusst auf die vielen neugierigen Fragen der Femke hin ein wenig aus ihrem Leben erzählt und dabei erwähnt, dass Anna wegen ihres Beines ihre Arbeit verloren hatte. Ein paar Tage später hatte die Femke erneut angerufen und erzählt, dass ein Bekannter auf der Insel eine Ladenfläche zu vermieten hatte, in bester Lage und sehr preiswert, wenn es über sie liefe. Ob das nicht was für Anna wäre? Sie habe doch immer davon gesprochen, eines Tages zurückkommen zu wollen.

Annas Mutter hatte gelacht und gesagt, dass nichts auf der Welt Anna aus Hamburg wegbekommen könnte. Sie hatte ihr später von dem Gespräch erzählt und sich lange über den hirnrissigen Vorschlag ausgelassen. Als hättest du kein Leben und könntest alles einfach stehen und liegen lassen und auf die Insel ziehen …

Aber Anna war ganz still geworden am Telefon.

Hatte sie denn noch ein Leben in Hamburg? Und könnte sie nicht einfach alles stehen und liegen lassen? Als sie auflegte, hatte mit einem Mal diese Idee in ihr zu reifen begonnen. Diese Idee, die irgendwie schon immer da gewesen war, irgendwo tief in ihr drin.

Anna blickte zur Femke, weil sie immer noch auf eine Antwort wartete, aber die schien sie nicht gehört zu haben. Sie sondierte gerade den Inhalt der Teekanne, dann stand sie auf und ging in Richtung Küche davon. Anna wandte sich mit fragenden Augen an Sem. Er lächelte breit. »Oh, äh, nein, das weiß ich nicht von deiner Mutter. Ich habe es bei Facebook gesehen.«

Anna blinzelte. »Oh«, sagte sie langsam, und das Lächeln gefror ein wenig auf ihren Lippen. »Aber … wir sind doch gar nicht befreundet, oder?«, fragte sie dann, obwohl sie es genau wusste.

»Nein, das stimmt«, gab er zu. »Tut mir leid. Das muss jetzt wirklich komisch geklungen haben.« Er lachte. »Keine Sorge, ich habe dich nicht gestalkt oder so, ich bin durch Zufall irgendwann mal über dein Profil gestolpert und habe es mir angesehen. Damals habe ich dir keine Freundschaftseinladung geschickt, weil ich nicht wusste, ob du dich überhaupt an mich erinnern würdest.« Er schien plötzlich ein wenig nervös und wich ihrem Blick aus. Seine Finger zerknäulten die gelbe Serviette neben seinem Teller.

»Ach, das hättest du doch ruhig machen können! Klar weiß ich, wer du bist!«, sagte Anna schnell und dann erinnerte sie sich, dass sie es eben noch nicht gewusst hatte, und sie fühlte, wie ihre Ohren heiß wurden. Sie räusperte sich.

»Und wie geht es deinem Freund? Simon heißt er, oder?«, fragte Sem.

Jetzt sah Anna ihn so durchdringend an, dass er ein bisschen rot wurde.

»Auch Facebook, ich geb’s zu.«

»Ihm geht es gut. Aber er ist nicht mehr mein Freund«, sagte Anna langsam.

Die Überraschung trat etwa drei Sekunden zu spät auf Sems Gesicht. »Oh, das tut mir leid!«

Er wusste es schon, dachte Anna, und ein kleiner Schauer durchrieselte sie. Es war ihre eigene Schuld, ihr Profil war öffentlich, und sie hatte schon oft mit Simon darüber gestritten, der immer gesagt hatte, dass es naiv sei, sein Online-Profil nicht bestmöglich zu schützen. »Ich habe doch nichts, was ich schützen muss. Was sollen sie mir denn klauen?«, hatte Anna immer gesagt und musste sich nun eingestehen, dass sie es immer auch ein ganz klein wenig aus Trotz nicht gemacht hatte. Nur um Simon zu ärgern, der immer in allem recht haben musste. Tja, wie sich herausstellte, hatte er das wohl wirklich, und sie hätte besser daran getan, auf ihn zu hören. Creepy-Creeperson hier hatte ihre Sorglosigkeit jedenfalls ausgenutzt. Und wenn er noch wusste, wo sie letztes Jahr im Urlaub gewesen war, konnte sein Besuch auf ihrer Seite so kurz ja nun nicht gewesen sein. Und wenn er wusste, dass sie nicht mehr in einer Beziehung war, dann hatte er nicht erst vor ein paar Monaten das letzte Mal dort nachgesehen. Sie schalt sich einen Idioten und beschloss, ihre Privatsphäre-Einstellungen zu überarbeiten, sobald sie das nächste Mal WLAN hatte. Wer wusste denn schon, welche komischen Typen sonst noch so auf ihrem Profil herumschlichen.

Sem schien ihre Gedanken zu erraten. »Als ich gehört habe, dass du auf die Insel kommst, habe ich mir dein Profil noch mal angesehen«, gab er zu. Es schien ihm zumindest ein bisschen unangenehm.

Anna gab sich einen Ruck. »Ach, wir haben doch alle schon mal Profile von alten Bekanntschaften gestalkt. Dafür ist Facebook ja auch schließlich da!«, sagte sie und beschloss, die Sache nicht so ernst zu nehmen. Irgendwas ist komisch an ihm, dachte sie und beobachtete Sem heimlich. Er war auf eine jungenhafte Weise attraktiv, seine dunklen Locken hatten etwas Wildes, Nordisches, und wenn er lachte, hatte er Grübchen auf den Wangen, die ihn anziehend aussehen ließen, auch wenn er ansonsten eher unscheinbar war. Aber irgendetwas, wahrscheinlich die Art, wie er mit seiner Mutter umging, erschien Anna seltsam. Aber wenn ich mit ihr leben müsste, wäre ich vielleicht auch so, dachte sie dann und beschloss, ihn nicht gleich zu verteufeln. Vielleicht war er ja ganz nett und konnte nur seine Mutter nicht mehr ertragen, die in der Tat genug redete, um einen nach wenigen Minuten an Flucht denken zu lassen, und in der kurzen Zeit, die Anna hier am Tisch gesessen hatte, über jeden Inselbewohner hergezogen war, den Anna kannte, sowie über etliche, von denen sie noch nie gehört hatte.

Sem war in ihrem Alter, und sie konnte ein paar Freunde auf der Insel gut gebrauchen.

Anna blieb noch eine halbe Stunde – so lange, wie sie musste, ohne zu unhöflich zu wirken –, dann machte sie sich mit der Entschuldigung auf den Weg, müde von der Fahrt zu sein. Es war schwer, die Hilfsangebote der beiden abzulehnen, die sie unbedingt begleiten wollten, aber nach ein paar Minuten schienen sie zu verstehen, dass Anna allein sein wollte. Sie lud Harry wieder ins Auto und setzte rückwärts aus der Einfahrt hinaus. Als die erleuchteten Küchenfester im Rückspiegel verschwanden, fiel ihr auf, dass die Femke und ihr Sohn während des ganzen Essens kein Wort miteinander gewechselt hatten.

2

Selbst für holländische Verhältnisse war der Brujinshof klein. Eigentlich bestand er nur aus einem Haus, einem Schuppen und zwei geduckten Ställen, die langsam damit drohten, in den Wiesen zu versinken. Die Wände waren weiß getüncht, das Dach reetgedeckt, und im Garten bogen sich knorrige Apfelbäume in alle Richtungen, als wären sie mitten im Tanz erstarrte Kobolde. Der Hof war vor über 150 Jahren erbaut worden, und man sah ihm sein Alter an.

Als Anna die Tür aufschloss und das Haus betrat, schlug ihr sofort der vertraute Geruch entgegen. Kalk, altes Holz, Stein und Schafwolle. Er war verstörend stark, sie musste sich gegen die Empfindungen wehren, die auf sie einströmten und von denen sie nicht gewusst hatte, dass sie kommen würden. Mit einem Mal hatte sie das sichere Gefühl, es nicht zu schaffen. Es war, als habe ihr jemand in den Magen geboxt. Der Geruch schien sie mit allem auf einmal zu konfrontieren, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Die ganze Tragweite ihrer Entscheidung hierherzukommen, traf sie mit voller Wucht. Es war, als würden Welten aufeinanderprallen, die nicht zusammengehörten. Ihr Nacken prickelte. Was mache ich hier nur?, dachte sie. Frau Fischer, Sie sind doch verrückt.

Ein starker Drang überkam sie, umzukehren, die Tür zu schließen, sich wieder ins Auto zu setzen und, so schnell sie konnte, nach Hamburg zurückzufahren. Aber die letzte Fähre war ohnehin schon weg, und Harry war durch ihre Beine hindurch ins Haus gewischt, sie hörte seine kleinen Tapser auf dem Boden in Richtung Küche verschwinden. Nach ein paar Sekunden zwang sie sich, über die dunklen Wände zu tasten. Sie bereute es, Sems Angebot, sie zu begleiten, abgelehnt zu haben. Auch wenn sie ihn seltsam fand, wäre seine Anwesenheit besser, als mit dem stummen Haus alleine zu sein.

Als ihre Finger den Schalter fanden und das Licht der stoffbezogenen Flurlampe plötzlich über die Wände huschte, vertrieb es die Bilder in ihrem Kopf. Vorerst zumindest. Sie wusste, dass sie nur darauf warteten, erneut hervorzukriechen. Sie schloss die Tür hinter sich und schob den Riegel vor. Wie lange war sie nicht mehr hier gewesen? Drei Jahre? Vielleicht mehr. Nach dem Auszug ihrer Großmutter hatte Anna das Haus gemieden, wenn sie auf der Insel war. Leer und verlassen war es ihr immer falsch vorgekommen, und sie hatte nicht gewusst, wie sie mit einem Haus ohne Leben umgehen sollte.

Ein Mädchen saß auf der Treppe. Es hatte lange, dunkle Haare wie Anna und las in einem Buch. Es trug ein Sommerkleid, seine schmutzigen Füße bohrten sich in den Teppich. Anna hörte das Rascheln, als es mit zarten Händen die Seiten umblätterte. Als sie näher trat, war es verschwunden. War das ich oder Anouk, fragte sie sich und blickte auf die leere Stufe. Oder wir beide?

Sie ging den schmalen, dunklen Flur entlang und blieb an der ersten geöffneten Tür stehen. Die Wohnstube. So hatte ihre Großmutter den Raum immer genannt, um ihm einen feineren Glanz zu verleihen. Aber der Name konnte nicht über das einfache Mobiliar und den alten Holzboden hinwegtäuschen. Hier hatten sie und Anouk als Kinder kaum Zeit verbracht. Meistens waren sie in der großen Wohnküche gewesen oder im Garten und in den Schafställen. Dieses Zimmer hatte immer ihrem Großvater gehört. Abends hatte er hier die Nachrichten geguckt, die blechern aus dem schwarzen Uralt-Fernseher mit der Riesenantenne schallten, und dabei Karamellbonbons gelutscht. Ihre Großmutter hatte sich immer aufgeregt, dass er sich wie ein Waldtroll benahm, wenn er laut schmatzte und mit den Fingern in den Zähnen wühlte, um das klebrige Karamell zu entfernen. Aber trotzdem hatte sie selbstverständlich einmal im Monat einen ganzen Nachmittag lang Bonbons auf dem Küchentisch gerollt. Sie wurden in weißes Butterbrotpapier gewickelt und hatten einen festen Platz in einer großen Blechdose auf dem obersten Brett in der Speisekammer. Oft hatten Anna und Anouk heimlich einen Stuhl dort hineingeschoben, während sie kichernd versuchten, keine Geräusche zu machen, damit ihre Großmutter sie nicht erwischte und zur Strafe lachend mit dem Besen hinter ihnen herlief.

Anna sah ihren Großvater, wie er in dem Sessel saß, die Füße auf dem kleinen Hocker, die Zeitung auf den Knien, und fast konnte sie das Karamell riechen. Manchmal hatte er auch kleine Stücke seines eigenen Ziegenkäses gegessen, auf den er so stolz war und der bei allen anderen Menschen Brechreiz auslöste. Ihr Vater hatte immer gesagt, dass er den Käse nur machte, um Besucher vom Haus fernzuhalten. Anna fragte sich, wann ihr Großvater die Ziegen aufgegeben hatte. Sie konnte sich nicht erinnern, irgendwann hatte es einfach keinen Käse mehr gegeben.

Ihr Spiegelbild in der Scheibe stand allein im Türrahmen. Wie bei den meisten Häusern in Holland nahm das Fenster die halbe Wand ein. Anna hatte als Kind nie verstanden, warum die Fenster in Deutschland so klein waren und man sich in seinen dunklen Häusern und Wohnungen verschanzte, als wolle man die Welt draußen ausschließen. Hier war es, als wären die Wiesen und Bäume draußen ein Teil des Hauses. Annas Großmutter war immer stolz darauf gewesen, keine Gardinen und keinen Sichtschutz zu haben. »Wir haben nichts zu verbergen«, hatte sie gerne verkündet, und es war eine Warnung in ihrer Stimme gewesen, die jeden, der es wagen würde, das anzuzweifeln, sofort eines Besseren belehrt hätte. Anna erinnerte sich, wie sie abends oft zu ihrem Großvater auf die Couch gekrochen war und die Dunkelheit vor dem großen Fenster sie geängstigt hatte. Auch jetzt blickte ihr eine schwarze Wand entgegen. Sie hob eine Hand zum Gruß, und ihr Spiegelbild tat es ihr gleich. Dann knipste sie das Licht aus. Das war nicht ihr Raum.

Auch in der Küche war der vertraute Geruch so stark, dass sie es einen Moment lang kaum aushalten konnte. Auf den ersten Blick schien hier alles wie früher. Der große alte Holztisch in der Mitte des Raumes, das fleckige rote Sofa, das an der Wand zur Hintertreppe lehnte. Aber die Blumen fehlten, die in einem alten Bierkrug vor dem Fenster über der Spüle gestanden hatten, und die Gewürze in den Regalen. Die großen Einmachgläser mit Gurken in der Ecke fehlten, die Apfelkiste neben der Kammertür und die kleinen Schälchen mit Milch für die Katzen. Sie stand einen Moment einfach nur da und nahm die Atmosphäre des Raumes in sich auf. Dann ging sie zum Auto und holte die Einkäufe. Sie durfte nicht zu lange in der Vergangenheit verweilen, sonst würde sie es nicht schaffen. Ächzend wuchtete sie die Tüte mit den Lebensmitteln auf den Esstisch, dann lief sie hinaus und holte Harrys Kiste, sein Körbchen und ihr grünes Radio. Ein bisschen Musik würde die Erinnerungen schon vertreiben, dachte sie.

Als sie ein drittes Mal zurücklief, um ihre Tasche zu holen, und an der dunklen Tür des Wohnzimmers vorbeieilte, blieb sie erschrocken stehen. Etwas hatte sich bewegt hinter der großen Scheibe, ein Schatten, den sie aus den Augenwinkeln wahrgenommen hatte. Sie trat einen Schritt zurück und lugte vorsichtig um die Ecke. Ihr eigenes Gesicht sah ihr entgegen, ihr Kopf im Türrahmen hob sich schwarz gegen den hellen Hintergrund des Flures ab. Aber sie konnte ohnehin nicht nach draußen sehen, die Spiegelung war zu stark. »Jetzt geht es schon los. Frau Fischer, Sie sehen Gespenster«, flüsterte sie.

Als sie erneut nach draußen trat, blieb sie einen Moment auf der Türschwelle stehen und blickte in die Inselnacht hinaus. Man konnte das Meer riechen, das Salz in der Luft. Der Kies knirschte laut unter ihren Schuhen, als sie zum Auto ging. Sie wuchtete ihre Tasche über die Schulter, warf einen prüfenden Blick in den Kofferraum, entschied, dass sie den Rest morgen holen könnte, und knallte den Deckel zu.

Wie aus dem Nichts stand Sem vor ihr.

Anna schrie auf und ließ ihre Tasche fallen.

»Oh, entschuldige!« Er sprang vor und hob die Tasche auf. »Ich wollte dich nicht erschrecken!« Schuldbewusst half er ihr, die Tasche wieder umzuhängen, dann überlegte er es sich anders und nahm sie selber über die Schulter. »Ich helfe dir.«

»Danke, nicht nötig!« Anna riss die Tasche wieder an sich, etwas schroffer als nötig, und er sah sie zerknirscht an. Ihr Herz klopfte immer noch, und sie kämpfte einen Anflug von Ärger hinunter. Warum zum Teufel musste er sich so anschleichen, dachte sie. Und warum habe ich seine Schritte nicht auf dem Kies gehört?

»Was gibt’s? Hab ich was bei euch vergessen?«, fragte sie, immer noch etwas außer Atem.

»Nein, meine Mutter meinte nur, ich soll fragen, ob du nicht doch Hilfe beim Ausladen brauchst und ob alles in Ordnung ist.«

Anna, die an diesem Abend bereits fünfmal versichert hatte, dass sie alleine klarkam und sich melden würde, wenn sie Hilfe brauchte, merkte, dass ihr Ärger wuchs. Sie war generell empfindlich, wenn es darum ging, dass man ihr Dinge nicht zutraute. Eine Nachwirkung der letzten Jahre, in denen sie so sehr auf Hilfe angewiesen gewesen war und jede Sekunde davon gehasst hatte.

»Danke, das ist wirklich nett. Aber ich komme klar. Und ich habe ja eure Nummer, falls irgendetwas sein sollte!«

»Bist du sicher? Jetzt bin ich schon mal hier, ich kann dir helfen, das Auto auszuräumen!«

»Ich habe alles schon drinnen, den Rest mache ich morgen!«

Er sah sie kurz unsicher an, dann lächelte er. »Okay, gut. Es war schön, dich wiederzusehen, Anna. Vielleicht können wir ja bald mal was gemeinsam unternehmen.«

»Sicher … gern.«

Als sie so zögerlich reagierte, wackelte das Lächeln auf seinem Gesicht etwas, aber er sagte: »Ich … arbeite momentan nicht. Ich kann dir also gerne beim Renovieren helfen. Oder auch auf dem Hof. Du musst doch bestimmt dein Bein noch schonen. Sag einfach Bescheid! Ich bin jederzeit zur Stelle.« Er tippte sich an eine imaginäre Mütze.

»Das mache ich.« Sie wusste, dass es höflich wäre zu fragen, warum er nicht arbeitete, was er wieder auf der Insel machte, wie es ihm gegangen war in den letzten Jahren. Aber sie sagte nichts.

Einen Moment standen sie sich gegenüber, und während Anna wartete, dass er sich endlich verabschiedete, schien er dagegen keine Eile zu haben. Er steckte die Hände in die Jeanstaschen und sah sie fragend an, als wartete er, was sie zu dem Gespräch beitragen würde.

»Sag mal, warst du eben im Vorgarten? Beim Wohnzimmerfenster?« Sie dachte an den Schatten, den sie gesehen hatte.

Überrascht hob er die Augenbrauen »Ich? Nein, warum?«

Es klang ehrlich.

»Ach, nichts. Ich dachte, ich hätte da jemanden gesehen. Na, egal, ich muss rein, Harry hat Hunger. Vielen Dank noch mal für eure Hilfe!« Sie drehte sich um und ging mit einem letzten aufgesetzten Lächeln auf die Haustür zu. Sie hatte heute Abend keine Kraft mehr, noch länger höflich zu sein.

Eine halbe Stunde später stieg Anna die knarrende Treppe ins Obergeschoss hinauf. Das Licht der Deckenlampe reichte nicht, um das Treppenhaus zu erhellen. Harry wieselte zwischen ihren Füßen durch und war oben, bevor sie auch nur die Hälfte der Stufen geschafft hatte. Er drehte sich auf dem Absatz um und wartete auf sie. Als sie zu lange brauchte, grunzte er ungeduldig.

»Hetz mich nicht, du weißt, ich bin nicht mehr so schnell.« Die lange Fahrt hatte wie erwartet ihren Tribut gefordert, und ihr Bein war steif und pochte. Zu Hause hätte sie jetzt ein langes Bad genommen und eine Ibuprofen. Aber sie versuchte, nur noch nach den Schmerzmitteln zu greifen, wenn es wirklich nicht mehr auszuhalten war, um ihren Magen zu schonen, der in den letzten Monaten zu viel mitgemacht hatte.

Als Erstes ging sie ins Blaue Zimmer. Es trug diesen romantischen Namen, weil es blau gestrichen war und irgendjemand, wahrscheinlich ihr Großvater, vor vielen Jahren einmal mit gelber Farbe einen großen Mond und unzählige Sterne an eine der Wände und die Decke gemalt hatte. Als Anna die knarzende Tür aufschob, fiel ihr sofort auf, wie blass die Wand wirkte. In ihrer Erinnerung war sie in strahlendem, leuchtendem Blau gestrichen, ein Nachthimmel, von dem golden die Sterne herabfunkelten. Nun wirkte es, als habe jemand das Zimmer mit einem dumpfen Schleier überzogen. Es roch anders hier. Sie betrachtete die beiden schmalen Betten, die ordentlich bezogen zu beiden Seiten der Tür standen. Dies war schon immer das Kinderzimmer gewesen, und nachdem ihre Mutter und Onkel Frans ausgezogen waren, war es das auch geblieben. Das rechte war Annas Bett. Über dem Kopfende hing immer noch das kleine Bild, das sie als Kind so geliebt hatte. Ein Scherenschnitt von einer Meerjungfrau auf einem Felsen im schäumenden Meer. Auf eine seltsame Art hatte sie sich schon immer mit Meerjungfrauen verbunden gefühlt. Weil sie keine Beine hatten und an Land nicht laufen konnten.

Über Anouks Bett hingen noch ein paar verstaubte Poster, ein altes Foto ihrer Mutter als junges Mädchen und eine Konzertkarte, die mit einer Nadel an die Wand gepinnt worden war. Weder die Gesichter auf den Postern noch der Name auf der Karte sagten Anna etwas. Außer den Betten, zwei kleinen Nachttischen und einem Stuhl war das Zimmer leer. Sie hatten ihre Sachen immer in der kleinen Kommode im Flur aufbewahrt, weil es in dem winzigen Raum keinen Platz gab für weitere Möbel.

Anna zog die Tür fest hinter sich zu. Hier würde sie nicht schlafen. Nicht in diesem Zimmer, in dem Schatten durch die Ecken huschten und ganz sicher auch der eine oder andere vergessene Traum von früher.

Sie ging über den kleinen Flur in das niedrige Schlafzimmer ihrer Großeltern. Hier roch es vertrauter. Schon früher hatte sie Angst gehabt vor dem riesigen schwarzen Schrank, der ihr als Kind wie das Tor zur Unterwelt erschienen war. Die wenigen Male, die sie bei ihren Großeltern im Zimmer geschlafen hatte, hatte er sie in finsteren Albträumen geplagt. Die Kommode war auch nicht besser, dunkler Marmor, ein fleckiger alter Spiegel, in dem Anna aussah wie ein Zombie. Sie mussten beide von demselben depressiven Schreiner gemacht worden sein.

Auf dem großen Doppelbett lag wie versprochen die frische Bettwäsche und obenauf ein Stapel Handtücher. Harry sprang sofort in die Daunen, wühlte schnaufend darin herum und begann, sich ein Nest zu bauen. Ein paar kleine weiße Federn wirbelten auf.

»Ich muss noch die Laken draufmachen, du brauchst dich noch nicht einzurichten.« Anna packte ihn und hob ihn herunter. Er grunzte unwillig und sprang sofort wieder zurück.

Auch hier schien alles wie immer, als wäre es gerade erst verlassen worden. Nur bei näherem Hinsehen merkte man, dass Dinge fehlten. Wichtige Dinge. Ihr Großvater war schon so lange tot, dass sie an den Anblick seiner leeren Kommodenseite gewöhnt war, aber in den letzten Jahren hatten zumindest noch die Rosenseife und das Duftwasser ihrer Großmutter hier gestanden. Nun lag da nur noch ein Stapel sorgfältig gebügelter Stofftaschentücher.

Sie nahm ihr Schlafshirt und ihren Kosmetikbeutel aus der Tasche und ging ins Bad. Die ganze Zeit über versuchte sie, nicht auf das stille, leere Haus zu lauschen, dessen Gegenwart um sie her sie spüren konnte wie eine Hand im Nacken.

Auch Harry schien das alles nicht ganz geheuer. Als sie sich die Zähne putzte, sprang er auf den stoffbezogenen Klodeckel und sah ihr zu. Im oberen Stockwerk gab es noch zwei weitere kleine Räume. Sie schaute kurz in jeden hinein, nur um sicherzugehen, dass sie auch wirklich alleine war. Dann ging sie ins Schlafzimmer und ließ sich aufs Bett sinken. Wie lange musste sie hier wohl wohnen, damit es nicht mehr nach Einsamkeit und Verlassenheit roch? Harry sprang auf ihren Schoß, und sie zog ihn an sich. »Ohne dich würde ich das hier niemals machen!«, flüsterte sie in sein Fell und wusste, dass es stimmte. Harry war ihr Rettungsanker.

Harry schien zu denken, dass das ja wohl offensichtlich war. Er versuchte, ihr übers Gesicht zu lecken, und als sie ihn wegschubste – denn das gab es nicht, das war die einzige Regel, an der sie halbwegs streng festhielt –, rollte er sich auf ihrem Bauch ein, legte die Schnauze auf die Pfoten und blickte mit wachsamen Augen im Zimmer umher. So verhielt er sich nur dann, wenn er das Gefühl hatte, sie beschützen zu müssen. Zu Hause kroch er abends einfach neben ihr unter die Decke, presste sich an ihre Knie, stieß einen tiefen Seufzer aus und schlief in Sekundenschnelle ein. Aber wenn sie woanders waren, in fremder Umgebung, oder wenn er spürte, dass sie nervös war und sie etwas bedrückte, dann fühlte er sich genötigt, auf sie aufzupassen. Anna wusste, dass es ihre Aufgabe war, ihn von dieser eingebildeten Pflicht zu befreien, ihm zu signalisieren, dass sie alleine klarkam und er nicht über sie zu wachen brauchte. Aber es rührte sie jedes Mal wieder.

Sie hob die Decke und bedeutete ihm, auf seinen Platz zu gehen. Aber er ignorierte sie, betrachtete weiterhin aufmerksam den leeren Raum, die Ohren aufgestellt, den Blick angespannt, und wenn ein Schatten über die Wände geisterte, hob er den Kopf, und in seiner Kehle schwelte der Ansatz eines leisen, warnenden Knurrens.

»Siehst du wieder Gespenster?«, fragte sie und kraulte ihm die Ohren. Aber hier schien diese Frage, die sie ihm zu Hause so oft belustigt stellte, wenn er ins Leere starrte und Punkte in der Luft fixierte, in denen sie nichts sah, er aber eine gefährliche Bedrohung wahrzunehmen schien, plötzlich eine andere Bedeutung anzunehmen, und sie bereute es sofort, die Worte ausgesprochen zu haben. Ein Schauer fuhr ihr über den Rücken, und nun betrachtete auch sie den leeren Raum mit besonderer Aufmerksamkeit. »Ich sehe sie auch«, flüsterte sie traurig. Aber sie wusste, dass ihre Gespenster anders aussahen als seine.

Nach ein paar Minuten, in denen beide schweigend umherstarrten und ihren Gedanken nachhingen, gab sie ihm einen kleinen Schubs. »Los, du bist zu schwer, du drückst mir den Magen ein!« Als er nicht nachgab, zog sie Harry unter die Decke, wo sie ihn mit ihren Knien beschwerte, und nach ein paar kurzen Zapplern gab er auf, und sie merkte, wie sein kleiner Körper sich langsam entspannte und warm wurde.

Als sie das Licht ausknipste, wusste sie bereits, dass sie nicht schlafen würde. Sie starrte die weiße Spitzengardine an, die schief an den kleinen Klemmhaken hing und an den Rändern eine braune Moderfärbung angenommen hatte. Es war so dunkel. Auf der Insel wurde es nachts immer stockduster. Die wenigen kleinen Orte konnten die dunkle Nacht nicht erhellen, und außerhalb gab es keine Straßenbeleuchtung. Oft war der einsame Strahl des Leuchtturms, der über die Wiesen und Deiche geisterte, das einzige Licht, das die schwarzen Inselnächte durchbrach.

Nachdem sie sich eine Stunde lang hellwach im Bett hin und her gewälzt hatte, stand Anna auf. Vorsichtig schälte sie sich aus den Decken, um Harry nicht zu wecken, der inzwischen leise schnarchte. Ihre Hüfte schmerzte, wie sie es vorhergesehen hatte, und sie beschloss, eine Tablette zu nehmen. Schlaf war jetzt wichtiger als ein gesunder Magen.

Sie tapste nach unten. Als sie in die dunkle Küche trat und das Licht anknipste, sah sie aus den Augenwinkeln ihre Großmutter am Tisch sitzen. Ein Handtuch über den Knien, eine Schüssel mit Kartoffeln neben sich, eine alte Zeitung auf dem Boden ausgebreitet, die die Schalen auffangen sollte. Sie hatte ein Tuch um ihre weißen Locken geschlungen, und Anna wusste, dass sie ihr Lieblingsessen vorbereitete, Kartoffelbrei mit Sauerkraut. Als sie den Kopf drehte, war sie verschwunden. Weggehuscht in der halben Sekunde, die sie gebraucht hatte, um richtig hinzusehen. Der alte Holztisch lag verlassen da, nur der Apfelsaft und zwei Dosen Tomaten warteten darauf, an ihren Platz geräumt zu werden. Einen Augenblick lang starrte sie stumm auf den Stuhl, auf dem eben noch die Erinnerung ihrer Großmutter gesessen hatte. Dann ging sie zur Spüle, füllte ein altes Gurkenglas bis zum Rand mit Leitungswasser und trank es aus, ohne einmal abzusetzen. Es schmeckte nach Kalk und ganz zart nach Gurke, aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein. Während sie trank, blickte sie in den mondbeschienenen Garten, in dem immer noch das windschiefe Schaukelgerüst stand, das schon ihre Mutter als Kind benutzt hatte.

Ein leises Klingeln ertönte, dann Tapsen auf den Steinen, und Harry erschien im dunklen Türrahmen. Er hob den Kopf und sah fragend und ein wenig vorwurfsvoll zu ihr hoch, wie immer, wenn er aufwachte und feststellen musste, dass sie den Raum verlassen hatte, ohne ihm Bescheid zu sagen.

Sie trat zu ihm und nahm ihn auf den Arm. Er grunzte leise, ließ es aber geschehen. Trostsuchend presste sie ihre Nase in die Stelle hinter seinem Ohr, die immer warm war und immer ein wenig nach Welpe roch, auch wenn der Rest seines Körpers diesen Duft schon vor Jahren verloren hatte. Sie atmete ein paarmal tief ein und aus, sodass die warme Luft aus ihrer Nase sein Fell erglühen ließ. Er kannte das schon und ließ es geduldig über sich ergehen.

»Was machen wir hier nur, wir zwei?«, fragte sie ihn.

Harry gähnte herzhaft.

»Gut, dass du immer so verdammt cool bist«, sagte sie. »Wenigstens einer von uns muss ja die Nerven behalten.«

3

Der Laden lag mitten im historischen Zentrum von Den Burg. Holprige Backsteingässchen kringelten sich in umschlungenen Windungen um bunte Häuser, die so klein waren, dass sie Puppenstuben glichen und man durch die Fenster hindurch auf die dahinterliegenden Gärten blicken konnte. Souvenirshops verkauften Muscheln und Stofftierrobben und reihten sich zwischen Fischbuden, Cafés und Buchläden. Nahe bei der roten Backsteinkirche stand auf einem Platz eine riesige Kastanie, in deren Schatten sich Insulaner und Touristen bei gutem Wetter Waffeln mit Kirschen und kleine holländische Pfannkuchen einverleibten. Wenn man an der Kastanie vorbei links in die Burgwalgasse einbog, sah man das Haus. Anna hatte gleich ein gutes Gefühl. Es ist freundlich, dachte sie. Es wartet auf mich.

Es war schief und hatte ein rotes Schindeldach. Kahle Weinpflanzen rankten sich um die Ostseite. Vor langer Zeit war es wohl einmal blau gewesen, aber nun war der Putz verblasst und bröckelte in der Sonne. Trotzdem wirkte das kleine Haus fröhlich. Einladend irgendwie. Als sie ihr Rad näher schob, sah sie schon den Schriftzug über der Tür vor sich. Weiß würde er sein und verschnörkelt. Anna Blume würde darauf zu lesen sein, genau wie das Schwitters-Gedicht, das sie so mochte. Genau wie in dem gleichnamigen Laden in Berlin, in dem sie das Konzept von Blumen und Kaffee entdeckt und lieben gelernt hatte. Was gab es Schöneres, als zwischen duftenden Blüten einen Cappuccino zu genießen und eine Zeitung zu lesen?

Ich werde das Haus streichen, dachte sie. Es soll wieder strahlend blau sein, wie der Maihimmel, und wenn man um die Ecke biegt, soll es sofort den Blick einfangen und sagen: »Komm her, hier gibt es wunderschöne, duftende Blumen und herrlichen, frisch gebrühten Kaffee.« Auf der ganzen Insel werden sie sich erzählen: »Du weißt schon, der blaue Laden von Anna. Bei der großen Kastanie um die Ecke.« Und bald werden sie alle nur bei mir kaufen wollen.

So jedenfalls stellte sie sich das vor. Bis dahin war es allerdings noch ein weiter Weg. Als sie näher kam, sah sie, dass nicht nur der Putz bröckelte, sondern die Fassade auch Risse hatte. Das große Schaufenster, das fast bis auf die Straße hinunterreichte, war staubig, und das Buntglasgemälde über der grünen Holztür hatte ein Loch. Wie schade, dachte Anna und betrachtete die Splitter. Vielleicht finde ich jemanden, der es mir repariert. Sie wischte mit dem Ärmel über die Scheibe, versuchte, ins Innere zu spähen, aber der Schmutz schien von beiden Seiten am Glas zu kleben. Nichts außer flimmerndem Staub und den verschwommenen Umrissen eines leeren Raumes.

Die Maklerin war noch nirgends zu sehen, doch ein Blick auf die Armbanduhr gab eine Erklärung: Anna war fast eine halbe Stunde zu früh dran. Sie beschloss, sich erst noch einen Kaffee zu holen.

»Na, du bist ja ein Schnubbel!« Die rotwangige Bäckerin beugte sich über die Theke und warf verzückte Blicke auf Harry, der sich am Glas aufgestellt hatte und gierig die Gebäckstücke anstarrte. »Ich habe hier einen frischen Streuselkuchen, möchte der kleine Herr davon vielleicht mal kosten?«, fragte sie.

Anna wollte schon dankend ablehnen, aber dann dachte sie, dass sie die Bäckerin jetzt bestimmt noch öfter sehen würde, schließlich lag ihr Laden schräg gegenüber. Sie hatte irgendwo gelesen, dass man Essensangebote nie ablehnen sollte, wenn man sich mit dem Gegenüber gut stellen wollte. Zwar war das in einem Artikel über Bewerbungsgespräche gewesen, aber sie dachte, dass dies bestimmt eine allgemeingültig brauchbare Grundhaltung war. Und bestimmt galt sie auch für Dackel, beschloss Anna und stimmte lächelnd zu. Sie plauderte kurz mit der Bäckerin, die sich als Leentje vorstellte und angenehm überrascht schien, als Anna ihre Pläne für den Laden umriss, kaufte ein Stück Streuselkuchen für später, weil sie einfach nicht widerstehen konnte, und dann setzte sie sich auf die Steinstufen vor dem Laden und wartete. Wie immer stellte sie fest, dass holländischer Kaffee einfach besser schmeckte als hamburgischer. Es war ein ungewöhnlich warmer Tag für Ende Februar, und bald nahm sie ihren Schal ab und hielt ihr Gesicht in die Sonne.

»Frau Fischer?«

Anna hatte vor sich hin gedöst und die Augen geschlossen. Die geschäftige Stimme der Maklerin holte sie aus ihren Träumen. Schnell rappelte sie sich auf, die Frau kramte bereits in ihrer schicken Designertasche nach ihrem Schlüssel und versuchte Harry abzuwehren, der freudig an ihr hochsprang und ihre Feinstrumpfhose zerkratzte. Sie schloss die Tür auf und ließ Anna eintreten.

Kühl war es im Laden. Kühl und dunkel. Die schmutzige Scheibe ließ nur wenig Licht hindurch.

»Es riecht so seltsam.« Annas Stimme hallte in dem leeren Raum wider.