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Amerika, 1859: Als die junge Lehrerin Annie Braun auf der Südstaaten-Plantage Birch Island ihren Dienst antritt, trifft sie auf einen ihr völlig unbekannten luxuriösen und feudalen Lebensstil. Dieser und der Umgang mit den Sklaven, die für die Familie arbeiten, sind für die Nordstaatlerin ungewohnt und befremdlich. Der Start wird ihr nicht leicht gemacht. Aber sie bleibt sich selbst treu und scheut sich nicht, ihre Meinung zu sagen. Das bringt nicht nur Konflikte mit sich, sondern weckt auch das Interesse des Sohnes des Plantagenbesitzers.
Während Annie im Süden ihren Weg geht, versucht ihre Schwester Sophia im Mittleren Westen Farm und Familie vor dem drohenden Bürgerkrieg zu schützen und ist ständiger Gefahr ausgesetzt. Auch der Cousin der beiden, Marcus Tanner, gerät zwischen die Fronten: Er ist in die Südstaatlerin Susanne Belle Jackson verliebt. Die ist allerdings schon einem Mann ihres Standes versprochen. Doch das hindert Marcus nicht daran, um sie zu kämpfen.
"Das Leuchten der Sehnsucht" ist der erste Band einer emotionalen, mehrbändigen Familiensaga rund um den amerikanischen Bürgerkrieg, in der sich abgrundtiefer Hass, ein gnadenloser Krieg und unmenschliche Ungerechtigkeiten mit der großen Liebe, tiefgehender Freundschaft und den kleinen Freuden des Lebens die Hand reichen. Ein Pageturner, der einen nicht mehr loslässt.
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Seitenzahl: 596
Veröffentlichungsjahr: 2021
Cover
Über dieses Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Personenregister
April 1859
Eins
Zwei
Drei
Vier
Mai – Juni 1859
Fünf
Sechs
Juni – Juli 1859
Sieben
Acht
Neun
Juli – August 1859
Zehn
Elf
August 1859
Zwölf
Dreizehn
August – September 1859
Vierzehn
Fünfzehn
Sechzehn
Oktober 1859
Siebzehn
Achtzehn
Neunzehn
Oktober – November 1859
Zwanzig
Einundzwanzig
Zweiundzwanzig
November – Dezember 1859
Dreiundzwanzig
Dezember 1859
Vierundzwanzig
Nachwort
Amerika, 1859: Als die junge Lehrerin Annie Braun auf der Südstaaten-Plantage Birch Island ihren Dienst antritt, trifft sie auf einen ihr völlig unbekannten luxuriösen und feudalen Lebensstil. Dieser und der Umgang mit den Sklaven, die für die Familie arbeiten, sind für die Nordstaatlerin ungewohnt und befremdlich. Der Start wird ihr nicht leicht gemacht. Aber sie bleibt sich selbst treu und scheut sich nicht, ihre Meinung zu sagen. Das bringt nicht nur Konflikte mit sich, sondern weckt auch das Interesse des Sohnes des Plantagenbesitzers.
Während Annie im Süden ihren Weg geht, versucht ihre Schwester Sophia im Mittleren Westen Farm und Familie vor dem drohenden Bürgerkrieg zu schützen und ist ständiger Gefahr ausgesetzt. Auch der Cousin der beiden, Marcus Tanner, gerät zwischen die Fronten: Er ist in die Südstaatlerin Susanne Belle Jackson verliebt. Die ist allerdings schon einem Mann ihres Standes versprochen. Doch das hindert Marcus nicht daran, um sie zu kämpfen.
Hinter dem Namen Noa C. Walker verbirgt sich das Autorenehepaar Elisabeth und Christoph Büchle. Elisabeth ist das »Gesicht« des Autorenduos und brachte bereits als Kind unzählig viele kleine Geschichten zu Papier. Sie erlernte den Beruf einer Bürokauffrau im Groß- und Außenhandel und wurde anschließend noch examinierte Altenpflegerin. Im Jahr 2005 schickte sie ihr erstes Manuskript an einen Verlag, aus dem ihr Debütroman wurde. Christoph ist Pädagoge und begeisterter Sportler. Von Beginn an war er maßgeblich am Autorenalltag beteiligt. Elisabeth und Christoph sind seit über 25 Jahren verheiratet, haben fünf Kindern und drei Enkelkinder. Ihr Markenzeichen sind gut recherchierte, romantische und äußerst spannende Romane, die bereits mehrfach ausgezeichnet wurden. Gleich mehrere ihrer Romane standen in den Top Ten der BILD-Bestsellerliste.
NOA C. WALKER
DasLeuchtender Sehnsucht
Töchter der Freiheit
Originalausgabe
beHEARTBEAT in der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2021/2024 by Bastei Lübbe AG,Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln
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Textredaktion: Anne Pias
Covergestaltung: Guter Punkt GmbH Co. KG unter Verwendung von Motiven von © MSMcCarthy_Photography/iStock/Getty Images Plus; Galina Zhigalova/iStock/Getty Images Plus; paladin13/iStock/Getty Images Plus; katyakatya/iStock/Getty Images Plus
eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf
ISBN 978-3-7517-1525-6
be-heartbeat.de
lesejury.de
Albert und Maria Stein:
Farmer in Kansas, deutscher Abstammung
Alice Williams:
Matriarchin der Familie, die »Großmutter«
Annabelle Jackson:
Mutter Susanna Belle, Ehefrau von Frank
Benjamin:
»Butler«, höchster Haussklave
Brian Tast:
Ältester Farmer im Tal in Kansas, Virginia-Military-Institute-Absolvent
Bud Tast:
Sohn der Tasts, »Verräter«
Bobby Williams:
Robert, jüngster Spross von Richard
Devontae:
»Devon«, Freund von Bobby
Frank Jackson:
Plantageneigentümer, Politiker
Garry:
Stallknecht, Kutscher
Jordan Jackson:
Bruder von Susanna Belle, West-Point-Military-Academy-Kamerad von Kenneth
Jules Rodin:
Lehrer der Jackson-Kinder, Untergrundbahn-Mitarbeiter
Kenneth Williams:
Ältester Sohn, Plantagenerbe
Kent Nells:
Unruhestifter aus Missouri
Lenora Weddington:
Mutter von Melody
Lewis Weddington:
Plantageneigentümer, Vater von Melody
Marianna Williams:
Jüngere Tochter, Annies Schülerin
Max Tanner:
Vater von Jennifer und Marcus, Onkel von Annie und Sophia
Megan Tast:
Ehefrau von Brian, Hebamme
Melody Weddington:
Davids Verlobte
Orlean »Granny«:
Trees und Crystals Großmutter
Paul Drane:
Pinkerton Detektiv, Washington City
Phoebe Barclay:
Williams Ehefrau, Mutter mehrerer Kinder, Kansas
Rebecca Sue Williams:
Kenneths Ehefrau
Richard Williams:
Witwer, Plantageneigentümer und Politiker
Ruthie:
Trees Frau
Sadie Ann:
Zofe, »Mädchen« von Alice
Silvie Stenmark:
Sophias Freundin, Svens Ehefrau, Kansas
Sven Stenmark:
Farmer in Kansas, schwedischer Abstammung
Tree:
Orleans Enkel, Vorarbeiter auf Birch Island
Victoria Williams:
Ältere Tochter, Annies unwillige Schülerin
William Barclay:
Farmer in Kansas, Ehemann von Phoebe
Willrose:
Schneider im District von Birch Island
Annie ließ sich aufseufzend auf eine grob gezimmerte Holzkiste fallen und strich einige schwarze Haarsträhnen aus ihrem schweißnassen Gesicht. Sie hatte es gerade noch geschafft, an Bord der Fluss-Schaluppe zu gelangen. Nun stampfte das kleine Transportschiff lärmend gegen die Strömung an, seinem Bestimmungsort entgegen. Blau und grün schillernde Libellen begleiteten es, tanzten über die farbenfrohe Blumenpracht am Rande des leicht brackig riechenden Gewässers.
Annie, die sonst immer einen Blick für die Schönheiten der Natur übrig hatte, war damit beschäftigt, ihren Atem und ihren Puls zu beruhigen und das Schlingern des Schiffes auszugleichen, um nicht unsanft von der Kiste zu rutschen.
Sie sah missbilligend an ihrem verstaubten dunkelblauen Reisekostüm hinunter auf die jetzt abgeschabten Stiefel, die sie ausgezogen und auf ihren Koffer gestellt hatte. Neue Schuhe taugten nicht viel für ein Wettrennen mit zwei kleinen Jungen. Jenen aufgeweckten Burschen hatte sie es zu verdanken, dass sie noch rechtzeitig den Weg zur Anlegestelle des Steamers gefunden hatte.
Ihr Onkel hatte die Reise zwar penibel geplant und ihr versichert, dass sie an Bord des Dampfers ein Familienmitglied der Williams treffen würde, allerdings war dies nicht geschehen. Aus diesem Grund hatte sie sich durchfragen müssen und wäre fast zu spät gekommen. Das passte ins Bild, immerhin waren ihre weiblichen Begleitpersonen – ihre Tante und ihre Cousine – am Tag vor ihrer Abfahrt erkrankt, sodass Annie letztlich allein gereist war.
Das Zittern ihrer Beine ließ allmählich nach, und die Furcht verflog, dass sie vergessen worden war und auf sich gestellt in einer fremden Stadt zurechtkommen musste. Annie griff in die Tasche ihres kurzen Jäckchens, das zu ihrem Reisekostüm gehörte, und zog einen inzwischen reichlich zerknitterten Briefumschlag hervor.
Frustriert betrachtete sie die ausladende Handschrift ihres Onkels. Als Leiter eines Lehrerseminars in New York City bekam Max Tanner, Annies Onkel, fortwährend Stellenangebote zugesandt, die er an die zukünftigen Lehrkräfte weitergab. Für seine Nichte hatte sich – zumindest in seinen Augen – eine besonders attraktive Anstellung aufgetan, und als ihr gesetzlicher Vormund hatte er alles in die Wege geleitet, um sie Annie zu sichern.
Somit durfte sie nicht, wie sie sich das gewünscht hatte, »halbwilde Pionierkinder« unterrichten, die, laut ihres Onkels, nur dann zur Schule kamen, wenn es die Arbeit auf den Farmen und das Wetter zuließen. Annie, so hatte er ihr eindringlich erklärt, habe einen hervorragenden Abschluss, der ihr viele Türen öffnen würde, wenn sie nicht gerade »irgendwo in der Wildnis für immer verschwinden würde«.
Annie warf einen unwilligen Blick auf das Kuvert, ehe sie es zurück in die Tasche steckte. Sie war ihrem Onkel und ihrer Tante zu großem Dank verpflichtet. Das Ehepaar hatte Annie und ihre jüngere Schwester Sophia nach dem Tod des Vaters aufgenommen und ihnen ein Heim gegeben. Doch wie hatte Max in seinem Eifer um eine erstklassige Anstellung vergessen können, dass Annie früher selbst eines der »halbwilden Pionierkinder« gewesen war? Und das lange genug, um das Leben im Mittleren Westen zu vermissen? Hatte er sehr wohl daran gedacht und es deshalb vermieden, Details über die von ihm arrangierte Arbeitsstelle zu erzählen, bevor er als ihr gesetzlicher Vormund unterschrieben hatte?
Selbst dann noch, als die Übereinkunft zwischen ihrem Onkel und der Familie in South Carolina bereits besiegelt gewesen war, hatte Annie versucht, sich gegen die Änderung ihrer eigenen Zukunftspläne zur Wehr zu setzen. Zuletzt hatte sie sich dem Druck der unterzeichneten Verträge fügen müssen.
Nun würde sie nur zwei Mädchen unterrichten – und das in einem gänzlich fremden Landesteil.
Annie wäre sicher recht vorurteilsfrei an ihre neue Wirkungsstätte gereist, hätte sie nicht mit ihrer zwei Jahre älteren Cousine Jennifer unter einem Dach gelebt. Diese hatte beinahe ununterbrochen darüber gesprochen, welche Ungerechtigkeiten die versklavten Schwarzen im Süden des Landes erlitten. Des Öfteren war Annie geneigt gewesen, ihre Ausführungen anzuzweifeln; zu grausam erschienen sie ihr.
Sie tastete erneut nach dem Brief. Ihr Onkel hatte eine Auflistung mit Ratschlägen erstellt, und es war sicher sinnvoll, sich daran zu halten. Unter anderem empfahl er, den Menschen im Süden mit Offenheit zu begegnen, ebenso, sich von politischen Unterhaltungen fernzuhalten.
Annie schloss ihre eisblauen Augen, lehnte den Kopf an die Kiste hinter ihr und wandte das Gesicht der Sonne zu. Beinahe gelang es ihr, sich einzubilden, dass sie sich in Nebraska befand. Bestimmt würden ihr Vater und ihr älterer Bruder sie gleich ermahnen, zurück an die Arbeit zu gehen …
Schmerzliches Heimweh breitete sich in ihr aus, also kämpfte Annie entschlossen dagegen an und öffnete die Augen. Ihr gegenüber, mit dem Rücken an die rostige Reling des Frachtschiffs gelehnt, stand ein junger Mann. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, grinste amüsiert und hielt – sehr zu ihrem Missfallen – den Blick seiner außergewöhnlich dunklen Augen auf ihre nackten Füße gerichtet.
Gereizt über so viel Unverfrorenheit und erschöpft zugleich, sagte sie wenig freundlich: »Haben Sie nichts anderes zu tun, als mich anzustarren, Mister?«
»Kaum. Auf dieser langweiligen Schifffahrt bin ich froh über jede Abwechslung.«
»Dann empfehle ich Ihnen, dass Sie sich umdrehen und das abwechslungsreiche und farbenfrohe Flussufer betrachten. Das dürfte interessanter sein als …« Die Sache mit ihren nackten Füßen verschluckte sie lieber.
»Ich kenne den Cooper in- und auswendig.«
»Meinetwegen können Sie auch die Vögel beobachten.«
»Ich bin nicht eben ein Vogelexperte.« Der junge Mann folgte dennoch ihrem Vorschlag und schaute in den mit rosafarbenen Streifen geschmückten Abendhimmel hinauf.
Annie nannte ihm in schneller Abfolge die Artenbezeichnungen der hier vorzufindenden Wasser- und Singvögel, zog dabei eilig ihre Strümpfe über und schlüpfte in die schwarzen Stiefel, die sofort wieder schmerzhaft drückten.
Erst als sie mit dem Schnüren fertig war, schaute sie auf und blickte in zwei belustigt funkelnde Augen. Der Fahrtwind zerzauste die braunen Locken des Mannes, im Gegensatz dazu war der gewiss teure Reiseanzug tadellos sauber und knitterfrei.
»Sie stammen nicht aus dieser Gegend?«, begann er nun nicht mehr spöttisch, sondern in freundlichem Tonfall, eine Unterhaltung. Annie war fasziniert von seiner ungewöhnlich tiefen Stimme, die so gar nicht zu dem etwa Fünfundzwanzigjährigen passen wollte.
»Merkt man mir das so sehr an?«, fragte sie ein wenig besänftigt.
Wieder blitzte jenes flegelhafte Grinsen bei ihm auf. »Keine Dame aus der Gegend reist ohne Begleitung. Und ohne Schuhe trifft man hier nur die Schwarzen an.«
Annie registrierte gleich mehrere Details: Sein schleifender Südstaatenakzent trat nun deutlicher in den Vordergrund als zuvor. Zudem sprach er von den »Schwarzen« und nicht, wie Jennifer ihr fortwährend erzählt hatte, herabwürdigend von »Niggern«. Außerdem schien er sich sehr über sie zu amüsieren.
»Das alles hat seine Gründe.« Annie hielt das Gespräch damit für beendet, doch ihr Gesprächspartner war da anderer Meinung.
»Verraten Sie mir, woher Sie kommen?«
»Nebraska«, erwiderte sie, da sie nicht unhöflich sein wollte.
Auf seinen Gesichtszügen zeichnete sich Überraschung ab. »Dafür klingen Sie aber eigentümlich nach Ostküste.«
Annie war nicht gewillt, dem Fremden ihre Lebensgeschichte zu erzählen, und erwiderte knapp: »Ich habe einige Jahre in New York gelebt.«
Seine Verwirrung schien eher noch zuzunehmen. Ob er den letzten Rest eines deutschen Akzents heraushören konnte? Immerhin hatten sie auf der Farm in Nebraska die Muttersprache ihrer Eltern gesprochen.
Ihr Mitreisender schüttelte zwar irritiert den Kopf, fragte aber nicht näher nach. »Na, dann wünsche ich Ihnen noch eine angenehme Weiterreise.« Er nickte ihr zum Abschied zu, schritt zum Bug und verschwand dort aus Annies Blickfeld.
Erleichtert atmete sie auf. Dabei fiel ihr Blick auf die weiße Beschriftung der Holzkiste, auf der sie saß. Die Lieferadresse lautete: Birch-Island-Plantation, South Carolina, über Charleston. Als Absenderhafen stand dort: New York City.
»Prima«, murmelte Annie. Wir haben denselben Weg hinter uns und dasselbe Ziel vor uns. Ich werde dich keine Sekunde mehr aus den Augen lassen, bis wir beide da angekommen sind, wo man uns hinverschickt hat.
Sie hatten Charleston noch nicht lange hinter sich gelassen, als mit einem kurzen, aber farbenfrohen Sonnenuntergang, der das Flusswasser in Orangetöne tauchte, die Nacht hereinbrach. Die kleine Schaluppe legte am Flusspier einer Plantage an und setzte sich mit dem ersten Licht des neuen Tages wieder der Gegenströmung aus.
Das Schiff verließ bald den Hauptlauf des Cooper Rivers und bahnte sich seinen einsamen Weg durch einen der Nebenarme. Es hielt an mehreren Anlegestellen, an denen Schauerleute Kisten, Fässer und sogar Tiere ausluden. Annie bestaunte derweil die herrschaftlichen Bauten inmitten ihrer gepflegten Parkanlagen.
Der Frachter bog neuerlich in einen Seitenarm ab. Die Sumpfgebiete traten zurück, gaben Wäldern und Wiesen Raum, dazu Nutzflächen, die der Natur abgerungen worden waren. Dennoch umwehte Annie ständig ein leicht fauliger Geruch.
Als ein Schatten auf sie fiel, hob Annie träge den Kopf. Vor ihr stand der Schiffsführer, der seine von der harten Arbeit vernarbten Hände in die Seite stemmte. »Miss, wir legen gleich auf Birch Island an. Wenn Sie nicht mitsamt den Kisten verladen werden wollen, sollten Sie sich einen anderen Platz suchen.«
Annie sprang auf und wäre dem Mann beinahe in die Arme gefallen, so schwindelig war ihr. Sie wich bestürzt zurück und klammerte sich an die derb gezimmerte Holzkiste. Allmählich hörten die Bäume auf, sich um den Skipper zu drehen.
»Langsam, Miss, das Klima hier bekommt nicht jedem.«
Annie nickte und wünschte sich, er hätte diese Warnung früher ausgesprochen. Sie hielt sich links an der Reling fest, rechts suchte ihre Hand den Kontakt mit den vielen Kisten. So gestützt schwankte sie mit butterweichen Knien zu ihrer winzigen Kabine und raffte ihre paar Habseligkeiten zusammen.
Der Flussdampfer hatte an einem Holzsteg angelegt. Entlang des Ufers war der Wald gerodet, und auf der Lichtung standen zwei mit Kisten beladene Pferdewagen.
Sie verließ das Schiff über eine schwankende Holzplanke und stellte ihren Koffer neben einen der Karren. Der Boden wies eine beinahe schwarze Farbe auf, daher ging sie in die Hocke und nahm einen Erdklumpen in die Hand. Ihr Vater, der Farmer, hätte seine Freude an dieser fruchtbaren Erde gehabt. Als sie sich wieder aufrichtete, wurde sie der neugierigen Blicke gewahr, die sie auf sich gezogen hatte.
Annie rieb ihre Handflächen aneinander, um sie vom gröbsten Schmutz zu befreien, und sah sich nach einem Haus um.
Ein groß gewachsener, kräftiger Schwarzer näherte sich ihr so langsam und vorsichtig, als befürchtete er, sie würde sich zu Tode erschrecken, sollte er sich zu hastig bewegen. Er senkte den Blick und riss sich den Strohhut von den schwarzen Locken. »Guten Tag, Missi. Darf ich Ihr Gepäck aufladen, Missi?«
Annie, die schlicht nicht wusste, was von ihr erwartet wurde, ergriff das Gepäckstück, als könnte es gegen ihren Willen verladen werden. »Wenn Sie mir bitte erklären würden, wie ich zum Haus komme?«
Der Mann hob den Kopf, und obwohl er schnell wieder wegschaute, gelang es ihm nicht, sein belustigtes Lächeln zu verbergen. Annie sah, dass er – entgegen Jennifers Worten, die behauptet hatte, die Sklavenbarone würden den Schwarzen die Zähne ziehen lassen – ein intaktes Gebiss hatte.
»Gehen Sie den Weg entlang zur Auffahrt, Missi«, erklärte er leise. »Da sehen Sie das Haus, Missi.« Schulterzuckend wandte er sich ab und rief den anderen ein paar Anweisungen zu.
Zielstrebig marschierte Annie den Weg entlang, der sich in unzähligen Windungen durch den wildwüchsigen Wald zog, als habe sich jemand beim Roden einen Spaß daraus gemacht, einen Spaziergänger möglichst lange hinzuhalten. Sie war umgeben von uralten Baumriesen, die ihre wuchtigen Äste dem Himmel entgegenstreckten. Der Weg war von Radspuren unangenehm zerfurcht, zudem lag er im Schatten der Bäume, sodass nicht jede Unebenheit sofort zu sehen war. Prompt trat Annie in ein Loch, verlor das Gleichgewicht und stürzte auf die Knie.
Leicht genervt verdrehte sie die Augen und rappelte sich wieder auf. Dabei entdeckte sie im Unterholz einen etwa fünfjährigen schwarzen Jungen, der sie angrinste. Noch ehe sie ihn ansprechen konnte, tauchte er blitzschnell im Dickicht unter. Annie blickte ihm enttäuscht nach.
Inmitten der Stämme, eingebettet in ein Meer aus weißen Blüten, glaubte sie, einen schmalen Fußpfad auszumachen. Ob sie schneller ans Ziel gelangen würde, wenn sie jenen Weg nahm?
Sie ließ den Gedanken sofort wieder fallen, da sie ohnehin schon furchtbar mitgenommen aussah, obwohl sie sich um eine ansprechende Frisur bemüht und ihr bestes Kleid angezogen hatte. Aber der Schwindelanfall, die Hitze und der Sturz auf die Knie hatten unweigerlich Spuren hinterlassen. Wenn sie nun auch noch durch den Wald stolperte, würde sie endgültig ein ungebührliches Bild abgeben. Daher nahm sie ihren Koffer wieder auf und stapfte mit großen Schritten voran. Erleichterung breitete sich in ihrem Herzen aus, als sie nach einer weiteren Kurve unverkennbar die gepflegte Auffahrt Richtung Haus erreichte.
Ein Meer aus weißen Kieseln und Muschelkalk bildete den Bodenbelag, auf den in regelmäßigen Abständen die Schatten der schlanken Alleebirken geworfen wurden.
Hinter den bronzefarbenen Birkenstämmen breiteten sich gepflegte Wiesen über leicht geschwungene Hügel aus. Auf jenen sattgrünen Grasflächen wuchsen vereinzelt moosbehangene Lebenseichen und Robinien. In einiger Entfernung gewahrte Annie blühende Büsche, Blumenrabatten und eine Ansammlung von Trauerweiden. Vom Plantagenhaus am Ende der Allee war nur wenig mehr als seine weiße Farbe zu sehen.
Annie stand staunend da und konnte sich an dieser liebevoll angelegten Anlage kaum sattsehen. Als sie endlich die Allee betrat, knirschten die Kiesel unter ihren Schritten, der Wind bewegte sacht die Birkenblätter und entlockte ihnen ein verhaltenes Raunen.
Etwas atemlos erreichte Annie den ebenfalls gekiesten runden Vorplatz. In seiner Mitte lag eine durch eine niedrige Mauer eingefasste Grünfläche, in der mehrere Palmettopalmen unterschiedlicher Größen wuchsen. Die schlanken Stämme mit ihren bauschigen Kronen wirkten wie Soldaten, die vor dem prächtigen Herrenhaus Wache hielten.
Annie stellte verwundert fest, dass sie sich, obwohl sie vor einer Treppe und dem Haupteingang stand, an der schmaleren Seite des Bauwerks befand. Die Treppe führte auf eine Holzveranda, die um das ganze Haus herum verlief und von einer weißen Holzbrüstung begrenzt wurde. In regelmäßigen Abständen ragten schlanke Säulen in die Höhe und stützten die Veranda des oberen Stockwerks. Dessen Brüstung bestach durch gedrechselte Ranken und wies dasselbe Grün wie die Birkenblätter auf. Das Haus hatte keine einfachen Fenster, vielmehr waren alle Zimmer mit zweigeteilten, oben abgerundeten Flügeltüren ausgestattet, flankiert von grünen Holzläden.
Von der Größe und Anmut des Gebäudes beeindruckt, wechselte Annie ihr Gepäck von der linken in die rechte Hand und stieg die Stufen zur Veranda hinauf. Sie stellte den Koffer ab und suchte die grün gestrichene Tür nach einem Klopfer oder Klingelzug ab, konnte aber weder das eine noch das andere finden.
Sie atmete tief ein und mit gespitzten Lippen wieder aus, in dem Versuch, das aufgeregte Kribbeln in sich zu bändigen. Dann klopfte sie kräftig an. Sekunden später glitt ein Türflügel nach innen, und vor ihr stand ein dunkelhäutiger, dürrer Mann mit ergrautem Kraushaar, angetan mit einer vornehmen, in Grün und Grau gehaltenen Livree. Sein Blick wirkte missbilligend. Annie sah ihm an, dass er mit ihrer Erscheinung nichts anzufangen wusste.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte er nach.
»Ich bin Anna Braun, die neue Lehrerin.«
»Folgen Sie mir bitte, Missi. Ich bringe Sie zu Missus Williams.« Der Butler wollte ihren Koffer hochheben, doch Annie war schneller, verspürte sie doch den törichten Wunsch, ihr bescheidenes Eigentum ja nicht aus der Hand zu geben. Der verschrammte Reisekoffer war ihre letzte greifbare Erinnerung an die kleine Farm in Nebraska und vermittelte ihr das Gefühl, nicht völlig entwurzelt und auf sich allein gestellt zu sein.
Der Butler – Annie nahm an, dass der alte Mann diese Position innehatte – geleitete sie nicht ins Haus, sondern über die Veranda und um die Hausecke herum. Auf jener Seite war der Vorbau deutlich breiter und in seiner Mitte, flankiert von zwei runden Säulen, führten fünf ausgetretene Holzstufen hinunter auf die Rasenfläche.
Von hier aus blickte man direkt auf die Trauerweiden, die Annie schon von der Allee aus gesehen hatte. Bei jenem Hain stand ein mit wildem Wein überwachsener weißer Pavillon. Die Schilfhalme und Binsen verrieten, dass es dort, eingebettet in grasbewachsene Hügel und Trauerweiden, ein Gewässer gab.
Auf ihrem Weg über knarrende Verandadielen kam sie an kleinen runden Tischen, Stühlen und Schaukelstühlen vorbei. Die Gartenmöbel waren allesamt entweder in Weiß oder Grün gehalten und standen im Schatten der oberen Veranda.
In einem jener Schaukelstühle saß eine ältere weiße Frau. Ihre ergrauten Haare waren streng gescheitelt hochgesteckt, und ihr Seidenkleid schimmerte in Graufacetten. Die fein geklöppelte weiße Spitze am züchtig hochgeschlossenen Halsausschnitt hob sich deutlich von der gesetzten Farbe ab.
Die Dame bot, trotz ihres vermutlich hohen Alters, ein Bild perfekter Schönheit. Ihre Haltung war aufrecht, wirkte sogar ein bisschen steif, die schmalen Hände und Unterarme steckten in Seidenhandschuhen und hielten eine begonnene Stickerei, ruhten gerade aber untätig im Schoß. Ihr Gesicht, von erstaunlich wenig Falten vielmehr geschmückt denn gezeichnet, besaß eine Ausstrahlung, die sicher jedem eine ordentliche Portion Ehrfurcht abnötigte.
Annie blieb einige Schritte entfernt stehen und presste den Koffer wie einen Schutzschild vor ihren Körper. Sie hätte wohl besser ihre Handschuhe übergezogen, so wie es sich ziemte.
Der Butler näherte sich der Matriarchin und sprach leise mit ihr. Für den Bruchteil eines Augenblicks musterte die Dame Annie, dann, als sei die neue Lehrerin ihr Interesse nicht wert, richtete sie den Blick wieder geradeaus. Der Schwarze entfernte sich devot rückwärts und kam zu Annie zurück, die mit steigender Unruhe ausgeharrt hatte.
»Missus Williams erwartet Sie nun«, teilte er ihr mit, ehe er sich abwandte. Zögernd trat Annie vor.
»Sie haben eine weite Reise hinter sich.« Damit entschuldigte Alice Victoria Williams vermutlich Annies in Mitleidenschaft gezogenes Äußeres. »Setzen Sie sich.« Die Aufforderung klang wie ein Befehl, was Annie zusammenzucken ließ. »Ich bekomme einen steifen Nacken, wenn ich zu Ihnen aufsehen muss. Sie sind für eine Frau außergewöhnlich groß.«
Noch ein Vorwurf. Doch für ihre Körpergröße konnte Annie zumindest nichts. Sie stellte den Koffer ab und ließ sich auf das grüne Polster eines Stuhles gleiten.
»Mein Enkel berichtete mir, es sei ihm weder auf dem Schiff noch in Charleston gelungen, Sie ausfindig zu machen.«
Erneut ließ Annie eine intensive Musterung über sich ergehen, dabei zeigte ihre Gesprächspartnerin keinerlei Gefühlsregung. »Dieser Umstand erklärt sich mir nun, da ich Sie vor mir habe. Wir haben mit einer Dame in Begleitung, nicht jedoch mit einem halben Kind gerechnet.«
Annie wurde den Verdacht nicht los, dass Alice’ Enkel und sie sich sehr wohl getroffen hatten.
»Fühlen Sie sich in der Lage, zwei heranwachsende Damen angemessen zu unterrichten, zumal meine älteste Enkelin nur wenig jünger als Sie sein dürfte?«
»Ja, ich verfüge über die notwendigen Qualifikationen.«
Ein zweifelnder Blick traf ihre unbekleideten Hände, doch die Greisin nickte. »Wir werden sehen.« Sie läutete mit einer kleinen Glocke, die in der Tischmitte gestanden hatte. Unverzüglich näherten sich Schritte; wie es aussah, standen die Schwarzen hier in Habachtstellung.
»Sadie Ann wird Sie auf Ihr Zimmer bringen.« Alice’ missbilligender Blick traf den zerkratzten Koffer neben dem Tischbein. »Ist dies Ihr einziges Gepäck?« Jetzt klang sie entsetzt, und Annie fühlte sich seltsam beruhigt, dass in der Frau doch Gefühle steckten.
»Ja, Mrs Williams.«
Die Dame seufzte theatralisch. »Da müssen wir wohl nach einer geeigneten Garderobe Ausschau halten.«
Eine in Grün und Grau gekleidete Bedienstete, auf Birch Island offenbar die Einheitsfarbe für die Garderobe der Haussklaven, huschte für ihr fortgeschrittenes Alter erstaunlich flink herbei.
»Zeige Miss Braun ihr Zimmer und hole … ich denke … Crystal«, befahl die Matriarchin und wandte sich wieder ihrer Stickerei zu.
Sadie Ann nahm den Koffer hoch, ehe Annie danach greifen konnte. Sie folgte der Frau durch die Verandatür, erleichtert darüber, von der strengen Alice fortzukommen.
Jennifer Tanner eilte durch die Straßenschluchten New Yorks. Aufgrund ihrer Eile hatten sich blonde Strähnen aus dem strengen Knoten gelöst, und sie schob sie ungeduldig hinter die – zu ihrem Leidwesen – leicht abstehenden Ohren. In einiger Entfernung konnte sie ihr Ziel, das Washington-Denkmal, ausmachen. Das Pferd stand majestätisch auf dem einfachen, von der Sonne bestrahlten Sockel, und nicht minder stolz und mit erhobenem Arm wirkte sein Reiter: George Washington, Feldherr und erster Präsident der USA.
Jennifer seufzte verhalten auf. Im Jahr 1781 hatte sich ihr junges Heimatland – unter anderem dank Washington – die Unabhängigkeit erkämpft. Nun focht sie einen ähnlichen Kampf aus; für die Freiheit der schwarzen Bevölkerung.
Sie betrat den Union Square und sah sich suchend um. Niemand hielt sich in ihrer unmittelbaren Nähe auf, also umrundete sie die gusseiserne Umzäunung der Bronzestatue und setzte sich schließlich auf die niedrige Mauer, aus der spitz zulaufende Eisenstäbe emporragten.
War sie so spät dran, dass ihre Kontaktperson bereits gegangen war? Was sollte sie nun tun? Sowohl die Lebensmittel als auch die Papiere in ihrem Korb wurden dringend gebraucht.
Nach einigen Minuten bangen Wartens bemerkte sie einen jungen Mann mit auffallend großem Filzhut. Ihre Blicke trafen sich, und Thomas schlenderte auf sie zu. Jennifer schrak zusammen, wurde sie doch unvermutet angesprochen. Erschrocken ob der vertrauten Stimme sprang sie auf die Füße. Vor ihr stand Danny Loftin, der Mann, den sie liebte, den sie im Augenblick aber am allerwenigsten treffen wollte.
»Jennifer, was machst du denn hier? Bist du allein?« Danny war unüberhörbar entrüstet darüber, sie ohne Begleitung anzutreffen.
»Guten Tag, Danny. Ich war spazieren und ruhe mich hier aus.« Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie ihre Kontaktperson vorüberging. Sie war nicht nur zu spät zum vereinbarten Treffpunkt gekommen, sondern wurde nun auch noch daran gehindert, das Mitgebrachte weiterzugeben.
»Willst du mich nicht ein Stück begleiten, zumal es dir an einer Begleitung fehlt?« Danny nahm ihren Korb und ging zielstrebig über das Kopfsteinpflaster. Dermaßen überrumpelt sah Jennifer sich hilflos um. Der Untergrundbahn-Mitarbeiter beobachtete sie aus einiger Entfernung.
»Gib mir bitte den Korb, du brauchst ihn nicht zu tragen.« Sie wollte ihr Eigentum mit dem prekären Inhalt wieder an sich bringen.
»Der ist aber schwer«, stellte Danny fest, und Jennifer hielt den Atem an, da er das Tuch anhob. Der Zwanzigjährige mit dem Filzhut hatte sich ihr erneut bis auf wenige Schritte genähert, blieb nun allerdings stehen und wartete ab.
»Was ist das denn? Willst du eine Reise unternehmen?« Danny lachte zwar, doch Jennifer ließ sich davon nicht täuschen. Er klang verstimmt.
Jennifer atmete tief durch. Sie tat nichts Falsches, und bald würde sie Danny ohnehin in ihr Engagement bei der Untergrundbahn einweihen müssen.
Entschlossen nahm sie ihm den Korb ab, eilte zu Thomas, der betont interessiert die Fenster des nächststehenden Gebäudes betrachtet hatte. »Diese Heimlichtuerei ist auffälliger als ein offenes Gespräch.« Jennifer drückte ihm den Korb in die Hand.
Ihr Mitstreiter blickte sie entsetzt an, warf einen flüchtigen Blick auf Danny und drehte sich so, dass er ihm den Rücken zuwandte. »Nicht nur die Sklavenbefürworter nehmen es mit dem Sklavenschutzgesetz genau. Einige unserer Mitstreiter haben das Gefühl, dass sie beobachtet werden.« Mit diesen unfreundlich gezischten Worten ließ Thomas sie stehen.
»Was hat das zu bedeuten?« Danny trat zu ihr und schaute dem Davoneilenden mit düsterer Miene nach.
»Ich werde dir alles in Ruhe erklären. Musst du nicht zurück zur Arbeit?«
»Zuerst möchte ich erfahren, in welche Heimlichkeiten meine zukünftige Frau verstrickt ist.«
Jennifer schaute Danny verunsichert an, und was sie sah, ließ sie erschauern. Seine Augen blickten sie kalt an. Hastig erklärte sie: »Ich habe eine Mahlzeit und Kontaktdaten für die Flucht einiger entflohener Sklaven weitergegeben.«
Der ohnehin grimmige Ausdruck auf Dannys Gesicht verhärtete sich, also holte Jennifer tief Luft. »Ich unterstütze die Untergrundbahn, die Sklaven nach Canada schmuggelt.«
Danny trat einen Schritt zurück. »Du weißt, dass flüchtige Schwarze in den Süden zurückzubringen sind? Das, was du da tust, ist illegal.«
»Das Fugitive Slave Law von achtzehnhundertfünfzig ist ein äußerst umstrittenes Gesetz. Ich weiß die Sklaven lieber in Freiheit als bei ihren grausamen und ausbeuterischen Sklavenhaltern.«
»Wann hättest du mir davon erzählt, wenn ich dich heute nicht dabei ertappt hätte?« Danny klang eisig.
»Es ist ja nicht so, dass ich Verbrechern zur Flucht verhelfe.«
»Das beantwortet meine Frage nicht!«
»Ich hätte es dir bald gesagt.« Jennifer senkte den Kopf. Irgendetwas lief gerade furchtbar verkehrt.
»Vor oder nach unserer Hochzeit? Hätte ich irgendwann erfahren müssen, dass meine Ehefrau in illegale Geschäfte verwickelt ist, sich und auch meine Karriere in Gefahr bringt, nur um ein paar Negern zu helfen?«
Jennifer wand sich unter den Blicken des Mannes, der ihr plötzlich so fremd erschien. »Können wir das bitte später in aller Ruhe besprechen?«
»Was gibt es da zu besprechen? Diese Neger sind es nicht wert, dass du dich ihretwegen mit zwielichtigen Gestalten triffst. Ich verlange von dir, dass du das sofort beendest. Kommst du dem nicht nach, kannst du unsere Vereinbarung als hinfällig betrachten.«
Tief in Jennifer rührte sich ein dumpfes Ziehen, das rasend schnell zu einem reißenden Schmerz anschwoll und ihr den Atem zu rauben drohte. Es war dumm von ihr gewesen, ihn nicht schon früher einzuweihen. Allerdings war es selbst hier im Nordosten der Union nicht ganz ungefährlich, einer Organisation anzugehören, die das persönliche Eigentum und wertvolle Kapital reicher Plantagenbarone außer Landes schmuggelte. Musste sie sich nun zwischen einer Ehe mit Danny und ihrem Wunsch, den schwarzen Flüchtenden zu helfen, entscheiden?
Orlean sah auf, als ihr Enkel zur Tür hereinstürmte. Tree warf den Strohhut auf den wackeligen Tisch und ließ sich auf den Baumstumpf fallen. Er schob die in verschmutzten Baumwollhosen steckenden Beine weit von sich und lachte schallend los.
Die alte Schwarze wartete, leise vor sich hin summend, dass er sich beruhigte, doch Tree platzte heraus: »Der junge Master ist wieder da. Er sollte auf dem Dampfschiff die neue Lehrerin treffen. Er kam aber allein.« Tree lachte weiter, und Orlean versuchte, das Wort zu ergreifen. Allerdings war Tree erneut schneller. »Sie kam später aus dem Frachtschiff. Fragte mich, wie sie zum Haus kommt. Sie lief den ganzen Weg hinauf. Trug sogar ihren Koffer selbst.«
»Schäm dich, Junge. Du hättest ihr das Gepäck abnehmen müssen. Und sie auf einem der Wagen mitfahren lassen.« Orlean drohte zwar mit ihrem fleischigen Zeigefinger, ihre Augen glitzerten jedoch belustigt.
»Wenn sie nichts sagt?«, verteidigte sich Tree glucksend. »Nachher hätte ich Ärger bekommen. Weil ich mich aufgedrängt habe.«
»Jetzt wirst du Ärger bekommen, weil du es nicht getan hast.«
Tree zuckte mit seinen muskelbepackten Schultern. »Du hättest sie sehen sollen: zerzaust und schwankend. Und das Beste ist, sie ist etwa so alt wie meine Ruthie.« Erneut lachte er so dröhnend, dass Orlean befürchtete, die Holzwände ihrer kleinen Hütte könnten bersten. Da Tree Ruthie erwähnte, gebot sie ihm mit einer Handbewegung, endlich zu schweigen. »Hier ist ebenfalls jemand angekommen.«
Es dauerte ein paar Sekunden, ehe ihr Enkel auf die Füße sprang. »Das Kind! Das Kind ist da?«, stieß er keuchend hervor. »Und?«
»Ruthie geht es gut. Dem Jungen auch, obwohl er ziemlich winzig ist.«
Trees muskulöse Arme wirkten plötzlich viel zu lang. Leise fragte er: »Und wie sieht er aus?«
»Weißer als Baumwolle.«
Er wandte sich ruckartig ab und trat hinter das Tuch, das an der niedrigen Holzdecke angebracht war. Auf Orleans Bett lag seine Ruthie und in ihren viel zu dünnen Armen ruhte ein in Baumwolltücher gewickeltes Bündel. Vorsichtig, da er die beiden nicht wecken wollte, ging er in die Knie.
Ruthie öffnete die Augen und lächelte ihn an. »Wir waren heute fleißig.«
»Ja, das habe ich gehört, meine liebe, tapfere Ruthie.«
Sie schlug das Tuch zurück und ließ ihn das Kind sehen. Es war ein außergewöhnlich kleines Baby, doch es atmete gleichmäßig und wirkte gesund.
»Einen schönen Sohn hast du zur Welt gebracht.« Tree strich sanft mit dem Daumen über die winzige Stirn des schlafenden Jungen.
Ruthies Blick verfinsterte sich. »Aber er wird nie deine Augen haben, nie –«
Tree unterbrach sie, indem er das Kind mit seinen großen Händen hochhob. »Ich werde ihn lieben. Als wäre er unser gemeinsames Kind. Unser Erstgeborener.«
»Ganz wunderbar sehen Sie aus, Missi«, beeilte sich Crystal zu beteuern. Die Schwarze mit der durch kleine Zöpfchen geschmückten Kraushaarfrisur ergriff eines der Schnürkorsetts und verstaute es wieder in der Holzkiste. Sie lächelte zufrieden, passte Annie doch perfekt in die abgelegten Kleider der jungen Victoria Williams und das, ohne dass Crystal sie mit einem zu eng geschnürten Korsett quälen musste. Nur den Saum hatte sie weit auslassen müssen, da die Frau aus dem Norden ziemlich lange Beine hatte.
Crystal hatte erleichtert festgestellt, dass Annie mit der Krinoline umzugehen verstand. Prüfend legte sie den Kopf schief und besah ein letztes Mal das Resultat ihrer Änderungen. Kaum jemand würde das himmelblaue Kleid als das erkennen, was es war: ein von seiner Vorbesitzerin aussortiertes Kleidungsstück.
Annie war fast ebenfalls nicht wiederzuerkennen, denn Crystal hatte die langen schwarzen Locken gebürstet, vorn gescheitelt und zu einer modernen Frisur hochgesteckt. Zwar hatte die Lehrerin protestiert, aber Crystal hatte darauf bestanden, dass sie nicht mit ihrem einfachen Dutt bei Tisch erscheinen könne.
»Ich weiß nicht recht …« Annie tastete nach den Kämmen. Eilig legte Crystal das Kleid, das sie gerade aufgenommen hatte, zurück aufs Bett und versuchte sich erneut in der gepflegten Aussprache, die im Haus von ihr verlangt wurde.
»Missi Annie, glauben Sie mir. Spätestens wenn Sie da unten bei den anderen sind, werden Sie mir dankbar dafür sein.« Crystal las Zweifel in den Augen der Weißen, wandte sich aber wieder ihren Aufräumarbeiten zu. Es würde auf sie zurückfallen, wenn Annie unangemessen gekleidet und frisiert zum Dinner erschien. Und sie musste Sadie Ann recht geben: Die Lehrerin hatte keine Ahnung vom Leben in South Carolina und benötigte dringend Hilfe.
Diese schien das allerdings selbst zu wissen, denn während Crystal mit der gebotenen Eile Victorias altes Kleid umgenäht hatte, hatte Annie unzählige Fragen gestellt. Crystal hatte sich alle Mühe gegeben, sie so ausführlich und verständlich, wie sie nur konnte, zu beantworten.
»Es ist Zeit, Missi.« Crystal öffnete auffordernd die Tür, worauf Annie ihrem Spiegelbild einen letzten unglücklichen Blick zuwarf. »Ich weiß nicht, wohin ich gehen muss.«
Ein Räuspern drang aus dem dunklen Flur in das kleine Mansardenzimmer.
»Benjamin wird Sie zu den Herrschaften bringen.« Crystal bedeutete Annie zu gehen, doch diese wirkte bemitleidenswert überfordert.
»Ich danke dir für deine Hilfe.«
Crystal lächelte belustigt über die Dankesworte, Benjamin, der immer korrekte, etwas versnobte erste Haussklave schüttelte darüber nur den Kopf. Crystal blickte den beiden nach, als sie zur schmalen Dachstiege gingen. Sie hatte ihr Bestes gegeben, um die seltsame Fremde auf das erste Zusammentreffen mit den Williams vorzubereiten. Jetzt war sie auf sich allein gestellt.
Das Licht mehrerer Kandelaber ließ die Teller mit dem Goldrand cremefarben schimmern und brach sich im geschliffenen Kristall der Gläser. Alice saß steif auf einem polsterbezogenen Stuhl an der festlich gedeckten Tafel. Ihr violetter Rock war durch voluminöse Volants aufgebauscht, und über dem Saum zierten fünf Lagen mit schwarzer Spitze den schimmernden Musselin. Aufgestickte Perlen rund um den hochgeschlossenen Ausschnitt glitzerten im Licht der Kerzen.
»Wunderbar.« Alice war mit Annies Erscheinungsbild so zufrieden, dass sich auf ihrem Gesicht der Anflug eines Lächelns abzeichnete. Bei ihrem knappen Lob drehte sich ein junger Mann um, und Annie unterdrückte ein Auflachen. Sie hatte mit ihrer Vermutung recht behalten: Sie kannte Alice’ Enkel bereits. Bei ihm handelte es sich um genau jenen Mitreisenden mit dem Lausbubengrinsen, der sich auf der Flussschaluppe nur zu gern auf ihre Kosten amüsiert hatte.
Sein gelangweiltes Lächeln wich einem erstaunten Ausdruck. Entweder hatte Alice ihn nicht darüber informiert, dass er sehr wohl mit ihr in Charleston angekommen war, oder er war fassungslos über ihre durch Crystal erwirkte Verwandlung. Allein der konsternierte Gesichtsausdruck des Williams-Sohnes war es wert, dass sie auf Crystal gehört hatte.
Bei dem zweiten Herrn im Raum handelte es sich um dessen Vater, Richard Williams. Sein schwarzes Haar war von grauen Strähnen durchzogen, in seinen Koteletten und dem Vollbart zeigte sich dasselbe Mosaik. Bei Annies Eintreten hatte er eine Pfeife am weißen Kaminsims ausgeklopft, nun legte er diese beiseite und trat auf sie zu. »Guten Abend, Miss Braun. Ich hoffe, Sie haben sich von der Reise erholen können?«
»Ja, danke, Mr Williams«, erwiderte Annie und blickte zu der Respekt einflößenden Erscheinung auf. Richards rechter Arm fehlte, sein Jackettärmel war aber nicht einfach nur hochgesteckt, sondern von vornherein für einen Mann mit nur einem Arm angefertigt worden.
Richard reichte ihr die linke Hand. »Die andere ist leider in Mexico geblieben.«
Etwas ungelenk legte Annie ihre rechte Hand in seine linke, lächelte aber bewundernd über die Selbstverständlichkeit, mit der er seine Beeinträchtigung hinnahm.
»Meine Mutter haben Sie ja bereits kennengelernt.«
Die Frauen nickten einander zu. Richard winkte seinen Sohn herbei, der mit vor der Brust verschränkten Armen am Rahmen einer Verandatür gelehnt hatte. »David, mein zweitältester Sohn.« Richard klopfte ihm belustigt auf die Schulter und meinte an Annie gewandt: »Wir hatten arrangiert, dass Sie mit demselben Schiff nach Charleston reisen. Leider hatte er von der zukünftigen Lehrerin seiner Schwestern wohl eine etwas andere Vorstellung. Zum Glück sind Sie so patent und haben uns ohne seine Unterstützung gefunden.«
»Ich halte es vielmehr für Leichtsinn«, warf Alice ein. »Warum hat man Ihnen keine Begleiterin zur Seite gestellt?«
»Meine Cousine und meine Tante wollten mich begleiten, erkrankten jedoch beide einen Tag vor der Abreise. Ich entschied mich dennoch zu fahren, schließlich haben Sie mich erwartet. Mein Onkel hat ein älteres Ehepaar gebeten, ein wachsames Auge auf mich zu haben. Sie waren charmante und angenehme Gesellschafter.«
Richard ergriff erneut das Wort, vielleicht, um eine weitere Rüge vonseiten seiner Mutter zu verhindern: »Wir sind froh, dass Sie gut angekommen sind und der Unterricht wieder aufgenommen wird.«
Daraufhin blickte Annie zu den Mädchen, die sich schweigend im Hintergrund gehalten hatten. Ihr Vater hegte offenbar keine Bedenken angesichts des geringen Altersunterschiedes oder behielt diese für sich.
Wie aufs Stichwort kamen die Mädchen näher, wobei sie ihre durch Krinolinen gebauschten Röcke anmutig anhoben. Die Vierzehnjährige stellte sich leise als Marianna vor, knickste leicht und trat dann eilig ein paar Schritte zurück. Sie trug ihre blonden Haare offen, bis auf zwei Stirnsträhnen, die mit einem Kamm am Hinterkopf zusammengehalten wurden. Wellig und dicht fielen sie über die schmalen Schultern. Mit ihren grauen Augen betrachtete sie ihre züchtig gefalteten, behandschuhten Finger.
Victoria hingegen – Annie wusste aus ihren Unterlagen, dass sie bereits sechzehn Jahre zählte –, musterte ihre neue Lehrerin unter hochgezogenen Augenbrauen und flüsterte dann laut genug, damit es alle Anwesenden hören konnten: »Mein abgetragenes Kleid kleidet Sie halbwegs vernünftig, Miss Braun.« Mit einer ungelenken Bewegung prüfte sie den Sitz ihres hellbraunen Haars.
»Vielen Dank, Miss Victoria. Ich hegte ja ein wenig die Befürchtung, Crystal würde eine Livree für mich auftun.«
David lachte auf, und Annie registrierte einen kurzen Blickwechsel zwischen Victoria und ihrem Vater. Das Mädchen wurde schweigend zurechtgewiesen.
»Jetzt fehlt nur noch Robert. Er ist einmal mehr unpünktlich.« Richard lächelte nachsichtig. »Kenneth, mein ältester Sohn, befindet sich mit seiner Frau Rebecca Sue auf Hochzeitsreise.«
Alice griff nach einem kunstvoll geschnitzten Gehstock aus Mahagoni und klopfte damit auf den dunklen Parkettboden. »Es ist Zeit. Robert darf ruhig bemerken, dass er zu spät ist.«
Sie setzten sich, wobei David für Annie den Stuhl zurechtrückte. Sie dankte ihm mit einem Lächeln, und er beugte sich leicht über sie. »Sind Sie das wirklich?« Erneut blitzte Schalk in seinen dunklen Augen auf.
»Als ich vorhin in den Spiegel geschaut habe, konnte ich mich davon überzeugen.«
»Dann glaube ich Ihnen einfach mal.« Er grinste sie an und setzte sich ebenfalls.
Neben Benjamin betraten vier weitere Bedienstete den Raum. Annie beobachtete fasziniert, wie sie sich darum bemühten, den Wünschen der Herrschaften gerecht zu werden, doch schnell nahmen die reichhaltigen Köstlichkeiten ihre Aufmerksamkeit in Beschlag. Es wurden Maisbrötchen, Schinken und gebratenes Hühnchen aufgetischt, ebenso Reis, Bataten, geschmorter Kürbis und Karotten in Sahnesoße; auf einem Beistelltisch standen zudem dreierlei Süßspeisen zur Auswahl.
Annie ließ sich nur wenig von den Süßkartoffeln, dem Hühnchen und den Karotten auflegen, da sie viel zu aufgeregt war, um Appetit zu verspüren.
Nachdem alle Teller und Gläser gefüllt waren, traten die Sklaven zurück. Richard legte seine Hand auf die Tischplatte, die übrigen Familienmitglieder falteten die ihren. Annie beeilte sich, es ihnen gleichzutun. Sie senkte den Kopf, und während der Herr des Hauses das Tischgebet sprach, dankte Annie im Stillen dafür, dass das erste Kennenlernen halbwegs reibungslos verlief.
Leider sollte sie sich dahingehend irren. Ganz so vorhersehbar sollte der Abend nicht verlaufen …
Annies Schwester Sophia Alley erwachte mitten in der Nacht. Sie vernahm die gleichmäßigen Atemzüge ihres Ehemanns und kuschelte sich tiefer unter die Decke, fand aber nicht mehr in den Schlaf zurück. Sie hörte ein seltsames Brausen, als näherte sich ihr ein Bienenschwarm. Irritiert setzte sie sich auf. Bizarre Schatten tanzten an der dunklen Holzwand. Mit einem Satz war sie aus dem Bett und beim Fenster.
»Phil! Philipp, wach auf! Der Stall brennt!«, rief sie mit sich überschlagender Stimme. Schnell war sie zur Tür hinaus und polterte im Dunkeln die schmale Holztreppe hinunter. Barfuß lief sie aus dem Haus.
Als hart arbeitender Farmer benötigte Philipp Alley geraume Zeit, ehe er richtig wach wurde. Irritiert warf er einen Blick aus dem Fenster und sah gerade noch, wie Sophia, bekleidet mit ihrem Nachthemd, in das Nebengebäude lief, an dessen Außenwand züngelnde Flammen leckten. Vom flackernden Schein beschienen entdeckte er mehrere menschliche Silhouetten auf seinem Grundstück. Eine von ihnen folgte Sophia zum Stall.
Philipp hatte, seit die Unruhen in Kansas begonnen hatten, stets seine Waffe in der Nähe. Nun ergriff er das geladene Dreyse-Zündnadelgewehr, einen neumodischen, aus Deutschland stammenden Hinterlader, legte an, zielte und schoss der menschlichen Silhouette zwischen die Füße. Philipp lud hastig nach und gab einen zweiten Schuss in Richtung der fliehenden Männer ab. Danach rannte er aus dem Haus. Über das Prasseln des Feuers hinweg hörte er sich entfernende Hufschläge. Er lehnte die Waffe an die Hauswand und lief zu dem heftig qualmenden Nebengebäude. Die Kälber und die Stute kamen ihm entgegen.
Obwohl er seine Frau nicht sah, hörte er sie husten und war sich somit sicher, dass sie sich außerhalb des Gebäudes aufhielt. »Sophia, bleib draußen, es ist zu gefährlich«, brüllte er gegen die Geräuschkulisse an.
»Aber die Tiere!«, flehte sie bekümmert.
Philipp formte aus den Händen einen Trichter vor dem Mund. »Ich versuche, sie zu holen. Geh du weg vom Stall. Denk an unser Kind!«
Sophia sah ein, dass ihr Mann recht hatte, und verließ die unmittelbare Nähe des brennenden Gebäudes. Suchend sah sie sich um. Die Kälber standen vor der kleinen Veranda, die verschreckte Stute war jedoch verschwunden.
Sophia sprach beruhigend auf die Tiere ein, während sie an ihnen vorbeiging. Schnell holte sie einige Stricke aus dem Haus und band die Kälber an der Veranda fest. Deren Mutter gesellte sich buckelnd und wild muhend zu ihnen. Dankbar, dass auch die Kuh gerettet war, machte Sophia sie ebenfalls fest.
Plötzlich schossen meterhohe Flammen in den nächtlichen Himmel. Sophia wirbelte herum. Zitternd hielt sie Ausschau nach Philipp und entdeckte ihn nur wenige Meter von sich entfernt. Sie wollte gerade auf ihn zueilen, stutzte aber in der Bewegung. Das ist nicht Philipp! Sophia riss die Augen auf.
Der Fremde kauerte sich nieder. Im Widerschein der Flammen sah Sophia das Gewehr in seinen Händen. Ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken. Wartete der Kerl darauf, dass Philipp aus dem brennenden Stall kam? Um ihn dann zu erschießen?
Behutsam rückwärtsgehend setzte Sophia ihre nackten Füße auf den weichen Boden und betrat gleich darauf die kleine Veranda. Sie ergriff die dort lehnende Schusswaffe, froh darüber, dass Philipp ihr bereits vor Monaten gezeigt hatte, wie sie damit umgehen musste.
Mit bebenden Händen legte sie den Lauf des Hinterladers auf das Verandageländer. Sie zielte auf den knienden Schattenriss. Doch was sollte sie jetzt tun? Einfach auf den Eindringling schießen? Ein Blick auf das brodelnde Feuer ließ sie handeln. Sie zog den Abzug durch. Der Rückschlag riss sie wie immer etwas zurück, aber sie hatte ihr Ziel erreicht. Der Fremde suchte aufgeschreckt das Weite.
Sophia ließ das Gewehr fallen. Panisch vor Sorge um ihren Ehemann rannte sie zwischen den befreiten blökenden Schafen hindurch zum Stall.
»Phil, wo bist du?« Ihre Stimme ging im Tosen des Feuers und dem Ächzen des Gebälks unter. Für Sophia gab es keine Möglichkeit mehr, in das Gebäude zu gelangen. Gierige Flammen, dichter, beißender Rauch und herabstürzende Holzbalken verwehrten ihr den Weg.
»Philipp!«, schrie sie aus Leibeskräften. Entsetzen packte die werdende Mutter. »Philipp! Komm da raus, lass mich nicht allein! Lass mich bitte nicht allein!«
Ihre Rufe verklangen ungehört. Sophia sank in die Knie. In ihrem vor Angst verzerrten Gesicht spiegelte sich der unruhige Widerschein des Feuers. »Bitte, Gott, bitte hol ihn da raus.«
Ein lauer Abendwind bauschte die gelben Vorhänge, und verhaltenes Blätterrauschen untermalte das Zirpen der Grillen. Allmählich wurden die bezaubernde Landschaft und das herrschaftliche Gebäude von der Dunkelheit verschluckt, die warme Luft behielt allerdings den Duft des Jasmins bei.
Annie wünschte sich, sie könnte diesen Tag im Freien beschließen, saß aber in einem geliehenen Kleid und mit einer Frisur, die ihr Kopfschmerzen verursachte, inmitten ihr fremder Menschen. Sie naschte von den Süßspeisen, doch die steife Atmosphäre unter den glitzernden Kristallleuchtern hinderte sie daran, das delikate Gebäck gebührend zu würdigen.
»Ein Kind ist heute dazugekommen. Ruthies Kind«, wusste Alice zu berichten. Richard und seine Töchter nahmen die Nachricht nickend hin, David runzelte die Stirn.
»Es soll ungewöhnlich hell sein«, plauderte die Hausherrin weiter. »Tree ist ja mittlerweile mit Ruthie zusammen, gilt als der Vater.« Für Alice schien das Thema damit abschließend behandelt zu sein. Annie hingegen schluckte mühsam. Nur zu gut erinnerte sie sich an ähnlich verlaufende Gespräche zwischen ihrem Vater und ihrem Bruder Samuel. Dabei hatten sie sich über die Geburt eines Kalbes oder Fohlens unterhalten.
Und hatte sie das richtig verstanden? War Ruthie von einem Weißen geschwängert worden? Bemerkte keiner der Anwesenden die großherzige Liebe eines Mannes, der eine Frau heiratete, die das Baby eines anderen unter ihrem Herzen trug? Machte sich niemand Gedanken um ein Kind, das mit auffällig heller Hautfarbe unter den versklavten Schwarzen leben musste?
Annie trank schnell einen Schluck Wasser, in der Hoffnung, den in ihrem Hals steckenden Bissen zusammen mit ihren aufgewühlten Empfindungen hinunterschlucken zu können. Dabei fiel ihr Blick auf David. Es hatte den Anschein, als habe ihm die Nachricht ebenfalls den Appetit verdorben. Er schob den Teller mit dem kaum angerührten Kuchen weit von sich.
Mit dem nächsten, wesentlich stärkeren Windstoß, eingehüllt von tanzenden Vorhängen, wehte förmlich das jüngste Mitglied der Williams in den Raum. Bobby war mit seinem braunen Lockenkopf, den für die Familie typischen dunklen Augen – mit Ausnahme der grauen Augenfarbe von Marianna – und seinem Lausbubengrinsen eine kleine Ausgabe von David.
Der Fünfjährige steckte in einer schwarzen Hose und trug ein weißes Hemd samt Jackett. War Bobby so herausgeputzt zum Spielen nochmals im Freien gewesen? Die schwarze Schleife an dem nicht mehr sauberen Kragen hatte sich gelöst, an der Schulter und den Knien waren deutliche Spuren von dunkler Erde zu sehen. Die Schnürschuhe hatten eindeutig Bekanntschaft mit Wasser geschlossen.
Der Junge blieb zwischen den wehenden Gardinen stehen. Sie schwebten so behutsam in ihre normale Position zurück, als befürchteten sie, dass sie durch eine Berührung mit dem Kind beschmutzt würden. Dieses streckte Annie seine mit Erde verunreinigte Rechte entgegen und stellte sich vor: »Ich bin Bobby, Miss Lehrerin.«
Annie ergriff die dargebotene Hand und schüttelte sie kräftig. Dabei beugte sie sich zu dem kleinen Kavalier hinüber und flüsterte: »Vielleicht solltest du dich waschen, bevor du deine Großmutter begrüßt?«
Bobby betrachtete eingehend seine Finger und bedachte Annie mit einem dankbaren Blick. Mittlerweile hatten alle anderen ihre Mahlzeit beendet und begaben sich in den großen Salon. Annie, die sich zunehmend erschöpfter fühlte, hätte sich gern zurückgezogen, wagte dies aber nicht.
Richard bot ihr einen Platz auf der exquisiten Nussholzcouch mit dunkelgrünen Polstern an, die der Mittelpunkt des feudal eingerichteten Salons war. Wuchtige Vitrinen standen an den Innenwänden, zwischen den hohen Glastüren hingen goldgerahmte Ölgemälde und Tapisserien. Auf dem dunklen Holzboden lagen wertvolle Perserteppiche und bildeten einen eleganten Kontrast zu der gelben Stofftapete.
Alice, David und Victoria gesellten sich zu ihnen, Marianna, die während des Dinners ausschließlich geschwiegen hatte, verabschiedete sich. Sie schien froh zu sein, die Gesellschaft verlassen zu dürfen.
Richard hatte sich eine Pfeife angesteckt und lehnte sich behaglich im Sessel zurück. David streckte seine langen Beine von sich und lockerte seine Schleife, behielt dabei aber wachsam seine Großmutter im Auge. Im Gegensatz zu seiner nachlässigen Haltung saßen sowohl seine Schwester als auch die Hausherrin akkurat aufrecht. Ihre Hände ruhten gefaltet im Schoß, die Röcke waren züchtig um die Beine gebauscht.
»Miss Braun, hätten Sie die Freundlichkeit, uns etwas über sich zu erzählen? Wir wissen, dass Sie Ihre Ausbildung in New York absolviert haben, mit einem hervorragenden Abschluss, wie ich Ihrer Beurteilung entnahm. Doch damit enden unsere Informationen. Sie klingen nicht, als hätten Sie immer in New York gelebt, es schwingt da noch etwas mit von …« Richard nahm nachdenklich einen tiefen Zug aus seiner Pfeife.
»Nebraska«, informierte David grinsend.
Sein Vater, in weißen Tabakrauch gehüllt, wirkte irritiert.
»Bei Ihrem Namen hätte ich Kansas vermutet«, mischte sich Victoria mit herausforderndem Tonfall in das Gespräch ein. Der Blick ihrer drei Jahre jüngeren Schülerin war irritierend kalt.
Annie musste kurz nachdenken, ehe sie den Bezug von Kansas zu ihrem Nachnamen herstellen konnte – oder zumindest zu dessen phonetischer Aussprache. Victoria spielte auf John Brown an, ein Name, der gelegentlich durch die Presse geisterte. Dieser Mann, angeblich Vater von zwanzig Kindern, hatte sich in Kansas angesiedelt und kämpfte nicht wie die Politiker durch Reden, Drohungen und Gesetzentwürfe, sondern mit dem Gewehr und sogar dem Pallasch für ein sklavenfreies Kansas. Er mischte federführend in dem Guerillakrieg mit, der im Frühjahr 1856 in Kansas ausgebrochen war.
»Ich habe keinerlei verwandtschaftliche Beziehungen zu Mr John Brown, auf welchen Sie wohl anspielen, Miss Victoria. Meine Eltern sind aus Deutschland eingewandert, unser Name wird anders geschrieben als das englische Brown.«
Alice hob abrupt den Kopf. »Sie sind Deutsche?«
Annie entging nicht die Missbilligung in der Stimme der älteren Dame, konnte sich diese aber nicht erklären, zumal es in und um Charleston viele deutschstämmige Amerikaner gab. »Ich bin hier geboren.«
»Sie haben unverzüglich gewusst, worauf meine Frage abzielte. Heißt das, Sie sind schon des Öfteren mit diesem Mr Brown in Verbindung gebracht worden?« Victoria war von ihrem Thema nicht abzubringen, und Annie glaubte dahinter eine Art Sensationslüsternheit zu erkennen. Oder wollte das Mädchen sie in Misskredit bringen?
»Bis eben wurde ich das noch nie. Aber zu meiner Arbeit als Lehrerin gehört, dass ich über das politische Geschehen informiert bin.« Um das Gespräch wieder in unverfängliche Bahnen zu lenken, fügte sie hinzu: »Zudem habe ich eine Schwester, die in Kansas lebt.«
»Interessant.« Victoria hob überzogen gekünstelt die Augenbrauen. »Und wie steht Ihre Schwester oder stehen Sie zu diesem Unruhestifter?«
Da Annie nun ahnte, worauf Victoria abzielte, warf sie einen prüfenden Blick in die Runde. Die Großmutter des Mädchens schien nicht mehr zuzuhören, Richard blickte sie in Erwartung einer Antwort an, und David musterte seine jüngere Schwester mit verärgertem Gesichtsausdruck.
Annie wählte ihre Worte mit Bedacht: »In den Zeitungen von New York waren unterschiedliche Kommentare über Mr Browns Taten zu lesen.« Annie hielt kurz inne, ehe sie fortfuhr. »Ich denke, meine Schwester ist derselben Meinung wie ich: Dieser Mann hat getötet. Welche Gründe er auch gehabt haben mag, er wird seine Tat eines Tages vor Gott verantworten müssen.«
Sie vernahm ein beipflichtendes Murmeln und wandte sich um. Benjamin war damit beschäftigt, kühle Getränke bereitzustellen, wirkte aber, als verfolge er das Gespräch nicht.
Annie hoffte auf eine Unterbrechung, aber die Frage, auf die Victoria zugesteuert hatte, kam unerbittlich: »Sein Motiv war die Sklavenfrage. Was denken Sie darüber, Miss Braun?«
Richard räusperte sich, doch sein Sohn war schneller. Mit deutlichem Spott in der Stimme sagte er: »Vicky, es ist äußerst unhöflich, einen Gast gleich am ersten Tag mit politischen Fragen zu überfallen. Seit wann interessierst du dich überhaupt für derlei Themen?«
Victorias Augen schossen Pfeile auf ihren Bruder ab. Wie es schien, konnte sie die Kurzform ihres königlichen Namens nicht ausstehen. Außerdem hatte David verraten, dass sie für gewöhnlich kein Interesse an politischen Diskussionen zeigte.
Annie lächelte David an, wandte sich aber wieder an ihre Schülerin. »Es ist mir nur schwer möglich, auf Ihre Frage zu antworten, da ich die Institution nicht aus erster Hand kenne. Ich werde meinen Aufenthalt auf Birch Island nutzen, um das System kennenzulernen.« Annie schickte ein Stoßgebet zum Himmel, ihren Kopf einigermaßen heil aus der Schlinge gezogen zu haben. Die Sklavenproblematik sorgte zunehmend für Zündstoff im ganzen Land.
»Überaus diplomatisch«, lautete Richards Kommentar.
David blickte seine Schwester spöttisch an. »Sie ist deine Lehrerin, Vicky, und dir an Wissen und Erfahrungen weit voraus.« Nach dieser Rüge half er seiner erschöpft wirkenden Großmutter beim Aufstehen. Sie verabschiedete sich knapp und verließ den Raum.
»Wir unterhalten uns morgen über Ihre Aufgaben, Miss Braun. Ich hoffe, Sie werden sich schnell auf Birch Island einleben und wohlfühlen.« Richard trat ebenfalls durch die Tür ins Foyer, gefolgt von Victoria.
David hatte sich nicht mehr gesetzt und lehnte nun am Türrahmen. »Es ist wirklich bedauerlich, dass ich Sie an Bord des Dampfers nicht getroffen habe. Denn dann wäre meine Reise nach Charleston wesentlich unterhaltsamer gewesen.«
»Warum haben Sie sich nicht nach mir erkundigt?«
»Es war keine Kabine auf Ihren Namen gebucht«, antwortete er und bewies dadurch, dass er dies durchaus getan hatte.
»Natürlich, die Passage war auf den Namen meiner Tante gebucht.« Sie trat an ihm vorbei in das Atrium mit der stuckverzierten Decke.
Eine Galerie verlief in Höhe des oberen Stockwerks und wurde von weißen Säulen gestützt. Der große Raum, der mit mehreren Sitzgruppen aus edlem Kirschholz möbliert war, die sich unter Palmen in Pflanzenkübeln versteckten, wurde nur von einigen Kerzen erhellt.
Fasziniert blieb Annie stehen und bewunderte die runden weißen Säulen, die lange Schatten auf den hellen Marmorboden warfen. Schließlich wandte sie sich der geschwungenen Treppe zu und stieg in Begleitung des jungen Mannes hinauf.
»Meine Schwester hat übrigens recht. Das Kleid steht Ihnen ausgezeichnet. Ich hätte Sie beinahe nicht wiedererkannt.«
»Ich muss schnellstmöglich meine Garderobe vergrößern, allerdings mit etwas Praktischerem als diesem Teil hier.« Annie war mit dem Hochraffen mehrerer Stofflagen beschäftigt, um nicht auf den Saum zu treten, dennoch entging ihr Davids freches Grinsen nicht.
»Ich bin erleichtert, dass Sie sich auch über derlei Nebensächlichkeiten unterhalten können, mit denen Frauen hier für gewöhnlich ihre Gespräche füllen.«
»Ich verstehe nicht, worauf Sie anspielen?« Inzwischen auf der Galerie angelangt, hielt sie inne.
»Miss Braun, Sie werden die engstirnigen Regeln und fragwürdigen Bräuche des Südens noch ausführlich kennenlernen. Und dabei wünsche ich Ihnen viel Vergnügen.«
Annie lachte leise über den gutmütigen Spott, den er gegen sie, zugleich aber auch gegen sich selbst richtete, war er doch ein Kind des Südens.
»Heute haben Sie sich gut geschlagen, und ich bin gespannt auf Ihre weitere Zusammenarbeit mit Vicky.«
»Ich ebenfalls«, gab Annie zu und gähnte hinter vorgehaltener Hand. Plötzlich wirkte Davids kantiges Gesicht verschlossen. Er stieß sich von der Brüstung ab, an der er gelehnt hatte, und betrat durch den stuckverzierten Torbogen den Flur, in dem die Zimmer der Familienmitglieder lagen.
Annie war zu müde, um über seinen abrupten Stimmungswandel nachzudenken. Langsam tastete sie sich die enge steile Stiege unter das Dach hinauf und öffnete ihre Zimmertür. Eine hinter einem Glaskolben geschützte Kerze auf dem kleinen Tisch verbreitete sanftes Licht.
Annie hatte ein unbewohnt wirkendes Zimmer erwartet, in dem ihr Koffer achtlos unter dem Fenster stand und das Reisekostüm zerknittert und schmutzig über dem Stuhl lag. Doch darin hatte sie sich getäuscht.
Ein duftender Strauß mit winzigen roséfarbenen Buschrosen thronte auf dem breiten Fenstersims. Ihr Reisekoffer war verschwunden, das Kleid ebenfalls. Dafür hing ihr Nachthemd am Kleiderhaken neben der Holztruhe, die Bettdecke war zurückgeschlagen, und die faltenfreie Bettwäsche leuchtete hell im Kerzenlicht. Auf der Kommode stand ein Krug mit frischem Wasser und eine Waschschüssel, beides aus weißem Porzellan, zwei Handtücher lagen griffbereit daneben.
Annie schritt durch das Zimmer und zog eine der gebogenen Kommodenschubladen auf. Ihre Wäsche lag akkurat angeordnet darin und wirkte in der großen Lade reichlich verloren. In der zweiten fand sie ihre wenigen anderen Kleidungsstücke und in der untersten, abgedeckt durch ein festes Baumwolltuch, ihre Schuhe, sogar jene, die sie bei ihrer Ankunft getragen hatte. Sie waren sauber geputzt und eingefettet, nicht ein winziges Staubkorn war an ihnen zu finden. War das alles Crystals Werk?
Annie drehte sich um die eigene Achse und entdeckte ein Blatt Papier, das mit zwei Nadeln an die Holzwand geheftet war. Sie nahm die Kerze hoch, damit der Lichtschein direkt darauf fiel. Es handelte sich um eine leicht hingeworfene Federzeichnung, jedoch von erstaunlicher Aussagekraft.
Annie selbst, angetan mit Victorias Kleid, befand sich halb abgewandt vor dem Standspiegel, in dem sich ihre Gestalt abzeichnete. Die Haare waren noch nicht hochgesteckt, sondern breiteten sich lockig über ihrem Rücken aus. Annie betrachtete fasziniert das Gesamtbild, das voller Leben steckte.
Sie suchte nach einer Signatur und entdeckte am unteren Rand des Spiegels einen Schneekristall, einer Lichtreflexion gleich. Annie nickte, gab es doch nur eine Person, die sie so gesehen hatte: Crystal.
Als die Tür aufsprang, wirbelte Annie herum. Die Künstlerin stand im Türrahmen und begann augenblicklich, heftig zu zittern. Schließlich stotterte sie: »Ich wusste nicht, dass Sie schon zurück sind, Missi Braun.« Bei diesen Worten blickte sie schuldbewusst auf das dicke Buch in ihren Händen, Annies ledergebundene Bibel. Crystal hatte sie wohl mit in ihr Zimmer genommen und wollte sie soeben zurückbringen.
»Ich hatte dich doch gebeten, mich Annie und nicht Missi Braun zu nennen.«
»Entschuldigung, natürlich, Missi Annie.«
Annie verstand Crystals panische Reaktion nur zu gut, hatte sie sich doch an ihrem Eigentum vergriffen. In dem Versuch, die Situation zu entschärfen, deutete Annie auf die Zeichnung. »Das ist wundervoll. Du bist überaus begabt.«
Crystal trat näher, zuckte zusammen und wollte das Blatt herunterreißen. Gerade noch rechtzeitig fiel Annie ihr in den Arm. »Nein, nicht! Ich würde es gern behalten.«
Die Sklavin senkte den Kopf »Ich weiß nicht, wie das dahin kommt. Sadie Ann hat Papier und Feder. Sie kann schreiben und schreibt viel für die Missus. Ab und zu darf ich bei ihr zeichnen. Sie hebt das Bild dann für mich auf. Sie hätte das nicht hierher hängen dürfen. Entschuldigen Sie bitte, Missi.«
Annie lehnte sich mit dem Rücken an die Kommode. »Das sollte Sadie Ann wirklich unterlassen. Ich möchte nicht, dass in meiner Abwesenheit alle möglichen Leute mein Zimmer betreten. Kannst du ihr das bitte ausrichten? Aber ich bin froh, dass sie es getan hat. Deine Zeichnung ist wundervoll, und ich denke, man sollte dich fördern.«
Annie wandte sich von dem Bild ab und entdeckte die Bibel auf ihrem Nachttisch. »Hast du hier alles eingeräumt?«
»Ja, Missi Annie.«
»Das ist lieb gemeint, aber es ist mir nicht recht.«
Auf der Suche nach etwas, das sie nicht zu Annies Zufriedenheit erledigt hatte, blickte die junge Frau sich um.
»Crystal, ich bin es nicht gewohnt, dass mir derlei Erledigungen abgenommen werden.«
»Es wurde mir aufgetragen, Missi. Entschuldigen Sie bitte.«
Annie seufzte laut angesichts der devoten Haltung. Es war wohl angebracht, eine Erklärung hinzuzufügen, um die Gleichaltrige zu beruhigen. »Ich besitze nicht sehr viel, und das, was mir gehört, gibt mir ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. All diese Dinge bergen Erinnerungen, die mir kostbar sind, und da ich kein Zuhause mehr habe, geben sie mir wenigstens ein bisschen das Gefühl von Heimat. Ich denke, du kannst das verstehen?«
Crystal schwieg geraume Zeit und hob dann den Kopf, ohne Annie direkt anzusehen. »Was kann ich sonst für Sie tun, Missi Annie? Ich bin Ihnen doch als Mädchen zugeteilt.«
»Wir werden es herausfinden.« Annie schloss für einen Moment müde die Augen. »Auf jeden Fall ist es von Vorteil, dass ich dir alle meine Fragen stellen kann und du mir hilfst, mich hier einzuleben.« Unbeholfen strich sie sich über das geliehene Kleid. Sie wusste schlicht nicht, wie sie mit der schwarzen Frau umgehen sollte. Kam sich Crystal unnütz vor, wenn sie ihr zu wenige Arbeiten zuwies? »Selbst wenn dir mein Anliegen ungewöhnlich erscheinen mag, so möchte ich dich doch bitten, dass du mich selbstständig auf Angelegenheiten hinweist, die dir auffallen. Das würde mir helfen, mich in dieser mir fremden Welt zurechtzufinden, ohne ständig anzuecken.«
Das wissende Lächeln auf Crystals Gesicht zeigte Annie, dass sie durchschaute, wie ungeschönt die Lehrerin eine Schwäche eingestanden hatte.
»Ich versuche es, Missi Annie.«
»Kannst du nicht einfach Annie zu mir sagen?«
Crystal schüttelte entschieden den Kopf. »Ich würde Ärger bekommen. Ich kann es denken, Missi Annie, aber niemals sagen. Wir Birch-Island-Leute sind gut im Denken«, fügte sie hinzu und zuckte dann über ihre eigene Kühnheit zusammen. Auf Annies Schmunzeln hin entspannte Crystal sich jedoch schnell wieder.
»Wegen der Bibel, Missi Annie. Ich habe noch nie eine gesehen. Ich kann sie auch nicht lesen. Ich habe nur vorsichtig darin geblättert.«
»Vielleicht finden wir ja die Zeit, dir das Lesen beizubringen.«