Das Leuchten in mir - Grégoire Delacourt - E-Book
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Das Leuchten in mir E-Book

Grégoire Delacourt

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Beschreibung

»Das Buch entwickelt einen solchen Sog, es ist so unglaublich intensiv, es ist unglaublich traurig, es macht unheimlich Mut. Ein wirklich tolles Buch.« Christine Westermann, WDR Emma ist vierzig und seit achtzehn Jahren mit Olivier verheiratet. Sie haben drei wohlgeratene Kinder, es könnte nicht besser sein. Dass etwas Entscheidendes in ihrem Leben fehlt, merkt Emma erst, als in einer Brasserie ihr Blick auf den von Alexandre trifft. Sie weiß sofort Bescheid. Für ihn wird sie alles riskieren, alles aufgeben – koste es, was es wolle. Der Bestsellerautor Grégoire Delacourt erzählt in seinem neuen Roman über eine große Leidenschaft, die Zerbrechlichkeit unserer Existenz und die Stärke der Familienbande, die mehr auszuhalten vermögen, als es den Anschein hat.

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Seitenzahl: 276

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Grégoire Delacourt

Das Leuchten in mir

Roman

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Atlantik

Für das Mädchen, das auf dem Auto saß – ich habe entdeckt, dass es auch die Menschen verbinden kann.

Ich schreibe, um mich zu durchlaufen.

Henri Michaux, Passagen

Inhalt

Erster Teil Brasserie André

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Zweiter Teil Pomme de Pin

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Dritter Teil Die Weinstraße

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Die Ziege des Monsieur Seguin von Alphonse Daudet (1866)

Das Zitat im Vorspann [...]

Danksagung

Biographie

Impressum

Erster TeilBrasserie André

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»Ich werde mit ja antworten.«

»Also werde ich versuchen, die richtige Frage zu stellen.«

71

Ich erinnere mich an den plötzlichen Rausch, an das Entzücken der alten Tannen, die noch nie etwas so Hübsches gesehen hatten. Ich erinnere mich, dass sie wie eine kleine Königin empfangen wurde. Die Kastanien neigten sich bis zum Boden, um sie mit den Spitzen ihrer Zweige zu streicheln. Der Goldginster öffnete ihr einen Durchgang und duftete so stark er konnte. Ich erinnere mich, dass der ganze Berg sie feierte und dass sie später, als sie mit einem Goldregenzweig im Maul am Rand eines Plateaus stand, unten, ganz unten im Tal das Haus von Monsieur Seguin mit der Koppel dahinter erblickte, lachte, dass ihr die Tränen kamen, und rief: »Wie klein das ist! Wie konnte ich es nur da drin aushalten?«

Halb trunken wälzte sie sich im Gras, streckte alle viere in die Luft und rollte über trockenes Laub und Kastanien die Hänge hinab. Dann sprang sie wieder auf die Beine. Hopp! Schon sauste sie mit vorgerecktem Hals davon, durch Büsche und Sträucher, bald auf einen Gipfel, bald durch eine Schlucht, war mal oben, war mal unten, war überall. Man hätte glauben können, zehn von Monsieur Seguins Ziegen tobten durch die Berge. Und dann träumte ich, eine davon zu sein, selbst die großen blauen Glockenblumen, den purpurroten Fingerhut mit den langen Kelchen zu sehen, den ganzen Wald aus Wildblumen, aus denen die berauschendsten Säfte quollen.

Und wenn meine Mutter, manchmal auch mein Vater, mir die grausame Geschichte vorlas, weinte ich nicht wegen des großen, lauernden Wolfes, sondern wegen des plötzlich auffrischenden Windes.

Wegen der Berge, die sich im Abendlicht violett färbten.

Wegen des tragischen Adverbs, das Blanquette aussprach, des Adverbs, das die ganze Unmöglichkeit unserer Wünsche, die Illusion des ewigen Glücks offenbarte: schon.

Ich war sieben Jahre alt und wusste, dass es schon vorbei war; dass die Dinge, kaum gestreift, berührt, gekostet, schon verschwanden und nur eine Erinnerung, ein trauriges Versprechen zurückließen.

Fast dreiunddreißig Jahre später habe ich gehofft, wie die kleine Ziege von Daudet wenigstens bis zum Tagesanbruch durchzuhalten.

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Bis dahin hatten meine Tage mit der Wärme von Zärtlichkeiten begonnen – mit der Wärme der Sonne, der Hände meines Mannes, der Wärme meiner Scheide, einem Gebüsch mit dem zarten Geruch nach Erde.

Meine Tage begannen mit dem Lachen unserer Kinder an manchen Frühlingssonntagen oder ihren Rufen, wenn es draußen geschneit hatte und sie nicht zur Schule gehen, sondern lieber im Weißen toben, sich fallen lassen, in die feuchte Kälte sinken oder den größten Schneemann der Welt bauen wollten.

Meine bisherigen Tage waren die kleinen Kieselsteine eines wohlgeordneten Lebens gewesen, eines alten Versprechens, vorgezeichneten Bahnen zu folgen, vorgezeichnet von anderen, die an perfekte Wege oder wenigstens an tugendhafte Lügen glaubten. Meine künftigen Tage versprachen stürmisch zu werden.

Und einer von ihnen erschütternd.

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Müsste ich wie vor einem Gericht oder einem Arzt in wenigen Worten zusammenfassen, was ich ganz am Anfang verspürt habe, würde ich Worte wie Dringlichkeit, Taumel, Abgrund, Erregung wählen, und, so würde ich hinzufügen, Schmerz.

In gewisser Weise Schmerz.

Und für das Ende, für den unseligen und schönen Morgen, würde ich Frieden, Erleichterung wählen, auch Eitelkeit, Enteilen, Freiheit, Freude, würde ich von wahnsinnigem Verlangen sprechen, so, wie man von wahnsinniger Liebe spricht.

Ja. Vor allem wahnsinniges Verlangen.

68

Bondues.

Wir wohnten in einem großen weißen Haus am Golfplatz von Bondues, vierzehn Kilometer von Lille entfernt. Keine Hecken, kein Zaun trennte die Grundstücke voneinander. Deshalb sagte mein Mann nein, als unsere drei Kinder einen Hund haben wollten, zwei Stimmen für einen hellbraunen Labrador, eine für einen grauen Weimaraner. Sie versprachen, sich jeden Tag zu kümmern, Ehrenwort! Ehrenwort! Nein, denn der Hund würde weglaufen.

Schluchzend schlug Léa, unsere jüngste Tochter, vor, ihn draußen anzubinden.

Ich erzählte ihr von Blanquette mit ihren sanften Augen, ihrem Feldwebelbärtchen, ihren schwarz glänzenden Hufen, ihren gestreiften Hörnern und dem langen weißen Fell, das sie wie ein Mantel einhüllte, von der hübschen Ziege, die im finsteren Stall eingesperrt wurde und durch das offene Fenster entfloh. Léa zuckte mit den Schultern, stieß einen kleinen tragischen Seufzer aus, schon. »Aber wenn wir ihn lieben, hat er gar keinen Grund wegzulaufen.«

Mein Mann hatte mich weder angebunden noch eingesperrt, und trotzdem habe ich mich davongemacht.

Dabei liebte ich die Behaglichkeit unseres Hauses. Die Opernmelodien, die man dort hörte. Das Pfeifen des Windes, der manchmal Sandkörner aus den Bunkern hereintrug, und den milden Duft des moosdurchsetzten Rasens der Golfplätze. Ich liebte unseren alten Apfelbaum und seine wie aus Höflichkeit gesenkten Äste. Die Gerüche unserer Küche und sogar die der verkohlten Töpfe, in denen unsere Töchter regelmäßig Karamell anbrennen ließen. Ich liebte den beruhigenden, warmen Geruch meines Mannes. Seinen Blick auf meinem Mund, auf meiner Brust, seine Art, mich zu lieben, höflich, zuvorkommend, ehrlich und anständig, trotz der Höhen und Tiefen. Ich hatte seinen Mut geliebt, als er krank geworden war, seinen fehlenden Zorn bewundert und in dieser wilden Odyssee meine ungeahnte Kraft geschätzt.

Ich liebte unsere beiden Töchter und unseren Sohn und vor allem die Vorstellung, dass ich für sie töten, mit meinen Zähnen einem lebenden Tier sein Fleisch entreißen würde, wenn sie am Verhungern wären, dass ich jeder Finsternis widerstehen würde, damit sie keine Angst mehr hätten.

Schließlich liebte ich meine Mutter, trotz ihrer Scheuklappen und ihrer eleganten Depression. Ihre Art, meine Kinder in den Arm zu kneifen, um sicher zu sein, dass sie echt sind. Ich liebte es, jeden Tag ins Geschäft zu gehen, das glückliche Lächeln meiner Kundinnen zu sehen, während meine Hände die Geschenke einpackten und die Satinschleife mit der Schere kräuselten. Ich liebte auch den Stolz meines Mannes, wenn er alle sechs Wochen mit einem neuen Wagen nach Hause kam, und sein strahlendes Jungsgrinsen. Die Spritztour, zu der er uns dann einlud, manchmal bis ans Meer, Richtung Wimereux, Boulogne, Fécamp. Unsere Reiseträume zu fünft. Ich liebte die Schiffe und die Seekarten, die unsere Kinder mit langen wurmstichigen Stöcken in den Sand malten. Die Meere, die sie zeichneten, führten uns zu Inseln, wo kein Lärm der Welt tobte, kein Zweifel, kein neues Verlangen das gegenwärtige Glück zerstörte.

Ich liebte mein Leben.

Ich gehörte zu den glücklichen Frauen.

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Ich versuche, zu erklären, ich will nicht, dass man mir vergibt.

Ich werde im Laufe meiner Geschichte versuchen, der Alltäglichkeit eines Lebens zu danken.

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Noch nicht ganz vierzig. Hübsch, aber nicht umwerfend – obwohl, als ich neunzehn war und ein kurzes gelbes Kleid trug, ein Junge mit seinem Motorroller gegen einen Lieferwagen fuhr, weil er mich anstarrte.

Ordentliche Ehe, seit achtzehn Jahren.

Einige Wutausbrüche, wie bei all unseren Freunden. Zwei, drei zerbrochene Teller. Ein paar Nächte auf der Wohnzimmercouch. Versöhnung mit Blumenstrauß, »les mots tendres enrobés de douceur, sanfte Worte, gehüllt in Zärtlichkeit«, wie Dalida sang.

Riesige, unfassbare Freuden – die Geburt unserer Kinder, deren friedliche Kindheit, ohne den tollwütigen Biss eines hellbraunen Labradors oder grauen Weimaraners, ein Heranwachsen ohne sichtbare Verwüstung, abgesehen von dem Zusammenbruch, den jeder von uns erlebte, als mein Mann nach mehreren Wochen Krankenhaus mit kahlem Kopf nach Hause kam.

Léa rannte sofort in ihr Zimmer, holte braune, schwarze und graue Filzstifte und malte, eins nach dem anderen, Haare auf den Schädel ihres Papas.

Das Lachen kam zurück.

Damals arbeitete ich in einem kleinen Geschäft in der Altstadt von Lille, Kleidung für Kinder zwischen null und zwölf Jahren. Dann ist Schluss, dann haben die Mütter nichts mehr zu melden, wissen die Gören alles besser. Mein Mann Olivier leitete ein sehr großes Geschäft in Villeneuve-d’Ascq für Kinder zwischen achtzehn und achtundneunzig Jahren: eine BMW-Niederlassung.

Wir fuhren so etwas wie einen Rennwagen. Er war sehr stolz darauf. Nur fünf Liter auf hundert Kilometern, kannst du dir das vorstellen? (Nein). Dreihundertzweiundsechzig PS! (Echt?) Von null auf hundert in vier Sekunden! (Liebling, mir bleibt die Spucke weg.) An Ampelkreuzungen und auf Parkplätzen fragte man ihn über das Modell aus. Er bot eine Probefahrt an. Mit leuchtenden Augen versprachen die Leute zu kommen.

Er war ein brillanter Händler.

Er hatte mich überzeugt, dass ich die Frau seines Lebens sei, als ich mit einem anderen zusammen war. Genauer gesagt mit seinem besten Freund.

Sie blieben Freunde.

Ich erinnere mich an eine Hochzeit, zu der wir eingeladen waren, in Berru, bei Reims. Während des Abendessens verliebte sich die Braut in den Freund einer Brautjungfer. Sie verschwanden auf dem Motorrad in der Nacht. Man sah sie nie wieder.

Diese Flucht berührte mich, ich träumte lange davon.

Später überzeugte er mich, dass ich von Tag zu Tag schöner würde, trotz der Jahre, der schlaffer werdenden Haut, der Sinnlosigkeit der Anti-Aging-Produkte. Wenn er gewollt hätte, hätte er mir mühelos ein Auto verkauft, das ich absolut nicht brauchte.

Aber ich wollte zu Fuß losgehen, wenn die Zeit reif wäre.

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Claude Sautet.

Ich habe seine Filme immer geliebt. Seine weibliche Menschlichkeit. Die Kameraführung, der man wie dem Duft eines Frauenparfüms oder dem Alkoholrausch eines Mannes entlang der Theke einer Bar, einer verrauchten Kneipe folgt.

Sie führen zur Freude, zu einem neuen erschütternden Verlangen. Sie fangen Blicke ein, die viel über den gewaltigen Hunger der Frauen, die Sehnsucht der Körper offenbaren. Sie zeigen Hände, die mit verstörender Sinnlichkeit, geradezu verzweifelt, Zigaretten anzünden, elektrisierte, gierige Körper, die sich flüchtig berühren, Arme, die sich öffnen, Körper, die Anlauf nehmen, untertauchen und glücklich, manchmal erschöpft, wieder an die Oberfläche kommen.

Sie streifen die von Gloss und Bissen geschwollenen Lippen, das Lächeln, das Gelächter, stark wie Männerschultern, das ganze geräuschvolle und virtuose Leben, das Klappern des Bestecks auf den Porzellantellern, das Knallen der Weinkrüge aus grobem Glas auf den Tisch, das Klingeln eines Flippers im Hintergrund, der an ein arrhythmisches Herz erinnert, oder einer Jukebox – Hurricane Smith, Billy Paul oder Led Zeppelin und Philippe Sarde.

Da, in einer Kulisse, die einem Film von Sautet ähnelte, im Hochbetrieb eines Restaurants zur Mittagszeit, begleitet vom Klappern des Geschirrs und dem Stimmengewirr der Unterhaltungen, ist mein Leben gekippt.

Da habe ich diesen Mann gesehen.

Niemand, auch nicht die, die uns kannten, hätte ahnen können, dass ich den Verlauf seines Lebens für immer ändern würde, ebenso wenig hätte jemand vorhersehen können, dass ausgerechnet er mein Leben zum Entgleisen bringen würde.

Das Gesicht eines Mannes, der nicht merkt, dass eine Frau ihn anschaut, ihn geradezu begehrt, ist manchmal anrührend.

Dann spielt er keine Rolle, zeigt keine Pose – Verführung, Repräsentation, Zärtlichkeit oder Drohung –, sondern ist ganz in seiner Ehrlichkeit, seiner Nacktheit, wahrscheinlich einer gewissen Unschuld.

Dieses nackte, ehrliche Gesicht, das hinter einer weißen Baumwollserviette hervorkam, hat mich unendlich verwirrt, hat mich in einem Augenblick aus der Ruhe meines glücklichen Lebens, aus seinem beruhigenden Wohlbehagen gerissen und mich ganz dicht an ein neues Feuer geführt.

An den Funken des Verlangens.

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Ich bin wieder dort.

Er legt seine schwere Silbergabel hin und tupft sich mit der weißen Baumwollserviette behutsam den Mund ab, bevor er einen Schluck Wasser trinkt.

Zuerst sehe ich seinen Mund. Seine Lippen. Dann das Grübchen in seiner Wange. Mein Blick wandert an dem Grübchen entlang, eine Spur, die zu seinen Augen führt. Sie sind strahlend und hell, gesäumt von schwarzen, dichten Wimpern. Ich bin gebannt.

Plötzlich lacht er mit seinen Freunden. Ich höre sein Lachen nicht, weil er zu weit weg ist, ich sehe nur die aufscheinende Freude, die die Welt schöner macht, und eine unerwartete elektrische Entladung schießt in meinen Unterleib, verbrennt mich, öffnet mich; Kälte, Wind und alle Stürme stürzen sich in meine unsichtbare, meine ungeahnte Schwachstelle.

Alles in mir gerät in Panik.

Ich taumele.

Meine Finger bohren sich förmlich in das Holz des Tresens, um mich vor dem Sturz zu bewahren.

Meine erste Erregung als Halbwüchsige kommt wieder hoch, atemberaubend, vervielfacht durch mein Verlangen als Frau, meine Erfahrung mit dem Taumel.

Ich fühle mich schlecht.

Ich fühle mich verletzt, und noch heute, wo das alles stattgefunden hat, wo mein Körper und meine Seele entbrannt sind, um nie mehr zu erlöschen, bleibt die Erinnerung an diesen unbezwingbaren Ansturm des Verlangens das packendste Ereignis meines Lebens.

An jenem Tag hatte er mich nicht einmal gesehen.

An jenem ersten Tag.

Er war mit seinen Freunden weggegangen, ohne sich die Zeit für einen Kaffee zu nehmen. Sie hatten sich die Rechnung geteilt. Er hatte »bis morgen« gerufen, und am nächsten Tag war ich wiedergekommen.

Brasserie André. 71, Rue de Béthune.

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Die Sorte Mann, für die eine Frau alles aufgibt.

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Ich verzeichne hier die Ereignisse genau so, wie sie stattgefunden haben. Ich werde die Unbändigkeit meines Verlangens nicht kommentieren, sie ist gewiss auf der Seite des Göttlichen zu finden.

Ich will nur versuchen, die Mechanik der Katastrophe zu analysieren. Zu verstehen, warum ich später die Herzen derer, die ich liebte, für immer zerrissen habe.

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Ich glaube, dass man wegen einer kleinen inneren Leere in die Liebe stolpert. Wegen eines kaum wahrnehmbaren Freiraums. Eines nie befriedigten Hungers.

Das zufällige, mal charmante, mal brutale Auftauchen der Verheißung macht diese Kluft spürbar, lässt unsere Sehnsucht aufscheinen und stellt die als sicher und endgültig angesehenen Dinge wie Heirat, Treue, Mutterschaft in Frage; dieses unerwartete, geradezu mystische Auftauchen offenbart uns sogleich uns selbst, erschreckt uns auch, verleiht uns Flügel, schürt unseren Appetit, unseren Lebenshunger, denn plötzlich wird die Annahme, dass nichts für immer währt, ebenso zur Gewissheit wie die, dass wir keine Erinnerung, keine Liebkosung, keinen Geschmack von Haut oder Blut, kein Lächeln, kein rohes Wort, keine Anstößigkeit, keine Erniedrigung bewahren werden. Plötzlich entdecken wir, dass die Gegenwart die einzig mögliche Ewigkeit ist.

Es war die Kurzsichtigkeit meines Ehemanns und sein deshalb unendlich sanfter, wohlwollender Blick, die mich genährt, erfüllt und schöner gemacht hatten.

Es war die Art, wie dieser Mann in einem Restaurant in Lille seine Lippen sorgfältig mit einer weißen Serviette abtupfte, die Art, wie die Serviette geradezu sinnlich, wie ein fallendes Laken nach unten sank und seinen Mund wie eine saftige Erdbeere entblößte, die mir das Ausmaß meines Hungers bewusst machte.

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Ich wollte keinen Geliebten. Ich wollte einen Rausch.

59

Am nächsten Tag ging ich wieder in die Rue de Béthune.

Ich zögerte jedoch, ehe ich das Restaurant betrat, beinahe hätte ich darauf verzichtet. Ich war eine verheiratete Frau, eine glückliche Mutter; noch war ich eine geliebte Frau, eine treue Frau. Warum sollte ich mich einem Unbekannten nähern, versuchen, von ihm bemerkt zu werden? Weshalb dieses Prickeln in meinen Fingern? In meiner Brust?

Meine Mutter fand immer strenge Worte für solche Frauen. Sie sagte »Nichtswürdige«. Sie sagte »Perverse«, sagte »Bordsteinschwalbe«, weil Hure ein schmutziges Wort ist.

Ich ging hinein. Trotz des Banns. Trotz der Verachtung.

Ich erspähte ihn sofort, hinter den lauten Gästen, den diskreten Treffen, den unaufmerksamen Kellnern.

Diesmal war er allein, und unsere Blicke trafen sich.

Seiner richtete sich eher zufällig auf mich, instinktiv, wie wenn man sich beobachtet fühlt. Wie ein Tier.

Als er mein Gesicht sah, als er spürte, dass nichts ihn bedrohte, und meine Unruhe verstand, wurde er sanfter.

Ich senkte die Augen, und es kam mir vor, als röteten sich meine Wangen.

Die Röte des Geständnisses, schon.

Als ich wieder versuchte, seinen Blick zu treffen, lächelte er, glaube ich, aber ich bin mir heute nicht mehr sicher, vielleicht lächelte er auch etwas später, als ich eine Haarsträhne beiseiteschob, um mein Gesicht zu zeigen, wie man einen Knopf am Kleid öffnet, um die Blässe, die Zartheit der Haut zu enthüllen, eine Spur zu legen.

Plötzlich war etwas Raubtierhaftes zwischen uns. Etwas Geschmeidiges, Flüssiges.

Unsere Blicke spielten, als verfolgten sie einen unsichtbaren Gummiball: Sie richteten sich immer neben den Punkt, an dem man mit ihnen rechnete, wie ein Kribbeln auf der Schulter, am Hals, auf der Stirn, dem Ohr, der Wange, noch nicht auf dem Mund, noch nicht auf der Hand, dann prallte der Ball gegen andere Stellen, auf ein Ohrläppchen, den Rand eines Nasenflügels, Almásys Bosporus, und schließlich auf die Lippen und schließlich auf die Finger, und seine waren schmal und lang, und mir wurde heiß, und ich glaube, ihm wurde auch heiß, dann richteten sich meine Augen erneut auf seinen Mund, den er am ersten Tag so behutsam abgetupft hatte, ließen sich dort nieder, wie ein Kopf an einer Schulter, legten sich auf die vollen Lippen, in denen dickflüssiges Blut pulsierte, und ich bekam Lust, in diese Lippen zu beißen, Lust, dieses Blut zu trinken, Lust auf Spritzer, Spuren, Narben, ich bekam Lust, seinen Mund zu küssen, noch nicht ihn, noch nicht den Mann, nur, seinen Mund zu verschlingen.

Danach sah er mich nicht mehr an.

Lächelnd aß er sein Mittag zu Ende. Er trank ein paar Schluck Wein, bestellte einen Espresso, immer noch lächelnd. Er sagte Espresso, wie ein Italiener. Und das Lächeln war sein erstes Wort, und ich war eine begehrte Frau.

Verloren.

Dieses verwirrende Schweigen hat mich erst überflutet, dann erfüllt. Mir gefiel diese Unterbrechung. Die Leere. Mir gefiel es, einen Moment nichts mehr zu sein, nur eine Frau, die vor ihrer Teetasse und einem unberührten Stück Tagestorte an der Bar sitzt. Mir gefiel, dass er nicht aufstand, nicht zu mir kam, keine ersten banalen Worte sprach, ein Kaffee, das ist nett, vielen Dank, nein danke, ich trinke Tee, ich nehme keinen Zucker, ich achte auf meine Linie, lieben Sie Brahms?, Sie erinnern mich an jemand. Manchmal sind die ersten Worte, die einen überwältigen, brutal, ungeduldig und schön, ich würde gern mit Ihnen schlafen, ich würde gern von Ihrem Bauch trinken, ich würde gern mit Ihnen fliehen, Sie verschlingen. Aber man spricht sie nicht aus, sie verbergen sich im Schweigen, sind in den Blick eingeschrieben, der sich nicht mehr auf dich richtet und dich trotzdem besser errät als alles andere, besser als du selbst, in den abwesenden Blick, der dich sieht, dich schon bis ins Innerste kennt. Es ist ein fast schmerzhaftes Gefühl.

Genau da, als er mich nicht mehr angesehen hat, als seine Augen nicht mehr mit mir gesprochen haben und ich wieder nur eine Möglichkeit war, nur eine Frau unter vielen, genau da spürte ich, dass ich mich ihm hingeben würde, falls er mich darum bat, dass ich mich wie eine Besiegte ergeben, ihn meine Schatten erobern lassen und uns beide in seinem Verlangen verlieren würde.

Dann stand ich auf und ging hinaus, ich spürte seinen Blick nicht auf meinem Rücken, meinem Nacken, meinem Hintern, ich spürte kein Brennen, ich drehte mich nicht um und ich lächelte in mich hinein, so wie er sicher im selben Moment vor seinem Espresso, den Henkel der kleinen dicken und heißen Tasse zwischen seinen langen schmalen Fingern, von denen ich träumte, dass sie sich auf meinen Hals legten, ihn sanft umklammerten, bis zur Ekstase.

Bis zum Taumel.

Bis zum Verderben.

Draußen lief ich wie eine Betrunkene, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, zu rennen, zu fliehen, dem Wunsch, die Arme auszustrecken, um gerettet, dem angekündigten Untergang entrissen zu werden, und dem Wunsch, zu lachen und zu tanzen. Meine Tränen flossen, ich bekam zum ersten Mal Angst und mir wurde kalt, wie wenn man auf dem schmalen Grat eines Gipfels läuft und weiß, dass man in jedem Fall abstürzen wird.

Dass es vorbei ist.

58

Bei meinem Ehemann schlafen und an einen anderen denken.

Das Gewicht meines Mannes spüren. Sein Schnarchen hören und an einen anderen denken. Die Unruhe meines Mannes, sein Stöhnen, seinen inneren Aufruhr wahrnehmen und an einen anderen denken.

Das Klopfen meines Herzens und meiner Angst spüren. Hören, wie mein Blut strömt. Fühlen, wie meine Beine zittern. Meine Hand zum Zentrum meines Verlangens schieben und an einen anderen denken.

Mir auf die Lippen beißen, um zu schweigen, um den unbekannten Vornamen eines anderen zu zerreißen. Um ihn auszukosten wie einen Saft.

Der Orgasmus ist eine nächtliche Verirrung.

57

Meine Arbeit.

Ich war, glaube ich, für die Worte, die Bücher, die Noten und den Tanz geschaffen, für die nicht greifbaren Dinge, die das Dasein nähren, neue Perspektiven schaffen, andere Proportionen zeichnen, für all die Dinge, die unsere Mauern verschieben und unser Leben erweitern.

Als junges Mädchen träumte ich von Buchhandlungen, Filmarchiven oder einer Arbeit an der Oper, sogar als Platzanweiserin oder Programmverkäuferin, aber nach dem Studium an der Katholischen Uni, einem sechsmonatigen Praktikum in der Buchhandlung Furet du Nord und drei Wochen in der Buchhandlung Tirloy fand ich nur eine Stelle beim Finanzdienstleister Cofinoga.

Ich habe sie sofort gehasst.

Fast zwei Jahre lang verkaufte ich entsetzlich teuer Geld an Leute, die keins hatten und zweifellos niemals welches haben würden. Ich versprach ihnen mit honigsüßer Stimme und klopfendem Herzen das Blaue vom Himmel, verhieß ihnen bessere Tage mit diesem Sofa, jenem riesigen Flachbildschirm, kostbare Freiheit mit diesem Wagen, jenem Motorrad. Und als die Drohbriefe in ihren Briefkästen steckten, weil sie nichts mehr zurückzahlten, weil sie untergingen, weil sie schrien, ohne dass jemand sie hörte, und als das Wasser sehr schnell ihre Schreie ertränkte, schämte ich mich, eine dumpfe, ekelhafte, endgültige Scham; wegen dieser Scham griff ich nach dem Telefon und rief all meine Kunden an, um mich zu entschuldigen und ihnen zu raten, sich auf Artikel R 635-2 des Französischen Strafgesetzbuches zu berufen, gegen einen Kauf nach Nötigung zu klagen.

Ich ging weinend davon und kehrte nie zurück.

Knapp zehn Monate später wurde Manon geboren. Unsere erste Tochter. Eine leichte Geburt nach einer glücklichen, ruhigen Schwangerschaft, begleitet von Opern, die ich liebte, und von den damals neuen Romanen, Sijie, Carrère, Raspail, Maalouf, Claudel. Sie weckten manchmal eine diffuse Lust zu schreiben, aber meine drei Geburten in sechs Jahren, die Unersättlichkeit meines Mannes, wahrscheinlich auch einige Zweifel an meiner Begabung, später dann der Drang nach einer bezahlten Arbeit ließen diese Lust in Vergessenheit geraten. Ich habe nie darunter gelitten, denn Lesen ist auch Schreiben. Wenn man das Buch zugeschlagen hat, setzt man es fort.

Vor den Ereignissen, die den Lauf unserer Leben änderten, arbeitete ich also in einem Kinderbekleidungsgeschäft, anfangs als Vertretung auf Zeit, die sich dann aber in die Länge zog. Die Monate vergingen. Schließlich wurde es ein ganzes Jahr. Und noch eins. Mein Selbstwertgefühl schwand unerbittlich, weil ich mich in der Passivität des Lebens eingerichtet hatte, unfähig, es in die Hand zu nehmen, eingeschläfert von der Brandung der Mittelmäßigkeit. Ich verlor mich selbst. Ich erschöpfte mich darin, nicht fortzufliegen. Ich wurde blasser, und Olivier sorgte sich manchmal; dann sprach er davon, ein paar Tage zu verreisen, Spanien, Italien, die Seen, als würde deren Tiefe meine Wehmut verschlingen. Aber wir fuhren nicht weg, denn wir hatten die Kinder, denn es gab die Niederlassung, denn ich hatte schließlich meinen Frust hinuntergeschluckt, wie es mich meine Mutter gelehrt hatte. Im Stillen leiden – was für eine Selbstverleugnung!

Die Besitzerin des Geschäfts erkrankte an fibröser Knochendysplasie und konnte nicht mehr gehen, sie suchte einen Käufer. Mein Mann dachte daran, das Geschäft zu übernehmen, um mir eine Buchhandlung einzurichten, aber er fand die Fläche zu klein, den Standort zu riskant, während ich alles gewagt, sogar die Wände verschoben hätte.

An jenem Tag kam eine Dame herein und fragte nach etwas für ein Neugeborenes. Einen Jungen. Nichts Teures, es ist für den Enkel meiner Putzfrau, wissen Sie, ach ja, sie liebt lebhafte Farben. Sie kaufte ein weißes T-Shirt mit einer roten Tomate, ein kräftiges, fast leuchtendes Rot. Zwölf Euro. Allerhand. Bei Auchan bekommt man für diesen Preis noch einen Strampler dazu. Dann gehen Sie doch zu Auchan, Madame. Das ist mir zu weit, gestand sie müde.

Nachdem sie mit ihrem hübschen Geschenkpaket den Laden verlassen hatte, tippte ich einen Kündigungsbrief, druckte ihn aus, unterschrieb ihn und steckte ihn in einen Umschlag; ich schloss den Laden und ging zum Mittagessen in die Rue de Béthune, so wie ich es von nun an fast jeden Tag tun würde, bis zum Schluss. Unterwegs warf ich den Umschlag in einen Briefkasten, als würde ich mein Dasein über Bord werfen.

Ich wusste, es gab kein Zurück.

Der Mann aus der Brasserie André hatte in mir Dinge durcheinandergebracht, hatte Porzellan zerschlagen und Nöte wachgerüttelt, die durch die Ruhe meines Lebens betäubt gewesen waren.

Er hatte mich wieder angezündet.

Ein winziger Funken kann Tausende Hektar Wald entzünden, und ein einfacher Stein kann den Lauf eines Baches umleiten, ihn wild und fröhlich rauschen lassen.

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»Es scheint sogar, aber das bleibt unter uns, Gringoire, als hätte ein junger Gämsbock mit schwarzem Fell das Glück gehabt, Blanquette zu gefallen. Die beiden Verliebten verschwanden für ein Stündchen oder zwei im Wald, und wenn du wissen willst, was sie dort besprachen, frag die geschwätzigen Quellen, die unsichtbar durch das Moos rinnen.«

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Und wie eine geschwätzige Quelle formten seine Lippen später neue Worte, rein wie das klare Wasser der Berge, das sich zwischen den Steinen schlängelt: Er möge mein trauriges Gesicht. Er möge meine Melancholie.

Diese Wehmut berühre ihn am meisten.

»Die Zerbrechlichkeit eines Blattes im Wind«, sagte er. Sie mache ihm Lust, die Hand auszustrecken und nach mir zu greifen.

Plötzlich braucht er die Unbekannte in einem Restaurant, begehrt er sie. Sie wird zu einem Lebensinhalt, zur Lust auf Entführung.

Später sind seine Worte präzise. Ihre Abgründe ziehen mich an, ich brauche sie.

Meine Melancholie.

Sein Mund lächelt noch, schwebend verlasse ich das Restaurant. Ich fühle mich hungrig und verlockend.

Es gibt Männer, die dich hübsch finden, und andere, die dich hübsch sein lassen.

Weiter unten auf der Straße fange ich an zu tanzen.

54

Wenn ich ein Foto von ihm besäße, sähe man darauf einen groß gewachsenen Mann mit dunklem Haar, hellen Augen, langen, dichten Wimpern und hinreißenden Grübchen – aber das habe ich schon gesagt.

Man entdeckte eine elegante, geschmeidige Gestalt. Man erahnte unter der edlen Kleidung einen stabilen Körper, starke Arme und wahrscheinlich sogar ein angenehmes bisschen Speck um die Taille, eine sanfte Haut mit dem fernen Duft nach Kaffee, warmem Zucker, hellem Tabak und geschnittenem Gras. Man erblickte einen strahlenden, neugierigen und diskreten Mann. Man vermutete bei ihm zärtliche und präzise Gesten, und vielleicht glättete er auf dem Foto verträumt mit dem Mittelfinger eine Augenbraue; ein Hauch von Weiblichkeit. Man bewunderte einen Mann von klassischer, altersloser Schönheit, ernst und schelmisch zugleich; später ein für Falten und alles Glück, das sie offenbaren, geschaffenes Gesicht.

Bäte man die Betrachter des Bildes um ein Wort, ein einziges, um diesen Mann zu beschreiben, sein Wesen zu benennen, würde man immer wieder dasselbe hören, identisch und ernst, wie eine Welle am Fuß der Welt.

Charme.

53

Ich möchte von den Tränen erzählen.

Kurz nachdem ich damals bei Cofinoga meine Stellung aufgegeben hatte, brach ich auf dem Bürgersteig zusammen. Wie eine Marionette, der man plötzlich alle Fäden abgeschnitten hatte. Mein unaufhaltsamer Tränenfluss war erschreckend. Zwei Passanten boten mir Hilfe an. Ein dritter wollte die Feuerwehr rufen.

»Alles gut«, stammelte ich. »Olivier wird mich abholen. Olivier ist mein Mann.«

Ich hatte ihn ein paar Minuten zuvor angerufen, gerade bevor mich die Scham vernichtet hatte, die Lawine über mich hinweggegangen war und unsichtbare Wunden aufgerissen hatte. Er war mit seinen Verkäufern in einer Schulung. Als er meine Stimme hörte, ließ er alles stehen und liegen, sprang vermutlich in das schnellste der verfügbaren Autos und holte mich ab. Er stellte den Wagen halb auf den Bürgersteig, die Bremsen quietschten bedrohlich, wie bei den Polizisten in den amerikanischen Serien, nach denen unser Sohn süchtig ist. Er stürzte zu mir, nahm mich in die Arme, küsste mich und flüsterte voller Verzweiflung: »Sag mir, dass dir nichts fehlt, bitte, bitte, Emma.« Ich bat ihn nur, mich mitzunehmen. »Bring mich nach Hause, bitte.«

Ich weinte im Wagen weiter. Meine Tränen rannen die Scheibe hinunter. Ich versuchte, sie zu trocknen, aber meine nassen Hände verschmierten sie nur, anstatt sie wegzuwischen. Ich entschuldigte mich, dass ich einen nagelneuen Wagen schmutzig machte. Er lächelte. »Du kannst ihn so schmutzig machen, wie du willst, wenn es dir gut tut, das ist uns scheißegal, es ist nur eine Karre, da, warte!« Er spuckte vor sich auf die Windschutzscheibe, ich fing an zu lachen, er holte einen Filzstift aus der Tasche und fing an, das Armaturenbrett aus hellem Leder zu beschmieren, schrieb unsere Anfangsbuchstaben und malte ein Herz um sie herum, ich versuchte, seine Hand festzuhalten. »Olivier, du bist verrückt, hör auf!«, und er lachte, lachte, »das ist nur eine Karre, Emma, wichtig bist du, wichtig ist, dass es dir gut geht«, ich verschluckte meine Tränen, und unser beider Lachen verschmolz zu einem.

Die Vorstellung, jemandem Böses zu tun, der dir einmal so zu Hilfe geeilt ist, tut weh.

An dem Nachmittag fuhr Olivier nicht mehr ins Geschäft, obwohl er einen wichtigen Termin wegen eines Angebots für die Fahrzeugflotte eines Unternehmens hatte. Wir blieben in unserem gemütlichen Haus – es wurde noch gebaut, aber wir fühlten uns schon wohl – und lagen lange eng umschlungen auf dem Sofa.

Später goss er uns ein großes Glas Wein ein. Oppidum. Château Saint Baillon. Veilchenduft. Dann legte er die CD von Agrippina auf, die Händel-Oper, die ich so liebe, und als Ottone im dritten Akt seine Treue zu Poppea besang: »No, no, ch’io non apprezzo / Che te, mio dolce amor / Tu sei tutt’il mio vezzo / Tutt’il mio cor«, »Nein, nein, ich liebe nur dich, mein süßes Herz / Du bist mein ganzes Glück, nur dir gehört mein Herz«, und sie sich ihm endlich hingegeben hatte, fing ich wieder an zu weinen. Diesmal waren es andere Tränen, sanft, warm und dick. Es waren meine Tränen als Dreizehnjährige, als ich mit meiner Mutter die erste Oper im Radio hörte, Orpheus und Eurydike, und ich sah, wie sie beim Klang von Orpheus’ Kastratenstimme erschauerte.

Dann bat ich Olivier, mit mir zu schlafen. Er war brutal. Es ging schnell – wie bei einem ungeschickten Halbwüchsigen. Danach entschuldigte er sich.

»Du hast mir Angst gemacht.«

Diese Brutalität fällt mir jetzt wieder ein. Dieser Moment, als er mich verletzte, ohne dass die Wunde sofort sichtbar wurde.

Mir fällt noch ein anderer Moment der Tränen ein.

Ich bin zwanzig. Olivier ist vierundzwanzig.

Vor kurzem hat er mir die hübschen Dinge erzählt, die die Mädchenherzen weich werden lassen, hat er mich gepflückt wie eine blasse, noch nicht ganz aufgeblühte Blume.

Immer noch ziehen sich meine Schamlippen zusammen, wenn seine Lippen sie berühren. Ich habe die Augen geschlossen. Meine Hände wagen wenig, er lenkt sie. Ich entdecke die Beschaffenheit der Haut, die Kälte des Schauers, den warmen, kurzen Atem, das Salz am Hals, im Nacken, auf der Brust, und manchmal wird mir von den Düften schwindlig.

Aber an jenem Abend ist sein Gesicht weit unten an meinem Bauch, und seine Hände halten meine Pobacken fest, seine Nägel verletzen mich, als er mich plötzlich hochhebt und mich an seinen Mund führt, wie ein bauchiges Cognacglas. Er öffnet mich und trinkt mich, seine Zunge taucht ein, seine Zähne bohren sich in mein Fleisch, er tut mir weh, ich stoße ihn heftig zurück, aber sein Kopf wird noch schwerer, seine Bewegungen werden drängender, meine Finger klammern sich an seine Haare, ziehen daran, schieben ihn weg, aber er wehrt sich, er hört mich nicht, hört nicht auf das Fehlen meiner Lust, er macht weiter, gierig und kannibalisch; dann tauchen Bilder auf, die ich nicht mag, die uns nicht ähnlich sind, die nicht wir sind, das bin nicht ich, dieser aufgerissene, verschlungene Körper, das tut er nicht mir an, sondern der Vulva einer Frau, irgendeiner; das ist meine erste Demütigung, eine Verletzung, die die Zeit nicht heilen wird, Fleisch in seinem Mund gewesen zu sein, irgendwas, irgendwer.

Meine ersten Tränen mit meinem Mann flossen an diesem Tag.

52

Auf der Suche nach den Ursprüngen meiner Schwächen stelle ich mit Bitterkeit fest, dass unsere Leiden niemals tief genug versenkt, unsere Körper niemals groß genug sind, um all unsere Schmerzen in ihnen zu begraben.

51

Skrupel. Oder moralisches Feingefühl.