Der Glanz eines neuen Morgens - Töchter der Freiheit - Noa C. Walker - E-Book

Der Glanz eines neuen Morgens - Töchter der Freiheit E-Book

Noa C. Walker

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Beschreibung

Amerika, 1862: David zweifelt immer mehr an seiner Entscheidung, der Armee als Feldchirurg zu dienen. Seine Arbeit muss er unter furchtbaren Umständen verrichten. Außerdem vermisst er schmerzhaft seine Verlobte Annie. Doch bevor er sie wiedersehen kann, erkrankt David schwer an Gelbfieber und ringt plötzlich mit dem Tod ...

Annie, die auf der Plantage von Davids Eltern in North Carolina zurückgeblieben ist, ahnt davon nichts. Sie hat alle Hände voll damit zu tun, Birch Island vor dem Untergang zu bewahren. Der Verwalter wird immer unberechenbarer, und Davids Schwester verschleudert die letzten finanziellen Ressourcen der Plantage. Hinzukommt, dass ein Sklavenhändler es auf Annie abgesehen hat und ihr das Leben schwer macht. Als dann noch ein Skandal das Ansehen der Familie zu ruinieren droht, muss Annie alles aufs Spiel setzen ...

"Der Glanz eines neuen Morgens" ist der vierte Band einer emotionalen, mehrbändigen Familiensaga rund um den amerikanischen Bürgerkrieg, in der sich abgrundtiefer Hass, ein gnadenloser Krieg und unmenschliche Ungerechtigkeiten mit der großen Liebe, tiefgehender Freundschaft und den kleinen Freuden des Lebens die Hand reichen.

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Begeisterte 5-Sterne-Rezensionen für Band 1, 2 & 3 :

"Spannende, abwechslungsreiche Sudstaaten-Saga - toller Auftakt!"

"Wunderschöne Geschichte!"

"Ein Roman, der zu Herzen geht, spannend und ereignisreich ist sowie humorvolle Dialoge enthält."

"Ein wundervoller Roman, der einen Teil der amerikanischen Geschichte beleuchtet."

"Großartige, bildgewaltige Fortsetzung der Südstaatensaga."

"Der bereits dritte Roman einer mehrbändigen Familiensaga, die Einblicke vor und nun auch während des amerikanischen Bürgerkriegs ermöglicht. Und dies auf eine sehr überzeugende und realistische Weise, wobei auch die damalige oft sehr unmenschliche und menschenverachtende Beziehung zwischen den reichen Plantagenbesitzern der Südstaaten und den dort lebenden und für sie arbeitenden Sklaven auf erschreckende Weise mit unterschiedlichen Ereignissen Berücksichtigung findet."

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Personenregister

23. Mai – 09. Juni 1862

Eins

09. – 26. Juni 1862

Zwei

26. Juni – 27. Juni 1862

Drei

28. Juni – 02. Juli 1862

Vier

2. Juli – 19. Juli 1862

Fünf

20. August – 27. August 1862

Sechs

27. August – 28. August 1862

Sieben

28. August – 31. August 1862

Acht

Dank

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

 

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Über dieses Buch

Amerika, 1862: David zweifelt immer mehr an seiner Entscheidung, der Armee als Feldchirurg zu dienen. Seine Arbeit muss er unter furchtbaren Umständen verrichten. Außerdem vermisst er schmerzhaft seine Verlobte Annie. Doch bevor er sie wiedersehen kann, erkrankt David schwer an Gelbfieber und ringt plötzlich mit dem Tod …

Annie, die auf der Plantage von Davids Eltern in South Carolina zurückgeblieben ist, ahnt davon nichts. Sie hat alle Hände voll damit zu tun, Birch Island vor dem Untergang zu bewahren. Der Verwalter wird immer unberechenbarer, und Davids Schwester verschleudert die letzten finanziellen Ressourcen der Plantage. Hinzukommt, dass ein Sklavenhändler es auf Annie abgesehen hat und ihr das Leben schwer macht. Als dann noch ein Skandal das Ansehen der Familie zu ruinieren droht, muss Annie alles aufs Spiel setzen …

»Der Glanz eines neuen Morgens« ist der vierte Band einer emotionalen, mehrbändigen Familiensaga rund um den amerikanischen Bürgerkrieg, in der sich abgrundtiefer Hass, ein gnadenloser Krieg und unmenschliche Ungerechtigkeiten mit der großen Liebe, tiefgehender Freundschaft und den kleinen Freuden des Lebens die Hand reichen.

NOA C. WALKER

DerGlanzeines neuenMorgens

Töchter der Freiheit

Personenregister

Albert und Nathan Jackson:

Susanna Belles jüngere Brüder

Alexander White:

Arzt in Washington City

Alice Williams:

Matriarchin der Familie, die Großmutter

Andrew Settrick:

Mariannas große Liebe aus Charleston

Benjamin:

»Butler«, höchster Haussklave

Edgar Blywether:

Ehemann von Madelyn, Washington City

Robert »Bobby« Williams:

jüngster Spross von Richard, Annies Schüler

Roland Brady:

Sklavenhändler, South Carolina

Brent Crady:

Nachbarsohn von Birch Island

Brian Tast:

Farmer in Kansas, Militär-Akademie-Absolvent

Carl Fuller:

ältester Sohn der Familie Fuller, Kansas

Joe Cobb:

Feldchirurg, Kollege von David

Johannes Rebmann, »Johnny Reb«:

Kavallerist unter Jeb Stuart, Davids Freund

Crystal:

Annies »Mädchen«, Orleans Enkelin

Daisy:

sechzehnjähriges »Findelkind« aus Washington City

Dorothy Shire:

Schwester von Jason, Kansas

Garry:

Sklave auf Birch Island, Stallmeister und Pferdewirt

Harriet Blywether:

Madelyns Schwiegermutter, Washington City

Hayden Tast:

Tochter von Brian und Megan, Kansas

Jameson Williams:

jüngerer Bruder von Robert

Jason Shire:

Farmer in Kansas, dessen Farm überfallen wird

Jennifer Tanner:

Schwester von Marcus, Cousine von Annie

Jerome:

Sklave, zweiter Pferdewirt

Jessie Fuller:

Farmerssohn, Kansas

Joel Sincoff:

junger Mann aus Melmac, Kansas, Haydens Unterstützer

Jordan Jackson:

Bruder von Susanna Belle, Kavallerist der Konföderation

Josephine und Max Tanner:

aus New York, die Eltern von Jennifer, Marcus und Ralf

Joshua Lane:

Pressezeichner aus Washington City, Freund von Marcus

Jules Rodin:

ehemaliger Lehrer auf Peacock Plantation, schwärmte für Annie

Lavinia Potosi:

Farmersfrau in Kansas, Tochter: Lyndie

Lenora Weddington:

Mutter von Davids verstorbener Verlobten Melody, weitere Töchter: Allegra, Symphonie, Crescenda

Lorena:

Freigelassene Sklavin, Dienstmädchen bei Susanna Belle und Marcus, Washington City

Lucille:

Amme von Verina; Tochter: Africa

Madelyn Blywether:

Freundin von Susanna Belle, Washington City

Marcus Tanner:

Annies und Sophias Cousin, Susanna Belles Ehemann, Jennifers Bruder

Marianna Williams:

Tochter von Richard, ehemals Annies Schülerin

Marigold:

Sklavin, Amme von Ken, Tochter: Luna

Matthew Phelps:

Nachbar der Williams, Kavallerist der Konföderierten

May:

Sklavin, Küchenchefin auf Birch Island

Darrel McPherson:

Angestellter bei den Tanners, Washington City

Greg Meadow:

Verwalter von Birch Island

Megan Tast:

Ehefrau von Brian, Hebamme, Kansas

Michael Fuller:

Farmer in Kansas, Vater von Carl, Jessie und Paul

Mike Randows:

Arzt nahe Birch Island, South Carolina

Miles:

Chirurg der Konföderierten Armee

Nineteen:

jugendlicher Soldat der Konföderierten Armee

Orlean »Granny«:

früher Davids »Mammy«, Crystals Großmutter

Paul Drane:

Pinkerton-Detektiv, Freund von Marcus, Jennifers Verlobter

Paul Fuller:

jüngerer Bruder von Carl und Jessie, Kansas

Philipp Alley:

Sophias Ehemann, Farmer in Kansas

Ralph Tanner:

Marcus’ und Jennifers jüngerer Bruder

Raven:

Sklave, Stallbursche und Kutscher

Rebecca Sue Williams:

Richards Schwiegertochter

Richard Williams:

Witwer, Plantageneigentümer und Politiker

Roisin Shillelagh:

hilft Madelyn zweimal bei ihrer Flucht

Rose Giddings:

Cousine von Richards verstorbener Ehefrau

Sadie Ann:

Sklavin, »Mädchen« von Alice

Sammy:

Sklave, Vorarbeiter auf Birch Island

Silvie Stenmark:

Freundin von Sophia, Kansas

Sophia Alley:

Annies Schwester in Kansas, mit Joseph, Samuel und Cindy Hope (Annily)

Sounders:

Chirurg der Konföderierten Armee

Susanna Belle Tanner:

geborene Jackson aus South Carolina, Ehefrau von Marcus

Sven Stenmark:

Freund von Philipp, Ehemann von Silvie, Kansas

Tamara »Tammy« Green:

Nachbarin und Freundin von Susanna Belle, Washington City

Theo und Timothee Barrie:

Nachbarn der Williams, Kavalleristen der Konföderierten

Valerie Giddings:

Roses Tochter

Victoria Nells:

ältere Tochter der Williams, deren Tochter: Verina

Walter Walker:

Soldat der Konföderierten Armee, Freund von David

23. Mai – 09. Juni 1862

Eins

~South Carolina~

Das Rauschen der Bäume, die um das weiße Herrenhaus mit den grünen Fensterläden standen, mischte sich mit der Melodie der Vögel und weckte die junge Lehrerin Annie Braun. Der süße Duft der Rosen stahl sich mit einem leichten Windhauch, der auch die Moskitovorhänge bauschte, in die Dachkammer.

Angetan mit dem knöchellangen weißen Nachthemd kletterte Annie auf den Fenstersims und blickte auf die vom Morgendunst umschmeichelten Felder und den Wald. Sie löste ihren geflochtenen Zopf und zog mit dem Fuß die auf dem Tisch liegende Haarbürste zu sich. Tief in Gedanken versunken bürstete sie die schwarzen Locken.

Nachdem Richard Williams, der Patriarch der Familie, erfahren hatte, dass Unionsgeneral McClellan das Hauptquartier seiner Potomac-Armee in White House am Pamunkey River errichtet hatte – keine fünfundzwanzig Meilen vom Richmonder Kapitol entfernt – und sich McDowells Truppen zu seiner Verstärkung näherten, war er in die bedrohte Hauptstadt zurückgekehrt. Somit mussten die Menschen auf der Plantage erneut ohne ihren Eigentümer zurechtkommen.

Annie glitt vom Sims und kleidete sich an. Gemeinsam mit dem Rüden Washington verließ sie das stille Herrenhaus. Auf der rundum verlaufenden Veranda traf sie auf die Hündin Rom, die nachts an einer langen Kette auf dieser Seite angepflockt war, während Paris auf der rückwärtigen Hausseite wachte. Tagsüber waren drei junge Sklaven beauftragt, mit den Hunden auf festgelegten Routen zu patrouillieren.

Washington blieb an ihrer Seite, als sie zum Hügel beim Teich ging und aus dem Pavillon einen der weißen Gartenstühle holte. Annie blickte auf die samtgrüne, von den Zweigen der Trauerweiden gestreichelte Wasseroberfläche, über die goldene Sterne sprangen. Ihre Gedanken sprangen ebenfalls … zu ihrem Verlobten David, der als Feldchirurg bei der Konföderierten-Armee diente, zu ihrer Freundin Susanna Belle in Washington und zu der Familie ihrer Schwester in Kansas, die sie so viele Jahre lang nicht gesehen hatte.

Jemand rief laut ihren Namen, und Annie beschattete die Augen mit der Hand. Die Sonne war erstaunlich weit gewandert, seit sie sich am Teich niedergelassen hatte, und erschrocken stellte sie fest, dass es längst Zeit für die Sonntagsandacht war. Crystal, inzwischen mehr eine Freundin denn ihr »Mädchen«, kam mit hochgerafftem Haussklavenkleid auf sie zugelaufen und trieb sie zur Eile an.

»Und vergiss den Ring nicht!«, rief Crystal ihr nach.

Annie beeilte sich, Davids Zeichen seiner Liebe wieder in ihren Ausschnitt gleiten zu lassen. Schließlich sollte niemand hier von ihrer Verlobung mit Richards Sohn erfahren.

Um mehr Beinfreiheit zu haben, hob sie mit beiden Händen die Stofffülle hoch und bog um die Hausecke. Vor der offenen Kapellentür fand sie sich ausgerechnet Alice, Davids gestrenger Großmutter, gegenüber. Erschrocken mäßigte sie ihre Schritte und ließ die Röcke zu Boden fallen. Washington lief in respektvollem Abstand an Alice vorbei und verschwand im Stall. Annie wäre ihm am liebsten gefolgt, doch stattdessen straffte sie die Schultern und ging auf die Matriarchin zu.

»Ich weiß, dass Sie noch sehr jung sind, Miss Braun. Dem Alter, um mit nackten Beinen und einem wie toll bellenden Hund über die Wiesen zu laufen, sind Sie aber dennoch entwachsen.« Die Frau deutete kompromisslos auf die offene Kapellentür.

Annie huschte in das nur sparsam von einigen wenigen Kerzen erhellte Innere. Die Sonne erleuchtete die Buntglasfenster und malte Bilder auf die Bankreihen und den Steinboden. Das Kreuz an der Wand schien in Flammen zu stehen, so intensiv leuchtete das rotbraune Holz. Annie setzte sich und lauschte der von Alice würdevoll zelebrierten Andacht.

Während in der dunklen Kapelle die Gebete und Lieder grau wie der Steinfußboden wirkten, so strahlten die der Schwarzen eine innere Bewegtheit und Freude aus. Prompt schweiften Annies Gedanken ab, zu ihrer Anfangszeit auf Birch Island – und zu Davids Spötteleien über ihre diversen Fehltritte, die sie allerdings ungeniert gekontert hatte.

Während des abschließenden Vater unser konnte der achtjährige Bobby Williams kaum mehr stillstehen, und seine schwangere ältere Schwester Victoria hatte sichtlich Mühe, sich aufrecht zu halten. Nachdem Alice sie entlassen hatte, drückte sich Bobby an Annie vorbei und hastete dem Ausgang zu. Victoria, in einer der neuen Roben, die der diesjährigen Sommermode und ihres beträchtlichen Bauchumfangs entsprachen, hatte Probleme an der schmalen Tür und schimpfte halblaut vor sich hin. Ihre Schwägerin Rebecca Sue half ihr mit dem Kleid und der Krinoline, und schließlich schlüpfte eine der Sklavinnen in die Kapelle, um die Kerzen zu löschen und die Tür zu verschließen.

»Wisst ihr schon das Neueste aus New Orleans?«, platzte Bobby heraus und fing sich einen missbilligenden Blick seiner Großmutter ein.

Doch Rebecca Sue, eine jener Schönheiten, die der Süden hervorbrachte, und seit Kriegsbeginn Witwe, fragte: »Haben unsere Soldaten die Yankees rausgeworfen? Gehört die Perle des Südens wieder der Konföderation?«

»Nein, das nicht.« Bobby holte mit den Armen weit aus. »Aber Militärgouverneur Butler hat eine neue General Order erlassen. Die Nummer achtundzwanzig.« Der Junge wippte auf die Zehenspitzen und wieder zurück. Amüsiert beobachtete Annie ihn und wartete darauf, was Bobby über jenen Unionsgeneral zu erzählen wusste, den Richard erwähnt und zu dem er ganz offensichtlich schon vor dem Krieg kein gutes Verhältnis gehabt hatte.

Während Alice sich in Begleitung ihres Mädchens entfernte, scharten sich die jungen Frauen um den grinsenden Bobby. »In der Anweisung heißt es, dass alle Frauen, die von nun an einen Offizier der Union beleidigen, wie Dirnen zu behandeln sind.«

Annie wusste nicht, ob das entsetzte Luftholen der beiden Südstaatenfrauen eine Folge der ungeheuerlichen Order war oder daher rührte, dass der Junge solche Worte gebrauchte. Sie jedenfalls blickte Bobby scharf an und kam zu dem Schluss, dass die Jackson-Brüder ihn offenbar auch darüber aufgeklärt hatten, was unter einer Dirne zu verstehen sei.

»Wie konnte dieser Yankee so etwas tun? Es ist niederträchtig, entwürdigend und …« Rebecca Sue betupfte ihren Mund mit einem Taschentuch.

Bobbys Grinsen wurde noch breiter – bis er Annie ansah. Sie hob lediglich eine Augenbraue. Verlegen zog er die Mundwinkel weit nach oben, dabei presste er die Augen fest zusammen.

»Weißt du, warum dieser Mr Butler eine solche Order erlässt?«, fragte Annie.

»Ja, schon«, flüsterte Bobby und scharrte mit seinen Stiefeln unruhig über den Boden. »Eine Frau soll den Inhalt ihres Nachttopfs aus dem Fenster geschüttet haben. Darunter ging gerade ein Yankeeoffizier vorüber. Ein Admiral Farragut. Er ist eigentlich ein Südstaatler, und seine Frau stammt aus Virginia. Dennoch kämpft er für die Yankees.« Bobby blickte unsicher zu Annie.

Diese konnte nicht auf das Gesagte reagieren, denn Victoria rutschte plötzlich an der Kapellentür abwärts. Sofort kniete sich Annie neben sie, und Rebecca Sue ließ sich ebenfalls, ungeachtet des guten Sonntagskleides, im Gras nieder und tätschelte behutsam die Wangen ihrer Schwägerin. »Ich wusste nicht, dass sie so zart besaitet ist«, sagte sie verblüfft.

Victoria riss die Augen weit auf und rollte sich stöhnend zusammen. »Was ist das? Es wird immer schlimmer!« Sie keuchte.

Annie und Rebecca Sue wechselten einen kurzen Blick. »Sie haben schon länger Schmerzen, Mrs Nells?«, fragte Annie ihre ehemalige Schülerin.

»Die ganze Nacht über, aber nun ist es kaum mehr auszuhalten.«

»Du hast Wehen«, sagte Rebecca Sue und erntete einen entsetzten Blick.

»Nein! Nicht jetzt schon! Ich bin noch nicht so weit.«

Annie rechnete mit gerunzelter Stirn und schüttelte dann den Kopf. »Ich denke, dass Sie das Kind längst entbunden haben sollten.«

»Ja, schon. Aber ich weiß nicht … wollte nicht … ich habe Angst und …«

»Du bist über der Zeit?«, erkundigte sich Rebecca Sue.

Bobby kniete sich neben seine Lehrerin. »Was hat sie denn?«

»Ihr Kind kommt, Bobby. Kannst du bitte Mr Meadow suchen? Er sollte Dr. Randows verständigen.«

Bobby hastete davon. Rebecca Sue blickte Annie mit gerunzelter Stirn an. »Jetzt schon? Victoria wird noch Stunden in den Wehen liegen.«

Annie bat die Frau mit einer leichten Kopfbewegung, sich ein paar Schritte zu entfernen. »Dieses Baby ist überfällig. Ich denke, es wäre gut, wir hätten einen Arzt hier.«

»Aber er war doch vor drei Wochen bei ihr.«

»Wissen Sie, was er und Mrs Nells miteinander besprochen haben?«

»Nein, natürlich nicht. Denken Sie …« Rebecca Sue wandte sich zu ihrer Schwägerin um, die sich mühsam erhoben hatte und nun mit gerunzelter Stirn die Erde von ihrem Kleid klopfte. »Victoria, was hat Dr. Randows bei seinem letzten Besuch gesagt?«

»Was soll er schon gesagt haben? Es sei alles in bester Ordnung, und die im Hause lebenden Damen wüssten ja Bescheid, wann er zu holen sei.«

»Nannte er einen Zeitraum für die Geburt?«

»In den nächsten Tagen. Natürlich war ich erleichtert, dass mir mehr Zeit blieb, mich auf meine Rolle als Mutter vorzubereiten.« In Victorias Augen stand Angst, aber auch Scham, da sie wusste, dass sie einen Fehler gemacht hatte.

In einer hilflosen Geste hob Rebecca Sue die Arme. »Ich wünschte, David wäre hier!«

Annie blickte auf ihre Schuhspitzen, die unter dem weiten Rock hervorschauten. Mit ganzem Herzen konnte sie diesem Wunsch beipflichten. »Sie sollten in Ihr Zimmer gehen, Mrs Nells. Nicht, dass Sie noch einmal fallen.«

»Viel schmutziger kann ich nicht werden«, murmelte Victoria, schritt aber auf das Haus zu.

Rebecca Sue blickte ihr mit leicht geneigtem Kopf nach. »Sind alle Frauen, die ein Kind bekommen, so seltsam? War ich das auch?«

In Erinnerung an Rebecca Sues Geburten enthielt sich Annie einer Antwort und eilte hinter der werdenden Mutter her. Diese erklomm nur mühsam die wenigen Stufen der Holzveranda.

»Darf ich Sie stützen, Mrs Nells?«

Victoria musterte sie herablassend. »Danke, Miss Braun. Doch eine Williams-Nells benötigt nicht die Hilfe einer Lehrerin.« Geziert wandte sie sich ab.

»Warum nur empfindet sie so viel Verachtung für mich?«, murmelte Annie leise, ungeachtet der Tatsache, dass Rebecca Sue an ihr vorüberging. Lag da Mitleid in deren ausdrucksstarken Augen? Doch Rebecca Sue hielt sich mit einer Äußerung zurück und zeigte sich so mit ihrer Schwägerin solidarisch.

Ein heiserer Aufschrei drang aus dem Salon auf die Veranda. Beide Frauen rafften ihre Röcke, um der werdenden Mutter zu Hilfe zu eilen.

~Shenandoahtal, Virginia~

Generallieutenant Thomas Jackson hatte neuntausend Mann von Staunton über die Gebirgspässe geführt und am 9. Mai in einem Dorf mit Namen McDowell eine halb so große Unionstruppe besiegt. Jacksons überraschender Angriff, da der Norden ihn auf dem Weg nach Richmond gewähnt hatte, machte Lincolns Tennessee-Plan ein Ende, bevor dessen Durchführung überhaupt begonnen hatte.

Daraufhin ließ Jackson seine Männer weitermarschieren. Er brütete stundenlang über der detaillierten, übergroßen Karte von Jedidiah Hotchkiss und bluffte die gegnerische Armee erneut, indem er so tat, als wandte er sich in Richtung Strasburg. Allerdings schwenkte er nach Osten in die Massanutten Mountains – eine bergige Trennlinie innerhalb des lang gezogenen Shenandoahtals – und entging so den Spähern der Nordarmee.

Durch das östlich gelegene Luraytal näherte sich Jackson dem kleinen Unionsvorposten in Front Royal. Turner Ashby, wegen seiner Vorliebe für schwarze Pferde »Schwarzer Ritter« genannt, und seine Kavallerie ritten einen Scheinangriff auf der Mautstraße von Strasburg und verleiteten Unionsgeneral Banks zu der Annahme, Jackson nahe sich auf diesem Wege. So konnten die Unionssoldaten in Front Royal schnell überwältigt werden. Nun befand sich Jackson nur noch zehn Meilen von Banks Flanke entfernt.

Durch die raschen Täuschungsmanöver und die beiden Siege wagte es niemand mehr, Jackson als Old Tom Fool zu bezeichnen. Die Soldaten waren stolz darauf, zu Stonewall Jacksons schneller und zäher »Fußkavallerie« zu gehören, wie sie nun genannt wurde. Immerhin hatten sie in nur zwei Wochen 260 Kilometer Fußmarsch zurückgelegt und zwei Schlachten gegen zwei verschiedene Unionsarmeen bestritten.

»Nichts ist mir mehr geblieben! Den Weg zum Ruhm könne man nicht schwer bepackt antreten, hat General Ewell gesagt. Also haben wir alles von uns geworfen, außer Munition, Waffen und etwas Proviant.« Der Soldat streckte David seine Füße entgegen, und dieser besah sich die blutgefüllten Blasen.

Der junge Mann mit der Schussverletzung neben ihnen richtete sich auf die Ellenbogen auf und brummte: »Ewell kennt so etwas wie Privatbesitz gar nicht. Er ist Junggeselle … und dies wohl nicht ohne Grund. Wer heiratet schon einen kahlköpfigen Kerl, der den Kopf schief hält wie ein Vogel und zudem noch über eine Hakennase wie ein Geierschnabel verfügt.«

»Immerhin ist dir dein Leben geblieben«, knurrte Miles, Davids stets korrekter und ernster Kollege, und winkte zwei Helfer herbei, die einen Toten aus dem Zelt zu tragen hatten.

Neben David lagen der offene Holzkasten mit den Operationsinstrumenten, die ihm zur Verfügung standen, und vollgeblutetes Verbandsmaterial. Er hatte die Ärmel seines Hemdes weit nach oben geschlagen, und dennoch waren diese besudelt. Durch den zunehmenden Bartwuchs und die langen Locken, die ihm unermüdlich in die Stirn fielen, glich er mehr einem Piraten der Weltmeere als einem jungen Arzt aus gutem Hause.

Die verletzten Soldaten setzten ihre Unterhaltung fort und lachten über Ewell – Davids Vater kannte den Mann aus dem Mexicokrieg –, der aufgrund eines Magengeschwüres nur geschälten Weizen mit Rosinen und Eigelb in gekochter Milch aß. »Er lispelt beim Fluchen!«, erzählte der Soldat mit den wunden Füßen feixend. David schickte ihn aus dem Zelt.

Ein älterer Mann blickte ihm abwartend entgegen, und sein besonnener Blick ließ David auf einen weniger aufgebrachten Patienten hoffen. Vorsichtig löste er den Verband um seinen Kopf und legte einen Streifschuss frei.

»Ewell hat seine Macken, aber haben wir die nicht alle?«, lautete dessen Frage. David nickte nur. Er hatte zwei anstrengende Tage hinter sich und sehnte sich nach einer Pause. »Was sehen diese jungen Männer schon? Ein Vogelgesicht und ungewohnte Essgewohnheiten. Ich halte Ewell für einen ausgezeichneten Taktiker. Er und Jackson sind in der Lage, mit weit weniger Soldaten dieses Tal gegen die Yankees zu verteidigen und Truppenverlegungen nach Richmond zu verhindern, so wie es ihr Auftrag ist.«

David säuberte die Wunde, die ihm überhaupt nicht gefiel, da sie sich entzündet hatte. Dann winkte er einen Helfer aus dem Musikkorps herbei, damit der einen neuen Verband anlegte.

»Doc Williams, wie lange arbeiten Sie schon?«, fragte McGuire, der, obwohl wie David erst Mitte zwanzig, inzwischen sein Vorgesetzter war. »Doc Sounders löst Sie jetzt ab.«

Ohne Zögern überließ David dem Kollegen den Platz. Vor dem Ambulanzzelt wusch er sich gründlich und blickte zum wolkenverhangenen Himmel hinauf. Der Regen hatte eine Pause eingelegt. Wenig später kam er an den großen Zelten der Offiziere vorbei. Vor einem stand eine junge Dame, die offenbar aus Front Royal herübergekommen war. Darüber irritiert, sah er sie wohl für einen Moment zu lange an. Jedenfalls schenkte sie ihm ein kokettes Lächeln, ehe sie sich wieder abwandte.

David bemerkte das alberne Grinsen der Soldaten, die von der Anwesenheit einer jungen Frau angelockt worden waren, und beeilte sich, von ihr fortzukommen. In seinem Zelt erwartete ihn sein deutlich älterer Kollege Cobb, der sich auf seiner Pritsche ausgestreckt hatte. »Hast du sie auch gesehen?«

»Wen?«, fragte David, als wüsste er nicht, von wem vermutlich das ganze Lager sprach, und knöpfte sein Hemd auf.

»Wen, fragt er!« Cobb setzte sich auf. »Die gut gebaute Dame, die unweigerlich deinen Weg gekreuzt haben muss.«

David ersparte sich das Aufknöpfen der restlichen Knöpfe und zog sich das Hemd über den Kopf.

»Na, so wie du aussiehst, wird sie dir keinen Blick gegönnt haben. Wann lässt du dir endlich das Haar schneiden?«

»Bald«, antwortete David knapp und warf das Hemd auf sein Feldbett.

»Diese Frau heißt übrigens Isabella Boyd. Sie ist zarte neunzehn Jahre alt und dient Jackson als Spionin.«

Nun doch interessiert, verschränkte David die Arme vor der Brust.

»Sie stammt aus Front Royal und ließ Jackson vor einigen Tagen mitteilen, dass sich ein Großteil der Unionstruppen von hier zurückzieht. Eine gut informierte und patriotische junge Frau. Ich denke, wir können ihr und den anderen Bewohnern dieses Tales dankbar sein für ihre Spionagedienste und Wegbeschreibungen.«

David widersprach nicht, sondern blickte in den zersprungenen Spiegel seines Kameraden und musste ihm für seine vorhergehende Bemerkung recht geben. Er hatte dringend einen Haarschnitt und eine Rasur nötig.

Cobb fuhr fort: »Dein mangelndes Interesse an Belle Boyd entschuldige ich, doch du solltest deine Eitelkeit vergessen und zusehen, dass du zur Ruhe kommst. Yankee-Banks soll es etwas unwohl geworden sein, als er bemerkt hat, dass er sich zwischen uns und Washington befindet. Er weicht wohl in sein Basislager nach Winchester aus. Wenn ich Stonewall Jackson richtig verstanden habe, will er ihm nach.«

David warf umgehend das verschmutzte Hemd zu Boden und ließ sich auf sein Feldbett fallen. Jackson scheuchte sie von einem Ort zum nächsten, da galt es, Ruhephasen zu nutzen. »Wecke mich bitte rechtzeitig!«, bat er und fragte sich, wie sich die Infanteristen noch auf den Beinen halten konnten, wenn sogar er, der er doch über ein Pferd verfügte, sich schon so ausgelaugt fühlte.

»Keine Angst, Williams. Wenn das Zelt über dir abgebaut ist, weckt dich der Regen.«

»Das ist gut«, murmelte David noch, ehe er in einen traumlosen Schlaf fiel.

Der darauffolgende Tag brachte, was Cobb vorausgesagt hatte: Stonewall Jacksons Armee hetzte hinter Banks Truppen her und attackierte auf der Talstraße bei Middletown dessen deutlich langsamere Wagenkolonne. Die Begleitmannschaft wurde in die Flucht geschlagen, und die völlig erschöpften Konföderiertensoldaten freuten sich über die erbeuteten Proviantwagen. Während der frühen Abendstunden versorgten die Ärzte die eigenen Verletzten.

David wusste, dass ihm nur wenige Stunden Schlaf beschieden waren, da Infanterie und Kavallerie bereits vor Morgengrauen südlich und westlich der Stadt stehen sollten. Dennoch blickte er lange an die Zeltwand, auf der der rötliche Widerschein eines Feuers tanzte. Er spürte die Gefahr, in eine Art stumpfe Gleichgültigkeit abzurutschen, und wusste nicht, wie er dieser begegnen sollte.

Wie hatte sich Orlean, seine ehemalige Mammy, trotz all der Verluste in ihrem Leben, nur ihren Glauben, ihr Vertrauen in die Menschheit und ihre Fröhlichkeit bewahren können? Oder Annie … »Ich vermisse dich, Annie. Ich brauche dich so sehr. Ich liebe dich …«

Miles fragte oft verbittert, wie Gott diesem Leid zusehen konnte, ohne dem ein Ende zu setzen. David wusste, dass er Gott für diesen Krieg nicht die Schuld geben konnte. Nichts davon war von einem gütigen und liebenden Gott gewollt. Doch wenn die Menschen mit ihrem freien Willen Entscheidungen trafen, die Gott nicht guthieß, mussten sie mit diesen Entscheidungen leben, sie alle!

Taten Jackson und die mitreisenden Prediger gut daran, regelmäßige, wenngleich spärlich besuchte Gottesdienste abzuhalten? Waren sie genau das, was die Soldaten dringend benötigten? Einen Halt. Hoffnung. Weil man als Soldat sehr schnell all das verlor, was einst wichtig gewesen war?

Die wenigsten Männer sahen das so. Dennoch verbrannten sie vor jeder Schlacht ihre Spielkarten, um nicht mit diesem Teufelswerkzeug, wie sie es nannten, in den Taschen zu sterben. Der Tod war ihr ständiger Begleiter geworden. Mehr noch als ihre Träume und Hoffnungen.

David hatte keinen Blick für den verspielt gurgelnden Bach am Rande der Waldlichtung. Er sah weder die schillernden Libellen noch die blühenden Obstbäume, deren Duft das Tal erfüllte. Er nahm nur das Gewehrfeuer im nahen Bergland wahr; südlich und westlich der Stadt Winchester.

Der Morgennebel hatte sich mittlerweile gelichtet. Nach einem kurzen, aber heftigen Gefecht kam die Meldung, dass sich die Unionstruppen zurückzogen.

David und Cobb bestiegen ihre Pferde und ritten zu dem südlich gelegenen Schlachtfeld, um vor Ort den verletzten Soldaten erste Hilfe zu leisten. Dabei kamen ihnen einige Reiter aus Ashbys Kavallerie entgegen, die erbeutete Unionspferde mit sich führten. Ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, erklärten die Kavalleristen, dass sie in der Nähe wohnten und die Pferde nach Hause bringen wollten. Ehe die beiden Ärzte sichs versahen, waren die undisziplinierten Reiter auch schon an ihnen vorbei. Am Stadtrand entdeckten sie weitere plündernde Soldaten.

»Nicht nur, dass es eine Unverschämtheit ist, über Beutegut herzufallen und dabei seine Truppe zu verlassen, jetzt liegt es wohl wieder an den ohnehin übermüdeten Infanteristen, die Verfolgung der Yankees aufzunehmen«, schalt Cobb vor sich hin.

»Dazu sind sie nicht mehr in der Lage. Ich hoffe, Jackson hat ein Einsehen!«

Sie setzten ihren Weg fort und stiegen ab, als sie in den Ausläufern der Berge auf die ersten Verwundeten trafen. Dabei handelte es sich um Unionssoldaten, die von der sich hastig zurückziehenden Unionsarmee zurückgelassen worden waren. David öffnete die blutdurchtränkte blaue Uniformjacke eines Verletzten und betrachtete den Durchschuss an der Schulter. Die Angst war dem jungen Mann deutlich ins Gesicht geschrieben.

Aus dem Augenwinkel sah David, wie dieser mit der linken Hand nach seiner abseits liegenden Waffe tastete und schob sie mit dem Fuß außer Reichweite. »Wenn du möchtest, dass ich deine Blutung stoppe, solltest du das unterlassen«, knurrte er und riss ein Stück des noch sauberen Hemdstoffs vom Arm des Soldaten.

»Ich möchte nicht in eines der Gefängnisse.«

David hob lediglich die Augenbrauen. Unter seinen Bemühungen zuckte der Mann zusammen und presste zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor: »Bitte, lassen Sie mich gehen.«

»Die meisten Gefangenen werden ausgetauscht«, erwiderte David knapp. »Wie heißt du?«

»Kevin Tast, Kansas.«

»Ich habe noch viel zu tun, Kevin Tast aus Kansas. Was du tust, während ich mich um deine Freunde kümmere, habe ich kaum in der Hand.« Ohne eine Erwiderung abzuwarten, nahm er seinen Instrumentenkasten, dazu das Gewehr des Verletzten und trug beides zum nächsten sich auf dem Boden wälzenden Unionssoldaten. Als er sich Minuten später aufrichtete und den Soldaten entgegensah, die kamen, um die Verletzten fortzuschaffen, und dabei Gefangene einzuholen, war der junge Tast fort.

Stunden später trafen David und Cobb wieder aufeinander. David war damit beschäftigt, die beschlagnahmten medizinischen Güter zu katalogisieren, und strahlte den Kollegen freudig an. Dieser stutzte kurz und lachte dann. »So, hat Proviantmeister Banks auch etwas für uns hinterlassen?«

»Proviantmeister Banks?«

»Ja, so nennen unsere Soldaten den Yankeeoffizier inzwischen. Er hat Massen von Lebensmitteln und sagenhafte neuntausend Gewehre zurückgelassen. Dazu zweitausend Gefangene.«

»Und fünfzehntausend Behälter Chloroform«, fügte David hinzu.

»Darum dein breites Grinsen, Williams. Keine Operation mehr ohne Narkose, nicht wahr?«

David nickte und verschloss eine weitere Kiste.

»Übrigens kann unsere Fußkavallerie mit Schuhen ausgestattet werden. Wenn das nicht ein Sieg ist! Und das an einem Sonntag, wo Jackson doch die Sonntage heiligt.« Cobb setzte sich auf eine der Holzkisten und sah seinem jüngeren Kollegen bei der Arbeit zu.

»Was hört man von draußen, Cobb?«

»Baldiger Aufbruch, Richtung Potomac.«

David beendete seine Tätigkeit. »Ich wollte noch einen Besuch bei den Schmidts machen.«

»Ach richtig, du hast ja eine Vorliebe für deutsche Lehrerinnen.«

David grinste übertrieben breit und verließ das Zelt. Die Verladearbeiten hatten bereits begonnen, was hieß, dass er sich beeilen musste. Während er sich die Erlaubnis zum Entfernen einholte und der Familie Schmidt einen kurzen Besuch abstattete, bewegten sich weitere Nord-Truppen auf Lincolns Veranlassung ostwärts ins Shenandoahtal hinein. Dort sollten sie nach Norden schwenken, um Jackson von hinten anzugreifen.

Lincoln stoppte auch die Truppenverlegung in Richtung Richmond. Vielmehr kam vom Unionspräsidenten die Weisung, schleunigst zwei Divisionen in Jacksons Flanke zu entsenden. Dadurch sollte es Stonewall Jacksons mit drei gegnerischen Armeen zu tun bekommen, die jede für sich seinen sechzehntausend Mann überlegen waren.

~South Carolina~

Die Sonne berührte die Wipfel der Bäume, die unter dem abendlichen Wind leise rauschten. Jemand hatte die Sklaven mithilfe eines großen verbeulten Kochtopfs zum Essen gerufen, eine Neuerung, da die Intendantur den Metallgong bei ihrem letzten Besuch mitgenommen hatte.

Aus Victorias Zimmer drangen weiterhin Schreie. Meadow hatte lange gebraucht, ehe er Dr. Randows gefunden hatte. Dieser befand sich in einer Notoperation, konnte also vorläufig nicht kommen. Deshalb hatte Alice die junge Sklavin Crystal beauftragt, deren Großmutter Orlean mit dem Buckboard zum Haus zu holen.

Annie saß in einer von Palmen abgeschirmten Sitzecke im Atrium, Crystal leistete ihr Gesellschaft. May, die Küchenchefin auf Birch Island, brachte für Annie Kaffee und stellte eine weitere Tasse vor Crystal ab, die diese schnell zwischen ihren Händen versteckte.

Annie fürchtete um das Leben der werdenden Mutter und des ungeborenen Kindes. Einmal mehr wünschte sie sich David herbei und das nicht nur, weil er wissen würde, was zu tun sei. Sie vermisste seine Gelassenheit inmitten der aufgescheuchten Hausbediensteten und ängstlichen Familienangehörigen. Crystal legte warnend ihre dunkle Hand auf Annies helle. Schnell schob sie das Zeichen ihrer Liebe wieder unter die Bluse. In diesem Augenblick kam Orlean die Stufen herunter.

»Wie geht es Mrs Nells?«, begehrte Annie zu erfahren.

»Wie einem trotzigen Kind, dass ein Kind erwartet.« Orlean winkte May herbei, die erneut am Torbogen zum Nebentrakt wartete. »Bereitest du mir bitte einen starken Tee zu? Den habe ich nötig.«

»Granny, was ist mit dem Kind?«, hakte Annie nach.

»Es sollte längst geboren sein. Als ob es keine Möglichkeiten gäbe, eine Geburt einzuleiten. Außerdem kommt ein Baby nicht gern, wenn es sich nicht willkommen fühlt.«

Oben schrie Victoria nach Orlean, doch diese setzte sich. Müde streckte sie ihre Beine unter den Tisch und schloss die Augen.

»Kann ich etwas tun?«, erkundigte sich ihre Enkelin.

»Ja, kleines Mädchen, bete für dieses hilflose Baby. Es ist ziemlich groß, und die Missi hatte sich immerfort geschnürt. Und sieh zu, dass May mir außerdem einen Kuchen bringt.«

Crystal grinste Annie kurz an und machte sich dann auf den Weg in den Küchentrakt. Sie war noch nicht weit gekommen, als Bessy, Victorias Mammy, oben an die Galeriebrüstung trat. »Wo bist du, Orlean? Die Missus fragt nach dir.«

Ohne die Augen zu öffnen, rief die Gesuchte: »Sag dem Mädchen, ich komme erst wieder, wenn sie aufhört zu schreien, sobald sie merkt, dass eine Wehe kommt.«

»Du hast keinen Respekt vor der Missus. Und keine Achtung vor dem zukünftigen Erben der Nells.«

»Und du noch weniger«, erwiderte Orlean. Mürrisch verließ Bessy die Galerie.

May brachte Tee und Kuchen für die rundliche Schwarze und setzte sich einfach zu ihnen. Annie lächelte erfreut über das ungezwungene Verhalten ihr, der Weißen, gegenüber.

Während die Sklavinnen sich unterhielten, ging Annie zur Eingangstür. Auf der Birkenallee sah sie einen Jungen mit einem der Hunde auf Patrouille. Annie lehnte sich an die Zarge und blickte an den weißen Säulen vorbei in den blauen Himmel, der von einigen wenigen Federwolken geschmückt war. Ihre Gedanken wanderten erneut zu David. Mit geschlossenen Lidern rief sie sich seine tiefe Stimme und das spöttische Lachen in Erinnerung, das er ihr gegenüber häufig gebraucht hatte. Als sie die Augen wieder aufschlug, stand Orlean neben ihr. »Ich vermisse ihn auch. Nicht nur an Tagen wie heute.«

»Manchmal schmerzt es so sehr, Granny.«

Orlean strich ihr über den Arm. »Ich kann dich verstehen. Und doch ist es bei mir etwas anderes. Ich ahne, dass ich ihn nicht mehr wiedersehe.«

Annie riss erschrocken die Augen auf, woraufhin Orlean sie in ihre Arme zog. »Ich bin alt, und der Krieg dauert an. Meine Vorahnung muss nichts mit deinem David zu tun haben.«

Damit blieb Annie allein zurück. Ihre Hände kneteten den feinen Atlasstoff ihres Sonntagskleides. Sie hatte schon miterlebt, wie Orleans Ahnungen eingetroffen waren. Würde es auch diesmal so sein?

Die letzten Sonnenstrahlen tauchten die Räume in goldenes Licht, bald schon tanzten Glühwürmchen um die Büsche, und der Ruf eines Mississippiweihs, der hier nur selten zu sehen war, hallte über die Parkwiese.

Die Familie nahm das Dinner nahezu schweigend ein, wenngleich es im ersten Stock ruhiger geworden war. Bobby rutschte unruhig auf seinem Stuhl umher, ohne von seiner Großmutter zurechtgewiesen zu werden. Rebecca Sue aß kaum und wollte sich gerade entschuldigen, als Crystal den Speiseraum betrat. »Granny schickt mich. Missi Victoria könnte nun Hilfe gebrauchen.« Sie richtete Orleans Bitte aus, ohne jemanden anzusehen.

»Wo bleibt nur dieser Arzt?« Alice stöhnte und hob abwehrend beide Hände. »Ich bin zu alt für derlei. Rebecca Sue?«

»Ich weiß nicht, ob ich eine Hilfe bin. Ich kann kein Blut sehen. Vielleicht könnten Sie, Miss Braun …?«

Annie sah erschrocken auf.

»Was ist mit Ihnen los?«, fragte Alice. »Für gewöhnlich sind Sie recht unempfindlich und stets hilfsbereit.« Die Frau sah sie auffordernd an, doch Annie war sich sicher: Victoria wäre nicht erfreut, wenn sie bei der Geburt ihres Kindes half.

Ein Lächeln umspielte die Lippen der noch immer zartgliedrigen Matriarchin. »Meine Enkelin ist Ihnen gegenüber nicht eben freundlich gesinnt. Sie konnte es kaum ertragen, als Richard darauf bestand, dass Sie als Familienmitglied anzusehen seien. Was mir seither jedoch verborgen blieb, ist die Tatsache, dass Sie sich von Victorias albernen Gefühlsausbrüchen imponieren lassen.«

»Wie Sie eben feststellten, wird Mrs Nells nicht erfreut sein, wenn ausgerechnet ich –«

»Bekommen Sie nur erst selbst ein Kind! Dann werden Sie erleben, dass es Ihnen völlig egal ist, wer Ihnen gut zuspricht.«

Annie erhob sich, da ihr ohnehin keine andere Wahl blieb. Ein weiteres Lächeln, spöttisch anmutend, huschte über Alices Gesicht. »Das ist die Miss Braun, die ich kenne.«

Leises Wimmern drang Annie entgegen, als sie Victorias Räume betrat, deren Grundfarbe aus kräftigem Burgund bestand. »Granny, was kann ich tun?«

»Sie will ich hier nicht haben!«, kreischte Victoria. »Mein Sohn soll nicht von einer Yankeelehrerin gehalten werden. Einer …« Die nächste Wehe unterbrach ihre Tirade.

Orlean dirigierte Annie auf die andere Seite des Bettes und reichte ihr eine Porzellanschüssel und ein Tuch. »Verschaffe der Missi bitte etwas Kühlung.«

Die Gebärende folgte mit vor Wut blitzenden Augen jeder von Annies Bewegungen. Schließlich war es Victoria wieder möglich, zu sprechen. »Sie wiegeln die Schwarzen gegen uns auf! Das ist doch das Ziel von euch Yankees, die ihr im Süden geblieben seid. Die Leute sollen die Plantagen niederbrennen, uns Frauen töten und den Soldaten in den Rücken fallen. Warum sonst redet dieses Weib Sie so persönlich an? Sie verlieren den Respekt vor uns!«

»Sparen Sie sich besser Ihre Kräfte, Missi!«, empfahl Orlean. Eine weitere Wehe überrollte Victoria, und Annie bemerkte Orleans Kopfschütteln. Die Geburt ging immer noch nicht recht voran.

»Sie drängen in unsere Familie. Eine Weile dachte ich, Sie seien hinter David her, doch es scheint weiterhin Vater zu sein. Aber schließlich ist er der Eigentümer von Birch-Island-Plantation, nicht David. Obwohl sich dies ja eines Tages ändern wird.«

Annie zuckte über den Hass in Victorias Stimme zusammen. Orlean nickte ihr zu und dachte wohl dasselbe wie sie: Gut, dass David und sie ihre Liebe zueinander geheim gehalten hatten.

»Verschwinden Sie aus meinem Zimmer, von Birch Island!« Victoria schlug Annie die Waschschüssel aus der Hand.

»Wenn Sie die Missi hinausschicken, gehe ich auch«, drohte Orlean. Prompt zeigte sich Entsetzen auf Victorias Gesicht.

»Ich bringe die Scherben in die Küche und hole Ersatz«, informierte Annie Orlean. Froh, den Raum verlassen zu können, öffnete sie die Tür und sah, wie Bobby in sein Zimmer huschte. Sie folgte ihm. Sich der Tatsache bewusst, dass er beim Lauschen erwischt worden war und zudem am Morgen für einige Aufregung gesorgt hatte, wagte er es nicht, seine Lehrerin anzusehen.

»Ich hoffe, du weißt, dass Frauen in Victorias Zustand nicht immer in der Lage sind, klare Gedanken zu fassen. Deshalb möchte ich, dass du all das, was du gehört hast, vergisst und auf keinen Fall deinem Vater oder Bruder schreibst.« Ihre gefährlich ruhige und befehlende Stimme verfehlte ihre Wirkung nicht. »Du hast heute genug Unfug angestellt, meinst du nicht auch, Robert Jason Williams?«

»Ja, Miss Annie, aber das mit der … General Order in New Orleans wollte ich nur erzählen, weil –« Annie winkte mit einer knappen Handbewegung ab, doch Bobby schob trotzig das Kinn vor. »Ich war noch gar nicht fertig. Es gibt nämlich jetzt Nachttöpfe zu kaufen, in deren Boden Butlers Bild ist. Und ein Geschäftsmann aus Charleston hat eine hohe Prämie auf den Kopf des Mannes ausgesetzt. Zudem ist er in Richmond zum vogelfreien Verbrecher erklärt worden und …« Ein erneuter Blick in das Gesicht seiner Lehrerin ließ ihn verstummen.

»Was soll ich jetzt mit dir machen, Robert Williams?«

»Meine Mammy würde sagen, ich solle niederknien und Gott um Verzeihung für meine Untaten bitten. Dafür, dass ich Gefallen an bösem Tratsch und an Handlungen gefunden habe, die andere Menschen demütigen.«

»Hat sie das heute schon zu dir gesagt?«

»Ja, Miss Annie.«

»Und bist du ihrem Rat gefolgt?«

»Nein, Miss Annie, noch nicht.«

»Dann solltest du das jetzt vielleicht tun?«

»Ja, Miss Annie.«

An der Tür drehte sich Annie nochmals um. Bobby sah sie mit seinen dunklen Augen bittend an. Für den Jungen schien es schlimm zu sein, dass seine Lehrerin so böse auf ihn war. Deshalb fügte sie sanfter hinzu: »Dann bitte Gott auch um eine rasche Geburt und ein gesundes Kind. Willst du das tun, Bobby?«

»Ja, Miss Annie.«

Dr. Mike Randows traf ein, wenige Minuten nachdem Annie in Victorias Zimmer zurückgekehrt war. Nun beobachtete sie vom Ankleidezimmer aus die beiden Akteure, die sich wie Springer über das in Schachbrettmuster angelegte Parkett bewegten, um die Königin zu retten. Annie hätte nichts dagegen einzuwenden gehabt, wenn der Arzt sie aus dem Spiel genommen hätte, doch anscheinend wollte er sie noch nicht opfern.

Würde das Kind lebensfähig sein, sollte es – auf welche Weise auch immer – endlich in diese Welt hineingeboren werden? Und wie stand es um die Mutter? Das Wort Schachmatt kam Annie in den Sinn, und sie versuchte erfolglos, es zu verdrängen.

»Ich benötige Ihre Hilfe, Miss Braun. Schicken Sie die schwarze Frau zurück in ihre Baracke.«

Annie warf dem Arzt einen empörten Blick zu, doch Orlean legte ihre fleischige Hand auf Annies Arm. »Es ist gut, dass er jetzt hier ist.«

»Aber du hast seither die ganze Arbeit –«

»Das zählt nicht. Ich lasse mich von Garry zurückfahren.«

»Es ist schon dunkel. Willst du nicht in einem der Gästezimmer übernachten?«

»Sobald David mich nicht mehr benötigte, habe ich entschieden, dieses Haus zu verlassen und bei meiner Familie im Wald zu wohnen. Daran wird sich auch heute nichts ändern. Ich habe ebenfalls meinen Stolz.«

»Das ist gut, Granny. Ich danke dir für deine Hilfe.«

»Ich habe es für das kleine Baby getan. Es weiß noch nichts von dieser Welt.« Orlean verließ das Ankleidezimmer durch die schmale Tür in den Flur.

»Wo bleiben Sie, Miss Braun?«, polterte Mike.

Annie wandte sich der offenen Tür zu, durch die Licht in ihren unbeleuchteten Aufenthaltsort flutete. Orlean war – wie für Bauern üblich – geopfert worden. Nun war sie an der Reihe, Victoria zu helfen, bis diese sie vom Spielfeld fegte.

Zwei Stunden später stieg Annie den schmalen Treppenaufgang unter das Dach hinauf. Sie kam gerade aus Bobbys Zimmer, wo sie dem Jungen erzählt hatte, dass er eine Nichte habe. Der Mond schien durch das kleine Fenster am Ende des Flurs, und so konnte Annie Washington sehen, der träge den Kopf hob und zweimal mit dem Schwanz auf den Holzboden klopfte.

Sie strich ihm über das Fell. »Jetzt gibt es noch jemanden, den du zu beschützen hast. Ein ziemlich großes Baby mit einem sehr langen Namen. Sie heißt Verina, nach der First Lady der Konföderation, Victoria nach ihrer Mutter, Marcy nach ihrer Großmutter mütterlicherseits und Helena nach der väterlicherseits.«

In ihrem Zimmer empfing sie ein Strauß Rosen und deren betörender Duft. Annie lächelte dankbar. Durch derlei kleine Aufmerksamkeiten gelang es Crystal stets, Annie zu zeigen, dass es Menschen auf Birch Island gab, denen sie etwas bedeutete.

~Halbinsel, Virginia~

Der träge dahinfließende Chickahominy war durch die anhaltenden Regenfälle im Mai zu einem reißenden Gewässer angeschwollen. Treibgut trudelte in den Wogen und staute sich an den Behelfsbrücken der Unionsarmee. Dunkle Wolkenberge schoben sich näher, weshalb der Reiter nur kurz vor der vom Fluss bedrohten Brücke zögerte, ehe er sein Pferd auf diese trieb.

Marcus trug eine Nachricht McClellans für die auf der anderen Flussseite stationierten Offiziere bei sich. Sie enthielt die von Thaddäus Löwe aus seinem Ballon signalisierten Rebellenstellungen. Marcus war an diesem Morgen das erste Mal Zeuge der Feindaufklärung durch den Ballon Intrepid geworden. Das Geräusch des Gasgenerators hatte Marcus angelockt. Der kleine Korb mit Löwe war von etwa zwanzig Soldaten an Seilen festgehalten worden, als dieser die Ballastsäcke abgeworfen hatte. Dadurch war er bis über die Bäume hinausgeschwebt.

Marcus, Annies Cousin und mit deren Freundin, der Südstaatlerin Susanna Belle, verheiratet, schrieb als Kriegsberichterstatter für eine Washingtoner Zeitung. Er sprang inmitten der Zeltstadt ab und überreichte die Nachricht. Gerade als er sein Pferd zu den anderen Tieren brachte, fielen die ersten Regentropfen auf die ohnehin aufgeweichte Erde. Also stellte er sich in einem der für die Offiziere zur Verfügung stehenden Zelte unter und beobachtete die Zeltplane, die sich unter der Wucht der Tropfen aufbäumte.

Schließlich trat der völlig durchnässte Pressezeichner Joshua Lain zu ihm. »Guten Tag, Marc. Ich habe dich gezeichnet, wie du über die schwankende Pontonbrücke gekommen bist. Jetzt kann ich aus dem Papier nicht einmal mehr Schiffchen bauen. Übrigens hat der Fluss gerade einen Großteil der Behelfsbrücken weggeschwemmt. Wenn es weiterregnet, sind wir demnächst vom Rest der Armee abgeschnitten.« Damit konnte sich der Zeichner der ungeteilten Aufmerksamkeit der Anwesenden sicher sein.

Ein Offizier wandte sich an Marcus: »Ich muss Sie über den Fluss zurückschicken, solange noch eine der Brücken existiert. Wir sollten General McClellan über unsere ungünstige Lage informieren.«

Marcus nickte unbehaglich, holte aber sein Regencape hervor, um die zu befördernde Mitteilung einigermaßen trocken zu halten. Er klopfte seinem Freund auf die Schulter und verließ das Zelt. Mit gesenktem Kopf näherte er sich dem brodelnden Gewässer, das an den verbliebenen Pontonbrücken rüttelte. Er hatte entschieden, es ohne das Pferd zu versuchen, da dieses auf den glatten Holzbalken wenig Halt finden konnte. Das Wasser schoss mittlerweile mehrere Zentimeter hoch über den begehbaren Teil der Holzbohlen und war angereichert mit abgerissenen Schilfhalmen und Ästen.

Marcus rutschte die schlammige Böschung hinunter und klammerte sich an einem Stützbalken fest. Plötzlich ergriff eine kräftige Hand seinen Unterarm und hielt ihn zurück. Vorsichtig, um nicht auszugleiten, drehte er sich zu dem Mann um. »Was haben Sie denn vor?«, lautete dessen gegen das Tosen des Flusses gebrüllte Frage.

»Ich habe eine Depesche für McClellan«, informierte Marcus knapp und betrachtete irritiert die großen blauen Augen, die ihn an jene seiner Kusine in South Carolina erinnerten.

»So ein Irrsinn. Falls Sie es je über den Chickahominy schaffen, werden Sie keine Antwort zurückbringen können.«

Marcus schüttelte irritiert den Kopf. Sogar seine Aussprache klang wie die von Annie. Ein lautes Knarren der Brücke lenkte ihn ab. »Ich muss los, sonst komme ich nicht einmal mehr rüber.«

»Ich kann Sie mit einem Seil sichern«, schlug der Mann vor. Marcus beobachtete, wie er gewandt die Böschung erklomm und dort ein Lasso vom Sattel seines erstaunlich ruhig wartenden Pferdes nahm. Ein Soldat aus dem Westen, schoss es Marcus durch den Kopf, während er sich die Schlinge um den Körper legte. Zweifelnd blickte er auf den wild schäumenden Fluss.

»Zögern Sie noch ein paar Minuten, und Ihr Auftrag hat sich erledigt«, schlug sein Helfer breit grinsend vor.

Dies gab Marcus den nötigen Antrieb. Er klammerte sich mit beiden Händen an das Brückenseil und setzte einen Fuß auf die überschwemmten Planken. Behutsam schob er sich vom sicheren Ufer auf das unter der Kraft der Fluten wankende Holzgestell. Der Unbekannte stand breitbeinig auf der Böschung, das Tau hatte er um einen dicken Stamm geschlungen. Marcus eilte voran. Mehrere Meter weiter wandte er sich allerdings nochmals zu seinem Helfer um. So laut er konnte, brüllte er über den Fluss: »Wie heißen Sie denn?«

Täuschte er sich, oder nannte sich der Soldat Samuel Braun? War das Annies Bruder, sein Cousin? Marcus wollte umkehren, doch das splitternde Geräusch unter seinen Füßen ließ dies nicht zu. Die Fluten rissen die Behelfsbrücke mit sich.

~Shenandoahtal, Virginia~

David kam von einer Besprechung mit Jacksons Stab, und die Aussichten, die er dargelegt hatte, waren beunruhigend. Zwar war es ihnen gelungen, die Verstärkung für McClellan – dessen Armee die konföderierte Hauptstadt bedrohte – durch McDowells Truppen zu verhindern, doch nun eilten zwei Divisionen von ebenjenem McDowell genau auf sie zu. Von der anderen Seite rückte Frémont immer näher.

Die beiden Unionsarmeen nahmen Jacksons kleine Armee und somit auch David in die Zange. Jackson lagerte bei Harpers Ferry, ließ nun aber in fliegender Hast das Lager abbauen, damit sie erneut und in einem für die Fußsoldaten viel zu schnellen Tempo zurück in Richtung Süden ausweichen konnten.

Der Regen rann über Davids Hutkrempe und unter den Kragen seiner Uniform. Er zog die nutzlose Kopfbedeckung herunter und knautschte sie in seinen großen Händen. Was würde mit ihnen geschehen, wenn die Falle je zuschnappen sollte? Die einfachen Soldaten wurden, falls sie in Gefangenschaft gerieten, irgendwann ausgetauscht. Doch auf die Offiziere warteten die eigens für sie errichteten Gefängnisse.

Dies war allerdings nicht der Grund, warum ihre Befehlshaber sie angewiesen hatten, die auffälligen Offiziersuniformen gegen die der einfachen Soldaten zu tauschen und nur ihre Rangabzeichen aufzunähen. Jene Vorsichtsmaßnahme galt den Scharfschützen, die es sich zum Ziel gemacht hatten, auf jeden Offizier zu schießen.

Eine nicht minder nasse Gestalt, als er es war, rannte David entgegen, und er erkannte in ihr Nineteen. Der junge Soldat, der bei Weitem nicht so alt war, wie sein Spitzname lautete, packte ihn respektlos am Ärmel seiner Uniformjacke. »Können Sie bitte mitkommen?«

»Was gibt es denn?«

Der Junge wich einer Antwort aus, indem er zwischen zwei halb abgebaute Zelte huschte. David folgte ihm und bückte sich, um eine der Behausungen zu betreten. Auf einem Lager fand er einen Soldaten mit blutverkrustetem Hemd.

»Er hat einen Streifschuss«, flüsterte Nineteen. »Der stammt noch von Winchester. Er will ihn nicht behandeln lassen.«

»Und warum nicht?«

»Ihr Chirurgen seid alle nur unfähige Pfuscher. Mein Bruder könnte noch am Leben sein, wäre er nicht in eure Hände geraten.«

David seufzte laut auf. Er kannte die Vorurteile, die die Mannschaften den Militärärzten entgegenbrachten. Leider entsprachen sie öfter der Wahrheit, als ihm lieb war. Unwillkürlich fragte er sich, wie viele Soldaten versuchten, kleinere Verletzungen oder Erkrankungen geheim zu halten, um nicht in die Hände der in ihren Augen unfähigen, oftmals betrunkenen Ärzte zu geraten.

»Ich habe ihm gesagt, dass Doc Cobb, mein Vetter und Sie etwas von Ihrer Arbeit verstehen, aber –«

David winkte ab. »Lassen Sie mich das mal ansehen.«

Widerwillig legte der Soldat seinen verletzten Oberarm frei.

»Komm mit, Nineteen. Ich gebe dir sauberes Verbandszeug.« David verließ das Zelt, gefolgt von seinem jungen Freund, und gab ihm das Verbandsmaterial. »Sieh zu, dass du ihn verbunden bekommst, und dann pack zusammen.«

Ein Infanterist führte seine aufgesattelte Stute herbei. »Ihr Pferd, Doc Williams.«

Eilig saß er auf und klopfte sich prüfend mit der Hand auf die Brust. Annies kleines Buch mit den übersetzten Liedversen war sicher in dem Lederbeutel um seinen Hals aufbewahrt.

Die lange Kolonne der Infanterie und der Begleitfahrzeuge setzte sich in Bewegung. In der für Jacksons Armee üblichen hohen Geschwindigkeit eilten sie in Richtung Strasburg. Mit ihnen reiste das Wissen, dass sich zwei weitaus stärkere Armeen der Union ebenfalls auf dem Weg nach Strasburg befanden, mit dem Auftrag, das rebellische Treiben des im Norden gefürchteten Stonewall Jackson zu stoppen. Und leider waren Jacksons Soldaten fast doppelt so weit von der Stadt entfernt wie ihre Gegner.

~Richmond~

Während Lincoln am Telegraphen im Washingtoner Kriegsministerium saß und durch unzählige Telegramme versuchte, seine Generäle wie Schachfiguren durchs Shenandoahtal zu bewegen, überwachte im nicht allzu fernen Richmond der Präsident der Konföderation die Evakuierung und Sicherstellung wichtiger Dokumente. Jefferson Davis’ Aufmerksamkeit galt allerdings eher seinem General Joseph Johnston, der die nur sechs Meilen vor Richmond liegenden Unionstruppen von der Metropole des Südens fernhalten sollte. In Davis’ Augen agierte Johnston wieder einmal zu vorsichtig und defensiv.

Nervös ging der Erste Mann der Konföderation am Fenster Richtung Chickahominy auf und ab, ohne den Fluss und die dort liegenden Armeen sehen zu können. Im Hintergrund des bescheiden eingerichteten Raums saßen Richard Williams, der Eigentümer von Birch-Island-Plantation, Robert E. Lee und einige weitere Persönlichkeiten des Kriegsministeriums und unterhielten sich leise, um den Präsidenten nicht zu stören.

Die Lage für die bedrohte Hauptstadt hatte sich leicht entspannt, da McDowell eine erneute Richtungsänderung – ins Shenandoahtal hinein – vorgenommen hatte. Während Lee Stonewall Jacksons taktisches Geschick lobte, dachte Richard an seinen Sohn David, der sich nun inmitten der Zangenbewegung der Union befand.

»Mr Williams?« Der Pflanzer hob den Kopf und blickte in Lees wache Augen unter buschigen schwarzen Augenbrauen. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen?« Die beiden erhoben sich und strebten ebenfalls einem Fenster zu. Vor diesem blieb der besonnene Mann aus Virginia stehen. »Sie planen, das Kriegsministerium zu verlassen, um ein Kommando zu übernehmen?«

»So ist es, General Lee.«

»Was halten Sie davon, zuerst einmal als Beobachter an der Seite von General Johnston zu dienen, bevor wir Sie mit einem eigenen Kommando betrauen?«

Richard musterte Präsident Davis’ militärischen Berater eingehend.

»Ich möchte, dass Sie sich unsere Verteidigungslinien und die Truppen ansehen, um uns später, wenn wir McClellan von der Halbinsel verjagt haben, bei einer Reorganisierung der Armee behilflich zu sein.«

Nachdenklich rieb sich Richard das Kinn. Nahm er das Angebot an, konnte er wesentlich früher seine frustrierende Aufgabe im Kriegsministerium verlassen, was ihm gelegen käme. »Ihren Worten entnehme ich, dass Sie nicht mit einem Einfall McClellans in Richmond rechnen?«

»Nicht mehr, nein. Durch die heutigen Regenfälle ist der Chickahominy noch weiter angeschwollen und hat die meisten Brücken weggeschwemmt. McClellan war so unvorsichtig, mehr als die Hälfte seiner Armee auf der Nordseite des Stromes lagern zu lassen. Vermutlich, um sein Nachschublager zu schützen und auf McDowell zu warten, der ja nun, dank Jackson, nicht kommt. Wir hingegen haben Johnstons Truppen auf fünfundsiebzigtausend Mann verstärkt. Er will morgen früh den schwächeren Flügel auf der Südseite des Chickahominy angreifen. McClellan hat uns durch die Aufspaltung seiner Streitkräfte in die Hände gespielt.«

Richard nickte erleichtert. Damit war Richmond erst einmal gerettet.

»Sollten Sie das Angebot annehmen, wäre ein sofortiger Aufbruch Ihrerseits wünschenswert, Mr Williams.«

Der etwas Jüngere der beiden Männer streckte seine linke Hand aus, den rechten Arm hatte er im Mexicokrieg verloren, in dem auch Lee gekämpft hatte. Lee drückte sie fest.

»Ich habe noch private Angelegenheiten zu regeln, General Lee.« Richard dachte dabei vor allem an Rose, die Cousine seiner vor vielen Jahren verstorbenen Frau.

»Selbstverständlich. Bis zu unseren Stellungen ist es ja leider nicht weit.«

Nicht einmal eine Stunde später betrat er Rose Giddings Stadthaus. Ihre Augen weiten sich erschrocken, als sie ihn in Uniform sah. »So, du verlässt uns also auch!«, flüsterte die Frau und spielte auf die vielen Familien an, die panikartig aus Richmond geflohen waren, während McClellans Soldaten unaufhaltsam näher rückten.

Richard ergriff ihre Hand und stellte dabei fest, wie wunderbar weich und warm diese war. Sehnsucht hielt in seinem Inneren Einzug, heftiger, als er sich das mit Mitte fünfzig hätte träumen lassen. »Ich möchte dich bitten, mein mehrmals angesprochenes Angebot anzunehmen und mit deiner Tochter nach Birch Island zu reisen.«

Rose blickte auf ihre Hand in seiner. »Ich vermute, dass die Yankees die Richmonder Kirchenglocken hören können. Doch seither war dies für mich kein Grund, mein Haus zu verlassen. Es gibt unzählige Menschen in der Stadt, die nicht die Möglichkeit haben, außerhalb bei Verwandten unterzukommen.«

»Doch diejenigen, die es können, sollten es tun.« Richard fühlte sich unbehaglich, denn mit seinen Worten widersprach er deutlich Lees Hoffnungen für den morgigen Tag.

Rose entzog ihm ihre Hand, was er bedauerte. »Nicht um meinetwillen, Richard. Aber für Valerie wäre es sicherer. Sie ist eine junge, hübsche Frau. Zudem würde ich gern deine Familie wiedersehen und diese Miss Braun kennenlernen, von der du mir erzählt hast.« Rose verdeutlichte ihm durch ein Schmunzeln, dass ihr die Bewunderung, die er für die Lehrerin seiner Kinder übrig hatte, nicht entgangen war. Ob Rose auch wusste, wie viel mehr er sie verehrte?

»Dann werde ich nach Birch Island telegraphieren, um deine und Valeries Ankunft anzumelden. Packt bitte gleich zusammen, was ihr benötigt. Ich lasse William freistellen, damit er euch nach South Carolina begleitet. Eine gute Reise wünsche ich euch.« Richard drückte fest Roses Hand und verließ vielleicht ein wenig zu eilig das Haus. Er musste sich auf den Krieg konzentrieren, nicht auf diese herzliche, direkte und wunderschöne Frau.

~Halbinsel, Virginia~

Die Behelfsbrücke über den Hochwasser führenden Chickahominy brach unter Marcus’ Füßen weg und verschwand in den wirbelnden Fluten. Sein Helfer war geistesgegenwärtig genug, zu erkennen, dass Marcus mit einem einzigen großen Satz das rettende Ufer erreichen konnte. Er zog das Halteseil nicht an, sondern gab eilig ein paar Meter frei.

Der beherzte Sprung glückte. Nachdem Marcus einige Sekunden lang keuchend in der schlammigen Erde gelegen hatte, stand er auf und streifte sich das Seil über Schulter und Kopf. Er brüllte seinen Namen über den brodelnden Fluss zu jenem Mann hinüber, von dem er annahm, er sei sein Cousin. Samuel reagierte jedoch mit einem Kopfschütteln, da er ihn nicht verstehen konnte. Dann tauchte er in der grauen Wand des prasselnden Regens unter.

Mit verdreckter Uniform setzte Marcus seinen Weg fort. Hatte er tatsächlich seinem Cousin gegenübergestanden? Wie kam er von Kansas hierher auf die Halbinsel? Hatte er nicht versuchen wollen, Annie aus South Carolina herauszuschaffen? Marcus nahm sich vor, baldmöglichst nach einem blauäugigen Scout Ausschau zu halten.

Wie Marcus erwartet hatte, wusste der Führungsstab diesseits des Flusses vom Zusammenbruch der Brücken zwischen den Lagern. Ihm blieb nichts anderes übrig, als Unterschlupf im Zelt eines Beobachters einer New Yorker Zeitung zu suchen.

Das gewaltige Tosen des über die Ufer tretenden Stromes bildete am Abend des 30. Mai 1862 eine Geräuschkulisse, gegen die die rauschenden Bäume nicht mehr als einem kaum wahrnehmbaren Flüstern glichen. Unzählige Moskitos fielen von einer Minute auf die andere über die lagernden Soldaten her.

»Manchmal habe ich das Gefühl, die Rebellen schicken dieses Viehzeug auf uns los. Es dürfte ihre wirksamste Waffe sein, um uns von hier zu vertreiben.« Ein grauhaariger Soldat mit starkem französischem Akzent lachte.

Marcus sprach diesen und einen weiteren, sehr jungen Mann mit den gelben Abzeichen der Kavallerie an. »Gibt es in Ihren Reihen einen als Späher eingesetzten Soldaten mit Namen Samuel Braun?«

Der Franzose runzelte nachdenklich die Stirn und nickte dann langsam. »Ich habe einen getroffen, der sich als Braun vorstellte. Er war mit einem jungen Kavallerieoffizier unterwegs, wie Braun ein Deutschamerikaner, George Custer.«

Marcus bemerkte den interessierten Blick seines New Yorker Kollegen und erklärte in wenigen Worten, dass es sich bei diesem Mann um seinen lange für tot geglaubten Cousin handeln könnte. Ein Soldat trat herbei. »Ich suche einen Tanner. Er ist heute mit einer Nachricht über den Fluss gekommen?«

»Das bin ich. Was gibt es denn?«

»General McClellan hat noch Fragen diesbezüglich, wenn Sie mir bitte folgen wollen.«

Marcus traf den Kommandeur zusammen mit einigen weiteren Offizieren in dessen Zelt an. Sie alle beugten sich über eine Karte der Halbinsel. Das flüchtig beschriebene Papier, das Marcus mitgebracht hatte, lag obenauf. Die Buchstaben waren größtenteils verschwommen, und mit einem Stirnrunzeln überlegte Marcus, warum er nicht früher gerufen worden war.

McClellan blickte auf, nickte und unterhielt sich dann weiter mit seinem Stab. Abwartend verharrte Marcus. Schließlich war es Brigadegeneral Joseph Hooker, der das gewellte Papier vom Tisch nahm. »Sie haben heute während des Wolkenbruches dieses Schreiben gebracht?«

»Das habe ich, ja.«

»Kennen Sie den Inhalt?«

»Ja, es handelt sich um die Mitteilung, dass der Chickahominy die meisten Behelfsbrücken weggerissen hat und eine Isolierung der drüben lagernden Korps zu befürchten sei.«

»Keyes erwartet Anweisungen vonseiten McClellans?«

»Erwartungen hat er nicht geäußert. Doch die Generäle Keyes und Heintzelman zeigten sich über die Situation beunruhigt.«

»Sie waren in West Point, Tanner?«

Über diese abrupte Änderung des Gesprächsthemas stutzte Marcus, doch dann bejahte er, auf der Militärakademie gewesen zu sein.

»Warum haben Sie Ihre Laufbahn so schnell abgebrochen?«

»Ich bin Anwalt geworden.«

»Und nun Berichterstatter und nebenbei als Kurier tätig? Entspricht es Ihrem Wesen, vieles … auszuprobieren?« Eine deutliche Missbilligung war den Worten des Generals zu entnehmen. Dieser wandte sich ab, ohne eine Erwiderung abzuwarten.

Während Marcus dem Mann mit der großen Nase nachblickte, sagte McClellan: »Noch immer halte ich es für einen kolossalen Fehler, dass Lincoln McDowell schwenken ließ, um Jackson nachzujagen. Selbst McDowell hat sich in diese Richtung geäußert, ist aber natürlich dem Ruf des Präsidenten gefolgt. Es sollte Banks und Frémont doch gelingen, diese winzige Rebellenarmee endlich vernichtend zu schlagen, ohne dass ich hier auf die dringend benötigte Verstärkung verzichten muss!« Der General, nach Art Napoleons die Hand in die Uniformjacke geschoben, wandte sich nun ebenfalls an Marcus. »Es zielt immer darauf ab, dass ich kein Republikaner, sondern Demokrat bin … Doch Washington wird die Verantwortung zu tragen haben, wenn wir hier von einer Übermacht geschlagen werden, nicht ich.«

Marcus blickte auf den General hinunter. Erneut hielt man ihm die Nachricht hin, und er gab ein zweites Mal deren nicht mehr lesbaren Inhalt wieder. McClellan bedankte sich und legte das Schriftstück an seinen angestammten Platz zurück. Marcus verließ das Zelt, bevor noch jemand Drittes auf die Idee verfallen konnte, sich für das Papier oder ihn zu interessieren.

Nachdenklich blickte er in Richtung des laut tosenden Flusses. Sollten Johnstons Aufklärer mitbekommen haben, dass ein Teil von McClellans Armee isoliert war, war mit einem baldigen Angriff auf eine oder sogar beide Seiten zu rechnen.

Falls die Rebellen endlich die Initiative ergreifen wollten, um ihre bedrohte Hauptstadt zu retten, dann fand sich vermutlich kein günstigerer Zeitpunkt als dieser. Dies musste doch auch McClellan einleuchten. Warum nur verhielt er sich so ungerührt, als befände er sich nicht in einem Krieg, sondern bei einem Schachspiel, bei welchem sich die Gegner respektvoll die Zeit für strategische Entscheidungen schenkten?

Kanonendonner, Gewehrsalven und der schrille Angriffsschrei der Rebellen verdrängten den Frieden aus dem idyllischen Landstrich. Innerhalb kürzester Zeit verhinderte dichter Pulverrauch die Sicht über den Chickahominy. Marcus und sein New Yorker Kollege standen an einen Baum gelehnt in relativer Sicherheit am Nordufer des Stromes und machten sich eifrig Notizen.

Dabei sorgte sich Marcus um Joshua und Samuel, die dort drüben inmitten des wilden Kampfgeschehens steckten. Die Bemühungen, die zerstörten Brücken zu reparieren oder zu ersetzen, wurden nun mit noch größerer Vehemenz vorangetrieben.

Nach geraumer Zeit folgte Marcus dem laut Befehle brüllenden Generalmajor Sumner – mit seinen fünfundsechzig Jahren der älteste Kommandierende der Potomac-Armee. Dieser machte sich mit einer Division zu Fuß auf den Weg über die einzigen noch intakten Pontonbrücken. In schäumenden Wirbeln rollte das Flusswasser über die Planken, und innerhalb kürzester Zeit waren die Schuhe der Soldaten durchnässt. Ohne größere Zwischenfälle erreichten sie das Südufer.

Der Tag neigte sich bereits dem Abend entgegen, als sie sich endlich in das Geschehen einmischten und nahe der Eisenbahnstation Fair Oaks über die Rebellen herfielen.

Marcus beobachtete die Doppelreihen der feuernden Infanterie, sah die im Wind wehenden Flaggen und hörte das Donnern der Gewehre und leichter Feldgeschütze. Er trieb sein Pferd an und wurde Zeuge, wie sich das Schlachtfeld in zahllose kleine Scharmützel auflöste. Der Wald war an dieser Stelle überaus dicht und erlaubte keinen Angriff in einer großen Formation. So blieb sowohl den Blauen als auch den Grauen nichts anderes übrig, als sich in Gruppen aufzuspalten.

Durch seinen Feldstecher sah Marcus, wie ein Unionssoldat seinen eben angeschossenen Nebenmann aus dem morastigen Boden zog und gegen einen Stamm lehnte. Das Gesicht des Verwundeten war mit feuchtem Schlamm bedeckt, und er hustete und würgte heftig.

Marcus benötigte einige Sekunden, bis sich ihm erschloss, dass der Verletzte kurz vor dem Ersticken gestanden hatte. Aufgewühlt wandte er seine Aufmerksamkeit einem weiteren Unruheherd zu und konnte dort dasselbe ausmachen: Sowohl Unions- als auch Konföderiertensoldaten versuchten, ihre angeschossenen Kameraden an Baumstümpfe, größere Steine und dichtes Unterholz zu lehnen, um sie vor dem Ertrinken zu retten.