Alle meine Wünsche - Grégoire Delacourt - E-Book + Hörbuch

Alle meine Wünsche Hörbuch

Grégoire Delacourt

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Beschreibung

Eines Tages gewann Jo im Lotto ...

Jocelyne führt einen Kurzwarenladen im nordfranzösischen Arras. Die Kinder sind aus dem Haus, und Jos ganze Leidenschaft gilt ihrem Internet-Blog übers Sticken und Nähen. Sie liebt ihr kleines Leben, liebt sogar ihren ungehobelten Mann – bis durch einen Lottogewinn alles aus den Fugen gerät.

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Zeit:3 Std. 6 min

Sprecher:Julia Fischer

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Grégoire Delacourt

Alle meine Wünsche

Roman

Aus dem Französischenvon Claudia Steinitz

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe LA LISTE DE MES ENVIES erschien

2012 bei JC Lattès, Paris.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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ISBN 978-3-641-29344-4V001

Vollständige deutsche Taschenbuchausgabe 10/2022

Copyright © 2012, 2022 by éditiones Jean-Claude Lattès

Die Übersetzung der Verse aus Die Hochzeit des Figaro (S. 123)

stammt von Ragni Maria Gschwend

Copyright © 2012, 2022 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik Design, München,

unter Verwendung eines Motivs von Shutterstock.com/Kerly Violett

Satz: Dörlemann Satz, Lemförde

www.heyne.de

Inhalt

Das Buch

Der Autor

Alle meine Wünsche

Das Buch

»Reich sein heißt, immer alles zu sehen, was hässlich ist, weil man die Überheblichkeit besitzt zu glauben, dass man alles ändern kann. Dass man nur dafür bezahlen muss. Aber ich bin nicht reich. Ich besitze nur einen Scheck über achtzehn Millionen fünfhundertsiebenundvierzigtausenddreihunderteinen Euro und achtundzwanzig Cent, achtfach gefaltet, unter einer Einlegesohle versteckt. Ich besitze nur eine Versuchung. Die Möglichkeit eines anderen Lebens.«

Der Autor

Grégoire Delacourt wurde 1960 im nordfranzösischen Valenciennes geboren. Er arbeitete als Werbetexter und erntete schon mit seinem literarischen Debüt Der Dichter der Familie in Frankreich begeisterte Kritiken sowie renommierte Literaturpreise. Sein zweiter Roman Alle meine Wünsche war ein gefeierter Bestseller und erschien weltweit in zahlreichen Ländern. Grégoire Delacourt lebt mit seiner Familie in Paris.

Lieferbare Titel

Alle meine Wünsche

Im ersten Augenblick

Wir sahen nur das Glück

Alle Qualen sind erlaubt,

Alle Qualen sollen sein,

Man muss nur gehen,

Man muss nur lieben

Le Futur intérieur,

Françoise Leroy

Man lügt sich immer an.

Ich weiß zum Beispiel genau, dass ich nicht hübsch bin. Ich habe keine blauen Augen, in denen sich die Männer verlieren, in denen sie versinken wollen, damit man hinterherspringt und sie rettet. Ich habe keine Mannequin-Taille, ich bin eher drall, sogar füllig. Der Typ, der anderthalb Plätze braucht. Ich habe einen Körper, den die Arme eines mittelgroßen Mannes nicht ganz umfassen können. Ich habe nicht die Anmut der Frauen, denen man lange Sätze mit Seufzern als Satzzeichen ins Ohr flüstert, nein. Ich verleite eher zu kurzen Sätzen. Deftigen Bissen. Der Knochen des Verlangens ohne Schwarte, ohne das gemütliche Fett.

Das weiß ich alles.

Und trotzdem gehe ich manchmal, wenn Jo noch nicht zu Hause ist, hoch in unser Schlafzimmer und stelle mich vor den Spiegel unseres Kleiderschranks – ich muss ihn daran erinnern, den Schrank an der Wand zu befestigen, bevor er mich eines schönen Tages während meiner Kontemplation zerschmettert.

Ich schließe die Augen und ziehe mich langsam aus, so, wie mich noch nie jemand ausgezogen hat. Jedes Mal wird mir ein bisschen kalt und ich erschauere. Wenn ich ganz nackt bin, warte ich einen Moment, bevor ich die Augen öffne. Ich genieße. Lasse die Gedanken schweifen. Träume. Ich sehe die ergreifenden, schmachtenden Körper aus den Kunstbüchern vor mir, die bei meinen Eltern herumlagen; später dann die derberen Körper aus den Zeitschriften.

Dann hebe ich langsam, wie in Zeitlupe, die Lider.

Ich betrachte meinen Körper, meine schwarzen Augen, meine kleinen Brüste, meinen Schwimmring, meinen Wald aus dunklem Schamhaar, und finde mich schön; und ich schwöre Ihnen, in diesem Moment bin ich schön, sehr schön sogar.

Diese Schönheit macht mich zutiefst glücklich. Unglaublich stark.

Sie lässt mich alles Hässliche vergessen. Den ziemlich langweiligen Kurzwarenladen. Das Geschwätz und das Lotto von Danièle und Françoise – den Zwillingen, die den Salon Coiff ’Esthétique neben dem Kurzwarenladen führen. Diese Schönheit lässt mich alles Erstarrte vergessen. Wie das Leben ohne Geschichten. Wie diese entsetzliche Stadt ohne Flughafen, diese graue Stadt, aus der man nicht fliehen kann und in die nie jemand kommt, kein Herzensbrecher, kein weißer Ritter auf einem weißen Pferd.

Arras. Zweiundvierzigtausend Einwohner, vier Shoppingcenter, elf Supermärkte, vier Fast-Foods, ein paar mittelalterliche Straßen, eine Tafel in der Rue du Miroir-de-Venise, die Passanten und Vergessliche darauf hinweist, dass hier am 24. Juli 1775 Eugène-François Vidocq geboren wurde. Und mein Kurzwarenladen.

So nackt und schön vor dem Spiegel kommt es mir vor, als müsste ich nur mit den Armen schlagen, um leicht und anmutig davonzufliegen. Damit sich mein Körper zu denen der Kunstbücher gesellt, die im Haus meiner Kindheit herumlagen. Dann wäre er genauso schön wie sie, für immer.

Aber ich traue mich nie.

Jedes Mal überrascht es mich, wenn ich Jo nach Hause kommen höre. Ein Riss in der Seide meines Traums. Ich ziehe mich hastig wieder an. Schatten bedecken die Klarheit meines Körpers. Ich weiß um die seltene Schönheit unter meinen Kleidern. Aber Jo sieht sie nie.

Einmal hat er mir gesagt, ich sei schön. Es ist ewig her, ich war gerade Anfang zwanzig. Ich war hübsch angezogen, ein blaues Kleid, ein vergoldeter Gürtel, ein Hauch von Dior; er wollte mit mir schlafen. Sein Kompliment siegte über mein hübsches Kleid.

Sie sehen, man lügt sich immer an.

Weil die Liebe die Wahrheit nicht ertragen könnte.

Jo, das ist Jocelyn. Mein Ehemann seit einundzwanzig Jahren.

Er ähnelt Venantino Venantini, dem schmucken Kerl, der in Scharfe Sachen für Monsieur Mickey den Stotterer und in Mein Onkel, der Gangster Pascal den Killer spielte. Entschlossenes Kinn, finsterer Blick, italienischer Akzent, bei dem man dahinschmilzt, Sonne, gebräunte Haut, ein Gurren in der Stimme, von dem die Gänschen Gänsehaut bekommen, nur dass mein Jocelyno Jocelyni zehn Kilo mehr hat und sein Akzent die Mädchen weiß Gott nicht dahinschmelzen lässt.

Er arbeitet bei Häagen-Dazs, seit der Eröffnung des Werks 1990. Er verdient 2400 Euro im Monat. Er träumt von einem Flachbildschirm anstelle unseres alten Radiola-Fernsehers. Von einem Porsche Cayenne. Von einem Kamin im Wohnzimmer. Von der kompletten Sammlung der James-Bond-Filme auf DVD. Von einem Seiko-Chronograph. Und von einer schöneren und jüngeren Frau; aber das sagt er mir nicht.

Wir haben zwei Kinder. Eigentlich drei. Einen Jungen, ein Mädchen und eine Leiche.

Romain wurde an dem Abend gezeugt, als Jo mir gesagt hat, dass er mich schön findet, und als ich wegen dieser Lüge den Kopf, mein Kleid und meine Unschuld verlor. Die Chance lag bei eins zu x-tausend, dass ich beim ersten Mal schwanger werde, und mich hat es getroffen. Nadine kam zwei Jahre später, und seither habe ich nie mehr mein Idealgewicht wiedergewonnen. Ich bin dick geblieben, so etwas wie eine leere Schwangere, ein mit nichts gefüllter Ballon.

Eine Luftblase.

Jo hat aufgehört, mich schön zu finden, mich anzufassen; er hat angefangen, abends vor dem Radiola rumzuhängen und das Eis zu essen, das sie ihm in der Fabrikgaben, dann »33«-Export-Bier zu trinken. Und ich habe mir angewöhnt, allein einzuschlafen.

In einer Nacht hat er mich geweckt. Er war ganz hart. Er war betrunken, er weinte. Da habe ich ihn in mich aufgenommen, und in dieser Nacht hat sich Nadège in meinen Bauch geschlichen und ist in meinem Fleisch und meinem Kummer ertrunken. Als sie acht Monate später herauskam, war sie blau. Ihr Herz war stumm. Aber sie hatte entzückende Nägel, sehr lange Wimpern, und ich bin sicher, dass sie hübsch war, obwohl ich die Farbe ihrer Augen nie gesehen habe.

Am Tag von Nadèges Geburt, der auch der Tag ihres Todes war, hat Jo aufgehört, Bier zu trinken. Er hat in unserer Küche Geschirr zerschlagen. Er hat geschrien. Er hat gesagt, das Leben sei zum Kotzen, das Leben sei eine Hure, eine gottverdammte Hure. Er hat gegen seine Brust, seine Stirn, sein Herz und die Wände getrommelt. Er hat gesagt: Ein Leben ist zu kurz. Ist ungerecht. Man muss es ausnutzen, Scheiße noch mal, weil man keine Zeit hat; mein Baby, hat er hinzugefügt und Nadège gemeint, meine kleine Tochter, wo bist du? Wo bist du, mein Schatz?

Romain und Nadine sind verschreckt in ihre Zimmer gerannt, und Jo hat an diesem Tag angefangen, von den schönen Dingen zu träumen, die das Leben süßer und den Schmerz weniger stark machen. Flachbildschirm. Porsche Cayenne. James Bond. Und eine hübsche Frau. Er war traurig.

Mich haben meine Eltern Jocelyne genannt.

Die Chance lag bei eins zu Millionen, dass ich einen Jocelyn heirate, und mich musste es treffen. Jocelyn und Jocelyne. Martin und Martine. Louis und Louise. Laurent und Laurence. Raphaël und Raphaëlle. Paul und Paule. Michel und Michèle. Eins zu Millionen.

Und mich hat es getroffen.

Ich habe den Kurzwarenladen im Jahr meiner Hochzeit mit Jo übernommen.

Ich hatte schon zwei Jahre dort gearbeitet, als der Eigentümerin ein Knopf in der Kehle stecken blieb, auf dem sie herumbiss, um sich zu überzeugen, dass er wirklich aus Elfenbein war. Der Knopf glitt über die feuchte Zunge, kroch zum Kehlkopf, griff ein Schlundschnürerband an und verzog sich in die Luftröhre; weil der Knopf alles verstopfte, hörte sich Madame Pillard nicht mal ersticken, ebenso wenig wie ich.

Das Geräusch eines Sturzes rief mich herbei.

Der Körper riss im Zusammenbrechen die Knopfschachteln mit sich; achttausend Knöpfe rollten durch den kleinen Laden, und das war das Erste, was ich dachte, als ich das Drama entdeckte: Wie viele Tage und Nächte würde ich damit verbringen, auf allen vieren die achttausend Zierknöpfe, Metallknöpfe, Holzknöpfe, Kinderknöpfe, Haute-Couture-Knöpfe usw. zu sortieren?

Der Adoptivsohn von Madame Pillard kam aus Marseille zur Beisetzung, er schlug mir vor, den Laden zu übernehmen, die Bank war einverstanden, und am 12.März 1990 kam ein feinsinniger Maler und schrieb Kurzwaren Jo, vormals Maison Pillard auf den Giebel und die Tür des kleinen Ladens. Jo war stolz. Kurzwaren Jo, sagte er und streckte die Brust vor, als hätte man ihn ausgezeichnet, Jo, Jo bin ich, das ist mein Name!

Ich sah ihn an und fand ihn schön, und ich dachte, dass ich Glück hatte, ihn zum Mann zu haben.

Dieses erste Ehejahr war großartig. Der Laden. Jos neue Arbeit in der Fabrik. Und die bevorstehende Geburt von Romain.

Aber bis heute ist der Laden nie besonders gut gelaufen. Ich kämpfe gegen die Konkurrenz von vier Shoppingcentern und elf Supermärkten, die ruchlosen Preise des Kurzwarenhändlers auf dem Samstagsmarkt, die Krise, die die Menschen ängstlich und geizig macht, und die Trägheit der Frauen von Arras, die die Leichtigkeit des Prêt-à-porter der Kreativität des Selbstgenähten vorziehen.

Im September werden gewebte Etiketten zum Annähen oder Aufbügeln bestellt; ein paar Reißverschlüsse, Nadeln und Faden, falls man lieber die Sachen des letzten Jahres reparieren will, als neue zu kaufen.

Vor Weihnachten Schnittmuster für Kostümfeste. Die Prinzessin bleibt der Verkaufsschlager, gefolgt von Erdbeere und Kürbis. Bei den Jungen läuft der Pirat gut, im letzten Jahr waren alle ganz verrückt nach dem Sumo-Ringer.

Dann ist bis zum Frühling Ruhe. Ein paar Nähkästen, zwei oder drei Nähmaschinen und Stoff vom Meter. Während ich auf ein Wunder warte, mache ich Handarbeiten. Meine Strickwaren verkaufen sich ganz gut. Vor allem Schlafsäckchen für Neugeborene, Schals und gehäkelte Baumwollpullover.

Zwischen zwölf und zwei Uhr schließe ich den Laden und gehe nach Hause, um allein zu essen. Wenn das Wetter schön ist, sitze ich manchmal mit Danièle und Françoise auf der Terrasse des Estaminet oder des Café Leffe auf der Place des Héros und esse einen Croque.

Die Zwillinge sind hübsch. Ich weiß schon, dass sie mich benutzen, um ihre schlanken Taillen, ihre langen Beine und ihre entzückend scheuen, hellen Rehaugen zur Geltung zu bringen. Sie lächeln die Männer an, die allein oder zu zweit essen, sie kokettieren und manchmal gurren sie. Ihre Körper senden Botschaften aus, ihre Seufzer sind eine Flaschenpost, und manchmal fischt ein Mann eine auf, für einen Kaffee, ein geflüstertes Versprechen, eine Enttäuschung – den Männern fehlt es so schrecklich an Phantasie; dann wird es Zeit, unsere Läden wieder aufzumachen. Immer in diesem Moment, auf dem Rückweg, kommen unsere Lügen ans Tageslicht.

Ich habe die Nase voll von dieser Stadt, sagt Danièle, ich habe das Gefühl, in einer Geschichtsbroschüre zu leben, arrrrr, ich ersticke, in einem Jahr bin ich weit weg, in der Sonne, ich lasse mir die Brüste neu machen.

Wenn ich Geld hätte, fügt Françoise hinzu, würde ich alles stehen- und liegenlassen, von heute auf morgen. Und du, Jo?

Ich wäre schön und schlank, und niemand würde mich mehr anlügen, nicht mal ich. Aber ich antworte nicht, ich beschränke mich darauf, die hübschen Zwillinge anzulächeln. Zu lügen.

Wenn wir keine Kundinnen haben, bieten sie mir immer eine Maniküre oder eine Föhnfrisur oder eine Maske oder ein Schwätzchen an, wie sie sagen. Ich stricke ihnen dafür Mützen oder Handschuhe, die sie nie tragen. Dank ihnen bin ich zwar rund, aber gepflegt, manikürt; ich bin auf dem Laufenden über die Affären der einen und der anderen, die Probleme von Denise im Maison du Tablier mit dem tückischen Wacholderschnaps und seinen 49 Prozent, von der Schneiderin bei Charlet-Fournie, die zwanzig Kilo zugenommen hat, seit sich ihr Mann in den Shamponneur bei Jean-Jac verknallt hat, und wir haben alle drei das Gefühl, die drei wichtigsten Personen der Welt zu sein.

Jedenfalls von Arras.

Wenigstens von unserer Straße.

So weit. Ich bin siebenundvierzig.

Unsere Kinder sind aus dem Haus. Romain ist in Grenoble, im zweiten Lehrjahr einer Handelsschule. Nadine ist in England, sie macht Babysitting und Videofilme. Ein Film von ihr wurde bei einem Festival gezeigt, sie hat einen Preis gewonnen, und seither haben wir sie verloren.

Zum letzten Mal haben wir sie Weihnachten gesehen.

Als ihr Vater sie gefragt hat, was sie macht, hat sie eine kleine Kamera aus ihrer Tasche geholt und an den Radiola angeschlossen. Nadine mag die Worte nicht. Sie spricht sehr wenig, seit sie spricht. Sie hat zum Beispiel nie gesagt: Maman, ich habe Hunger. Sie ist aufgestanden und hat sich was zu essen genommen. Sie hat nie gesagt: Ich muss dir mein Gedicht, meine Aufgaben, mein Einmaleins aufsagen. Sie behielt ihre Worte in sich, als wären sie kostbar. Wir vereinigten unser Schweigen, sie und ich: Blicke, Gesten, Seufzer anstelle von Subjekt, Verb, Objekt.

Auf dem Bildschirm erschienen Schwarzweißbilder von Zügen, Gleisen, Weichen; am Anfang war es ganz langsam, dann wurde es allmählich schneller, die Bilder überlagerten sich, der Rhythmus wurde berauschend, faszinierend; Jo stand auf und holte sich ein alkoholfreies Bier aus dem Kühlschrank; ich konnte die Augen nicht vom Bildschirm lösen, meine Hand griff nach der meiner Tochter, Subjekt, Wellen durchströmten meinen Körper, Verb, Nadine lächelte, Objekt. Jo gähnte. Ich weinte.

Als der Film zu Ende war, sagte Jo: In Farbe, mit Ton und auf einem Flachbildschirm wäre dein Film nicht schlecht, Töchterchen, und ich sagte: Danke, danke, Nadine, ich weiß nicht, was du mit deinem Film sagen willst, aber ich habe wahrhaftig etwas empfunden. Sie zog den Stecker der kleinen Kamera aus dem Radiola und flüsterte, während sie mich ansah: Ich habe den Bolero von Ravel in Bilder umgesetzt, Maman, damit die Tauben ihn hören können.

Dann drückte ich meine Tochter an mich, an meinen schlaffen Körper, und ließ meine Tränen fließen, weil ich ahnte, auch wenn ich nicht alles verstand, dass sie in einer Welt ohne Lügen lebte.

Für die Zeit dieser Umarmung war ich eine glückliche Mutter.

Romain kam später, zum Baumstammkuchen und den Geschenken. Er hatte ein Mädchen am Arm. Er hat mit seinem Vater Tourtel getrunken und sich beschwert: Das ist doch Eselspisse, dieses Zeug, hat er gesagt, und Jo hat ihn zum Schweigen gebracht mit einem bösen: Ja, dann frag doch Nadège, was das Gesöff macht, sie wird es dir erklären, Idiot, dummer kleiner Idiot. Dann hat das Mädchen