Das Licht des Schicksals - Töchter der Freiheit - Noa C. Walker - E-Book

Das Licht des Schicksals - Töchter der Freiheit E-Book

Noa C. Walker

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Beschreibung

Amerika, 1863: Annies Rückreise von Richmond zur Plantage nach South Carolina birgt einige Unannehmlichkeiten. Als sie auf Birch Island eintrifft, muss sie feststellen, dass Victoria während Annies Abwesenheit die Herrschaft an sich gerissen und einige Sklaven überaus schlecht behandelt hat. Unzufriedenheit gärt unter den Plantagen-Arbeitern ...

Währenddessen versucht Susanna Belle, eine Frau und deren Kinder zu beschützen, indem sie mit ihnen in den feindlichen Süden reist. Die Reise ist gespickt mit Gefahren, müssen sie sich doch zwischen den Armeen aus Süd und Nord hindurchbewegen.

Auch in Kansas brauen sich dunkle Wolken zusammen. Die Ehemänner von Sophia Alley - Annies Schwester - und deren Freundin werden per Los in die Heimwehr einberufen und sollen sich in Lawrence melden. Als sie in der Stadt ankommen, wütet dort gerade eine Partisanenarmee. Ob die beiden Männer auf die heimatliche Farm zurückkehren können, ist fraglich ...

»Das Licht des Schicksals« ist der sechste Band der emotionalen, mehrbändigen Familiensaga rund um den amerikanischen Bürgerkrieg, in der sich abgrundtiefer Hass, ein gnadenloser Krieg und unmenschliche Ungerechtigkeiten mit der großen Liebe, tiefgehender Freundschaft und den kleinen Freuden des Lebens die Hand reichen.

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Seitenzahl: 593

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Personenregister

12. Mai – 16. Mai 1863

Eins

16. Mai – 12. Juni 1863

Zwei

12. Juni – 13. Juni 1863

Drei

14. Juni – 15. Juni 1863

Vier

29. Juni – 3. Juli 1863

Fünf

03. Juli – 04. Juli 1863

Sechs

04. Juli – 18. Juli 1863

Sieben

18. August – 22. August 1863

Acht

22. August – 26. August 1863

Neun

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

 

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Über dieses Buch

Amerika 1863: Annies Rückreise von Richmond zur Plantage nach South Carolina birgt einige Unannehmlichkeiten. Als sie auf Birch Island eintrifft, muss sie feststellen, dass Victoria während Annies Abwesenheit die Herrschaft an sich gerissen und einige Sklaven überaus schlecht behandelt hat. Unzufriedenheit gärt unter den Plantagen-Arbeitern …

Währenddessen versucht Susanna Belle, eine Frau und deren Kinder zu beschützen, indem sie mit ihnen in den feindlichen Süden reist. Die Reise ist gespickt mit Gefahren, müssen sie sich doch zwischen den Armeen aus Süd und Nord hindurchbewegen.

Auch in Kansas brauen sich dunkle Wolken zusammen. Die Ehemänner von Sophia Alley – Annies Schwester – und deren Freundin werden per Los in die Heimwehr einberufen und sollen sich in Lawrence melden. Als sie in der Stadt ankommen, wütet dort gerade eine Partisanenarmee. Ob die beiden Männer auf die heimatliche Farm zurückkehren können, ist fraglich …

»Das Licht des Schicksals« ist der sechste Band der emotionalen, mehrbändigen Familiensaga rund um den amerikanischen Bürgerkrieg, in der sich abgrundtiefer Hass, ein gnadenloser Krieg und unmenschliche Ungerechtigkeiten mit der großen Liebe, tiefgehender Freundschaft und den kleinen Freuden des Lebens die Hand reichen.

NOA C. WALKER

DasLichtdesSchicksals

Töchter der Freiheit

Personenregister

 

Alexander White:

Arzt in Washington City

Alice Williams:

Matriarchin der Familie, die Großmutter

Andrew Settrick:

Verlobter der jüngsten Williams-Tochter Marianna

Benjamin:

»Butler«, höchster Haussklave

Bobby (Robert) Williams:

jüngster Spross von Richard, Annies Schüler

Bowers:

Ehemals Wächter der Sklaven

Brian Tast:

Ehemann von Megan, Farmer in Kansas, ehemals Offizier

Don Buckley:

Ehemann von Seraphina

Clarissa Phelps:

Ehefrau von Matthew, lebt jetzt auf Birch Island

Joe Cobb:

Feldchirurg, Kollege von David

Crystal:

Annies »Mädchen«, Orleans Enkelin

Daisy:

Einstiges Findelkind, arbeitet in »Tammys Haus«

Garry:

Sklave auf Birch Island, Stallmeister und Pferdewirt

George Fisher:

Soldat, früher Medizinstudent

Hayden Fuller:

Tochter von Megan und Brian

Jennifer Tanner:

Schwester von Marcus, Cousine von Annie

Jerome:

Sklave, 2. Pferdewirt

Johnny Reb (Johannes Rebmann):

Kavallerist unter Jeb Stuart, Davids Freund

Jordan Jackson:

Bruder von Susanna Belle, Kavallerist der Konföderation

Josephine und Max Tanner:

Eltern von Jennifer, Marcus und Ralph, Tante und Onkel von Annie, Sophia und Samuel

Linny Loftin:

Ehefrau von Danny, Jennifers ehemaliger Verlobter

Danny Loftin:

Ehemann von Linny, ehemals mit Jennifer verlobt

Lorena:

Freigelassene Sklavin, Dienstmädchen bei Susanna Belle und Marcus, Washington City

Lucille:

Amme von Victorias Tochter, ihre Tochter: Africa, deren Vater: Kato

May:

Köchin, Küchenchefin auf Birch Island

Marcus Tanner:

Annies Cousin, Susanna Belles Ehemann, Jennifers Bruder

Matthew Phelps:

Nachbar der Williams, Kavallerist der Konföderierten

Megan Tast:

Ehefrau von Brian, Hebamme, Farmersfrau

Miles:

Chirurg der Konföderierten Armee

Niam Pie:

Kutscher von Marcus’ Arbeitgeber, afrikanischer Herkunft

Newton Nells:

Ehemann von Victoria, Plantagenbesitzer aus Missouri

Nineteen:

Jugendlicher Soldat, Konföderierte Armee

Orlean »Granny«:

früher Davids »Mammy«, Crystals Großmutter

Philipp Alley:

Sophias Ehemann, Farmer in Kansas

Ralph Tanner:

jüngerer Bruder von Marcus und Jennifer

Raven:

junger Sklave, Stallbursche und Kutscher

Rebecca Sue Williams:

Davids verwitwte Schwägerin, deren Sohn: Ken

Richard Williams:

Witwer, Plantageneigentümer und Offizier, Konföderierte Armee

Rosalind Phelps:

Nachbarin von Red-Roses-Plantation, lebt nun auf Birch Island

Rose Giddings:

Cousine von Richards verstorbener Ehefrau

Sadie Ann:

Sklavin, »Mädchen« von Alice

Sammy:

Sklave, Vorarbeiter auf Birch Island

Samuel Braun:

Annies und Sophias älterer Bruder Seraphina Buckley und ihre Söhne: Susanna Belles Schutzbefohlene

Shrubby:

Sklavenjunge auf Birch Island

Sophia Alley:

Annies Schwester, Ehefrau von Philipp, deren Kinder: Joseph, Samuel (Jr.), Annily

Susanna Belle Tanner:

geborene Jackson aus South Carolina, Ehefrau von Marcus

Sven Stenmark:

Ehemann von Silvie, Farmer in Kansas

Silvie Stenmark:

Ehefrau von Sven, Freundin von Sophia

Tamara »Tammy« Green:

Nachbarin und Freundin von Susanna Belle, Washington City

Theo und Timothee Barrie:

Nachbarn der Williams, Kavalleristen der Konföderierten

Valerie Giddings:

Roses Tochter

Victoria Nells:

Ältere Tochter der Williams, deren Töchter: Verina und Grace.

12. Mai – 16. Mai 1863

Eins

~North Carolina~

Eine schmale Mondsichel am nachtschwarzen Himmel sandte silbernes Licht in das Zugabteil. Feuchtkühle Luft wehte durch das Fenster herein und streichelte das müde Gesicht der jungen Lehrerin Annie Braun. Crystal, offiziell ihr Mädchen – eine Art Zofe – aber seit Kurzem im Besitz einer Urkunde, die sie als freie Schwarze auswies, hatte ihren Kopf an Annies Schulter gelehnt und schlief. Sie erwachte nicht, als der Zug quietschend auf einem Bahnhofsgelände zum Stehen kam und Rauchwolken hereinwehten. Da Annie die Schlafende nicht wecken wollte, untersagte sie es sich, das Fenster zuzuschieben. Dafür versuchte sie, den Schriftzug auf dem Schild oberhalb des offenen Gebäudes zu lesen. Entweder war es zu verwittert oder die Dunkelheit doch zu undurchdringlich, jedenfalls konnte Annie die Buchstaben nicht entziffern.

Sie rieb sich die brennenden Augen und fragte sich, warum sie vor mehr als einer Stunde plötzlich aufgeschreckt war. Immerhin war sie in der vergangenen Nacht mit ihrem heimlichen Verlobten durch Richmond spaziert, sodass sie eigentlich Schlaf hätte nachholen müssen, doch dieser wollte sich nicht mehr einstellen.

Der Hufschlag eines Pferdes näherte sich dem Zug. Zwei Sitze weiter stand ein Mann auf, beugte sich aus dem Fenster und schüttelte den Kopf. Annie schob Crystal vorsichtig von sich, erhob sich ebenfalls und sah hinaus. Ein Offizier zu Pferde passierte soeben das kleine Bahnhofsgebäude. Ihm folgte ein langer Zug Infanterie. Die marschierenden Soldaten wirkten auf Annie entweder ungewöhnlich alt oder erschreckend jung.

War die Konföderation inzwischen so sehr in Nöten, dass sie Greise und Kinder in den Krieg schicken musste? Waren dies Kadetten aus einer der Militärakademien und die alten Männer ihre Lehrer, da die jüngeren Offiziere längst alle auf den Schlachtfeldern kämpften?

Neugierig beobachtete Annie einen Disput zwischen dem Lieutenant und drei Bahnbediensteten. Gleich darauf betrat der Militärangehörige ihr Abteil und baute sich breitbeinig auf, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. »Dieser Zug ist requiriert. Wir benötigen ihn, um unsere Regimenter in Richtung Richmond zu bringen, und müssen Sie deshalb bitten, unverzüglich auszusteigen.«

Der ältere Mann vor Annie wandte sich vom Fenster ab und trat auf den Gang hinaus. »Und wie werden wir weiterbefördert?«

»Sie warten auf den nächsten Zug, Mister. Bitte folgen Sie umgehend meiner Aufforderung.« Der Offizier ließ den Reisenden stehen und wollte ins nächste Abteil gehen, dabei kam er an Annie und Crystal vorbei. Er trat mit dem Stiefel gegen Crystals Beine. Sie schreckte hoch und blinzelte verwirrt in das bärtige Gesicht des Mannes.

»Was tust du hier, Weib? Für dich ist Platz im Gepäckwagen.«

Annie stand auf und stellte sich schützend neben die Freundin. Sie war fast ebenso groß wie der Offizier, der sie mit zusammengezogenen Augenbrauen musterte.

»Sie ist mein Mädchen und auf dieser Reise meine einzige Begleiterin, Lieutenant. Ich habe mit den beiden Herren im Abteil gesprochen, und sie waren einverstanden, dass sie hier bei mir mitfahren kann.«

»Das stimmt, Lieutenant. Sie hat ruhig in ihrer Ecke gesessen und uns nicht gestört.« Der ältere Passagier kam herbei, und Annie lächelte ihn dankbar an.

»Sie werden jetzt jedenfalls alle zusammen diesen Zug verlassen. Er fährt nach Richmond zurück.« Mit einem knappen Nicken in Annies Richtung verließ der Offizier ihr Abteil und betrat das nächste. Crystal ergriff beide Gepäckstücke. Da es wohl besser war, ihr vorerst die Taschen zu überlassen, folgte Annie der Freundin auf die Plattform hinter dem Waggon. Ein First Sergeant reichte ihr die Hand, um ihr beim Aussteigen behilflich zu sein, Crystal musste sich allein abmühen und stürzte beinahe auf den Bahnsteig, da sie den Abstand zum unteren Tritt falsch eingeschätzt hatte. Annie nahm sie am Arm und half ihr, sich wieder aufzurichten.

»Danke«, hauchte Crystal und fügte hinzu: »Und jetzt geh voran. Ich komme zurecht.«

Annie schob sich eilig zwischen den Uniformierten hindurch, unangenehm berührt von der Aufmerksamkeit, die fast ausschließlich auf sie als einzigem weißen weiblichen Fahrgast gerichtet war. Endlich erreichte sie den überdachten Unterstand. Sie sah Crystals gehetzten Gesichtsausdruck, da manche der jungen Männer sie bedrängten, einer spuckte ihr vor die Füße. Sobald Crystal bei ihr war, raunte Annie ihr zu: »Bleib immer in meiner Nähe. Ich suche jetzt den Bahnhofsvorsteher, sofern diese einsam gelegene Haltestelle überhaupt einen hat. Ich kann nur hoffen, dass es hier irgendwo eine Niederlassung gibt, in der wir ein Zimmer zum Übernachten bekommen.« Sie ging auf ein winziges Gebäude zu, das mit seinen beiden Glasfenstern einen solideren Eindruck machte als der Rest des heruntergekommenen Geländes. Darin saß ein Mann mittleren Alters. Er blickte kurz auf, als Annie eintrat, schrieb seinen Satz zu Ende und erhob sich dann, griff nach einer Lampe und zog dienstbeflissen seine Mütze vom Kopf. »Kann ich Ihnen helfen, Miss?«

»Wissen Sie, wann wir weiterreisen können?«

»Leider nicht. Ich schreibe gerade eine Anfrage, die mein Sohn zum Telegrafenamt bringen soll. Es tut mir leid, dass Sie und Ihre Begleitung solchen Unannehmlichkeiten ausgesetzt sind. Aber gegen das Militär komme ich nicht an.«

Annie lächelte, dankbar darüber, einen freundlichen Menschen vor sich zu haben. Dieser rieb sich verlegen den ergrauten Bart und sah zur Tür, wo sich weitere Fahrgäste des geräumten Zuges drängten.

»Gibt es ein Hotel in der Nähe?«, erkundigte sich ein junger Mann.

»Sie müssen die Landstraße entlanggehen, zu Fuß werden Sie etwa eine halbe Stunde brauchen. Mein Sohn kann Sie führen, Herrschaften.«

Jemand brummte ungehalten, dennoch wandten sich die ersten Passagiere bereits ab. Der ältere Herr, der mit Annie und Crystal im Abteil gereist war, wuchtete einen schweren Koffer in das kleine Bahnhofsgebäude. »Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich mein Gepäck hier in diesem Raum deponiere? Ich möchte es ungern den weiten Weg mit mir schleppen.«

»Stellen Sie nur alles hier rein, was Sie nicht benötigen, Herrschaften. Sobald ich hier fertig bin, hole ich unseren Wachhund. Sie können versichert sein, dass nichts davon in die Hände eines Diebes fällt.« Während einige Passagiere der Aufforderung folgten, wandte sich der Bahnhofsvorsteher wieder an Annie. »Das Mädchen da draußen ist Ihre Begleitung, nicht wahr?«

Annie nickte.

»Sie sehen beide erschöpft aus, und ich möchte Ihnen den weiten Fußweg nicht zumuten. Meine Frau und ich haben ein Gästezimmer, in dem Sie und Ihr Mädchen übernachten können.«

Annie bedankte sich für das freundliche Angebot und ging nach draußen, um Crystal einzuweihen. Diese blickte an dem Unterstand vorbei auf das dahinterliegende Haus, dessen weiße Fassadenschindeln im Mondlicht hell leuchteten. Hinter einem Fenster brannte Licht, dort zeichnete sich der mollige Umriss einer weiblichen Person ab. Offenbar war die Frau durch den Truppenaufmarsch geweckt worden.

»Ich weiß nicht, Annie«, wandte Crystal ein und sah sich unbehaglich um. »Wir sollten uns den anderen Passagieren anschließen. Nicht, dass sie mit Überlandkutschen weiterreisen, und wir sitzen hier fest.«

»Das glaube ich nicht. Spätestens morgen kommt der nächste Zug hier durch.«

»Wie du meinst.« Crystal zog die Schultern hoch und wirkte nicht überzeugt. Inzwischen folgte die kleine Gruppe Reisender ihrem jungen Führer in den Wald hinein.

»Was ist denn mit dir?« Annie nahm ihren Koffer auf und blickte zu dem Bahnhofsvorsteher, der soeben den Wachhund eingesperrt hatte und sich abwartend zu ihnen umwandte.

»Ich weiß es nicht genau. Vielleicht ist es wegen der Abgeschiedenheit des Hauses und des vielen Geldes, das du in deinem Koffer spazieren trägst. Mir ist … unwohl zumute.« Crystal lächelte verlegen und zuckt mit den Schultern, ehe sie Annie folgte. Der Mann stellte sich als Vernon Sarandon vor und erzählte ihnen, dass er hier wohne, seit er geheiratet hätte, was nun schon über zwanzig Jahre her sei. Seine Frau, Trady Sarandon, bat sie in die Küche, wo sie ihnen Eier mit Speck zubereitete. Dankbar verzehrten Annie und Crystal die Mahlzeit und lauschten den Erzählungen des Hausherrn. In der warmen Küche und mit gefülltem Magen drohten Annie die Augen zuzufallen.

»Hör doch auf mit deinen alten Geschichten, Sarandon. Siehst du nicht, dass die beiden Mädchen beinahe einschlafen? Du hast ihnen einen Übernachtungsplatz angeboten, also gib ihnen diesen auch.« Leidenschaftslos, aber nicht unfreundlich boxte die Frau ihren Mann gegen den Arm und erhob sich, um das schmutzige Geschirr abzuräumen.

Sarandon bat Annie und Crystal, ihm die Treppe hinauf zu folgen. Sie betraten ein winziges Zimmer, dessen einzige Einrichtung aus zwei Betten bestand. Vor dem kleinen Fenster hingen nicht mal Vorhänge, aber wen sollte das stören.

»Machen Sie es sich bequem: Ich besorge Ihnen noch eine Waschschüssel, Tücher und einen Krug Wasser. Nach dem Frühstück kann ich Ihnen bestimmt sagen, wann Sie Ihre Reise fortsetzen können.«

»Haben Sie vielen Dank, Mr Sarandon.« Annie schloss hinter ihm die Tür. »Der Raum ist nicht gerade einladend, aber wir sind ja nur eine Nacht hier.«

Crystal schwieg und setzte sich auf die Bettkante. Sorgfältig löste sie die Verschnürung ihrer Stiefel. Schritte waren zu hören, und, den Geräuschen nach zu urteilen, stellte ihr Gastgeber die versprochenen Dinge auf dem Treppenabsatz ab. Annie wartete, bis der Mann wieder gegangen war, und öffnete dann erst die Tür.

Nacheinander wuschen sie sich, und während Crystal in ihr Bett schlüpfte, betrachtete Annie ihren Koffer, der das erwirtschaftete Geld und einige Wertgegenstände enthielt, mit denen die Richmonder Bürger die Birch-Island-Lebensmittel bezahlt hatten. In diesen unruhigen Zeiten hatte sie das Geld keiner Bank anvertrauen wollen. Zudem würde sie schnell die dringend benötigten Anschaffungen tätigen müssen, bevor die Inflation die Preise noch weiter in die Höhe trieb. Sie sah sich nach einem sicheren Platz für den Koffer um und stellte ihn direkt vor ihr Bett. Obwohl sie todmüde war, schob sie die Fensterscheibe hoch und stützte sich mit den Unterarmen auf das Fensterbrett. Mitternacht musste vorüber sein, und die Mondsichel stand über dem nahegelegenen Waldstück. Ihr blasses Licht hob das Schienenband silbern hervor, das jenseits einer Wiese im Wald verschwand.

»Annie? Bist du nicht müde?«

»Doch, tut mir leid, wenn ich dich gestört habe.«

»Ich weiß nicht, ob ich hier ein Auge zumachen kann.«

»Hast du noch immer ein ungutes Gefühl? Das Ehepaar ist doch sehr freundlich.« Annie wandte sich in den durch das Mondlicht nur spärlich beleuchteten Raum hinein.

»Er ist übertrieben freundlich, vor allem zu mir. Und sie macht auf mich einen gezwungen höflichen Eindruck. Hast du gesehen, wie vorwurfsvoll sie mich gemustert hat?«

Annie schüttelte den Kopf, setzte sich auf die Matratze und zog die Decke über ihre Beine. »Vielleicht ist er einer der wenigen Menschen hier im Süden, die Sklaven respektieren, und seiner Frau gefällt das nicht.« Annie legte sich nieder und freute sich auf ein paar Stunden Schlaf in einem bequemen Bett.

Sie wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte, als ein Geräusch an der Tür sie weckte. Es war noch dunkel, der Mond beschien ihren Koffer. Bis auf die regelmäßigen Atemzüge von Crystal und die nächtlichen Laute eines nahen Waldes, die durch das Fenster hereinwehten, war alles still. Annie warf die Decke zurück, schwang ihre Füße auf den rauen Holzboden und huschte zur Tür. Durch den schmalen Spalt blickte sie in den dunklen Flur. »Ist da jemand?«

»Ich bin es, Miss Braun, Sarandon.«

»Fährt schon jetzt ein Zug?«

»Nein, ich hätte eine Bitte an Sie.«

»Mitten in der Nacht?«, murmelte Annie und zog die Tür ein kleines Stück weiter auf.

»Würden Sie mir erlauben, mit Ihrem Mädchen die Nacht zu verbringen?«

Annie war sekundenlang nicht in der Lage zu reagieren.

»Ich dachte, Sie könnten das als eine Art Bezahlung für die Unterkunft und die Mahlzeit ansehen?«

Übelkeit stieg in Annie hoch. »Sie haben uns eingeladen, Mr Sarandon«, sagte sie kalt. »Wenn Sie eine Entlohnung wünschen, können wir die entrichten, nicht aber … so!« Sie wollte die Tür zudrücken, kam jedoch gegen den starken Gegendruck von außen nicht an, auch nicht, als sie sich mit ihrem ganzen Körpergewicht dagegen lehnte. Vermutlich hatte ihr Gastgeber inzwischen einen Fuß zwischen Tür und Schwelle geschoben.

~Nahe Washington City~

Die Nacht war hereingebrochen und brachte einen heftigen, von starken Windböen begleiteten Regenguss mit sich. Die Tropfen klatschten gegen die Kutsche und weichten innerhalb von Minuten den Fahrweg auf. Das Fahrzeug begann zu schlingern, und Susanna Belle Tanner blickte besorgt aus dem Fenster auf die Landschaft, die hinter einem grauen Vorhang versank. Ihre jugendliche Begleiterin Tamara Green wickelte sich ihr Umschlagtuch fester um die Schultern.

Susanna Belle hatte ein Telegramm von ihrer Schwiegermutter aus New York erhalten, das sie zutiefst beunruhigte. Seit einigen Jahren nahm sie Menschen in Not bei sich auf. Zumeist handelte es sich um Frauen, oft mit Kindern, die vor ihren gewalttätigen Ehemännern geflohen waren. Manche von ihnen hatte Susanna Belle gesund pflegen müssen, ehe sie weitergereist waren. Jene, die nicht wussten, wohin sie gehen konnten, waren in einem abseits von Washington gelegenen Haus untergebracht. Tamara hatte es ihr zur Verfügung gestellt – bis sie und ihr Verlobter eines Tages heiraten und selbst einziehen würden.

Der Landauer der Familie Green fuhr in den Hof jenes Anwesens. Tamara, von ihren Freunden gern Tammy gerufen, und Susanna Belle atmeten erleichtert auf. Alles schien ruhig zu sein. Es sah nicht so aus, als habe sich jemand Unbefugtes dem versteckt hinter Bäumen und hohen Sträuchern gelegenen Haus genähert.

»Bleib du mit deinem guten Kleid in der Kutsche, Tammy. Ich laufe schnell hinein«, schlug Susanna Belle vor. Ihre achtzehnjährige Freundin sah an ihrem hellblauen Krinolinenkleid mit den aufgestickten weißen Rosen herunter und nickte, obwohl ihr anzusehen war, dass sie keine Sekunde des Abenteuers versäumen wollte.

Das Fahrzeug stoppte vor dem Portal, und Susanna Belle öffnete den Schlag. Der Wind trieb den Regen herein. Nachdem sie ausgestiegen war, raffte Susanna Belle ihr Kleid und hastete die Stufen hinauf unter das Vordach, das wegen der heftigen Böen jedoch kaum Schutz bot. Zugleich zupften sie schwarze Strähnen aus der Frisur der schlanken Einundzwanzigjährigen.

Es dauerte geraume Zeit, bis sich auf ihr Klopfen hin die Tür öffnete. Das dunkelbraune Gesicht von Daisy zeigte sich in dem schmalen Spalt.

»Oh, Missus Susanna Belle!« Daisys kleine Zöpfe wackelten aufgeregt. »Die Missus kommt uns bei diesem furchtbaren Sturm besuchen«, rief das einstige Findelmädchen in den Eingangsbereich hinein, ehe sie sich wieder nach vorn wandte. »Heute Nachmittag waren wir noch im Garten. Es war schön warm und jetzt dieser Regen, nicht wahr, Missus?«

»Würdest du mich bitte ins Haus lassen? Ich werde hier ganz nass.«

»Ja? Ja! Kommen Sie rein.« Daisy riss die Tür auf und wäre beinahe ausgeglitten, da der schräg herbeipeitschende Regen den Eingangsbereich in einen kleinen See verwandelt hatte. Susanna Belle schloss energisch die Tür hinter sich. Sie streifte das Cape von den Schultern und reichte es Daisy, die fasziniert zusah, wie das Wasser von dem Umhang auf ihre Schuhe tropfte.

Im Salon saßen bei Kerzenlicht und einem Kaminfeuer Seraphina Buckley und zwei weitere Frauen, die in den vergangenen Wochen Susanna Belles Hilfe gesucht und in Tammys Haus Unterschlupf gefunden hatten.

»Wie schön, dass du uns besuchen kommst!« Seraphina erhob sich und tastete mit einer Hand über ihr braunes Haar, wohl um zu prüfen, ob die Frisur richtig saß. Sie stockte in der Bewegung, ehe sie sagte: »Du siehst besorgt aus. Gibt es Schwierigkeiten?«

»Die gibt es leider. War heute ein Fremder hier?«

»Nein, bestimmt nicht. Wir haben uns fast den ganzen Tag im Garten aufgehalten und haben weder jemanden gesehen noch gehört«, beteuerte Seraphina sichtlich aufgewühlt. Ihr Mann Don hatte damals beinahe ihre Söhne umgebracht. Die Angst, dass er sie hier finden könnte, war niemals gänzlich von ihr gewichen. Zu Recht, wie Susanna Belle jetzt wusste.

»Können wir nach nebenan gehen?«

Panik flackerte in Seraphinas Augen auf. Gemeinsam verließen sie den Salon und setzten sich in das angrenzende Besucherzimmer. Bekümmert blickte Susanna Belle die verängstigte Frau an. Sie, vor allem aber ihre beiden Söhne, hatten schon so viel erleiden müssen. Aber es brachte nichts, um den heißen Brei herumzureden. »Dein Mann ist in Washington.«

Seraphinas Stuhl kippte mit einem lauten Krachen nach hinten auf den Parkettboden, so heftig war sie aufgesprungen. Sie umschlang ihren Körper mit den Armen. »Weiß er, wo wir sind?«, hauchte sie.

Susanna Belle stellte das Möbel wieder auf und drückte die bebende Frau darauf. Sie selbst lehnte sich an die Tischkante. »Er weiß nicht, wo ihr seid. Wir haben deinen Mann und seine Begleitung rechtzeitig entdeckt.« In knappen Worten berichtete Susanna Belle von Linny Loftins Auftauchen. Die Frau hatte ihnen vorgespielt, auf der Flucht vor ihrem Ehemann Danny Loftin zu sein, dem ehemaligen Verlobten von Susanna Belles Schwägerin Jennifer. Durch ein Telegramm von Jennifers Mutter Josephine Tanner wussten sie inzwischen vom Verwandtschaftsverhältnis zwischen Linny Loftin und Seraphinas Ehemann. Die Familien hatten lange keinen Kontakt unterhalten, ja hatten sich vielmehr gemieden. Das Verschwinden von Seraphina und ihren Kindern war wohl der Auslöser für eine neue Annäherung innerhalb der Familie gewesen. Nun setzten sie offenbar alles daran, Seraphina, zumindest jedoch die beiden Jungen, zurück in den Schoß der Familiendynastie zu führen.

»Ihr dürft Linny nicht verurteilen«, sagte Seraphina zögernd. »Sie mag ein wenig übertrieben standesbewusst sein, verwöhnt und hochnäsig, aber im Grunde ihres Herzens ist sie eine bedauernswerte Person. Wenn mein Mann und Danny dir zu Linnys Unterkunft gefolgt sind, dann ist sie verloren. Sie werden sie zurück nach New York bringen.«

Irritiert schüttelte Susanna Belle den Kopf. »Aber dein Ehemann und der von Linny sind zeitgleich mit ihr bei uns aufgetaucht. Sie kann unmöglich vor ihnen geflohen sein.«

»Sie ist geflohen, ganz sicher.«

Susanna Belle biss sich auf die Unterlippe. Offenbar hatten sie, was die Einschätzung von Linnys Notlage anbelangte, einen schlimmen Fehler begangen. Seraphina sah an ihr vorbei auf das Fenster, gegen das der Regen prasselte, und erzählte: »Danny Loftin hat sie niemals körperlich misshandelt. Die Folgen, falls jemand irgendwelche Verletzungen sieht, wären für seine Karriere tödlich. Es ist auch nicht seine Art. Er hat Linny auf andere Weise missbraucht.«

Susanna Belle war nicht gänzlich überzeugt. »Demnach hast du tatsächlich Kontakt zu Linny gesucht?«

»Ich habe an ihre Mutter geschrieben, in dem Kuvert steckte ein zweiter Brief an Linny. Ich wollte ihr mitteilen, wo sie Hilfe finden kann, falls sie sich je dazu durchringen würde, ihren Mann zu verlassen.«

»Aber warum hast du ihr Jennifers Mädchennamen genannt?«, fragte Susanna Belle verwirrt und sorgenvoll zugleich. »Wir haben Linny nicht geglaubt, dass du ihr geschrieben hast, da sie nichts von Jennys Hochzeit wusste.«

»Ich habe diesen Brief vor etwa einem Jahr verschickt. Damals war Jennifer noch unverheiratet und wohnte bei euch.«

»Das erklärt zumindest diese Unstimmigkeiten.« Susanna Belle überkam abermals das ungute Gefühl, einen furchtbaren Fehler begangen zu haben. »Aber warum sind die beiden Männer zeitgleich mit Linny in Washington angekommen?«

Seraphina lachte bitter auf. »Das wird Linny heraufbeschworen haben. Sie kann auf einen gewissen Komfort nicht verzichten. Vermutlich hat sie ihre Flucht so sorgfältig geplant, dass Danny es bemerkt hat. Womöglich sind Danny und Don sogar mit demselben Zug wie Linny gereist.« Seraphinas Stimme schwankte zwischen Verzweiflung und Spott. »Nach der Trennung von Danny und Jennifer habe ich versucht, Linny zu warnen. Ich habe sie darauf hingewiesen, dass sie nur der Ersatz für eine andere Frau sei, doch sie wollte nicht auf mich hören. Sie bewunderte diesen gutaussehenden, erfolgreichen und einflussreichen Mann und wollte unbedingt den Sprung in das gesellschaftlich höherstehende, luxuriöse Leben machen. Einige Wochen nach der Hochzeit kam sie zu mir, weinte bitterlich und fragte mich, warum ich sie denn nicht eindrücklicher vor Danny gewarnt hätte.« Seraphina wandte den Blick vom Fenster ab und sah Susanna Belle direkt an. »Ich erzähle dir das alles nur, damit du Linny verstehen lernst.«

Susanna Belle nickte und wartete, da Seraphina sichtlich mit sich kämpfte. »Danny war in wichtige Vertragsverhandlungen involviert, die sich schwierig gestalteten. Sein potenzieller Partner zeigte sich trotz allen Hoffierens und großzügiger Geschenke unentschlossen, was einen Vertragsabschluss betraf. Er war mehrmals bei den Loftins zu Gast. Irgendwann stellte er eine Bedingung, auf die Danny sich eingelassen hat.« Seraphina schluckte hörbar. »Der Mann wollte eine Nacht mit Linny verbringen.«

Susanna Belle zuckte zusammen. Ihr war plötzlich eiskalt.

»Linny, die immer versucht hat, Danny zu gefallen, erklärte sich einverstanden, mit dem Verhandlungspartner in dessen Haus zu dinieren, von der Abmachung wusste sie nichts. Erst als der Mann das Personal entließ, wurde ihr unangenehm zumute, und sie bat darum, nach Hause gebracht zu werden. Der Geschäftsmann unterrichtete sie daraufhin von seiner Absprache mit ihrem Ehemann, und als Linny sich weigerte, nahm er sich, was ihm zugesagt worden war. Anschließend ließ er sie von seinem Kutscher zurückbringen.«

Susanna Belle musste sich setzen. Ihr war übel.

»Linny war damals schwanger, wobei man noch nichts sah. Sie hat das Kind in derselben Nacht verloren – aber ihr Mann bekam seinen lukrativen Vertragsabschluss.«

Aus der Halle drang fröhliches Kinderlachen herein, und Seraphinas Gesichtsausdruck wurde weich. Deutlich leiser fuhr sie fort: »Damals wusste ich nicht, wie ich ihr helfen konnte. Erst als Jennifer mir deine Adresse zusteckte, sah ich für mich und meine beiden Jungen einen Hoffnungsschimmer, Don zu entkommen. Die Unterkunft stellte sich als sicher heraus, also habe ich Linny geschrieben.« Bedauernd sah Seraphina Susanna Bella an. »Ich wollte weder dich noch deine Organisation gefährden. Ich wollte nur Linny eine Möglichkeit geben, von ihrem skrupellosen Mann wegzukommen.«

»Das verstehe ich. Aber warum hast du mir oder Jenny nichts davon erzählt? Du weißt um unsere familiären Beziehungen in New York. Es hätte bestimmt einen anderen Weg gegeben, mit Linny in Kontakt zu treten und ihr zu helfen.«

Seraphina senkte betroffen den Kopf. »Entschuldige bitte. Ich habe unüberlegt gehandelt.«

»Du hast vor allem dich und deine Kinder in Gefahr gebracht.« Susanna Belle atmete tief durch. Sie war verärgert über Seraphinas eigenmächtiges Handeln, verstand aber ihre Beweggründe.

»Unter diesen Umständen ist es wohl besser, wenn Charles, Frank und ich Tammys Haus sofort verlassen.«

»Ich kann euch nicht einfach einem ungewissen Schicksal überlassen.«

»Vielleicht solltest du genau das tun. Immerhin habe ich alle in Gefahr gebracht.« Seraphina vergrub das Gesicht in ihren Händen.

Susanna Belle ging auf die Tür zu. »Packe noch heute Abend einige Kleidungsstücke für dich, Charles und Frank zusammen und verstecke sie in einem der Nebengebäude. Du musst jederzeit bereit sein, mit den beiden zu fliehen.«

Wieder drangen das fröhliche Lachen und Toben der spielenden Jungen herein. Es wäre schlimm, sich von der kleinen Familie verabschieden zu müssen, doch vielleicht waren sie so nahe bei Washington einfach nicht mehr sicher. Susanna Belle lächelte wehmütig. Sie wünschte, sie hätte inzwischen eigene Kinder, die durchs Haus lärmten.

Als sie die Eingangstür öffnete, schlugen ihr windgepeitschte Regentropfen entgegen. Sie zog sich die Kapuze des Capes über den Kopf und lief los. Bis sie die Kutsche erreichte, war sie erneut durchnässt, und mit einem Schaudern ließ sie sich auf ihrem Platz nieder. Während der Landauer sich von dem versteckt gelegenen Anwesen entfernte, berichtete Susanna Belle ihrer Freundin, was sie erfahren hatte.

»Wir müssen die drei in Sicherheit bringen!« Tammy rümpfte die Nase, wie sie es gern tat, wenn sie aufgewühlt war. Kritisch musterte Susanna Belle deren wertvolles Kleid und zupfte an einer der gestickten Rosen. »Das ist nicht gerade die perfekte Aufmachung für eines deiner heiß begehrten Abenteuer.«

»Ich sollte jetzt mit meiner Mutter bei irgendeinem ihrer Komitees sein.«

»Das hättest du mir sagen müssen, dann hätte ich dich nicht um deine Begleitung gebeten.«

»Gerade deshalb habe ich geschwiegen, liebe Susanna Belle.«

»Eines Tages wird dir deine Mutter den Umgang mit mir verbieten.«

»Meine Mutter vielleicht schon, nicht jedoch mein Vater. Er schätzt meine Freundschaft mit einer South-Carolina-Jackson.«

»So?« Misstrauisch blickte Susanna Belle die Freundin an.

»Gut, er weiß natürlich nicht, dass du in dem winzigen Haus uns gegenüber wohnst, und –«

»Er weiß nicht, dass ich eure Nachbarin bin?«

Tammy schüttelte den Kopf. »Er sieht dich ja immer nur zu den Veranstaltungen, zu denen du eingeladen wirst. Aber sag: Was tun wir jetzt?«

»Ich weiß es nicht.« Susanna Belle hatte sich selten so hilflos gefühlt.

»Eine deiner wohlhabenden Spenderinnen könnte die drei Buckleys aufnehmen. Zumindest für einige Zeit«, schlug Tammy vor.

»Ich bin froh über ihre finanzielle Unterstützung, aber tiefer involviert werden möchten sie nicht.«

»Colorado?«, lautete Tammys nächster Vorschlag. Susanna Belle zog die Schultern hoch. Sie wusste nicht, wie ihre Freundin Madelyn, die erste Frau, die damals bei ihr Schutz gesucht hatte, in dem fernen Territorium lebte. Unmöglich konnte sie eine Mutter mit ihren Kindern in das wilde, unbekannte Land schicken.

»Dann fällt mir nur noch ein Ort ein, der sicherer sein dürfte als alle anderen.« Tammys Augen blitzten unternehmungslustig. »Es kann nicht allzu schwer sein, jemanden in den Süden zu bringen.«

»Es herrscht Krieg!« Fassungslos schüttelte Susanna Belle den Kopf.

»Du bist zu ängstlich. Falls Seraphina keine andere Möglichkeit bleibt, sich und ihre Kinder in Sicherheit zu wissen, wird sie sich für meinen Vorschlag entscheiden.«

»Ich bin nicht zu ängstlich«, wehrte sich Susanna Belle. Seit sie ein offenes Haus für Menschen in Not hatte, war sie mehr als einmal in Gefahr geraten.

»Ich könnte es versuchen«, schlug Tammy vor. »Du weißt, dass ich mit dem Bostoner Dialekt meiner Mutter eindeutig als Nordstaatlerin durchgehe. Aber ich kann trotzdem die Sprechweise meines Vaters imitieren.«

»Das ist völlig undenkbar! Du bist eine Frau, dazu noch eine sehr junge und hübsche. Und eine sehr leichtsinnige. Dein Plan ist zu gefährlich, auch für Seraphina und die Kinder.«

»Dann lassen Sie sich etwas Besseres einfallen, Mrs Tanner!« Beleidigt verschränkte Tammy die Arme vor der Brust. Selbstverständlich hatte ihr Vorschlag seine Berechtigung. Wären Seraphina und die Kinder erst einmal südlich der umkämpften Gebiete, hätte der Ehemann und Vater kaum eine Möglichkeit mehr, sie aufzugreifen. Doch Susanna Belle wusste nicht, wie es um Peacock Plantation stand – ob ihre Mutter Gäste aufnehmen konnte. Außerdem hatte sie keine Ahnung, wie die drei Buckleys bis in den abseitsgelegenen District von South Carolina gelangen sollten. Das weitaus größte Problem stellte jedoch das Eindringen hinter die feindlichen Linien dar.

»Es ist einfach nicht möglich, Tammy.«

»Du sprichst doch immer von den Gentlemenrebellen.«

»Es gibt auf beiden Seiten Halunken. Und ich muss dir nicht erklären, dass dieser Krieg die Gesetze einer zivilisierten Gesellschaft außer Kraft setzt.«

»Ach!« Tammy winkte ab, und Susanna Belle ließ das Mädchen schmollen.

~North Carolina~

Im fahlen Mondlicht sah Annie ihre Freundin zitternd auf dem Bettrand sitzen. Plötzlich überkam sie aufs Neue jene hilflose Wut, die sie auf Davids älteren Bruder verspürt hatte. Das Gefühl des Versagens, weil sie nicht gut genug auf Crystal aufgepasst hatte, umklammerte ihr Herz.

Mit einem heftigen Ruck riss sie die Tür auf. Darauf nicht vorbereitet, stolperte Sarandon unkontrolliert in den Raum und stürzte zu Boden. Annie stemmte die Hände in die Seiten und blickte auf den Mann hinab. Wütend wie sie war, war es ihr egal, dass sie nur ein Nachthemd trug.

»Was erlauben Sie sich?!«, fauchte sie. »Crystal ist eine freie Frau. Und selbst wenn sie es nicht wäre, dürften Sie sie nicht wie ein Stück Ware behandeln. Sie ist kein Zahlungsmittel!« Drohend leise fuhr sie fort: »Kreaturen wie Sie treten die Würde anderer Menschen in den Dreck. Gehen Sie mir aus den Augen!«

Der Mann rappelte sich tatsächlich auf und verließ das Zimmer. Ohne sich umzusehen, eilte er polternd die Stufen hinunter. Annie gab der Tür mit dem Fuß einen Tritt, sodass sie lautstark ins Schloss fiel. Erleichtert, weil er gegangen war, atmete sie tief durch und setzte sich neben Crystal auf die Bettkante. Die Ellenbogen auf die Knie gestützt, legte sie den Kopf in ihre Hände, darum bemüht, das Gefühlschaos in sich zu befrieden.

Eine warme Hand drückte ihre linke Schulter. »Danke, Annie.«

»Danke mir bitte nicht. Damals, als Kenneth dich benutzt hat, habe ich nicht auf dich achtgegeben. Ich habe es nicht mal mitbekommen, was er dir angetan hat. Und dann habe ich aus Angst vor ihm lange gezögert, bis ich eingeschritten bin.«

»Du bist dir selbst gegenüber ziemlich ungerecht und ungnädig«, flüsterte Crystal. »Du warst damals mit so vielen anderen Dingen beschäftigt.« Crystal nahm sie in den Arm, und Annie legte erleichtert den Kopf auf ihre Schulter. »Außerdem habe ich dir das längst vergeben.«

Annie richtete sich auf. »Lass uns gehen, Crystal. Lieber verbringe ich die Nacht im Unterstand bei den Gleisen als in diesem Haus.«

»Gut.« Crystal zog sich an, und Annie folgte ihrem Beispiel. Da Annie Sarandons Frau nichts schuldig bleiben wollte, legte sie einige Konföderiertendollars unter das Leintuch ihres Bettes. Dort würde sie es finden, nicht aber ihr Mann. Mit dem Gepäck in den Händen wandten sie sich unschlüssig der geschlossenen Kammertür zu. Ob Sarandon noch auf war? Würden sie ihm begegnen, sobald sie die Treppe hinunterstiegen?

Annie betrachtete die auf den Fußboden gemalte Spur des Mondes, der ihr einen Weg zum Fenster wies. Von diesem Stockwerk bis zum Boden war es nicht sonderlich weit. Zudem rankte wilder Wein an der Fassade empor und würde ihnen genügend Halt für eine Kletterpartie bieten. »Wir gehen durchs Fenster«, entschied sie.

»Du hattest angebrochene Rippen, Annie. Wenn du fällst, wirst du wieder furchtbare Schmerzen haben«, wandte Crystal ein.

»Dann falle ich eben nicht.« Annie hob ihren alten Koffer auf den Fenstersims, beugte sich mit diesem hinaus und ließ ihn fallen. Er landete mit einem verhaltenen Poltern auf der Wiese, gleich darauf folgten ihre und Crystals Tasche.

»Ich vergaß, dass du in den letzten Wochen so furchtbar vernünftig sein musstest«, spottete Crystal halb belustigt, halb besorgt. »Durch deine Verletzung warst du ans Haus gefesselt. Nun dürstet es dich offenbar wieder nach ein wenig Aufregung.«

»Davon hatte ich heute bereits genug! Also hör auf damit, mich aufzuziehen, und komm her. Du wirst nämlich als Erste klettern.«

»Und warum das?«

»Weil ich nicht nachher da unten stehen möchte, und du traust dich dann womöglich nicht.«

»Keine Sorge. Ich will diesem widerwärtigen Kerl nicht mehr begegnen.« Crystal kletterte auf den Fenstersims. Sie musste sich ducken, um den Oberkörper durch die Laibung zu bekommen, dann saß sie eine Weile verunsichert da. Schließlich drehte sie sich vorsichtig zur Seite, rutschte mit dem Bauch über den Sims und hangelte sich langsam hinab. Annie beugte sich aus dem Fenster und sah zu, wie die Freundin mit den Füßen nach Halt in der Kletterpflanze suchte und sich mit den Händen krampfhaft an den dicken Trieben festhielt. Sicher unten angekommen, winkte Crystal ihr zu.

Annie lächelte erleichtert und erkletterte ebenfalls den Sims. Bereits beim Umdrehen in die Bauchlage spürte sie den ziehenden Schmerz in ihrer Seite. Endlich fand sie Halt mit den Beinen und kletterte nach unten, wobei ihr bei jeder Bewegung ein Stich in den Oberkörper schnitt. Als sie unten angekommen war, musste sie sich mit beiden Händen an der Holzfassade abstützen, um ihren Körper zu entlasten.

»Wir hätten die Treppe nehmen sollen, wie alle zivilisierten Menschen.« Crystal hockte sich neben Annie und blickte besorgt zu ihr auf.

»Lieber habe ich ein paar Minuten lang Schmerzen, als mich einer neuerlichen Unterhaltung mit diesem Wüstling auszusetzen.«

»Dann lass uns von hier verschwinden.« Crystal erhob sich, nahm beide Taschen, ergriff auch den Koffer und blickte Annie auffordernd an. Geduckt huschten sie von dem Gebäude fort, hinüber zum Bahngelände. Ein einmaliges Bellen warnte sie davor, sich dem kleinen Gebäude zu nähern, aber ihnen genügte in dieser warmen Nacht der überdachte Unterstand. Da es keine Sitzgelegenheiten gab, kauerten sich die beiden dicht nebeneinander auf den Boden, mit dem Rücken an die Holzwand gelehnt. Links und rechts von sich stellten sie ihr Gepäck ab und beobachteten schweigend das über den Bretterboden wandernde Licht des Mondes.

Der Wind bewegte träge die feuchte Nachtluft, gegen Morgen war der Bahnhof von dichtem Bodennebel eingehüllt.

~Washington City~

Susanna Belle und Tammy betraten die Pension nahe dem Negro Hill, in der sie Linny Loftin untergebracht hatten. Auf einer Kommode flackerte eine Lampe, ansonsten war es im ersten Stock völlig dunkel. Ob die Eigentümerin des Hauses bereits zu Bett gegangen war? Aber weshalb hatte sie die Tür nicht abgeschlossen? Weil ein Pensionsgast später kam und zusperren sollte?

»Was ist das da auf dem Boden?«, fragte Tammy leise und deutete zu der offenen Küchentür. Susanna Belle trat näher und zuckte erschrocken zurück. Zwei Frauenbeine ragten ihr entgegen, neben ihnen hatte sich eine dunkle Flüssigkeit ausgebreitet. War das Blut? Jedenfalls roch es seltsam metallisch.

»Reich mir mal die Lampe, Tammy. Aber bleib da hinten.« Susanna Belles Stimme zitterte, ebenso ihre Hand, als sie die Öllampe entgegennahm. In der Küche lag die Pensionswirtin in ihrem Blut, das aus einer Wunde in ihrer Brust stammte. Jemand hatte die Frau erschossen.

Von oben drang ein Poltern herunter, anschließend ein zischendes Geräusch. Plötzlich traf etwas Susanna Belle in die Seite. Sie taumelte, die Lampe fiel zu Boden. Glas barst, die Flamme erlosch. Ehe sie stürzen konnte, ergriff sie jemand derb am Arm und hielt sie fest.

»Hast du sie?«, hörte sie eine Männerstimme, die sie Seraphinas Ehemann zuordnete. Buckley kam die Stufen herunter, inzwischen drang aus Linnys Zimmer schummeriges Licht. Susanna Belles Augen richteten sich auf die Schusswaffe, mit der Loftin, der sie festhielt, sie bedrohte.

»Was tust du da?«, fragte Buckley, dann sah auch er die tote Frau in der Küche. »Verdammt, Danny. Die Angelegenheit wächst uns über den Kopf.«

»Ja, schade um das hübsche Stück Fleisch.« Loftin drückte Susanna Belle die Waffe an die Schläfe. Sie schnappte nach Luft. Panisch ließ sie den Blick schweifen. Wo war Tammy?

»Das kannst du nicht machen, Danny.« Buckley klang erstickt.

»Als ob du je auf das zarte Geschlecht Rücksicht genommen hättest. Wer hat denn seine Frau verprügelt? Seine Kinder?« Loftin lachte kurz, aber laut auf.

»Ich habe sie für Ungehorsam bestraft.«

»Das mache ich hier auch. Und du wirst mir helfen, immerhin hat dieser ganze Schlamassel mit dir und Seraphina begonnen.«

Susanna Belle presste die Lippen zusammen, da Loftins unbarmherziger Griff schmerzhaft war. War Linny noch oben? War sie ebenfalls tot? Aber das hätte Buckley niemals zugelassen, oder doch? Ihre Gedanken rasten. Sie wollte nicht sterben.

Ein dumpfes Geräusch ließ sie zusammenzucken, im selben Moment wurde sie zur Seite gestoßen. Ein dunkler Schatten fiel über Buckley her, auch Loftin wurde zu Boden geworfen. Ein Mann in der Uniform eines Infanteristen rang mit ihm.

Susanna Belle wich an die Wand zurück. Plötzlich stob Tammy wie ein Wirbelwind herbei. Sie nahm die heruntergefallene Waffe an sich und zog die verstörte Susanna Belle mit sich hinaus ins Freie. Der Stoff ihrer Kleider wirbelte um ihre Beine. Gemeinsam duckten sie sich hinter den Landauer, mit dem sie von Tammys Haus direkt hierher gefahren waren.

Eine keuchende Stimme rief nach dem Kutscher der Greens. Der saß noch immer auf dem Kutschbock und hatte sich nicht gerührt. »Komm von deinem hohen Ross runter und hilf uns! Wenn es hier einen Toten gibt, wird das den auf dem Negro Hill lebenden Menschen angerechnet. Willst du das?«

Susanna Belle riss die Augen weit auf. Sie war sich sicher, dass sie diese Stimme kannte. Der Kutscher reagierte und betrat ebenfalls das Haus. Offensichtlich wehrten sich Loftin und Buckley vehement.

»Wen hast du denn da zu Hilfe geholt?«, fragte Susanna Belle ihre Freundin.

»Zwei schwarze Soldaten. Sie wollten erst nicht einschreiten, weil sie Ärger befürchteten. Der Größere meinte, die Weißen sollten ihre Auseinandersetzungen unter sich austragen. Als ich aber sagte, dass zwei Frauen in Gefahr seien, kamen sie doch mit.«

Susanna Belle war abgelenkt. Trotz der Rauferei im Inneren der Pension musste es Linny gelungen sein, von oben zu fliehen. Soeben stürmte sie auf die Straße.

»Kommen Sie schnell hierher, Mrs Loftin«, rief Susanna Belle. »Hier bei uns können Sie sich verstecken.«

»Ha! Sie haben mich doch verraten.« Linny deutete in Richtung Haus.

»Das war … nicht meine Absicht!«, erwiderte Susanna Belle kleinlaut.

»Ich bin so durcheinander«, jammerte Linny. »Danny und Don sind plötzlich aufgetaucht, und dann habe ich einen Schuss gehört. Und jetzt sind da diese schrecklichen schwarzen Männer …«

Zwei Gestalten stürmten aus der Tür. Einer von ihnen packte die panisch aufschreiende Linny, Tammy, die nach dem Rock der Frau griff, bekam von Buckley einen derben Stoß und taumelte. Susanna Belle versuchte noch, die Freundin aufzufangen, allerdings gelang ihr das nicht, und so stürzten sie beide zu Boden. Bis sie sich aufgerappelt hatten, hatten Loftin und Buckley Linny in die zweite wartende Kutsche auf der gegenüberliegenden Straßenseite gezerrt. Einer der Männer stieg ebenfalls ein, der andere kletterte flugs auf den Kutschbock und trieb die Pferde an, noch ehe der Schlag geschlossen war.

Die beiden Soldaten blieben sichtlich überfordert mitten auf der Straße stehen. Susanna Belle ballte die Hände zu Fäusten. Buckley und Loftin hatten die Pensionswirtin erschossen, und sie würde dafür sorgen, dass sie wegen Mordes angeklagt wurden.

»Ich hoffe, Ihnen ist nichts passiert, Ma’am?«, rief einer der Soldaten zur Kutsche herüber. Susanna Belle musterte sein ebenholzschwarzes Gesicht. Nun wusste sie, woher sie die Stimme kannte. Ihr Gegenüber erkannte sie ebenfalls. Verblüfft wich er einen Schritt zurück, dann lächelte er breit und offenbarte seine Zahnlücken, da sein ehemaliger Herr ihm die Schneidezähne gezogen hatte. »Missi Susanna Belle Jackson! Sie haben es also bis nach Washington geschafft?«

»Das habe ich, Mr Darius Campbell! Ich habe den Mann geheiratet, dessentwegen ich damals diese wahnwitzige Flucht mit der Untergrundbahn unternommen hatte.«

»Das ist gut! Und wie Sie sehen, bin ich ein freier Mann.«

»Aber Sie sind nicht in Canada.«

»Das macht nichts. Nur weil Sie mich damals geschützt haben, bin ich nicht wieder eingefangen worden. Ich lebe und bin frei.«

»Unsere beider Wünsche haben sich demnach erfüllt.«

Darius nickte heftig und zog stolz seine Uniformjacke glatt.

»Und jetzt willst du gegen den Süden kämpfen?«

Betreten blickte der große Mann Susanna Belle an. »Ich kämpfe für meine Mutter. Sie soll auch frei sein.«

Susanna Belle verstand seine Beweggründe und ebenso sein Zögern – sicher ahnte er, dass ihr der Süden nach wie vor am Herzen lag.

»Hatten Sie die Gelegenheit, mit meiner Mammy zu sprechen, Missi?«

»Leider nicht. Ich war seither nicht wieder auf dem Anwesen der Campbells. Aber ich habe einigen Gästen auf Peacock Plantation, die in der Nähe der Campbells wohnen, davon berichtet, dass dir die Flucht gelungen ist. Ich denke, deine Mutter wird es erfahren haben.«

Tammy brachte sich mit einem Räuspern in Erinnerung. »Was machen wir jetzt mit der toten Frau?«

»Ich …« Susanna Belle wusste es nicht und zuckte hilflos mit den Schultern. Dann befahl sie sich, Ruhe zu bewahren, und ging wieder ins Haus, wobei sie sich nur zögernd der Küche näherte. Trotz des mangelnden Lichtscheins vom oberen Stockwerk sah sie, dass sich eines der Beine bewegte. Sie wirbelte herum und fand sich Darius gegenüber. Sie bat ihn, die Verletzte zur Kutsche zu tragen, damit man sie zum Arzt bringen konnte. Er folgte ihrer Bitte umgehend.

Am Schaukeln des Gefährtes bemerkte Susanna Belle, dass sich die beiden schwarzen Soldaten zu dem Fahrer auf den Kutschbock zwängten. Sie selbst strich der leise stöhnenden Pensionswirtin, deren Kopf in ihrem Schoß ruhte, über die Wange und redete ihr gut zu.

»Woher kennst du diesen Soldaten?«, fragte Tammy flüsternd. »Und warum sprach er von einer Flucht, bei der du geholfen hast?« Die Augen des Mädchens glitzerten erwartungsvoll. Um sich selbst und Tammy ein bisschen von der Tragik der vergangenen Stunde abzulenken, erzählte ihr Susanna Belle davon, dass sie eigentlich einen anderen Mann hätte heiraten sollen und wie sie Annie gezwungen hatte, ihr bei der Flucht in den Norden zu helfen …

~South Carolina~

Drückend schwüle Luft empfing Annie und Crystal. Die zerfetzte Flagge, mit der ein nahender Zug angehalten werden konnte, hing unbewegt am unteren Ende des Fahnenmastes. Annie strich sich mit der freien Hand ein paar widerspenstige Haarsträhnen aus dem Gesicht und sah sich suchend um. Crystal kniff die Augen zusammen. »Es ist niemand da, um uns abzuholen.«

»Vielleicht haben sie sich nur verspätet.« Besorgt blickte Annie zum wolkenverhangenen Himmel hinauf. Sie hatte keine Lust, eine weitere Nacht auf einem Bahnhof zu verbringen. Sie stellte ihren Koffer auf den Grasboden und versuchte wiederum, dieses Mal mit beiden Händen, ihr Haar zurück in den Knoten zu zwingen.

»Müssen wir zu Fuß gehen?«, fragte Crystal wenig begeistert. Sie waren umgeben von sumpfigen Wiesen und weitläufigen Wäldern.

»Wir gehen jetzt einfach den Weg entlang, Garry entgegen.«

»Wir waren lange fort. Es wird doch hoffentlich nichts geschehen sein?«

»Dann hätten wir davon gehört, Crystal. Richmond liegt ja nicht am Ende der Welt.«

»Nein, aber Birch Island.« Ihre Freundin nahm beide Taschen auf und marschierte los. Annie folgte ihr eilig, wurde das mulmige Gefühl, das Crystals Worte hervorgerufen hatte, jedoch nicht mehr los. Mit beginnender Dämmerung mussten sie einsehen, dass sie tatsächlich niemand abholen würde. Ob das Telegramm verloren gegangen war? Annie schreckte aus ihrer Überlegung hoch, als Crystal sie am Arm ergriff. »Siehst du das Licht da vorn? Könnte das ein Farmhaus sein?«

»Vermutlich. Auf, wir gehen quer über die Wiese, dann sind wir schneller dort.«

»Geh du allein zu dem Haus, ich warte besser hier, nicht, dass wir Garry verpassen, falls er doch noch kommen sollte.«

Da Annie den Vorschlag sinnvoll fand, ließ sie den Koffer bei Crystal am Wegrand zurück und stapfte durch das hochgewachsene Gras. Der Duft von Wiesenblüten und feuchter Erde hüllte sie ein und erinnerte sie an die ehemalige Farm ihrer Familie. Innerhalb weniger Minuten erreichte Annie ein kleines Farmhaus, dessen Nebengebäude im Dunkeln lagen. Sie betrat die Holzveranda und klopfte an die Eingangstür. Es dauerte nicht lange, bis sie mit einem energischen Ruck aufgerissen wurde. Eine ältere Frau mit einer verschmutzten Schürze musterte Annie. »Was wollen Sie?«, fragte sie misstrauisch.

»Guten Abend, entschuldigen Sie bitte die Störung. Meine Begleitung und ich sind mit dem Zug angereist, wurden aber leider nicht abgeholt.«

»Das ist nicht mein Problem, Miss. Ich habe keinen Platz für vergessene Passagiere.« Die Frau wollte die Tür zuschieben, doch Annie stemmte die Hand gegen das Türblatt.

»Wäre es möglich, ein Pferd zu mieten, damit wir nach Birch Island reiten können? Jemand wird Ihnen das Pferd wieder zurückbringen.«

»Sagten Sie Birch Island?«

Annie blickte die Farmerin hoffnungsvoll an. Hatte die Nennung der Plantage ein Umdenken hervorgerufen?

»Dann haben Sie genug Geld, um das Pferd zu mieten und für Futter zu sorgen?« Annie unterdrückte ein Stöhnen. Offenbar hatte die Frau gerade entdeckt, dass sie aus ihrer Notlage Gewinn schlagen konnte.

»Haben Sie denn ein Pferd?«

»Ja, ein starkes Tier. Es kann Sie beide tragen. Aber morgen Nachmittag brauche ich es zurück.«

»Bis dahin haben Sie es wieder.«

»Ich gehe den Gaul holen, Sie können schon mal Ihre Geldbörse zücken.«

Annie bekam große Augen, als die Frau die Summe nannte, die sie für das Ausleihen des Pferdes haben wollte. Sie feilschte den Betrag so weit nach unten, bis sie diesen erträglich fand. Mit mürrischem Gesicht drückte sich die Frau an ihr vorbei, und ging zum Stall hinüber. Derweil holte Annie die Konföderiertendollars hervor, die sie am Körper trug. Es dauerte nicht lange, bis ein schweres Arbeitspferd vor ihnen stand. Annie musterte die eingefallenen Flanken und das stumpfe Fell. »Das Tier ist nicht ordentlich gepflegt.«

»Das können Sie auf Birch Island ja ändern. Dafür sind doch die vielen Schwarzen da.«

Annie beschloss, sich auf keine weitere Diskussion einzulassen. Sie war erleichtert, eine Möglichkeit gefunden zu haben, um gegen Mitternacht auf Birch Island eintreffen zu können.

»Einen Sattel haben Sie nicht?«

»Wozu? Das ist ein Arbeitspferd.« Die Frau lachte, zog ihr die Scheine ruckartig aus der Hand und stopfte sie, ohne nachzuzählen, in die Schürzentasche. Annie nahm die Zügel entgegen und führte das Tier eine Runde im Kreis. Zumindest hatte es einen sicheren Gang. Sie stieg auf die niedrige Natursteinmauer zwischen Gemüsegarten und Wiese und kletterte auf den Rücken des Pferdes. Es wandte den Kopf, schnupperte an Annies Bein und drehte ihn gelangweilt wieder nach vorn. Wenngleich etwas verlangsamt, so reagierte es doch auf Annies Schenkelhilfen.

»Was hast du denn mit dem Pferd vor?«, begrüßte Crystal sie, sobald sie zurück beim Waldweg war.

»Wir haben es von der Farmerin gemietet und reiten damit nach Birch Island.«

»Mit unserem ganzen Gepäck? Auf diesem Riesen?«

Annie zuckte mit den Schultern und streckte Crystal die Hand hin, um sich ihren Koffer reichen zu lassen. Crystal zögerte kurz, dann überließ sie Annie auch die Taschen, gleich darauf ließ sie sich hinter die Reiterin ziehen.

»Nimm du bitte den Koffer«, sagte Annie, »aber achte darauf, dass er nicht gegen den Körper des Tieres schlägt. Die Taschen kann ich halten und gleichzeitig das Pferd lenken.«

»Die Besitzerin dieses Ungetüms steht bestimmt am Fenster und wartet nur darauf, bis wir mitsamt Gepäck runterfallen.«

»Dann halte dich fest, damit wir ihr den Spaß verderben.« Annie wartete, bis Crystal einen Arm um ihren Bauch gelegt hatte, ehe sie das Pferd antrieb.

»Aber wir galoppieren doch nicht, oder?«, fragte Crystal ängstlich über Annies Schulter hinweg.

»Ich habe es erst mal nicht vor.«

»Eines weiß ich, Annie. Ich werde nie wieder mit dir verreisen. Das ist mir entschieden zu gefährlich.«

~Washington City~

Nachdem Susanna Belle und Tammy die verletzte Pensionswirtin zu Dr. Alexander White gebracht hatten, fuhr die Kutsche weiter zum roten Backsteinhaus der Tanners.

»Was soll ich nur sagen?« Betreten blickte Tammy an ihrem einstmals strahlendblauen Kleid hinunter. Es war vollkommen verschmutzt, zerknittert, und an einer Stelle wies der Stoff sogar einen Riss auf.

»Die Wahrheit?«, schlug Susanna Belle vor.

»Mutter wird so oder so böse sein, weil ich sie bei der Wohltätigkeitsveranstaltung allein gelassen habe.«

»Deine Eltern werden eines Tages herausfinden, dass ich in dem kleinen Haus gegenüber wohne und womit ich beschäftigt bin. Denkst du nicht, es wäre an der Zeit, ihnen zu sagen, dass –«

»Vater ahnt vermutlich mehr, als wir annehmen«, überlegte Tammy laut. »Aber für ihn zählt deine Herkunft aus gutem Hause. Deshalb verlässt er sich darauf, dass ich in deiner Gesellschaft keinen schlechten Umgang habe und unserer Stellung entsprechend –«

Diesmal unterbrach Susanna Belle die Freundin, indem sie schallend lachte. Heute und zuvor schon des Öfteren war das Gegenteil der Fall gewesen. Das Mädchen lächelte verlegen.

Susanna Belle drückte ihre Hand und raffte ihr Waschkleid so hoch, dass sie sehen konnte, wohin sie trat. Der Kutscher half ihr beim Aussteigen und verabschiedete sich knapp. Begleitet von den beiden Infanteristen ging sie die kurze Auffahrt hinauf und öffnete die Tür. Ein Lichtschein aus der Küche hieß sie willkommen. Susanna Belle hängte ihr Cape an die Garderobe und fing Darius’ erstaunten Blick auf. Vermutlich hatte er angenommen, dass sie in einem großen, herrschaftlichen Haus lebte.

Ihre Schwägerin Jennifer und Lorena, eine ehemalige Sklavin, kamen aus der Küche in den Flur. Besorgt glitten ihre Blicke von Susanna Belle zu ihren Begleitern.

»Ich koche Kaffee und kümmere mich um etwas zum Essen«, sagte Lorena und ging zurück in die Küche. Jennifer hingegen starrte Darius fassungslos an, ehe sie fragte: »Sind Sie das wirklich, Mr Campbell?«

»Jawohl, ich bin es, Miss Tanner.«

»Ich heiße jetzt Drane«, korrigierte Jennifer ihn leise, dann begrüßte sie ihren alten Bekannten und dessen Freund Onnophrios.

Susanna Belle folgte Lorena in die Küche. Müde ließ sie sich auf die Holzbank gleiten. Den vorwurfsvollen Blick ihrer dürren Haushälterin übersah sie geflissentlich.

»Ist Marc nicht da?«, fragte Susanna Belle.

»Er ist nicht mehr hier gewesen, seit er zu Tammys Haus aufgebrochen ist. Wer sind diese Männer?«

Susanna Belle erzählte kurz von den Umständen ihrer damaligen Flucht und Jennifers Zusammentreffen mit Darius. Dann legte sie müde den Kopf in ihre Hände, beide Ellenbogen waren auf die Tischplatte aufgestützt. »Wo Marc wohl ist?«

Lorena zuckte mit den Schultern. Es war nicht ungewöhnlich, dass der Journalist länger als geplant fortblieb. Sie briet Eier und Speck an, während das Kaffeewasser auf dem Ofen zu kochen begann.

»Ich gehe mich umziehen«, sagte Susanna Belle.

»Das ist gut, Sie haben schon die ganze Küche schmutzig gemacht.«

Betreten musterte Susanna Belle den zuvor sauberen Boden. »Ich helfe dir morgen früh beim Putzen.« Sie unterdrückte ein Gähnen. Die Wärme in der Küche machte sie schläfrig, am liebsten hätte sie den Kopf auf die Tischplatte gebettet. Sie untersagte sich den Wunsch, zumal Jennifer die Soldaten hereinführte. Susanna Belle machte ihnen Platz, sodass sie sich auf der Bank niederlassen konnten.

»Stell dir vor, Susanna Belle! Es ist damals tatsächlich ein Kopfgeldjäger in unseren Garten in New York eingedrungen und hat nach Darius gesucht. Er konnte entkommen und ist aus Canada zurückgekehrt, sobald man ein erstes Schwarzenregiment aufgestellt hat. Er gehört jetzt zum 54th Massachusetts Infantry Regiment.«

Susanna Belle konnte Darius’ Beweggründe verstehen, nicht jedoch Jennifers Begeisterung. Vielleicht war sie aber einfach nur stolz darauf, dass es einer ihrer Geflüchteten bis in eines der Regimenter der Vereinigten Staaten geschafft hatte. Susanna Belle war auf der Fahrt zu Tammys Haus einem solchen begegnet. Verwundert hatte sie den Drill beobachtet und dabei festgestellt, dass es sogar für sie, die sie inzwischen seit Jahren in Washington lebte und mit Jennifer eine Verfechterin für die Rechte der ehemaligen Sklaven in der Familie hatte, gewöhnungsbedürftig war, Schwarze in Uniformen zu sehen. Wie würde es da erst den Soldaten der Konföderation ergehen? Susanna Belle hoffte, dass weder Darius noch Onnophrios je in die Gefangenschaft der Rebellen gerieten.

Wie geplant verließ sie die Küche, obwohl das Essen herrlich duftete. Sie hatte gerade die Wendeltreppe erreicht, als die Eingangstür schwungvoll geöffnet wurde und Marcus eintrat. »Marc, endlich!« Sie flog regelrecht in seine Arme.

»Du tust so, als wartest du hier seit Stunden auf mich«, zog er sie auf.

»Zumindest kannst du mir nicht vorwerfen, dich schmutzig zu machen. Du bist genauso staubig wie ich.«

»Wir können diesen Makel ja gemeinsam beheben.« Marcus drängte sie in Richtung Treppe, doch Susanna Belle sträubte sich dagegen. »Jennifer ist noch wach, und wir haben Gäste. Die Soldaten haben uns geholfen, weil …« Jetzt erst brach der ganze Schrecken der vergangenen Stunden über sie herein. Sie klammerte sich zitternd an ihren Mann.

»Ich kenne die Geschichte, meine Liebe. Ich war gerade bei Alexander.« Marcus’ Stimme klang eine Spur vorwurfsvoll, da sie sich mal wieder in Gefahr gebracht hatte.

»Wie geht es der Pensionswirtin?«, fragte Susanna Belle.

»Sie wird überleben. Und du scheinst auch unverletzt davongekommen zu sein?«

»Ja, nur Tammy wird vermutlich Schwierigkeiten bekommen.«

»Sie wird sich mit ihrem süßen Lächeln und dem unschuldigen Gesichtchen zu helfen wissen.« Marcus zuckte ungerührt mit den Schultern.

»Stell dir vor, einer unserer Helfer ist Darius Campbell!«

»Der Mann, dem du die Flucht ermöglicht hast und der später bei Jenny gestrandet ist, um dort wieder verloren zu gehen?«

»Richtig.« Susanna Belle gähnte ungeniert. Trotzdem drehte Marcus sie um und schob sie vor sich her in Richtung Küche. »Mit deinem Fluchtbegleiter von damals würde ich mich gern unterhalten. Ich habe den Eindruck, dieser Mr Campbell kann mir einige interessante Einzelheiten deines Ausflugs erzählen, die ich seither nicht zu Gehör bekommen habe. Zudem duftet es hier verdächtig nach dem besten Frühstück der Stadt.«

Während die Männer sich begrüßten, dachte Susanna Belle bedauernd an Linny, die sich inzwischen vermutlich in einem Zugabteil in Richtung New York befand. Sobald sich die Lage sowohl hier in Washington als auch in New York beruhigt hätte, würde sie darüber nachdenken müssen, wie sie der Frau helfen konnte.

~Birch Island~

Eine dünne Wolkendecke kroch über den nächtlichen Himmel und erlaubte den Sternen nur hin und wieder, ihr tröstendes Licht auf die Plantage zu schicken. Blaugraue Schatten regierten über Birch Island. Die Luft war gesättigt von dem herben Duft des Waldes und der nahen Feuchtgebiete, die Blätter der Parkbäume raschelten im Wind.

Bobby, der jüngste Spross der Williams, und Shrubby, einer der Sklavenjungen, trugen je einen Eimer mit frisch gefangenen Fischen mit sich und verabschiedeten sich am Waldrand voneinander. Shrubby rannte in Richtung Siedlung, während Bobby sich dem Herrenhaus zuwandte. Der Zehnjährige war wie sein Freund ohne Schuhe unterwegs, was daher rührte, dass er seinen nächtlichen Angelausflug unbedingt geheim halten wollte. Dafür hätte er aber seine Schuhe putzen müssen, also hatte er sie lieber gar nicht erst angezogen. Er passierte den Pavillon und blieb auf dem höchsten Hügel, gleich neben dem Teich stehen. Das Gewässer schimmerte schwarz, die aufsteigende feuchtkühle Luft ließ ihn frösteln.

Der von Trauerweiden umgebene Weiher war der Lieblingsplatz seiner Lehrerin, und wie so oft fragte er sich, was wohl aus ihr geworden war. Es war inzwischen mehrere Wochen her, seit sie den Zug nach Richmond genommen hatte. Jemand hatte verlauten lassen, sie hätte einen Unfall gehabt und würde die Genesungszeit in der Konföderiertenhauptstadt verbringen, doch Bobby hatte seitdem nie wieder etwas von Annie und Crystal gehört.

Er legte den Kescher ins Gras, stellte den Eimer daneben und setzte sich. Er umschlang die Beine mit seinen Armen und wippte leicht vor und zurück. Seine Schwester Victoria vermutete, dass sich Annie und Crystal in den Norden abgesetzt hätten, aber niemand hier wollte ihr Glauben schenken. Zwar hatte sich Bobbys Schwägerin, die junge Witwe Rebecca Sue, vorgenommen, ein weiteres Mal nach Richmond zu telegrafieren, doch die fiebernde Erkältung ihres Sohnes Ken hatte sie davon abgehalten. Bobbys Großmutter hatte ihm verboten, allein in die Stadt zu reiten, und Victoria hatte sich schlicht geweigert, den weiten, unbequemen Weg auf sich zu nehmen. Dies mit der Begründung, dass sie sich wegen ihrer fortgeschrittenen Schwangerschaft nicht mehr in der Öffentlichkeit zeigen dürfe.

Ein junger Mann aus der Nachbarschaft, der gelegentlich die Post nach Birch Island gebracht hatte, war inzwischen von der Heimwehr in die offizielle Armee gewechselt und hielt sich deshalb nicht länger im District auf.

Bobby rieb seine schlammverkrusteten Zehen. Er vermisste Annie und machte sich Sorgen um sie und Crystal. Ob er heimlich in die Stadt reiten sollte? Seine nächtlichen Ausflüge mit Shrubby waren unentdeckt geblieben, und da kein Unterricht stattfand, würde ihn so schnell niemand vermissen. Allerdings fehlte ihm das Geld, um ein Telegramm drahten zu lassen. Missmutig schlug er sich mit beiden Fäusten auf die Oberschenkel.

Mit den weiblichen Gästen aus Richmond und jenen von der niedergebrannten Nachbarplantage lebte inzwischen eine große Anzahl Frauen auf Birch Island. Sie schienen alle mit sich selbst beschäftigt zu sein. Keine von ihnen vermisste Annie. Vielmehr gebärdete sich Victoria wie die Hausherrin – obwohl sie eigentlich auf der Plantage ihres Mannes in Missouri sein sollte –, weshalb es mehrmals zu Zusammenstößen zwischen ihr und Rebecca Sue gekommen war. Allerdings immer im Verborgenen, um die Gäste nicht zu brüskieren und seine Großmutter nicht aufzuregen.

Bobby hatte seine Ohren überall, und ihm war bewusst, dass Rebecca Sue als Witwe des Erben um ihre Stellung kämpfte und ohne Annies Beratung ziemlich hilflos war, was die Leitung der Plantage anbelangte. Nach drei Wochen, in denen sich Rebecca Sue ausschließlich um ihren kranken Sohn gekümmert hatte, war es Victoria gelungen, endgültig die Regentschaft über Birch Island an sich zu reißen.

Bobby legte sich auf der abschüssigen Wiese zurück, verschränkte die Arme im Nacken und beobachtete die träge ziehenden Wolken. Ob er Rebecca Sue eindringlich bitten sollte, Annie endlich ein Telegramm zu schicken? Sie musste inzwischen doch ebenfalls bemerkt haben, dass die Lehrerin hier dringend gebraucht wurde?

Entschlossen sprang er auf, packte seine Angelausrüstung und rannte auf das weiße Haus zu, dessen Läden an den bodentiefen, oben abgerundeten Verandatüren in der Dunkelheit schwarz statt grün aussahen. Er hatte gerade die rundum verlaufende Veranda des unteren Stockwerks betreten, als er das Knirschen der Kieselsteine auf der Birkenallee vernahm. Abwartend blickte er an den ausladenden Zweigen einer Virginia-Eiche und ihrem im Wind schwingenden Moosbehang vorbei. Bald konnte er ein großes Pferd mit zwei Reitern ausmachen. Neugierig spurtete er über die Verandadielen hinüber zur schmaleren Hausseite mit der Eingangstür und der Freitreppe und kam zeitgleich mit den Ankömmlingen auf dem von Birken gesäumten, runden Vorplatz an. Als er Crystal und Annie erkannte, strahlte er mit dem Mond um die Wette.