Das Strahlen der Zuversicht - Töchter der Freiheit - Noa C. Walker - E-Book

Das Strahlen der Zuversicht - Töchter der Freiheit E-Book

Noa C. Walker

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Beschreibung

Amerika, 1863: Richard Williams, der Eigentümer von Birch-Island-Plantation, wird als vermisst geführt, woraufhin sich der Verwalter immer aggressiver gegenüber Annie verhält. Um Annie und die anderen zu beschützen, sieht Crystal keinen anderen Ausweg, als unter Einsatz ihres Lebens gegen den Verwalter vorzugehen. Kurz darauf bricht auf einer Nachbarplantage ein Sklavenaufstand los, in dem Annie und die Familie Williams in große Gefahr geraten.
In Washington City melden sich Susanna Belle, Jennifer und die lebensfrohe und verwöhnte Tammy freiwillig für die Versorgung von verletzten und erkrankten Soldaten. Während Susanna Belle und Jennifer mit dieser neuen Aufgabe gut zurechtkommen, stößt Tammy bald an ihre Grenzen.
Aus der Not heraus begleitet Annie Marianna Williams und deren Freundin Julie nach Richmond, wo die beiden zu Hilfskrankenschwestern ausgebildet werden sollen. Dort trifft Annie unerwartet auf David. Die beiden genießen ihr Wiedersehen, wohl wissend, dass ihnen nur wenige gemeinsame Stunden vergönnt sind ...

»Das Strahlen der Zuversicht« ist der fünfte Band der emotionalen, mehrbändigen Familiensaga rund um den amerikanischen Bürgerkrieg, in der sich abgrundtiefer Hass, ein gnadenloser Krieg und unmenschliche Ungerechtigkeiten mit der großen Liebe, tiefgehender Freundschaft und den kleinen Freuden des Lebens die Hand reichen.

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Personenregister

30. August – 12. September 1862

Eins

15. September – 17. September 1862

Zwei

17. September – 18. September 1862

Drei

18. September 1862 – 20. März 1863

Vier

20. März 1863

Fünf

20. März – 21. März 1863

Sechs

25. März – 12. April 1863

Sieben

12. April – 10. Mai 1863

Acht

11. Mai 1863

Neun

12. Mai 1863

Zehn

Zum Schluss

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

 

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Über dieses Buch

Amerika, 1863: Richard Williams, der Eigentümer von Birch-Island-Plantation, wird als vermisst geführt, woraufhin sich der Verwalter immer aggressiver gegenüber Annie verhält. Um Annie und die anderen zu beschützen, sieht Crystal keinen anderen Ausweg, als unter Einsatz ihres Lebens gegen den Verwalter vorzugehen. Kurz darauf bricht auf einer Nachbarplantage ein Sklavenaufstand los, in dem Annie und die Familie Williams in große Gefahr geraten.

In Washington City melden sich Susanna Belle, Jennifer und die lebensfrohe und verwöhnte Tammy freiwillig für die Versorgung von verletzten und erkrankten Soldaten. Während Susanna Belle und Jennifer mit dieser neuen Aufgabe gut zurechtkommen, stößt Tammy bald an ihre Grenzen.

Aus der Not heraus begleitet Annie Marianna Williams und deren Freundin Julie nach Richmond, wo die beiden zu Hilfskrankenschwestern ausgebildet werden sollen. Dort trifft Annie unerwartet auf David. Die beiden genießen ihr Wiedersehen, wohl wissend, dass ihnen nur wenige gemeinsame Stunden vergönnt sind …

NOA C. WALKER

DasStrahlenderZuversicht

Töchter der Freiheit

Personenregister

Allegra Weddington:

Schwester von Davids verstorbener Verlobten

Alexander White:

Arzt in Washington City

Alice Williams:

Matriarchin der Familie, die Großmutter

Annabelle Jackson:

Mutter von Albert, Nathan und Susanna Belle

Benjamin:

»Butler«, höchster Haussklave

Bloom:

Sklavin der Phelps, ihr Mann: Smitten

Robert »Bobby« Williams:

jüngster Spross von Richard, Annies Schüler

Charlie:

Kutscher der Giddings, Richmond

Joe Cobb:

Feldchirurg, Kollege von David

Crystal:

Annies »Mädchen«, Orleans Enkelin

Garry:

Sklave auf Birch Island, Stallmeister und Pferdewirt

George Fisher:

Soldat, früher Medizinstudent

Jonas Phelps:

Plantagenbesitzer von Red Roses

Jennifer Tanner:

Schwester von Marcus, Cousine von Annie

Jerome:

Sklave, 2. Pferdewirt

Johannes Rebmann »Johnny Reb«:

Kavallerist unter Jeb Stuart, Davids Freund

Jordan Jackson:

Bruder von Susanna Belle, Kavallerist der Konföderation

Julie Marino:

Mariannas Freundin aus Charleston

Joshua Lane:

Pressezeichner aus Washington City, Freund von Marcus

Linny Loftin:

Ehefrau von Danny, Jennifers ehemaliger Verlobter

Lenora Weddington:

Mutter von Davids verstorbener Verlobten Melody. Weitere Töchter: Allegra, Symphonie, Crescenda

Lorena:

Freigelassene Sklavin, Dienstmädchen bei Susanna Belle und Marcus, Washington City

Marcus Tanner:

Annies Cousin, Susanna Belles Ehemann, Jennifers Bruder

Marianna Williams:

Schwester von David, ehemals Annies Schülerin

Matthew Phelps:

Nachbar der Williams’, Kavallerist der Konföderierten

Greg Meadow:

Verwalter von Birch Island

Melissa Love:

Annies Schülerin

Miles:

Chirurg der Konföderierten Armee

Newton Nells:

Ehemann von Victoria, Plantagenbesitzer aus Missouri

Nineteen:

Jugendlicher Soldat, Konföderierte Armee

Orlean »Granny«:

früher Davids »Mammy«, Crystals Großmutter

Raven:

junger Sklave, Stallbursche und Kutscher

Rebecca Sue Williams:

Davids Schwägerin, verwitwet

Richard Williams:

Witwer, Plantageneigentümer und Offizier, Konföderierte Armee

Rose Giddings:

Cousine von Richards verstorbener Ehefrau

Ruthie und Mite:

Crystals Schwägerin/Mariannas »Mädchen« und Sohn

Sadie Ann:

Sklavin, »Mädchen« von Alice

Sammy:

Sklave, Vorarbeiter auf Birch Island

Susanna Belle Tanner:

geborene Jackson aus South Carolina, Ehefrau von Marcus

Tamara »Tammy« Green:

Nachbarin und Freundin von Susanna Belle, Washington City

Theo Barrie:

Nachbar der Williams’, Kavallerist der Konföderierten

Valerie Giddings:

Roses Tochter

Victoria Nells:

Ältere Tochter der Williams’, deren Tochter: Verina

30. August – 12. September 1862

Eins

~South Carolina~

Die vom Wind aus Annies Haarknoten gezupften schwarzen Locken tanzten in der angenehm kühlen Abendbrise. Der Duft von Rosen wehte über die rundum verlaufende Veranda des weißen Plantagenhauses mit seinen bodentiefen Fenstern und den grünen Läden. Er vermengte sich mit dem des Kaffees aus der Tasse, welche die junge Lehrerin in Händen hielt. Es war der letzte echte Bohnenkaffee, und Annie wollte ihn trotz ihres aufgewühlten Gemüts genießen.

Die Schatten einiger alter Parkbäume reichten bereits bis zur Veranda, als Annie eine schlanke Gestalt im graugrünen Kleid der Haussklaven über die Wiesen eilen sah. Ehe Annie ihrem Mädchen entgegengehen konnte, gesellte sich Greg Meadow, der Verwalter von Birch-Island-Plantation, zu ihr an die Brüstung. »Sie hatten genug Zeit, über unser Gespräch nachzudenken. Allerdings kenne ich Ihre Antwort bereits.«

»Wohl kaum.«

»Meine liebe Miss Braun.« Der Mann klang hämisch. »Sie haben die Kinder den ganzen Tag über arbeiten lassen. Das heißt, dass Sie sich nicht länger gegen meine Anweisungen stellen.«

»Ja, die Kieselsteine auf der Allee sind gewaschen. Allerdings von keinem meiner Schüler. Ich habe andere Kinder um Mithilfe gebeten, damit der Unterricht stattfinden konnte. Schließlich sagten Sie, dass es Ihnen gleichgültig sei, wer die Arbeit erledigt.«

Meadow wirkte verblüfft, grinste aber. »Wir könnten gut miteinander auskommen, wenn Sie sich nur ein wenig mehr fügen würden.«

»Ich habe nicht vor, mit Ihnen ein wie auch immer geartetes Bündnis einzugehen.«

Der Mann mit dem weit herunterhängenden Schnurrbart packte sie derb an den Oberarmen. »Sie ordnen sich mir unter. Wenn nicht, müssen Sie Birch-Island-Plantation verlassen.«

»Missi!« Crystal hatte inzwischen die Veranda erreicht. »Granny Orlean wurde vor ihrer Hütte gefunden. Sie lag da auf dem Boden. Wir brauchen einen Arzt!«

»Auch gut, ein weiterer unproduktiver Esser weniger«, sagte Meadow. Sein schmerzhafter Griff hinderte Annie daran, sich abzuwenden. Sie schnappte nach Luft. Die alte Sklavin Orlean war ihr Ruhepol in dieser zusammenbrechenden Welt, eine Frau, zu der sie aufsah und die sie von ganzem Herzen lieb gewonnen hatte. Gewaltsam riss sie sich los. »Was erlauben Sie sich! Wissen Sie nicht, um wen es sich bei dieser Frau handelt?«

»Um eine abgetakelte Mammy, die zu nichts mehr zu gebrauchen ist.«

Annie sah das Entsetzen auf Crystals Gesicht. Ihre Vertraute hatte sofort durchschaut, dass der Verwalter fortan einen offenen Machtkampf gegen Annie ausfechten wollte.

»Sie, Mr Meadow, stellen unverzüglich einen Passierschein für Garry aus, damit er Dr. Randows benachrichtigen kann. In der Zwischenzeit sehe ich nach Granny.«

»Nichts dergleichen werde ich tun. Ich warte nur noch auf Ihre endgültige Antwort und gehe dann meinen Aufgaben nach.«

Annie nahm all ihren Mut zusammen. »Ich ersuche Mrs Williams um einen Passierschein für Garry. Er wird auch einen Brief an Dr. Williams aufgeben, mit der Bitte, umgehend die Leitung der Plantage zu übernehmen, bis sich sein Vater gemeldet hat. Du, Crystal, kehrst bitte zu Granny zurück. Ich komme nach.« Annie ließ Meadow stehen und betrat durch die Flügeltür den Salon. Da eine Reaktion des Verwalters ausblieb, raffte sie ihren Rock unanständig weit hoch und lief los. Sie stürmte ins Atrium, von dort die Stufen der geschwungenen Treppe zur Galerie hinauf und in den Familienflur. Kräftig klopfte sie an die Tür zu Alice Williams’ Räumen. Deren Mädchen öffnete und ließ Annie – nach einem kurzen Blick auf ihr gerötetes Gesicht – sofort eintreten.

»Entschuldigen Sie bitte die Störung, Mrs Williams.«

»Was kann denn nicht bis zum Dinner warten?« Die Matriarchin wandte Annie ihr für ihr hohes Alter erstaunlich faltenfreies Gesicht zu.

»Darf ich Sie um einen Passierschein für Garry bitten? Orlean geht es schlecht, wir brauchen den Arzt.«

»Warum behelligen Sie damit nicht Mr Meadow?«

»Er weigert sich. Er hält es nicht für nötig, Dr. Randows zu holen.«

»Übertreiben Sie mal wieder maßlos, Miss Braun?« Alice griff nach dem silberverzierten Gehstock und erhob sich mühsam.

»Er nannte Orlean eine abgetakelte Frau, die unnütz wertvolle Lebensmittel …« Annie hielt inne, als sie Alice erbleichen sah. Sie wusste, wie respektlos sie sich verhielt, aber dies war ihre einzige Chance auf Unterstützung. Alice’ Sohn und der Eigentümer der Plantage, Richard Williams, hatte Annie zwar insgeheim mit vielen Rechten ausgestattet, darunter auch die, einen solchen Schein auszufüllen, doch sie ahnte, dass Garry damit bei einer Kontrolle in Schwierigkeiten geraten könnte. Immerhin war sie offiziell nur eine Lehrerin aus dem feindlichen Norden des Landes.

»Sadie Ann, setze ein entsprechendes Schreiben auf«, gebot Alice. Die Sklavin, eine der wenigen, die schreiben konnte, tat wie geheißen.

Zurück im Atrium wurde Annie von Rebecca Sue Williams und deren Schwägerin Victoria Nells aufgehalten.

»Wohin so eilig, Miss Braun?« Victoria stellte sich ihrer ehemaligen Lehrerin in den Weg. »Haben Sie noch immer nicht gelernt, sich gesittet wie eine Dame zu bewegen?«

Kurz tauchte vor Annies innerem Auge auf, wie Rebecca Sue im Nachthemd und mit einer Duellpistole in der Hand die Stufen heruntergekommen war, konzentrierte sich aber schnell wieder auf die verächtlich dreinblickende Victoria.

»Es ist wichtig – ich muss Garry nach dem Arzt schicken.«

»Wer ist denn krank? Doch nicht meine Schwiegermutter?«, fragte Rebecca Sue, eine blonde Südstaatenschönheit, die vor einigen Jahren den ältesten Williams-Sohn geheiratet hatte. Kenneth war bei einer der ersten Schlachten des Krieges gefallen.

»Mrs Williams ist wohlauf. Es ist Orlean.«

»David würde es hart treffen, falls Orlean bei seiner Rückkehr nicht mehr da wäre«, murmelte Rebecca Sue.

»Ja. Er hängt merkwürdigerweise an der Frau. Aber bei meinem Bruder wundert mich nichts mehr.« Victoria schüttelte verständnislos den Kopf. »Übrigens, Rebecca Sue, willst du David nicht endlich schreiben, um ihn für dich zu gewinnen?«

Annie wandte sich eilig ab, lief in den Hauswirtschaftstrakt und von dort zu den Nebengebäuden. Als Garry sie sah, legte er einen Sattel und Flickzeug weg.

»Reite schnell in die Stadt. Wir brauchen Dr. Randows für Orlean.« Annie drückte dem Pferdewirt das Erlaubnisschreiben zum kurzzeitigen Verlassen der Plantage in die Hand.

»Ich sattle ein Pferd.« Raven, ein jugendlicher Stallknecht, stob davon, Annie wandte sich an den älteren Mann. »Könntest du versuchen, im Postamt einen Brief für mich aufzugeben? Es ist sehr dringend.«

»Versuchen kann ich’s, Missi. Vielleicht schreiben Sie dafür auch ein paar Zeilen?« Garry schob den Passierschein in die Brusttasche seines Baumwollhemdes.

Annie eilte zurück ins Haus und an den beiden Frauen vorbei, die ihr nachschauten, wie sie die Treppe hinaufjagte. Ihre Hand zitterte, als sie die Schublade ihrer Kommode aufzog und den inzwischen umfangreichen Brief an ihren heimlichen Verlobten herausholte. Ein adressiertes Kuvert lag bereit. Als Absender war nur Birch Island angegeben – sie konnte keinen Tratsch in der Stadt gebrauchen.

Durch das offene Fenster hörte sie das Wiehern eines Pferdes, also beschrieb sie in wenigen Stichworten die prekäre Lage, in der sich die Plantage befand. Sie schloss den Brief mit der Bitte, dass David, bis sein Vater von sich hören ließ, versuchen solle, Urlaub zu erhalten. Nachdem sie eine kurze Mitteilung an den Postmitarbeiter verfasst hatte, eilte sie wieder hinaus. Garry saß bereits im Sattel, als sie ihm die Schreiben aushändigte, und ritt sofort davon. Für jemanden, der den ganzen Tag über mit Pferden zu tun hatte, war er ein miserabler Reiter, und Annie fragte sich, ob sie nicht besser Jerome oder Raven hätte schicken sollen. Ein Räuspern ließ sie aufblicken. Jerome, ein stämmiger Schwarzer in ihrem Alter, stand einige Schritte entfernt und drückte Zaumzeug von einer Hand in die andere. »Entschuldigen Sie bitte, Missi. Garry sagt, es gibt Ärger mit Mista Meadow?«

»Wann gibt es den nicht?«, flüsterte Annie niedergeschlagen.

»Haben Sie mit Crystal gesprochen?«

»Das habe ich.« Annie lächelte dem besorgten Mann beruhigend zu. »Ich habe sie darauf hingewiesen, dass das Schnüffeln in Meadows privaten Sachen sie in Gefahr bringt, und sie gebeten, sich nicht länger einer solchen auszusetzen.«

»Danke, Missi Braun.« Jerome sah sie für den Bruchteil einer Sekunde an, eher er den Kopf wieder senkte, wie es von ihm verlangt wurde. Er wandte sich um, und Annie sah ihm lächelnd nach. Ganz offensichtlich hatte Crystal in dem zweiten Pferdewirt einen Verehrer.

Shrubby kam mit flatterndem Hemd um die Ecke des Nebengebäudes gestürmt und rutschte regelrecht in sie hinein. Da die Berührung einer Weißen aufs Strengste verboten war, wich der Zwölfjährige mit schreckgeweiteten Augen zurück. »Ich habe Sie leider nicht gesehen. Es soll nie wieder vorkommen. Verzeihen Sie mir bitte, Missi?«

Traurig musterte Annie den verängstigten, am ganzen Körper zitternden Sklavenjungen. Eigentlich hatte sie gehofft, dass zumindest ihre Schüler ihr gegenüber keine Furcht verspürten. »Es ist nichts passiert. Beruhige dich bitte. Hast du mich gesucht?«

»Ja, Missi. Granny Orlean fragt nach Ihnen. Crystal sagt, es eilt.«

Annie raffte den Rock und lief an der Veranda vorbei in Richtung Teich. Pure Angst trieb sie an. Ging es Crystals Großmutter so schlecht? Über den versteckten Hohlweg durch den Wald erreichte sie zügig die Lichtung mit den Sklavenhütten. Die Wachhunde bellten und sprangen gegen das Gitter. Einige Frauen saßen auf liegenden Baumstämmen. Sie sangen eine Melodie, die klang, als tropften Tränen zu Boden. Dabei bewegten sie ihre Oberkörper rhythmisch vor und zurück. Melissa-Love und Pearl, zwei ihrer Schülerinnen, kamen ihr entgegen. »Kommt der Mista Doktor?«

»Garry ist unterwegs in die Stadt. Wie geht es Granny?«

Melissa-Love zog lediglich die schmalen Schultern hoch. Also drängte sich Annie durch die schweigend vor der Hütte ausharrende Kinderschar und die schiefe Stufe hinauf. In der Tür stand Crystal mit tränenüberströmtem Gesicht. »Ist sie …?«

»Sie lebt, Annie. Aber ihr Herz rast wie verrückt, und sie hat Schmerzen. Sie will dich dringend sprechen.«

Annie schob sich an Crystal vorbei zu dem Strohbett und blickte auf die heftig atmende Frau. Ihre schwarze Haut glänzte verschwitzt.

»Was ist mit dir?«, hauchte Annie und kniete sich vor das Lager.

»Gut, dass du kommst.« Die Worte kamen leise und stoßweise, dazwischen schnappte die alte Frau nach Luft. Annie ergriff Orleans Hand. »Garry holt Dr. Randows.«

»Ich weiß nicht, ob ich den Doktor noch brauche, meine liebe Annie. Es fällt mir schwer, euch zurückzulassen. Denn ich weiß: Ihr müsst mit der Trauer weiterleben, während ich in die Arme Gottes fallen darf.«

»Du darfst nicht … Ich brauche dich doch«, flüsterte Annie tonlos.

Orlean drückte ihre Hand. »Ich habe mich immer darauf gefreut, diese Welt einmal zu verlassen.«

Annie war sich ihrer Stimme nicht sicher, also schwieg sie. Schmerz wühlte sich durch ihre Seele, Tränen der Verzweiflung stiegen ihr in die Augen.

»Als ich zu dir sagte, dass ich David wohl nicht wiedersehe, hattest du Angst, ihm würde etwas zustoßen, nicht wahr?«

Annie nickte mit zugeschnürter Kehle.

»Ich bin es, die nicht mehr da sein wird, wenn er zurückkommt.«

Natürlich hatte Annie Angst um David, doch sie wollte auch Orlean nicht verlieren.

»Leider muss ich dich mit etwas belasten, meine liebe Annie.« Orlean fehlte der Atem, es dauerte lange, ehe sie weitersprach: »Du musst die Frau fortschicken, die gestern angekommen ist.«

»Welche Frau?« Annies Stimme klang dünn. Sie wollte sich jetzt nicht mit irgendwelchen Fremden auseinandersetzen. Sie musste Orlean in dieser Welt festhalten.

»Eine freie Schwarze von der Küste. Jag sie davon! Ich habe schon zu viel Einfluss an sie verloren. Die Kinder sind fasziniert von ihr.«

Annie hatte bisher weder eine Unbekannte auf Birch Island bemerkt noch von ihr gehört. »Ich verstehe nicht …«

»Sie ist eine Zauberin. Sie verführt die Kinder. Mista Williams würde sie mit dem Gewehr in die Wälder jagen!« Nach Atem ringend schloss Orlean die Augen und presste eine Hand auf ihre Brust, die offenbar schmerzte. Überfordert blickte Annie zu Crystal.

»Voodoo, Annie.«

Annies Augen weiteten sich. »Eine Voodoo-Priesterin ist hier auf Birch Island?«

»Du hast von den Mächten gehört, die von diesen Menschen ausgehen können? Ob nun eingebildet, missgedeutet oder tatsächlich wirksam.«

Annie wusste kaum etwas über diese rituelle Religion, was ihre Unsicherheit noch steigerte.

»Du musst die Mambo sofort wegschicken.« Crystal hatte Annies Zögern bemerkt, ergriff sie am Unterarm und zog sie förmlich hinter sich her aus der Hütte. Die Dämmerung wich dem Abend, zwei Feuer in der unmittelbaren Nähe warfen zuckende Flammen auf die Hüttenwände.

»Siehst du alle diese Frauen hier? Sie beten für dich. Auch sie wollen, dass Miss Besson verschwindet. Sie vergiftet den Geist der Menschen, vor allem den der Kinder.« Crystal blieb abrupt stehen. »Schau, was Raven unter der Veranda gefunden hat.« Sie zog einen geschnitzten Gegenstand aus ihrer Schürzentasche und reichte ihn Annie. Mit spitzen Fingern nahm sie das Gebilde in ihre Hand, das entfernt Ähnlichkeit mit einer Puppe hatte und seltsam durchlöchert aussah. »Was bedeutet das?«

»Wir hatten es hier noch nie mit Voodoo zu tun. Niemand weiß es. Die Einzige, die es wissen könnte, ist Granny. Ihr haben wir das Ding nicht gezeigt, sie ist schon aufgewühlt genug.«

Annie drehte das Schnitzwerk hin und her. »Was weißt du von dieser Voodoo-Priesterin?«

»Sie heißt Georgina Besson und kommt aus Louisiana. Ihre Mutter stammt aus Haiti. Sie war ihre Lehrmeisterin. Sie selbst ist kinderlos, und wir vermuten, dass sie auf der Suche nach einer Schülerin ist, um an sie ihr Wissen weiterzugeben.«

»Warum so weit entfernt von Louisiana?«

»Darüber spricht sie nicht. Aber sie hat auffälliges Interesse an den Mädchen.«

»Als ob ich nicht andere Sorgen hätte«, murmelte Annie, die schlicht nicht wusste, was sie tun sollte.

»Es gibt da noch …« Crystal verstummte. Hinter einer der Hütten war eine ältere Frau mit bronzefarbener Haut hervorgetreten. Sie trug einen exquisiten Baumwollrock, eine leuchtend rote Bluse und ein ungewöhnlich geschlungenes Kopftuch. Das Gebilde erinnerte an eine Krone.

Annie faltete die Hände und sah ihr entgegen. Die Mambo bewegte sich, als sei sie sich einer Art Aura der Macht bewusst, dabei musterte sie Annie ungeniert. Damit brach sie die geltenden Regeln zwischen Schwarz und Weiß. Irritiert meinte Annie, eine seltsame Schwäche in sich zu verspüren. Energisch vertrieb sie diese, indem sie sich an das erinnerte, was ihr Vater ihr beigebracht hatte: Der Gott des Himmels und der Erde ist allmächtig. Ich brauche mich vor dieser Frau nicht zu fürchten.

»Sie sind die Lehrerin?« Die Stimme mit dem leichten französischen Akzent klang voll und angenehm weich.

»Richtig, Miss Besson«, gab Annie forsch zurück.

»Ah, Sie haben Ihre … Hausaufgaben gemacht. Dies ist ein sehr schönes Anwesen. Wie geschaffen dafür, einige Tage auszuruhen.«

»Wenn es nur das ist, was Sie hier wollen, sind Sie willkommen.«

»Sie sind nicht aus dem Süden. Ich höre den Norden, den Westen, ein wenig South Carolina. Außerdem Ihre deutschen Wurzeln.«

Diese Frau hatte sich gut über die hier lebenden Menschen informiert, was Annie missfiel. Ohne auf die Bemerkung einzugehen, sagte sie: »Ich kann Sie in die Stadt bringen lassen. Dort gibt es eine gute Pension.«

»Eine Pension, Miss Braun? Wir sind hier im Süden.« Georgina spielte unverkennbar auf die hier übliche Gastfreundschaft an.

»Wir leben in unruhigen Zeiten. Fremde zu beherbergen ist riskant. Wenn Sie bitte Ihr Gepäck holen.«

»Jetzt sofort, Miss Braun? Es ist bereits Abend, und ich bin furchtbar müde.«

»Dennoch ist es so, dass der Eigentümer von Birch Island Ihre Anwesenheit nicht dulden wird.«

»General Richard Williams ist nicht da. Vor seinem Missfallen müssen Sie sich also nicht fürchten. Oder haben Sie vielleicht vor etwas anderem Angst?« Georgina trat einen Schritt näher und musterte Annie durchdringend. Sie wäre am liebsten zurückgewichen, zwang sich aber, dem Blick standzuhalten.

»Sehen Sie in mir eine Gefahr?«, fragte Georgina lauernd. Ihre Augen flackerten seltsam, als sie raunte: »Es gibt böse Menschen in dem Haus dort drüben. Ich könnte Ihnen helfen.«

»Wir benötigen Ihre Hilfe nicht.«

»Vielleicht wollen Sie diese nicht, weil Sie die böse Person sind?«

»Um das herauszufinden, bleibt Ihnen nicht genug Zeit. Wenn Sie jetzt bitte Ihr Gepäck holen würden?«

Die Fremde schien Annie mit ihrem Blick förmlich zu durchbohren. »Sie sind eine starke Frau mit einer erstaunlichen Aura. Sie brauchen meine Hilfe tatsächlich nicht.«

Annie warf einen Seitenblick auf die abseits sitzenden, betenden Frauen. Georgina wandte sich langsam ab. Plötzlich fühlte sich die Holzpuppe in Annies Händen an, als stünde sie in Flammen. Sie betrachtete sie irritiert. Es ist lebloses Material, sagte sie sich. »Miss Besson?«

Mit einer fließenden Bewegung wirbelte die Voodoo-Priesterin herum.

»Vergessen Sie das hier nicht. Wir brauchen kein Andenken an Ihren Besuch.« Annie streckte Georgina die Schnitzerei entgegen. Georgina ergriff sie und schob sie achtlos in ihre Rocktasche. Energisch vertrieb Annie die Beklemmung, die sie befallen hatte, und trat zu Crystal. »Bleib du bei Granny. Ich bringe Miss Besson zu Jerome und Raven und sorge für einen Passierschein, damit sie in die Stadt fahren können.«

»Das ist gut. Die zwei sind zwar stark wie Bären, aber Kindsköpfe. Ihnen kann Miss Besson sicher nicht imponieren.«

Annie sah ihrer Freundin nachdenklich hinterher. Hatte Crystal eine solch unvorteilhafte Meinung über Jerome?

»Na, Miss Braun? Haben Sie es sich anders überlegt?«

Erschrocken fuhr Annie herum. So schnell hatte sie Georgina nicht zurückerwartet. Die Frau hielt eine Hutschachtel in Händen, während eine jüngere Schwarze, wohl ihre Dienerin, zwei schwere Reisetaschen schleppte. Annie ging wortlos an den beiden vorbei und schlug den Waldweg in Richtung Haus ein. Ihr war nicht bewusst gewesen, dass Georgina in Begleitung ihres Mädchens reiste. Um derentwillen hätte sie gern beim Tragen des Gepäcks geholfen. Allerdings wollte sie ihren gerade errungenen Sieg nicht durch zu viel gezeigtes Mitgefühl zunichtemachen. Schweigend schritten sie durch den dunklen Forst. Das Rascheln der Kleider und die Melodie des Waldes waren die einzigen Geräusche, die sie umgaben.

»Würden Sie mir noch eine Bitte gewähren?«

Annie hätte die schmeichelnde Stimme hinter sich am liebsten ignoriert. »Das kommt auf die Bitte an.«

»Ich würde gerne eines der Sklavenkinder freikaufen«, sagte Georgina

»Ich bin nicht berechtigt –«

»Selbstverständlich nicht«, fiel ihr Georgina ins Wort, »aber Mr Meadow. Ich werde mit ihm sprechen.«

»Mr Williams trennt keine Familien«, warf Annie ein. Panik kroch auf ihr Herz zu.

»Ich habe nicht den Eindruck, als stünde Birch Island finanziell gut da. Mr Meadow wird gegen eine Bargeldsumme für ein kleines Mädchen nichts einzuwenden haben.«

Annies Augen weiteten sich erschrocken. Sie war nicht nur schockiert über das Anliegen der Frau, sondern auch über den Umstand, dass sie Meadow offenbar ziemlich gut einzuschätzen verstand.

»Ich werde Ihrer Bitte nicht entsprechen. Keines der Mädchen wird verkauft.«

»Ich sprach von Freikauf, Miss Braun. Das liegt doch in Ihrem Interesse?« Ohne eine Erwiderung abzuwarten, ging Georgina weiter. Und Annie hörte den ungebetenen Gast sagen: »Ich dachte da an ein reizendes, sehr intelligentes Kind. Ich glaube, ihr Name ist Melissa-Love.«

~Virginia~

Marcus Tanner blinzelte. Um ihn her sollte eigentlich Dunkelheit herrschen, denn der Himmel war nachtschwarz. Doch ein seltsam rötliches Licht beleuchtete die Landschaft und wurde von hellen Lichtblitzen begleitet. Er tastete nach seinem schmerzenden Schädel. Als er die Hand herunternahm, war sie voller Blut, das aus einer Wunde zwischen seinen Haaren sickerte. Allmählich klärte sich sein Verstand. Er lag inmitten eines schwer umkämpften Schlachtfelds. Irgendetwas hatte ihn an der Hüfte und am Kopf getroffen. Doch er war am Leben, wenngleich einige Zeit vergangen sein mochte, seit er vom Pferd gestürzt war. Warum er noch lebte, war ihm ein Rätsel.

Plötzlich rannte ein Großteil der blau uniformierten Soldaten los – fort von dem heftigen Artilleriebeschuss der Konföderierten. Jemand stieß ihn mit dem Fuß an. »Nehmen Sie die Beine in die Hand, und verschwinden Sie von hier, sonst wird ein Rebellenarzt Ihren Kopf verbinden.«

Marcus sah in die angsterfüllten Augen eines Sanitäters und mühte sich auf die Knie. Er dachte an David, der sich dort drüben in den feindlichen Reihen befand, und die Vorstellung, von ihm verarztet zu werden, war keineswegs furchterregend.

Der Mann aus dem Ambulanzkorps schulterte einen bewusstlosen Soldaten und taumelte fort, um sich hinter die schützende Linie zu begeben, die sich jedoch immer mehr den Henry House Hill hinaufschob.

Marcus kam schwankend auf die Beine. Nicht weit von ihm entfernt spritzte eine Erdfontäne auf. Die Explosion schleuderte Erdbrocken, Gras und Steine in seine Richtung. Er warf sich zu Boden und robbte voran. Sein Pferd war fort, und er war einer der Letzten, die diesen Ort verließen. Hinter sich vernahm er das wilde Johlen der Konföderierten. Dieses grauenhafte Geräusch brachte Marcus wieder auf die Füße.

Keuchend quälte er sich vorwärts, den anderen Flüchtenden nach. Sein Kopf sandte explosionsartige Schmerzen aus. Er stürzte, rappelte sich wieder hoch und schleppte sich weiter. Über tote Männer hinweg, an zappelnden Pferden vorbei, für die niemand einen Gnadenschuss übrighatte. Er erreichte verbogene und ausgebrannte Kanonen auf ihren Protzen, ließ sie hinter sich und eilte jenen Hügel hinauf, auf dem dreizehn Monate zuvor das erste große Gefecht des Krieges stattgefunden hatte.

Erneut fragte er sich, warum er noch am Leben, ja halbwegs gut beieinander war. Hatten ihn die Schüsse nur gestreift? Im Laufen fasst er sich an die ebenfalls schmerzende Seite. Seine Uniform wies kein Loch auf, und er blutete dort auch nicht. Jemand packte ihn unter der Achsel und stützte ihn. Die Unionssoldaten stellten für einen Augenblick das Feuer ein, um den letzten Verletzten ein Durchbrechen in ihre eigenen Reihen zu ermöglichen. Marcus stolperte über ein abgelegtes Gewehr und stürzte erneut. Sein Helfer kniete sich neben ihn.

»Kann man dich nicht mal ein paar Stunden aus den Augen lassen?« Joshuas blutverschmiertes Gesicht tauchte vor ihm auf.

»Hast du mich da rausgeholt?«, fragte Marcus den Pressezeichner und angehenden Kriegsfotografen.

»Ich habe gesehen, wie du ziellos umhergetaumelt bist.« Sein Freund half ihm wieder auf die Beine. »Wir gehen besser noch weiter. Wer weiß, ob die Jungs sich hier halten können.«

Marcus ließ sich an der Ruine des Hauses vorbeiführen, das bei der ersten Schlacht am Bull Run völlig zerstört worden war. Damals war er als außenstehender Journalist Zeuge einer Massenpanik der Unionssoldaten geworden. Wiederholte die Geschichte sich heute? »Was ist denn nur geschehen?«

»Wir hatten Jacksons Reihen beinahe durchbrochen, zumal einige seiner Einheiten dazu übergingen, mit Steinen und Felsbrocken zu werfen. Vermutlich ist ihnen die Munition ausgegangen.«

»Felsgestein?« Marcus griff sich erneut an die Kopfwunde. Ihn hatten keine Kugeln, sondern Steine getroffen?

»Offenbar war der Werfer ein Baseballspieler.« Joshua konnte einen leisen Spott nicht unterdrücken.

»Und weiter?«

»Während du geschlafen hast, hat Jackson seinen Stolz überwunden und Hilfe herbeigerufen. Man munkelt, es sei Longstreet, der uns da plötzlich von der Seite mit Artilleriefeuer bestrichen hat.«

Ein Arzt näherte sich Marcus, doch er winkte ab. »Das ist nur eine Platzwunde, die kann später versorgt werden.«

Ohne zu antworten, kniete sich der Mediziner neben einen anderen Verletzten.

»Was hast du jetzt vor, Marc?«, wollte Joshua wissen.

»Das kommt auf meinen Kopf an. Jedenfalls werde ich mich in den nächsten Stunden in die Hände eines Arztes begeben müssen.«

»Du willst doch nicht schon wieder zur Erholung nach Washington?«

»So nahe wie wir jetzt sind, bietet sich das an. Außerdem habe ich einen Zeitungsartikel bei Becker abzugeben.«

»Hoffen wir, dass wir nicht noch näher an Washington heranrücken.« Joshua deutete auf einen dunklen Schatten. Der Mann ging nachdenklich hinter den Reihen der feuernden Soldaten entlang und besprach sich mit einigen Offizieren. Generalmajor John Popes Uniform war ebenso verschmutzt wie die seiner Untergebenen.

Durch eine logistische Meisterleistung des Eisenbahningenieurs Hermann Haupt wurden die Verletzten, die es vom Schlachtfeld geschafft hatten, in Zügen nach Washington City gebracht. Irgendwann war auch Marcus an der Reihe. Sein Kopf litt unter den heftigen Stößen des Waggons, und doch war er dankbar, nicht zu Fuß gehen zu müssen oder auf einem Pferdekarren zu liegen. Seine Gedanken wanderten einmal mehr zu David Williams, bei dessen Familie seine Cousine Annie nach wie vor als Lehrerin angestellt war. Und zu Jordan Jackson, Theo Barrie und all den anderen jungen Männern, die einst seine Freunde gewesen waren und sich nun auf der gegenüberliegenden Seite des umkämpften Flusslaufs befanden.

~South Carolina~

Während dunkle Wolken über den nächtlichen Himmel zogen, stand Annie händeringend auf den Stufen vor der Eingangstür und musste mitansehen, wie Georgina mit Meadow verhandelte. Ausgerechnet an diesem Abend weilte er auf der Plantage. Er bezog sie in das Gespräch nicht mit ein; in seinen Augen hatte sie hier nichts mehr zu sagen. Es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis er sie fortschicken würde.

Crystal, die jene Dokumente von Richard Williams aufbewahrte, die Annie bestimmte Entscheidungsbefugnisse über Birch Island zugestanden, war bei Orlean. Zwar war Annie noch immer der Meinung, dass das Vorzeigen der Papiere eher Schaden anrichten, als ihr Nutzen bringen würde, aber sie musste annehmen, dass sie bei Georgina und Meadow zumindest ein wenig Eindruck geschunden hätten.

Was also konnte sie tun, damit Melissa-Love bei ihrer Familie bleiben durfte? Ihr Blick wanderte über die Verandabrüstung des zweiten Stocks. Die Fenster von Alice’ Räumen waren hell erleuchtet. Kurz entschlossen raffte Annie ihren Rock bis zu den Knien, lief die Steinstufen hinauf und an den weißen Säulen vorbei, die die obere Veranda stützten. Benjamin, der Butler, wirkte erstaunlich wach, als er sie einließ. Rasch eilte sie durch das Vestibül, die drei Stufen zum Atrium hinauf und wenig später über die Treppe zur Galerie.

Das Gespräch zwischen Alice und ihrem Enkel Bobby, nachdem der Onkel Toms Hütte gelesen hatte, machte ihr Hoffnung. Damals hatte sich Alice ungewohnt kritisch über ihren längst verstorbenen Ehemann geäußert, der eine Birch-Island-Familie getrennt hatte.

Annie fing mit einer Hand ihren Schwung am Torbogen ab, schlitterte förmlich in den Familienflur und rannte weiter. Keuchend stoppte sie vor Alice’ Salontür. Sie klopfte kräftig und trat ein, ohne auf eine Antwort zu warten. Sadie Ann hob erschrocken den Kopf. Aus dem angrenzenden Zimmer drang Alice’ Stimme herüber: »Das kann nur unsere Miss Braun sein. Wie schade, dass wir uns die überschüssige Energie der Jugend nicht bewahren können, nicht wahr, Rose?«

Ohne auf Sadie Ann zu achten, wirbelte Annie an der Frau vorbei.

Rose Giddings und Alice saßen auf zierlichen Mahagonistühlen. Rose schaute Annie fragend an, Alice missbilligend.

»Entschuldigen Sie bitte die Störung«, keuchte Annie.

»Wie oft noch, Miss Braun?«

»In Anbetracht der vorgerückten Stunde sicherlich zum letzten Mal«, warf Rose belustigt ein. Die Frau aus Richmond, eine Cousine der verstorbenen Ehefrau von Richard, sah mit ihren Anfang fünfzig bemerkenswert jung aus. Seit die Hauptstadt der Konföderation stark umkämpft gewesen war, wohnten sie und ihre Tochter Valerie auf Birch Island. Nun bedeutete sie Annie heimlich, dass sie leise und langsamer sprechen sollte.

»Seit gestern ist eine aus Louisiana stammende Voodoo-Mambo bei den Hütten drüben. Granny bat mich, sie fortzuschicken, was wohl auch in Ihrem und General Williams’ Sinne ist?«

Alice forderte Annie mit einer herrischen Handbewegung auf, fortzufahren.

»Soeben verhandelt sie mit Mr Meadow um den Kauf von Melissa-Love. Sie müssen das verhindern, Mrs Williams. Bitte!«

»Eine Voodoo-Priesterin aus Louisiana? Was tut sie hier?« Rose wirkte überaus interessiert.

»Das weiß ich leider nicht, die Schwarzen vermuten, dass sie eine Schülerin sucht.« Annies Blick wanderte wieder zu Alice. Diese kniff unübersehbar missmutig die Lippen zusammen. »Wahrscheinlich hat sie da unten an der Küste etwas angestellt und wurde davongejagt. Sadie Ann, mein Stock. Aber schnell!«

Annie hob die Augenbrauen. Sie hatte die stets bedachte Dame noch nie so aufgebracht erlebt.

»Was stehen Sie hier herum, Miss Braun? Raffen Sie Ihren Rock bis hoch an die Oberschenkel, und rennen Sie die Stufen hinunter. Sie werden diese Frau aufhalten! Selbst wenn Sie sie mit dem Gewehr meines Sohnes Richard in Schach halten müssen.«

Annie umrundete erneut die verdutzte Sadie Ann und wäre im Flur beinahe über Bobby, den jüngsten Williams, gestolpert, der sich hastig in sein Zimmer zurückzog. Sie flog regelrecht in den großen Salon. Ungeachtet ihrer und Rebecca Sues Anweisung standen die dortigen Flügeltüren offen. Zusätzlich aufgebracht über diese Nachlässigkeit, huschte Annie auf die Veranda. Das rasche Auftreten ihrer Stiefel auf den Holzplanken war weithin zu hören, und so wunderte sie sich nicht, dass Georgina und Meadow ihr abwartend entgegenblickten.

»Sie werden Melissa-Love nicht verkaufen, Mr Meadow.«

»Miss Braun …« Meadows mitleidiger Tonfall reizte sie so sehr, dass sie die Fäuste in die Hüften stemmte und sich vor ihm aufbaute. »Auf dieser Plantage werden die Kinder nicht von ihren Eltern getrennt.« Annie sprach mit derselben durchsetzungsstarken Stimme, die sie als Lehrerin gelegentlich ihren Schülern gegenüber gebrauchen musste.

»Das dürfte im Entscheidungsbereich des Verwalters liegen«, meinte Georgina lachend. »Aber Ihr Einwand kommt ihm entgegen. Er möchte nämlich den Preis in die Höhe treiben, nicht wahr, Mr Meadow?«

»Wie ich Ihnen bereits mehrfach sagte – das Mädchen ist nicht zu verkaufen.« Meadow grinste Annie an, die überrascht aufblickte.

»Ich bin mit meinem Gebot schon weit nach oben gegangen. Eine große Summe Konföderierten-Dollars und vier Liter Rum, dazu ein Repetiergewehr. Können Sie sich das vorstellen, Miss Braun? Für ein nicht arbeitendes Kind. So viel ist mir ihre Freiheit wert.«

»Ich kenne die Sklavenmarktpreise nicht, Miss Besson. Ich weiß nur, dass Sie ein kleines Mädchen aus den Armen ihrer Familie reißen wollen.«

»Aus den Armen der Sklaverei.«

»Ich sorge jetzt für ein Fahrzeug. Sie werden Birch Island augenblicklich verlassen. Und zwar ohne eines der Kinder.«

»Ihre Unhöflichkeit stellt alles bisher Dagewesene in den Schatten!«, fuhr Meadow Annie an. »Dies hier geht Sie nichts an.«

»Aber mich, Mr Meadow.« Alice’ schneidende Stimme durchdrang die Dunkelheit. Der Verwalter zuckte sichtlich zusammen. Prüfend betrachtete Alice die Fremde, dann schlich sich ein kaltes Lächeln auf ihr Gesicht. »Sie sind alt geworden, Miss Georgina Besson. Wie viele Jahre ist das jetzt her? Dreißig?«

Die Mambo wich einen Schritt zurück.

»Wie Sie sehen, funktioniert mein Namensgedächtnis bestens. Ebenso mein Erinnerungsvermögen. Allerdings hatte ich gehofft, Ihnen niemals wieder gegenübertreten zu müssen.«

»Ich lasse mich von Ihnen kein zweites Mal beleidigen, Mrs Williams.«

»Sie vermeiden das, indem Sie unverzüglich Miss Brauns Bitte Folge leisten. Wenn nicht, hetze ich die Hunde auf Sie.«

Annie versteckte ein Schmunzeln. Die Frau verstand es, zu bluffen. Immerhin hatte sie einen so gewaltigen Respekt vor Hunden, dass sie diese nicht in ihrer Nähe wissen wollte. Andererseits schien Alice die Voodoo-Priesterin von einer unliebsamen Begegnung aus früheren Jahren zu kennen. Vielleicht war ihr Zorn auf sie groß genug, um zu diesem unerwarteten Schritt zu greifen.

»Auf, Miss Braun. Wenn wir diese Dame loswerden wollen, müssen Sie ein Gefährt organisieren.« An Georgina gewandt fügte Alice hinzu: »Sie können sich übrigens bei unserer couragierten Lehrerin bedanken. Ich hätte Sie den weiten Weg zu Fuß gehen lassen. Miss Braun, Sie sind persönlich dafür verantwortlich, dass diese Person Birch Island umgehend verlässt. Weisen Sie den Kutscher dementsprechend an. Er soll sich vor der Abfahrt im Salon die Genehmigung von Mr Meadow abholen. Und Sie, Mr Meadow«, Alice warf dem Mann einen frostigen Blick zu, »folgen mir jetzt unverzüglich genau dorthin!« Nachdem sie reihum ihre Anweisungen erteilt hatte, trat Alice zurück ins Haus. Das energische Aufsetzen ihres Gehstocks war dabei nicht zu überhören.

Annie beeilte sich, ihren Teil zu erfüllen. Kurz vor den Remisen kam ihr Benjamin entgegen, der ihr schweigend zunickte. Mit gerunzelter Stirn schaute sie ihm nach. Hatte er Jerome und Raven den Auftrag schon erteilt? Obwohl sich der erste Haussklave gern überheblich und unnahbar gab, war er für Annie mittlerweile ein heimlicher Helfer. Im Nebengebäude angelangt, fand sie ihren Verdacht bestätigt. Die Stallknechte waren bereits mit Anspannen beschäftigt.

»Ihr chauffiert die Frauen nur bis zur Stadtgrenze und kommt dann sofort zurück.«

»Ja, Missi. Benjamin sagt, wir sollen uns auf kein Gespräch mit ihnen einlassen.« Raven wandte sich erneut seiner Arbeit zu. Annie war schon an der Stalltür, als sie Jerome mit belustigtem Unterton sagen hörte: »Granny Orlean setzt sich sogar noch auf dem Krankenbett durch.«

»Meinst du, sie wird wieder gesund?«, fragte der Junge und klang zutiefst unglücklich.

»Bestimmt. Schließlich will sie Crystals Hochzeit miterleben, nicht wahr?«

»Hast du sie denn schon gefragt?«, hakte Raven nach.

»Wen? Crystal oder Granny?«

»Welche von beiden willst du denn heiraten?«, zog Raven den Älteren auf.

»Ich denke, Granny würde mir weniger Schwierigkeiten machen als Crystal. Seit ich ihr neulich die Blumen gebracht habe, benimmt sie sich mir gegenüber wie ein Eisberg«, antwortete Jerome.

»Du hast doch noch nie im Leben einen Eisberg gesehen.«

Annie hörte Raven keuchen, wohl, weil er eine kraftraubende Aufgabe zu erledigen hatte. »Woher willst du wissen, wie sich ein solcher benimmt?«

»Na, kalt eben. Und jetzt mach vorwärts.«

Schnell stahl sich Annie in die Nacht hinaus. Jeromes zugleich scherzhafte wie zuversichtliche Worte weckten in ihr die Hoffnung, Orlean nicht zu verlieren.

Im Gelben Salon brannte Licht. Annie näherte sich dem hellen Schein, der auf die Holzveranda fiel, und vernahm Alice’ Stimme. Unterhielt sie sich noch immer mit dem Verwalter?

Meadow hatte behauptet, dass er Melissa-Love nicht verkaufen wolle. Dies konnte er Alice gegenüber als Verteidigung vorbringen, obwohl Annie annahm, dass es ihm – wie Georgina gemutmaßt hatte – nur um einen besseren Preis für das Mädchen gegangen war. Um nicht gesehen zu werden, machte sie einen Bogen um den Lichtschein, hörte aber, wie Alice sagte: »Und jetzt berichten Sie, was Sie mir über Miss Braun mitteilen wollen.«

Annies Herz schlug schneller. Sie spielte mit dem Gedanken zu lauschen, untersagte es sich jedoch, zumal sie von der Veranda des oberen Stockwerks ein Geräusch hörte. In Begleitung von Washington, einem von Davids Mischlingshunden, die er zu ihrem Schutz beim Haus untergebracht hatte, eilte sie zurück in den Wald. Dennoch trieb sie die Sorge um, worüber Meadow mit Alice sprach. Was würde sie erwarten, sobald sie zum Wohnhaus zurückkehrte?

~Virginia~

Gegen Abend brachten die Unionssoldaten den Vormarsch der Konföderierten zum Stillstand, die sich zwar angeschlagen, aber nicht besiegt zurückzogen. Aber auch Pope führte seine Unionsarmee über den Bull Run River zurück in Richtung Washington. Ein Jahr zuvor hatten sie an derselben Stelle gekämpft. Nichts hatte sich geändert. Bis auf die vielen Toten und damit ein Meer aus Leid und Tränen.

Der Mond und funkelnde Sterne beleuchteten das Schlachtfeld. Als Arzt hatte David Williams sich vergewissert, dass keine Verletzten zurückgeblieben waren, und kehrte ins Lager zurück. Er hielt einen blauen Unions-Armeehut in Händen. Mit dem Daumen strich er über das eingewebte Namensschild. Marcus Tanner. Seine Gesichtszüge verhärteten sich vor Schmerz. Er hatte die Kopfbedeckung eines guten Freundes – Annies Cousin – gefunden, und das Blut daran ließ nicht viel Spielraum für Hoffnung. David war zum Schreien zumute. Welchen Sinn machte es, jemanden wie den freundlichen, gutmütigen Marcus zu erschießen? Verzweifelt rieb sich David das Kinn. Als er in den Lichtschein eines Lagerfeuers trat, sprach ihn ein älterer Infanterist an. »Was haben Sie denn da für eine Beute gemacht, Doc? Das Ding wird Ihnen aber nicht passen.«

David schüttelte nur den Kopf.

»Sie kannten den Mann, der die Salatschüssel auf dem Kopf hatte?«, fragte der Soldat nachdenklich.

»Er gehörte einem Tanzbären«, erwiderte David und wandte sich ab. Mit großen Schritten eilte er auf das Feldlazarett zu. Schreie hallten ihm entgegen, schon von Weitem hörte er das Surren der Fliegen, die sich sogar zu dieser späten Stunde vom Blut anlocken ließen. Ein Reiter mit einem Begleitpferd trabte an den Reihen der am Boden liegenden Verletzten vorbei, und David erkannte seine Stute. Der Soldat hatte ihn ebenfalls entdeckt und hielt auf ihn zu. »Befehl von General Jackson, Sir. General Lee hat uns in Marsch gesetzt.«

»Das ganze Korps?«

»Ja, Sir.«

David nahm die Zügel entgegen und stopfte den Hut in die Satteltasche. Kurz prüfte er den Sattelgurt, ehe er sich auf den Rücken von Lady schwang.

»Die ersten Regimenter sind bereits abgerückt, Sir. Wir müssen uns beeilen.« David nickte und wendete sein Pferd. Nur Minuten später hatten sie das Ende der Kolonne erreicht. Im Vorbeireiten betrachtete David die Infanteristen und fragte sich, was Lee mit diesen erschöpften Männern vorhatte.

Sehr schnell wurde deutlich, dass sie ein weiteres Mal die äußerste Flanke des Feindes umgingen – und wer anderes als Generallieutenant Stonewall Jacksons Fußkavallerie konnte dies in relativ kurzer Zeit bewerkstelligen?

David machte sich auf die Suche nach seinem Freund und Kollegen Joe Cobb. Dabei entdeckte er einige leicht verletzte Männer, da sich ihre Verbände hell von den graubraunen, völlig verdreckten Uniformen abhoben. Es gab weiterhin Soldaten, die sich Jackson begeistert und deshalb sogar verletzt anschlossen, da sie es sich nicht nehmen lassen wollten, bei einer weiteren Heldentat des Mannes mit von der Partie zu sein.

Die meisten Verwundeten fand er in der stark dezimierten Stonewall-Brigade. David war überzeugt, dass die mutigen Männer bis zu diesem Tag die größten Verluste hatten hinnehmen müssen. Vermutlich würde es auch in Zukunft so sein. Bewundernd stellte David fest, dass sie trotz ihrer Erschöpfung rasant schnell unterwegs waren.

Lautes Gelächter ließ ihn aufmerken. Einer aus einer Gruppe wild aussehender Männer, die ihre Waffen locker über der Schulter trugen, sagte mit deutschem Akzent: »Ich weiß nicht, was daran so komisch ist, wenn man urplötzlich einem Haufen Yanks gegenübersteht und keine Munition mehr hat.«

»Was hast du überhaupt in unseren Reihen zu suchen? Deine deutschen Brüder sind alle bei den Yankees. Du wirst froh gewesen sein, dass du ihnen keine Kugeln mehr entgegenschicken konntest.«

David trieb die Stute an, doch der nächste Satz veranlasste ihn, sie wieder zu zügeln: »Hast du diesen Baum von einem Mann gesehen? Er ritt zwischen den Blauröcken umher, als sei er auf einem Spazierritt. Ein Kurier. Nicht mal eine Waffe hatte er zur Hand.«

»Er hat eine wunderbare Zielscheibe abgegeben, leider war mein Kugelbeutel da auch schon leer«, meinte der Deutschamerikaner.

»Ich habe ihn erwischt. Kam mir vor wie David gegen Goliath. Der erste Wurf traf ihn in die Seite. Er schaute drein, als wolle er vor Schreck sofort sterben.«

Wieder brandete Gelächter auf, und David ahnte, dass er unter anderen Umständen ebenfalls seinen Spaß gehabt hätte. Er konnte sich Marcus lebhaft vorstellen – denn in seiner Fantasie konnte der auffällig große Reiter nur sein Freund gewesen sein, dessen Hut er mit sich herumtrug.

»Mit meinem zweiten Wurf habe ich ihn voll am Kopf erwischt. Der Riese fiel vom Pferd wie ein reifer Apfel vom Baum.«

Erleichterung breitete sich in David aus. War es tatsächlich Marcus gewesen, der Opfer eines gezielten Steinwurfs geworden war? Weil den Soldaten die Munition ausgegangen war? Wenn Annies Cousin Glück hatte, schenkte ihm dieser Umstand nicht nur heftige Kopfschmerzen, sondern auch einen Aufenthalt bei seiner Ehefrau Susanna Belle.

Am folgenden Tag, dem 1. September 1862, lieferten sich nur achtzehn Meilen von Washington City entfernt zwei blaue Divisionen ein erbittertes Gefecht mit den zerlumpten, verdreckten und ausgelaugten Soldaten von Stonewall Jackson. Dieser griff überraschend die sich in der Rückwärtsbewegung befindliche Unionsflanke an. Und obwohl bald klar war, dass die Konföderierten an diesem Tag keine großen Heldentaten verbringen konnten, zeigten sie dem Gegner trotzdem, wer in diesen Tagen der Herr in Virginia war: Full General Robert E. Lee.

Während eines heftigen Gewitters mit strömendem Regen gelang es den Unionisten schließlich, den Vorstoß abzuwehren. Dennoch geschlagen schleppten sie sich hinter die Verteidigungsanlagen ihrer Hauptstadt. Die zweite Schlacht am Bull Run endete ebenso kläglich für die Vereinigten Staaten wie die erste vor etwas mehr als einem Jahr.

~Washington City~

Hinter den Linien der Union herrschte völliges Chaos. Jacksons 2. Korps – und nicht weit entfernt Longstreet mit seinem 1. Korps – stand unmittelbar vor einem Einmarsch in die Unionshauptstadt und nach Maryland. Viele Zivilisten und die gesamte Regierung trafen Evakuierungsvorkehrungen. Allerdings gab es auch Bewegung in die entgegengesetzte Richtung. Zu diesen gehörten Hermann Haupt und sein Eisenbahnkorps. Sie schickten unermüdlich Züge zu den Schlachtfeldern, um die Verletzten zu holen, ohne sich von den heranrückenden Konföderierten einschüchtern zu lassen. So entstand zwischen dem Verteidigungsring von Washington City und der Stadt selbst ein riesiges Lazarett. Zur zweiten Gruppe der Unerschrockenen gehörten jene Freiwilligen, die sich auf Kriegsminister Stantons Aufruf als Krankenschwestern und -pfleger zur Verfügung stellten.

Jennifer Drane, Marcus’ Schwester, tastete mit der Hand nach ihren Haarnadeln. Neben ihr stand die achtzehnjährige Tamara Green und beobachtete das Geschehen mit gerümpfter Nase. Ihr war die Aufregung vor der ungewohnten Aufgabe deutlich anzusehen. Jennifer rechnete Tammy ihren Einsatz hoch an. Das Mädchen mit dem unschuldigen herzförmigen Gesicht kam aus einem Haushalt mit Sklavenhaltung und hatte sich selten die Hände schmutzig gemacht. Nun trug sie ein schlichtes Kleid, eine weiße Schürze und hatte ihr blondes Haar unter einem Kopftuch verborgen.

Clara Barton, als leitende Krankenschwester vor Ort, nahm am heutigen Tage beinahe jeden Freiwilligen an, zumal das Kriegsministerium zu diesem Einsatz aufgerufen hatte. Deshalb wunderte es Jennifer, dass ihre Schwägerin noch immer nicht zu ihnen gestoßen war. »Ich sehe mal nach Susanna Belle«, sagte sie an Tammy gewandt.

»Dann fahre ich auch erst mit der nächsten Gruppe«, beschloss diese.

Das Mädchen war verunsichert und sollte besser nicht ohne vertraute Menschen an ihrer Seite zu den Verwundeten gebracht werden. Also nickte Jennifer beipflichtend, ehe sie an den noch nicht befragten Freiwilligen vorbeieilte und sich zu ihrer Schwägerin und einer Krankenschwester gesellte. Susanna Belle schien nahe daran zu sein, ihre gute Erziehung zu vergessen.

»Was ist denn los?«, fragte Jennifer.

»Ich darf nicht mit, Jenny. Diese Dame meint, mein ausgeprägter Südstaatendialekt würde die Soldaten aufregen, sodass es ihrer Heilung abträglich sei.«

Jennifer warf einen kurzen Blick auf die etwas abseitsstehende Clara Barton und wandte sich dann an die Frau in Schwarz. »Ich dachte, alle Helfer seien willkommen.«

»Aber nicht eine Frau aus den Südstaaten.«

»Hören Sie«, warf Jennifer ein, »Mrs Tanners Ehemann dient in General Popes Armee. Sie lebt seit einigen Jahren in Washington und hat von all den Frauen, die hier stehen und sich freiwillig melden wollen, vermutlich die meiste Erfahrung bei der Pflege von Kranken und Verletzten. Fragen Sie Dr. Alexander White. Er wird es Ihnen bestätigen.«

»Ich kann Dr. White nicht fragen, da er sich irgendwo draußen vor der Stadt bei der Versorgung der Verwundeten aufhält«, erklärte die Schwester.

»Sie werden Mrs Tanners fachkundige Hilfe dringend brauchen, sofern die Gerüchte stimmen«, argumentierte Jennifer.

»Sehen Sie doch, wie viele Männer und Frauen sich auf den Aufruf unseres Kriegsministers gemeldet haben? Sogar Regierungsbeamte sind darunter!«

»Und wissen Sie, wie viel mehr Verwundete da draußen liegen?«, gab Jennifer zurück.

Die Schwester taxierte Jennifer unter zusammengezogenen Augenbrauen. Susanna Belle ergriff deren Arm. »Lass es gut sein. Wenn man mich nicht braucht …«

»Du bist ziemlich sicher eine der fähigsten Pflegerinnen, ausgenommen natürlich der Krankenschwestern, die ihren Dienst unter Mrs Barton schon länger versehen«, rief Jennifer mit erhobener Stimme. Ebenso laut wandte sie sich an die verbissen dreinblickende Schwester: »Wissen Sie eigentlich, dass einige dieser Regierungsbeamten und ein Teil der Männer, die sich gemeldet haben, bereits betrunken waren, bevor sie die Verletzten erreichten? Schätzen Sie deren Hilfe als sinnvoll ein? Außerdem ist vorhin ein Ambulanzwagen an mir vorbeigerollt, der mit Zivilisten statt mit Verwundeten nach Washington fuhr. Was denken Sie, wie viel Bestechungsgeld der Fahrer dafür bekommen hat, die angeekelten oder hilflosen Freiwilligen fortzubringen?« Jennifer ergriff Susanna Belle bei der Hand und zog sie hinter sich her in Richtung Clara Barton.

Diese Frau hatte über ein Jahr lang darum gekämpft, die von ihrem Verein gesammelten Hilfsgüter auf die Schlachtfelder bringen zu dürfen. Nun hatte sie durchsetzen können, nicht ausgebildete Freiwillige zur Pflege hinzuzuziehen, um der schieren Masse an verwundeten Soldaten auch nur ansatzweise gerecht zu werden.

Clara hörte sich Jennifers Argumentation an, musterte Susanna Belle kurz und nickte schließlich. »Wir machen keinen Unterschied zwischen verletzten Nord- und Südstaatensoldaten. Das gilt auch für die Pflegehelfer.«

Und so drängten sich die drei Freundinnen wenig später in einem Buckboard mit weiteren Frauen. Der kleine pferdegezogene Transportwagen war auf dem Weg zu den Soldaten, die noch immer von Ambulanzwagen und in Eisenbahnwaggons herbeigebracht wurden.

»Oh, Gott!«, stöhnte Tammy, als sie im fahlen Mondlicht den Hügel hinunterblickte. Körper an Körper lagen die Männer nebeneinander.

»Das werden noch längst nicht alle sein«, vermutete Susanna Belle.

»Es gibt keine Betten, keine Zelte, nicht einmal Lampen oder Fackeln? Ich hoffe, das ändert sich schnell.« Auch Jennifer war unbehaglich zumute.

Die ersten Frauen waren bereits vom Wagen geklettert, und Susanna Belle rutschte nach vorn, um sich vom Fahrer beim Absteigen helfen zu lassen. Jennifer kletterte allein hinab und beugte sich zu ihrer Schwägerin hinüber. »Ich denke, Lincoln wird langsam einsehen müssen, dass er jenen Männern, die die größte Motivation für diesen Kampf aufbringen würden, das Recht dazu einräumen muss.«

»Du sprichst von den Schwarzen? Und davon, dass die Sklavenbefreiung endlich Kriegsziel sein muss?« Susanna Belle seufzte, und Jennifer drückte ihr schnell die Hand. Sie wusste, in welchem Zwiespalt ihre in South Carolina geborene Schwägerin steckte, und bedauerte ihre unbedachten Worte. Doch der Anblick, der sich ihnen hier bot, wühlte sie auf.

»Hören Sie bitte alle her!« Eine der Schwestern winkte mit beiden Armen und bedeutete den Freiwilligen näher zu treten. »Sie bekommen Anweisungen von den Krankenschwestern und Ärzten, die bereits vor Ort sind. Sie halten sich peinlich genau daran. Ich möchte Sie bitten, auf dem Weg hinunter die zusammengebundenen Heugarben mitzunehmen, an denen Sie vorbeikommen. Das Heu wird auf dem Boden ausgebreitet und dient als Bettstatt für die Verletzten. Ich danke Ihnen.«

Jennifer sah aus dem Augenwinkel, wie eben jene Schwester Tammy beiseitenahm. »Sie bleiben hier oben und übernehmen die Information der neu eintreffenden freiwilligen Helfer. Das werden Sie doch hinbekommen?«

Zwar missfiel Jennifer der missbilligende Tonfall der Frau, aber vermutlich war es besser, der zutiefst erschütterten Tammy eine Arbeit in einiger Entfernung der Verletzten zuzuweisen. Die Schwägerinnen machten sich auf den Weg den Hügel hinab und nahmen je zwei der zum Trocknen aufgestellten Heugarben mit. Jennifer fragte sich, wovon der Bauer, dem diese Wiesen und Felder gehörten, im Winter sein Vieh sattbekommen sollte.

Schweigend marschierten die Frauen den nach Hilfe dürstenden Soldaten entgegen. Gerade als Jennifer die ersten Männer erreichte, näherte sich erneut ein Lazarettzug. Zischend und dampfend kam der Koloss auf freier Strecke zum Stehen.

Mitternacht war vorüber, und es war kühl geworden. Dennoch musste sich Susanna Belle das schwarze Haar aus der schweißnassen Stirn schieben. Sie schätzte die Zahl der Verletzten auf etwa dreitausend, doch als sie den Berg hinaufblickte, fragte sie sich, ob sie damit nicht zu niedrig lag.

Ein Junge stellte einen Eimer Wasser neben ihr ab. Ohne ein Wort zu sagen, stieg er über die auf dem Boden liegenden Soldaten hinweg. Susanna Belle nahm den Eimer auf und trug ihn einige Meter weiter. Dort kniete sie sich hin und hob den Kopf eines jungen Mannes an, um ihm etwas Flüssigkeit einzuflößen. In Ermangelung eines Bechers schöpfte sie das Wasser mit der Hand und hielt sie ihm an die Lippen.

»Mrs Tanner? Sind Sie das?« Susanna Belle blickte in das von maßloser Erschöpfung gezeichnete Gesicht von Dr. Alexander White. »Mir ist gerade eine Schwester zusammengebrochen. Wenn Sie mir zur Hand gehen, kann ich effektiver arbeiten.«

»Selbstverständlich, Dr. White.« Susanna Belle nahm den Wassereimer auf und stieg über einige Beine hinweg. Sie gesellte sich zu dem Arzt, einem Freund ihres Mannes, und befolgte fortan seine Anweisungen.

Zwei Stunden später kniete Susanna Belle neben einem älteren Soldaten im ausgebreiteten Heu. Sie nahm Verbandsmaterial aus dem schweren Holzkasten, der eben nachgefüllt worden war. Allmählich ging die Versorgung der Verwundeten reibungsloser vonstatten, wenngleich es weiterhin an den grundlegendsten Dingen fehlte. Sie verband den Arm des Mannes und wollte sich gerade erheben, als der mit seiner gesunden Hand die ihre ergriff. »Ich danke Ihnen, junge Frau. Verraten Sie mir Ihren Namen?«

»Mrs Marcus Tanner. Aber bitte, bleiben Sie möglichst ruhig liegen. Nicht, dass die Wunde heftiger zu bluten beginnt.«

Bei ihren Worten wurde der Griff um ihren Arm fester, bis sie einen unterdrückten Schmerzenslaut ausstieß.

»Sie sind eine Rebellenhure!« Der Mann stieß sie von sich. Susanna Belle verlor das Gleichgewicht und fiel gegen eine andere Freiwillige. Diese kam ins Stolpern und das, wovor alle Helfer sich fürchteten, geschah: Ihr fiel die brennende Kerze aus der Hand und auf das ausgestreute, trockene Heu.

Flammen loderten empor und breiteten sich rasend schnell aus. Schreckensrufe übertönten das Stöhnen der Verletzten. Einige Männer wälzten sich davon, ihrem Schmerz zum Trotz. Die Frau, deren Kerze das Unheil ausgelöst hatte, fasste sich mit beiden Händen ins Haar und rannte schreiend davon.

Susanna Belle ergriff den Wassereimer und schüttete den Inhalt über den Brandherd. Es zischte. Beißender Qualm quoll dem nächtlichen Himmel entgegen. Noch immer züngelten Flammen auf und suchten sich neue Nahrung, die reichlich vorhanden war. Geistesgegenwärtig versuchte Susanna Belle, diese auszutreten. Eine andere Freiwillige kam ihr zu Hilfe. Alexander fand sich ebenfalls an der Brandstelle ein und schlug mit seiner Jacke auf die erneut aufflackernden Brandherde, zuletzt warf er diese über die zuckenden Flammen, um sie zu ersticken.

Susanna Belle betrachtete den geschwärzten Boden und begann zu zittern. Erst jetzt wurde ihr bewusst, was ein sich eilig ausbreitendes Feuer bedeutet hätte: Tausende von Verletzten lagen auf einer Schicht aus trockenem Heu. Der Vorfall hätte ihren Tod bedeuten können. Erschüttert blickte sie in das besorgte Gesicht von Alexander.

»Wie konnte das passieren?«, fragte eine von Claras Krankenschwestern.

»Mein Südstaatendialekt«, flüsterte Susanna Belle und nickte hinüber zu dem älteren Mann.

Alexander bedeutete den neugierig umherstehenden Freiwilligen, dass sie wieder an ihre Aufgabe zurückkehren sollten. Gleich darauf musterte er grimmig den Soldaten. »Wenn Sie noch einmal Hand an eine meiner Schwestern legen, werde ich dafür sorgen, dass Sie in den nächsten Wochen keine mehr zu Gesicht bekommen.«

»Das ist allemal besser, als mich von dieser Rebellenbraut anfassen lassen zu müssen.«

»Diese Frau ist freiwillig hier. Seien Sie dankbar, dass sie sich bereit erklärt hat, dafür zu sorgen, dass Sie überleben.«

»Sie soll hier verschwinden!«, rief eine andere Stimme aus der Dunkelheit.

Susanna Belle war den Tränen nahe. Die schrecklichen Bilder, die sich in ihr Gedächtnis einbrannten, der Schlafmangel, der Schrecken über das Feuer und nun auch noch die Anfeindungen gegen sie – das alles war zu viel. Die Krankenschwester ergriff sie am Ellenbogen und führte sie weg. Einige Reihen weiter sagte sie mit fester Stimme: »Hier ist eine junge Dame, die im Süden geboren und aufgewachsen ist. Sie ist zum Helfen hier. Ich habe sie beobachtet. Sie verrichtet ihre Arbeit so gut wie wir ausgebildeten Pflegerinnen. Hat hier irgendjemand Bedenken, sich von ihr versorgen zu lassen?«

»So grauenhaft die Rebellen auch aussehen und stinken, so bezaubernd sind ihre Frauen«, rief einer. »Ich habe nichts dagegen, an diesem Tag mal was Schönes zu sehen.« Ein anderer lachte in das beipflichtende Murmeln hinein.

»Ich habe Schmerzen, wann kommt endlich jemand zu mir?«, bettelte eine junge Stimme.

»Ich bin sofort bei Ihnen.« Susanna Belle lächelte die Schwester dankbar an, in der Hoffnung, dass sie dies im Mondlicht und im flackernden Schein der Fackeln und Kerzen sehen konnte. Dann raffte sie den Rock und ging zu dem jungen Soldaten. »Welcher Idiot hat Sie denn weggeschickt, Miss?«, flüsterte er nahezu ehrfurchtsvoll.

Alexander begutachtete seinen Oberschenkel. »Waschen und verbinden. Er wird das Bein behalten. Sehen Sie zu, dass Sie immer in meiner Nähe bleiben, Mrs Tanner.«

Susanna Belle nickte, dankbar für seine Fürsorge, doch dann konzentrierte sie sich auf ihre Aufgabe.

»Ich habe eine Schwester in Washington, ob sie wohl auch hier ist?«, fragte ihr Patient.

»Wer weiß. Es sind sehr viele Frauen und Männer hergekommen.«

»Sie sind verheiratet, nicht? Dient Ihr Mann in unserer Armee?«

»Er könnte gar nicht anders, obwohl er gute Freunde im Süden hat.«

Der Soldat nickte und verzog vor Schmerz das Gesicht. Nach einigen Augenblicken wandte er sich erneut an seine Pflegerin: »Ihre Familie lebt noch im Süden?«

»Ja, in South Carolina.«

»Dann kämpfen sie bei den Rebellen?«

Susanna Belle nickte, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. Sorgfältig wickelte sie Stoffstreifen um den aufgerissenen Oberschenkel. »Eigentlich gehört das genäht. Aber dafür ist wohl keine Zeit. Sie werden eine schreckliche Narbe zurückbehalten.«

»Das ist nicht schlimm, immerhin habe ich mein Bein noch. Die Narbe wird mich immer an eine wunderschöne, freundliche Krankenschwester erinnern.«

Susanna Belle lächelte, sah jedoch nicht auf. »Ich muss Ihr Bein jetzt nochmals anheben. Das könnte wehtun.«

Er ließ die Prozedur mit zusammengebissenen Zähnen über sich ergehen. Schließlich erhob sich Susanna Belle und reichte ihm einen kleinen Ast mit einigen Blättern daran.

»Vertreiben Sie damit die Fliegen.«

»Danke. Sie sprechen wohl nicht gern über Ihre Verwandtschaft im Süden?«

»Nein. Die Trennung und meine Angst um sie schmerzt zu sehr.«

Der Soldat nickte verständnisvoll. Susanna Belle hörte, wie Alexander ihren Namen rief, und wandte sich ab. Doch der Junge hob die Hand. »Ich hoffe, der Krieg ist bald vorbei. Darf ich Sie dann besuchen?«

Susanna Belle nickte geistesabwesend. Sie musste sich beeilen, denn der Arzt winkte sie energisch zu sich. Vielleicht hätte sie dem Soldaten noch einmal zugelächelt, wenn sie geahnt hätte, dass er drei Tage vor Kriegsende getötet werden sollte. Der Kommandeur der Hampton-Einheit, die gegen sein Regiment gekämpft hatte, war Jordan Jackson, ihr Bruder.

~South Carolina~

Staub tanzte vor den Spalten im Holz, durch die die letzten Sonnenstrahlen fielen, und von draußen drangen gedämpfte Stimmen herein. Annie saß, wie schon die Tage zuvor, auf dem Boden vor Orleans Lager. Sie konnte nicht viel für die alte Frau tun, außer dafür zu sorgen, dass sie gelegentlich etwas trank.

Garry war von seinem Botengang vor fünf Tagen erst spät zurückgekehrt und sofort in die Waldsiedlung hinausgelaufen. Er hatte den Arzt nicht angetroffen, aber seine Haushälterin hatte versprochen, ihn zu schicken, sobald er Zeit für eine Schwarze habe. Auf dem Postamt war Garry nicht bedient worden. Deshalb trug Annie den Brief an David wieder in ihrer Schürzentasche und wusste sich und die Plantage keinen Augenblick länger in Sicherheit. Prüfend blickte sie zu Crystal hinüber. Ihre Freundin verwahrte noch immer Richards Schreiben, doch sie schien momentan zu sehr mit ihren Gedanken bei ihrer Großmutter zu sein, um an Meadow und sein intrigantes Handeln zu denken.

Da sie annahm, dass der richtige Zeitpunkt, das Dokument der Familie Williams zu zeigen, ohnehin verstrichen war, sprach sie Crystal nicht darauf an. Sie hatte keine Ahnung, was der Verwalter in den vergangenen Tagen unternommen hatte, um die Williams und die Menschen auf den Nachbarplantagen gegen Annie aufzubringen. Zumindest machte sich niemand die Mühe, hier herauszukommen. Nicht einmal Bobby …

Orlean drehte sich auf die Seite und betrachtete Annie das erste Mal seit Tagen mit wachem Blick. »Wie lange sitzt du schon hier, Mädchen?«

»Fast eine Woche. Crystal und ich haben uns abgewechselt.«

»Du musst mit dem Unterricht weitermachen. Er ist wichtig. Mir kannst du nichts mehr mitgeben, aber den Kindern umso mehr.«

»Ich wollte bei dir sein.« Erst als sie es aussprach, wurde Annie klar, wie sehr sie einen weiteren schmerzlichen Verlust fürchtete. Sie hatte schon so viele geliebte Menschen verloren.

»Und ich möchte, dass du zurück zu deiner Berufung gehst. Bereite die Kinder auf ein Leben in Freiheit vor. In Virginia und Maryland gehen gewaltige Dinge vor sich.«

»Du hörst dich erstaunlich munter und gesund an, Granny«, spottete Annie liebevoll, selbst Crystals Augen leuchteten hoffnungsfroh auf.

»Ich fühle mich heute besser, jawohl. Aber vermutlich nur deshalb, weil eine gewisse Lehrerin nicht das macht, was sie soll.«

Ein fröhliches Flattern, wie Schmetterlinge, die soeben aus ihren Kokons schlüpften, breitete sich in Annie aus. Orlean hatte die Krise überwunden. Sie würde ihnen noch länger mit ihrer Weisheit, ihren Gebeten und ihren Befehlen erhalten bleiben.

Ein leises Schluchzen, tief in Crystals Seele geboren – die manche Weißen ihr absprachen –, füllte die primitive Hütte.

»War der Doktor da?«, wollte Orlean wissen.

»Nein, Granny. Für dich hatte er offenbar keine Zeit«, erwiderte Crystal kalt und erhob sich abrupt.

»Meine Kleine wird sich in einer Welt ohne Herren und Aufseher gut zurechtfinden, denkst du nicht auch, Annie?«

»Das wird sie, keine Sorge.«

»Nein, da mache ich mir keine Sorgen. Aber darüber, mit wem sie diese Zeit verbringt.«

Crystal stieß einen ungehaltenen Laut aus und floh zur Tür. »Ich gehe den anderen sagen, dass es dir besser geht.« Ungewohnt lärmend verließ sie die Behausung, Annie hob fragend die Augenbrauen.

»Es gibt einen Mann, der ihr Blumen gebracht hat«, erzählte Orlean und schloss müde die Augen. »Sie hat sie in eine Ecke geworfen und lange geweint.«

»Jerome?«

»Du weißt davon?«

»Er ist ein verliebter Tollpatsch«, antwortete Annie. »Allerdings auch ein bedauernswerter.«

»Es liegt daran, was Master Kenneth Crystal angetan hat, nicht wahr?«

Annie betrachtete ihre Finger. Sie hatte immer befürchtet, dass die Vergewaltigungen Folgen nach sich ziehen könnten. Crystal tat sich unendlich schwer damit, ihr Herz und ihr Vertrauen einem Mann zu schenken.

»Armes, kleines Mädchen«, flüsterte Orlean. »Und dabei denke ich, dass sie Jerome gernhat.«

»Ihr ablehnendes Verhalten ihm gegenüber ist ein Schutzmechanismus.«

»Du kennst das ja gut. Du und David«, meinte Orlean. Annie drückte ihr einen Kuss auf die Wange.