Das Licht ferner Tage - Arthur C. Clarke - E-Book

Das Licht ferner Tage E-Book

Arthur C. Clarke

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Beschreibung

Wurmloch-Spione

Im 22. Jahrhundert fand eine der größten technologischen Revolutionen in der Geschichte der Menschheit statt, nach der nichts mehr so ist, wie es einmal war: Physikern ist es gelungen, stabile Wurmlöcher zu erzeugen, durch die man praktisch jeden Ort auf der Erde zu jeder Zeit überwachen kann – auch in der Vergangenheit. Jegliche Privatsphäre fiel dieser Technik sofort zum Opfer. Doch es ist kein übermächtiger Staat, der sich der neuen Technologie bemächtigt, sondern die Reichen der Erde, die ihre voyeuristischen Gelüste befriedigen. Nur eine kleine Gruppe stellt sich der totalen Überwachung entgegen...

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ARTHUR C. CLARKE

STEPHEN BAXTER

 

 

 

DAS LICHT

FERNER TAGE

 

Roman

 

 

 

 

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Das Buch

Im 22. Jahrhundert fand eine der größten technologischen Revolutionen in der Geschichte der Menschheit statt, nach der nichts mehr so ist, wie es einmal war: Physikern ist es gelungen, stabile Wurmlöcher zu erzeugen, durch die man praktisch jeden Ort auf der Erde zu jeder Zeit überwachen kann – auch in der Vergangenheit. Jegliche Privatsphäre fiel dieser Technik sofort zum Opfer. Doch es ist kein übermächtiger Staat, der sich der neuen Technologie bemächtigt, sondern die Reichen der Erde, die ihre voyeuristischen Gelüste befriedigen. Nur eine kleine Gruppe stellt sich der totalen Überwachung entgegen …

 

 

 

 

Die Autoren

Arthur C. Clarke war einer der bedeutendsten Autoren der internationalen Science Fiction. Geboren 1917 in Minehead, Somerset, studierte er nach dem Zweiten Weltkrieg Physik und Mathematik am King's College in London. Zugleich legte er mit seinen Kurzgeschichten und Romanen den Grundstein für eine beispiellose Schriftsteller-Laufbahn. Neben zahllosen Sachbüchern zählen zu seinen größten Werken die Romane »Die letzte Generation« und »2001 – Odyssee im Weltraum«, nach dem Stanley Kubrick seinen legendären Film drehte. Clarke starb im März 2008 in seiner Wahlheimat Sri Lanka.

 

Stephen Baxter, 1957 in Liverpool geboren, studierte Mathematik und Astronomie, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Er zählt zu den international bedeutendsten Autoren wissenschaftlich orientierter Literatur. Etliche seiner Romane wurden mehrfach preisgekrönt und zu internationalen Bestsellern. Stephen Baxter lebt und arbeitet im englischen Buckinghamshire.

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Titel der Originalausgabe
THE LIGHT OF OTHER DAYS
Aus dem Amerikanischen von Martin Gilbert
Überarbeitete Neuausgabe Copyright © 2001 by Arthur C. Clarke and Stephen Baxter Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

 

 

 

Für Bob Shaw

 

 

 

Ich frage mich manchmal, ob Dinge, die wir mit großer Intensität verspürt haben, einen Wesensgehalt jenseits unsres Bewusstseins oder gar eine Existenz besitzen? Und ob, falls dem so ist, jemals eine Vorrichtung erfunden wird, mit der ein Zugriff auf diese Dinge möglich wäre … Anstatt mich an eine Szene hier und an einen Klang da zu erinnern, werde ich einen Stecker in die Wand stöpseln und mich in die Vergangenheit einschalten.

 

– Virginia Woolf (1882–1941)

Prolog

 

Bobby betrachtete die majestätische Erdkugel in ihrem Käfig aus silbernem Licht.

Grüne und blaue Finger stachen in die neu entstandenen Wüsten Asiens und des Mittelwestens der Vereinigten Staaten von Amerika. Künstliche Riffe glitzerten in der Karibik. Das helle Blau hob sich gegen das Königsblau des tiefen Ozeans ab. Große filigrane Maschinen erhoben sich über den Polen und versuchten, die Atmosphäre zu regenerieren. Die Luft war klar wie Glas, denn heutzutage bezog die Menschheit ihre Energie direkt aus dem Kern der Erde.

Und Bobby wusste, dass er, wenn ihm der Sinn danach stand, mit einer bloßen Willensanstrengung in die Zeit zurückzuschauen vermochte.

Er sah, wie auf der Oberfläche der geduldigen Erde Städte aufblühten, verfielen und wie rostiger Tau wieder verschwanden. Er sah, dass sich ganze Arten wie Blätter zu Knospen zusammenrollten, degenerierten und vergingen. Er schaute den langsamen Tanz der Kontinente, während die Erde die urzeitliche Wärme im eisernen Herzen speicherte. Die Gegenwart war eine schillernde Blase aus Leben und Bewusstsein, in der die Vergangenheit eingeschlossen war wie ein in Bernstein konserviertes Insekt.

Für eine lange Zeit hatte jetzt auf dieser prosperierenden Erde eine Menschheit mit biomechanischen Hilfsmitteln und einem reichen Wissensfundus in Frieden gelebt: Ein Friede, der noch unvorstellbar gewesen war, als er geboren wurde.

Und all das war dem Ehrgeiz eines einzigen Menschen entsprungen – eines verdorbenen, unvollkommenen Menschen, eines Menschen, der nicht im Entferntesten geahnt hatte, wohin seine Träume einmal führen würden.

Wirklich bemerkenswert, sagte er sich.

Bobby schaute in die Vergangenheit und in sein Herz.

 

 

 

EINS

 

 

 

DAS GOLDFISCH-GLAS

 

 

 

Wir … wissen, wie grausam die Wahrheit oft ist, und wir fragen uns, ob die Illusion nicht vielleicht tröstlicher sein könnte.

 

– Henri Poincaré (1854–1912)

1

Die Casimir-Maschine

 

Kurz nach Anbruch der Dämmerung stieg Vitali Keldys schwerfällig ins Auto und aktivierte den SmartDrive. Das Fahrzeug entfernte sich vom heruntergekommenen Hotel.

Die Straßen von Leninsk waren leer, der Straßenbelag rissig, und viele Fenster hatte man mit Brettern vernagelt. Er erinnerte sich an die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts, als dieser Ort seinen Höhepunkt erlebt hatte: Damals war er eine aufstrebende Wissenschafts-Stadt mit einer Bevölkerung von etwa dreißigtausend Menschen gewesen, mit Schulen, Kinos, einem Schwimmbad, einem Sportstadion, Cafés, Restaurants und Hotels, sogar mit einem eigenen Fernsehsender.

Als er die Stadt auf der Ausfallstraße nach Norden verließ, sah er das alte blaue Schild mit dem weißen Richtungspfeil: NACH BAIKONUR. Dieser alte Deckname wurde noch immer benutzt. Und noch immer bauten im Herzen von Asien russische Ingenieure Raumschiffe und schossen sie in den Himmel.

Aber nicht mehr lange, sagte er sich traurig.

Schließlich ging die Sonne auf und überblendete die Sterne – außer einem, dem hellsten. Er zog gemessen und dennoch unnatürlich schnell am südlichen Himmel seine Bahn. Es war die Ruine der Internationalen Raumstation: Sie war 2010 nach dem Absturz eines maroden Space Shuttles aufgelassen und nie fertiggestellt worden. Die Station umkreiste noch immer die Erde wie ein ungebetener Gast einer Party, die längst ihr Ende gefunden hatte.

Die Landschaft außerhalb der Stadt wirkte trostlos und öde. Er kam an einem Kamel vorbei, das geduldig am Straßenrand stand, und an einem alten verhutzelten Mütterchen, gehüllt in Lumpen. Das war eine Szene, wie sie sich in den letzten tausend Jahren wohl jederzeit hätte abspielen können, sagte er sich – als ob die politischen, technischen und sozialen Umwälzungen, die über dieses Land hinweggegangen waren, gar nicht stattgefunden hätten. Was der Wahrheit vielleicht auch ziemlich nahe kam.

Im Licht der aufgehenden Sonne dieses Frühlingsmorgens war die Steppe jedoch grün und mit gelben Blumen übersät. Er ließ das Fenster herunter und versuchte den würzigen Duft zu schnuppern, an den er sich noch so gut erinnerte. Doch die Nase war durch den Zigarettenqualm desensibilisiert, so dass sie für die Wohlgerüche der Natur nicht mehr empfänglich war. Er verspürte einen Anflug jener Melancholie, wie sie ihn zu dieser Zeit des Jahres immer überkam. Das Gras und die Blumen würden bald wieder vergangen sein: Der Steppen-Frühling war kurz, allzu kurz – wie das Leben selbst.

Schließlich erreichte er das Testgebiet.

Es war ein Ort, wo Stahltürme und Betonkuppeln in den Himmel ragten. Das Kosmodrom, das weitaus größer war als die westlichen Pendants, erstreckte sich über Tausende von Quadratkilometern dieses weiten Landes. Einen großen Teil des Geländes hatte man inzwischen aufgegeben. Die Starttürme, die noch nicht zur Verschrottung abtransportiert worden waren – mit oder ohne behördliche Genehmigung –, rosteten stumm vor sich hin.

Doch an diesem Morgen herrschte zumindest an einer Rampe rege Betriebsamkeit. Er sah Techniker in Schutzanzügen und mit orangefarbenen Helmen sich um den großen Startturm drängen.

Eine Lautsprecherstimme hallte über die Steppe. »Gotovnosty desjat' minut.« Zehn Minuten und abnehmend.

Der Fußmarsch vom Auto zur Zuschauertribüne ermüdete ihn, obwohl der Weg gar nicht so lang war. Er versuchte das Hämmern des geschwächten Herzens zu ignorieren, den Schweiß am Hals und auf der Stirn, die Atemnot und die Gicht im Arm.

Als er seinen Platz einnahm, wurde er von den bereits Anwesenden begrüßt. Es handelte sich um die korpulenten und selbstgefälligen Männer und Frauen, die in diesem neuen Russland, wo die Grenzen zwischen Staatsmacht und Unterwelt fließend geworden waren, ihr Süppchen kochten. Auch die jungen Techniker mit dem hageren Gesicht der jungen Generation waren da; dem Ausdruck jenes Hungers, der das Land seit dem Untergang der Sowjetunion heimsuchte.

Er nahm die Begrüßung zur Kenntnis und war froh, in isolierter Anonymität zu versinken. Die Männer und Frauen dieser harten Zeit interessierten sich weder für ihn noch für seine Erinnerungen an eine bessere Vergangenheit.

Genauso wenig interessierten sie sich für das, was hier gleich geschehen würde. Ihre Gespräche handelten vielmehr von weit entfernten Ereignissen: Von Hiram Patterson und seinen Wurmlöchern und seinem Versprechen, die Erde so transparent wie Glas zu machen.

Vitali sah auf den ersten Blick, dass er der Älteste hier war. Womöglich war er sogar der letzte Überlebende der alten Zeit. Dieser Gedanke verschaffte ihm eine gewisse Genugtuung.

Und wirklich waren seit dem Start der ersten Molnija – der Satelliten mit dem Namen ›Blitz‹ – im Jahr 1965 schon siebzig Jahre vergangen. Die Ereignisse waren in Vitalis Bewusstsein noch so präsent, als seien erst siebzig Tage vergangen, seit die Armee junger Wissenschaftler, Raketeningenieure, Techniker, Arbeiter, Köche, Zimmerleute und Maurer in diese öde Steppe gekommen war. Das mit wenig mehr als Engagement und Korolevs Genie gerüstete Personal hatte in Hütten und Zelten gehaust, abwechselnd geschwitzt und gefroren und gleichzeitig die ersten Raumschiffe der Menschheit gebaut und gestartet.

Die Konstruktion der Molnija-Satelliten war genial gewesen. Korolevs große Booster waren nicht in der Lage gewesen, einen Satelliten in den geostationären Orbit zu befördern, wo er in sechsunddreißig Kilometern Höhe immer über demselben Punkt der Erdoberfläche geschwebt hätte. Stattdessen schickte Korolev seine Satelliten auf elliptische Acht-Stunden-Trajektorien. Mit solchen sorgfältig gewählten Orbits vermochten drei Molnijas den größten Teil der Sowjetunion abzudecken. Für Jahrzehnte hatten die UdSSR und dann Russland Konstellationen von Molnijas in den exzentrischen Orbits gehalten und damit den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zusammenhalt des weiten Landes gewährleistet.

Vitali betrachtete die Molnija-Kommunikationssatelliten als Korolevs größte Errungenschaft. Sie übertraf sogar die konstruktiven Leistungen, die den Start von Robotern und Menschen ins All ermöglicht hatten, die Landung von Sonden auf Mars und Venus und den um ein Haar gewonnenen Wettlauf mit den Amerikanern zum Mond.

Nun bestand wohl kein Bedarf mehr für diese wundervollen Vögel.

Der Startturm rollte zurück, und die letzten Stromkabel fielen wie sich windende schwarze Schlangen herunter. Die schlanke Form des Boosters wurde enthüllt: Ein ›fliegender Bleistift‹ mit der barocken Verrippung, die typisch war für Korolevs alte, wundervolle und absolut zuverlässige Konstruktionen. Obwohl die Sonne im Zenit stand, wurde die Rakete in brillantes Kunstlicht getaucht und von Dampf umwabert, den die kryogenen Brennstofftanks ausdünsteten.

Tri … Dva … Odin … Zažiganie!

Zündung …

 

Als Kate Manzoni sich dem OurWorld-Werksgelände näherte, fragte sie sich, ob sie das Privileg einer Dame, sich zu verspäten, etwas überreizt hatte. Sie hatte ihr Erscheinen bei diesem spektakulären Ereignis hinausgezögert, um den Anblick des Himmels über dem Staat Washington zu genießen, der von Hiram Pattersons ›Lichtorgel‹ in ein prächtiges Lichtermeer verwandelt wurde.

Kleine Flugzeuge kreuzten am Himmel und versprühten eine Staubwolke – bestimmt umweltverträglich –, auf die Laser virtuelle Bilder einer sich drehenden Erdkugel zeichneten. Alle paar Sekunden wurde die Kugel durchsichtig und präsentierte das im Kern eingebettete OurWorld-Firmenlogo. Das alles war schön kitschig und nur dazu angetan, die natürliche Schönheit des weiten, klaren Nachthimmels zu beeinträchtigen.

Sie machte das Fahrzeugdach transparent, und Nachtbilder zogen durch ihr Blickfeld.

Eine Drohne, bei der es sich um die Nachbildung einer langsam rotierenden Erdkugel handelte, hing über dem Wagen. »Diese Richtung, Ms. Manzoni«, sagte sie mit ruhiger synthetischer Stimme, bar jeder Gefühlsregung.

»Einen Moment«, erwiderte sie und flüsterte: »Suchmaschine – Spiegel.«

Ein Selbstbildnis kristallisierte in der Mitte des Blickfelds und überlagerte wie ein Vexierbild die sich drehende Drohne. Sie überprüfte den Sitz des Kleids vorn und hinten und aktivierte die programmierbaren Tattoos, die ihre Schultern verzierten. Das Bild, das aus den Daten der Fahrzeug-Kameras synthetisiert und auf ihre Netzhaut-Implantate projiziert wurde, war etwas körnig und zerfiel in Pixelpakete, wenn sie sich ruckartig bewegte. Diese Beschränkung, die ihr durch die altmodische Sinnesorgan-Implantations-Technologie auferlegt wurde, nahm sie jedoch in Kauf. Lieber war sie etwas benommen, als dass sie irgendeinem CNS-Verstärkungs-Chirurgen erlaubt hätte, mit seinen verdammten Griffeln ihren Kopf zu öffnen.

Als sie fertig war, löschte sie das Bild und stieg so damenhaft aus dem Wagen, wie ihr das mit dem allzu eng sitzenden Kleid eben möglich war.

Das OurWorld-Werksgelände war als Schachbrettmuster angelegt, wobei die ›Felder‹ jeweils aus dreistöckigen Bürogebäuden und akkuraten Rasenstücken bestanden. Die massiven blauen Glaskästen erhoben sich auf dünnen Stelzen aus Stahlbeton und muteten irgendwie kopflastig an. Das hübsch hässliche Ensemble verkörperte die Unternehmensphilosophie der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Die Erdgeschosse der Gebäude waren jeweils als Parkflächen ausgewiesen. Auf einem dieser Stellplätze stand jetzt auch ihr Wagen.

Sie reihte sich in eine Schlange vor der Cafeteria auf dem Werksgelände ein. Drohnen schwebten über den Köpfen der Leute.

Die Cafeteria war ein Prachtbau, ein spektakulärer mehrgeschossiger Glaszylinder, der um ein angeblich echtes graffitiverziertes Stück der Berliner Mauer herumgebaut worden war. Kurioserweise floss ein Bach, der von kleinen Steinbrücken überwölbt wurde, mitten durch die Halle. An diesem Abend tummelten sich vielleicht tausend Gäste auf dem Glasboden. Das ständige Kommen und Gehen verursachte in der Halle eine laute Geräuschkulisse.

Köpfe drehten sich in ihre Richtung, wobei auf manchen Gesichtern ein Ausdruck des Erkennens erschien, während andere – Männer und Frauen gleichermaßen – sie mit unverhohlener Lüsternheit anstarrten.

Ihr Blick schweifte über die Gesichter, wobei sie laufend vom Schock des Wiedererkennens überwältigt wurde. Sie sah Präsidenten, Diktatoren, Adlige, Industriekapitäne und Finanzmagnaten sowie Prominenz aus Politik, Musikgeschäft und Medien. Präsidentin Juarez entdeckte sie nicht, aber ein paar Mitglieder ihres Kabinetts waren anwesend. Hiram hatte anlässlich seines neuesten Spektakels eine illustre Gesellschaft versammelt, das musste sie ihm lassen.

Sie wusste natürlich auch, dass sie die Einladung nicht nur ihrem journalistischen Talent und ihrer gepflegten Konversation verdankte, sondern auch ihrer Schönheit und dem Bekanntheitsgrad, den sie durch die Entdeckung des Wurmwalds erlangt hatte. Und diesen Prominentenstatus, den sie seit ihrem großen Durchbruch genoss, hatte sie auch schon weidlich ausgenutzt.

Drohnen schwebten in der Luft und servierten Kanapees und Drinks. Sie gönnte sich einen Cocktail. Einige Drohnen übertrugen Bilder von Hirams TV-Kanälen, die in der allgemeinen Aufregung weitgehend ignoriert wurden. Das galt sogar für die spektakulärsten Aufnahmen – so wurde zum Beispiel das Bild einer Rakete direkt vor dem Start übertragen, offensichtlich von einer staubigen Steppe irgendwo in Asien. Sie musste sich freilich eingestehen, dass der kumulative Effekt dieser technologischen Gimmicks beeindruckend war und Hirams Verkündung zu untermauern schien, dass OurWorld eine globale Informations-Offensive plante.

Sie näherte sich einer größeren Gruppe in der Nähe und versuchte herauszufinden, wer oder was im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand. Schließlich machte sie einen schlanken jungen Mann mit dunklem Haar, einem Schnauzer und einer runden Brille aus, der eine limonengrüne Fantasie-Uniform mit scharlachroten Winkeln trug. Er schien ein Musikinstrument aus Messing zu halten, vielleicht ein Euphonium. Sie identifizierte ihn natürlich und verlor im selben Moment das Interesse an ihm. Nur ein Virtueller. Gleichgültig ließ sie den Blick über die Menge schweifen, die sich um ihn herum versammelt hatte und mit kindlicher Faszination dieses Simulacrum einer lange toten, wie ein Heiliger verehrten Berühmtheit angaffte.

Ein älterer Mann musterte sie etwas zu eingehend. Er hatte seltsame Augen, deren fahle graue Farbe unnatürlich wirkte. Sie fragte sich, ob er etwa im Besitz der neuen Netzhaut-Implantate war, die mit Millimeter-Wellenlängen arbeiteten, Textilien durchsichtig machten und den Träger angeblich in die Lage versetzten, durch Kleidung hindurchzusehen. Er machte zögernd einen Schritt auf sie zu, wobei orthotische Hilfen, seine unsichtbare Gehmaschine, angestrengt surrten.

Kate wandte sich ab.

»… das ist leider nur ein Virtueller. Damit meine ich unseren jungen Sergeant dort drüben und seine drei Kameraden, die über den Raum verteilt sind. Nicht einmal meinem Vater mit seinem überragenden Intellekt ist es bisher gelungen, Tote zum Leben zu erwecken. Aber das wussten Sie natürlich schon.«

Beim Klang der Stimme schreckte sie auf. Sie drehte sich um und schaute ins Gesicht eines jungen Mannes: vielleicht fünfundzwanzig, kohlrabenschwarzes Haar, eine markante Hakennase und ein Kinn mit einem hinreißenden Grübchen. Seine multiethnische Abstammung zeigte sich an der hellbraunen Haut und den buschigen schwarzen Brauen über gletscherblauen Augen. Schon in den ersten Sekunden der Kontaktaufnahme schweifte sein Blick so rastlos, als ob es ihm schwer fiele, dem Gegenüber in die Augen zu schauen.

»Sie starren mich an«, sagte er.

»Und Sie haben mich erschreckt«, gab sie ihm Kontra. »Aber ich kenne Sie eh schon.« Das war nämlich Bobby Patterson, Hirams einziger Sohn und Alleinerbe – ein berüchtigter Schürzenjäger. Sie fragte sich, wie viele andere Frauen, die ohne Begleitung gekommen waren, dieser Mann heute Abend wohl schon aufs Korn genommen hatte.

»Und ich kenne Sie, Ms. Manzoni. Oder darf ich Sie Kate nennen?«

»Meinetwegen. Ich nenne Ihren Vater schließlich auch wie jeder andere Hiram, obwohl ich ihn noch nie zu Gesicht bekommen habe.«

»Möchten Sie ihn denn kennen lernen? Ich könnte das arrangieren.«

»Ich bin sicher, dass Sie das könnten.«

Er musterte sie nun etwas gründlicher. Offensichtlich genoss er den mit Samthandschuhen geführten verbalen Schlagabtausch. »Wissen Sie, ich hätte bei Ihnen gleich auf eine Journalistin getippt – zumindest auf eine Schriftstellerin. Die Art und Weise, wie Sie die Reaktion der Leute auf den Virtuellen beobachtet hatten und nicht den Virtuellen selbst … Ich habe natürlich Ihre Sendungen über den Wurmwald gesehen. Eine ganz schöne Welle, die Sie da gemacht haben.«

»Aber nicht so groß wie die, wenn das Ding am 27. Mai 2534 im Pazifik einschlägt.«

Er lächelte und entblößte dabei ein Gebiss, das so ebenmäßig war wie ein Perlenkollier. »Faszinierend, Kate Manzoni«, sagte er. »Sie befragen gerade die Suchmaschine, nicht wahr? Sie holen Auskünfte über mich ein.«

»Nein.« Diese Unterstellung ärgerte sie. »Ich bin eine Journalistin. Ich brauche keine Gedächtniskrücken.«

»Ich anscheinend schon. Ich erinnere mich an Ihr Gesicht und an Ihre Geschichte, aber nicht sofort an Ihren Namen. Sind Sie nun beleidigt?«

»Wieso sollte ich?«, fragte sie schnippisch. »Ganz im Gegenteil …«

»Ganz im Gegenteil verspüren Sie ein leises sexuelles Knistern. Hab' ich Recht?«

Ein schwerer Arm legte sich ihr auf die Schultern, und ein Geruch von billigem Rasierwasser stieg ihr in die Nase. Es war Hiram Patterson höchstpersönlich: Einer der berühmtesten Menschen des Planeten.

Bobby grinste und nahm den Arm seines Vaters sachte weg. »Papa, du bringst mich schon wieder in Verlegenheit.«

»Ach, scheiß drauf. Das Leben ist eh viel zu kurz, nicht wahr?« Hiram sprach mit deutlichem Akzent. Die langen, nasalen Vokale verrieten, dass seine Ursprünge in Norfolk, England, lagen. Er war seinem Sohn sehr ähnlich, hatte aber einen dunkleren Teint und war kahl bis auf einen schwarzen Haarkranz; die markante Familien-Nase wurde von leuchtend blauen Augen gekrönt, und als er grinste, entblößte er nikotingelbe Zähne. Er wirkte dynamisch und jünger als der Endsechziger, der er war. »Ms. Manzoni, ich bin ein großer Bewunderer Ihrer Arbeit. Und Sie sehen einfach toll aus, wenn Sie mir diese Bemerkung gestatten.«

»Was wohl auch der Grund für meine Anwesenheit ist.«

Er lachte erfreut. »Ja, das auch. Aber ich wollte sichergehen, dass sich wenigstens ein intelligenter Mensch unter die Hohlköpfe von Politikern und Schicki-Mickis mischt, die bei solchen Anlässen immer rudelweise auftreten. Jemand, der in der Lage ist, diesen historischen Moment zu dokumentieren.«

»Ich bin geschmeichelt.«

»Nein, sind Sie nicht«, sagte Hiram. »Sie sind ironisch. Bestimmt haben Sie die Mutmaßungen schon gehört, was ich heute Abend sagen werde; und wahrscheinlich haben Sie die Gerüchteküche auch noch angeheizt. Sie halten mich bestimmt für einen größenwahnsinnigen Spinner …«

»So würde ich es nicht ausdrücken. Was ich sehe, ist ein Mann, der eine neue Maschine propagiert. Hiram, halten Sie es wirklich für möglich, mit einer Maschine die Welt zu verändern?«

»Maschinen haben die Welt seit jeher verändert! Früher war es das Rad, die Geräte zur Feldbestellung, das Schmelzen von Metall – Erfindungen, die Tausende von Jahren brauchten, bis sie sich weltweit durchgesetzt hatten. Heute dauert es eine Generation oder noch weniger. Denken Sie nur ans Auto oder ans Fernsehen. Als ich ein Kind war, glichen Computer Wandschränken, die von einer Priesterkaste mit Lochkarten bedient wurden. Nun verbringen wir die Hälfte des Lebens vor SoftScreens. Und meine Maschine wird allem die Krone aufsetzen … Nun gut, Sie sollen sich selbst eine Meinung bilden.« Er musterte Kate. »Genießen Sie den Abend. Wenn dieser junge Taugenichts Sie nicht schon eingeladen hat, kommen Sie zum Abendessen zu mir, und wir werden Ihnen alles zeigen, was Sie sehen wollen. Das ist mein Ernst. Wenden Sie sich einfach an eine Drohne. Und nun entschuldigen Sie mich …« Hiram drückte ihr kurz die Schulter. Dann bahnte er sich einen Weg durch die Menge, wobei er lächelte, winkte und den Leuten Kusshände zuwarf.

Kate atmete tief durch. »Ich habe das Gefühl, eine Bombe sei explodiert.«

Bobby lachte. »Ja, er ist wirklich intensiv. Übrigens …«

»Was?«

»Ich wollte Sie das schon fragen, bevor der alte Narr dazwischengekommen ist. Essen Sie mit mir zu Abend? Und vielleicht haben wir dann noch ein wenig Spaß und lernen uns besser kennen …«

Er laberte weiter. Sie stellte die Ohren auf Durchzug und rief sich in Erinnerung, was sie über Hiram Patterson und OurWorld wusste.

Hiram Patterson – eigentlich Hirdami Patel – war in ärmlichen Verhältnissen im Sumpfgebiet im Osten Englands aufgewachsen, einem Landstrich, der inzwischen von der Nordsee verschlungen worden war. Er hatte seine erste Million gemacht, indem er mit Hilfe japanischer Klonierungs-Technologien Bestandteile traditioneller Arzneimittel herstellte, die man früher aus Tigern gewonnen hatte – Barthaare, Tatzen, Krallen, sogar Knochen – und an chinesische Gemeinden in aller Welt verkaufte. Dadurch hatte er eine zwiespältige Berühmtheit erlangt: Einmal erfuhr er Kritik wegen des Einsatzes fortschrittlicher Technologien zur Befriedigung solch primitiver Bedürfnisse, zum anderen Lob wegen des verbesserten Artenschutzes der überlebenden Tigerpopulationen in Indien, China, Russland und Indonesien (was das Aussterben des Tigers letztlich nicht verhindert hatte).

Danach hatte Hiram diversifiziert. Er hatte die erste SoftScreen der Welt entwickelt: Ein flexibles Abbildungs-System auf der Basis von Polymer-Pixeln, die vielfarbiges Licht emittierten. Der Erfolg der SoftScreen verhalf Hiram zu großem Reichtum. Bald war sein Unternehmen OurWorld zum Marktführer bei Hochtechnologie, Kommunikationstechnik, Nachrichten, Sport und natürlich Unterhaltung avanciert.

Großbritannien befand sich damals im Niedergang. Als Mitglied des vereinten Europas – der Instrumente makroökonomischer Politik wie Kontrolle der Wechselkurse und Zinssätze beraubt und dabei durch die halbherzig integrierte Wirtschaft der Mitgliedsländer kaum geschützt – vermochte die britische Regierung den wirtschaftlichen Zusammenbruch nicht abzuwenden. 2010 erzwangen soziale Unruhen und der Klimakollaps schließlich den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union. Das Vereinigte Königreich zerfiel, und Schottland trat den Weg in die Unabhängigkeit an. Hiram war es damals nur mit Mühe gelungen, den Bestand von OurWorld zu sichern.

Im Jahr 2019 schob England, nachdem es Nordirland an die Republik Irland abgetreten hatte, die königliche Familie nach Australien ab – wo man sie mit offenen Armen aufnahm – und wurde der zweiundfünfzigste Bundesstaat der Vereinigten Staaten. Wegen der Flexibilität der Arbeit, des interregionalen Finanzausgleichs und anderer Schutzmaßnahmen der wahrhaft integrierten amerikanischen Wirtschaft erlebte England wieder einen Aufschwung.

Nur dass dieser Aufschwung ohne Hiram stattfinden musste.

Als US-Bürger hatte Hiram flugs die Gelegenheit genutzt, nach Seattle im Bundesstaat Washington umzuziehen und auf dem ehemaligen Werksgelände von Microsoft eine neue Unternehmenszentrale zu errichten. Hiram ging damit hausieren, dass er der Bill Gates des 21. Jahrhunderts werden würde. Und wirklich waren die Stärke seines Unternehmens und seine persönliche Macht auf dem fruchtbaren Boden der amerikanischen Ökonomie exponentiell gewachsen.

Kate wusste aber, dass er nur einer von vielen starken Spielern auf einem gesättigten und umkämpften Markt war. Sie war heute Abend nur aus dem Grund erschienen, weil – so besagten die Gerüchte, und er hatte es eben selbst bestätigt – Hiram eine Erfindung vorstellen wollte, die alles Bisherige in den Schatten stellen sollte.

Bobby Patterson war nicht im Schlagschatten seines Vaters aufgewachsen.

Nach einer Ausbildung in Eton, Cambridge und Harvard hatte er verschiedene Positionen in diversen Unternehmen seines Vaters bekleidet und das schillernde Leben eines internationalen Playboys und des begehrtesten Junggesellen der Welt genossen. Soweit Kate wusste, hatte er nie einen Funken Initiative gezeigt und auch nicht das Bestreben erkennen lassen, sich aus der Umklammerung seines Vaters zu lösen – ganz zu schweigen davon, dass er sich als sein Nachfolger empfohlen hätte.

Kate betrachtete sein perfektes Gesicht. Das ist ein Vogel, der sich im goldenen Käfig wohl fühlt, sagte sie sich. Von Beruf Sohn.

Dennoch spürte sie, wie sie unter seinem Blick errötete und schämte sich ihrer instinktiven Reflexe.

Sie hatte für ein paar Sekunden nichts mehr gesagt; Bobby harrte noch immer einer Antwort auf die Einladung zum Abendessen.

»Ich denke darüber nach, Bobby.«

Er schien verwirrt – als ob er noch nie einen so vagen Bescheid erhalten hätte. »Gibt es vielleicht ein Problem? Wenn Sie wollen, kann ich auch …«

»Meine Damen und Herren …«

Alle Köpfe drehten sich, und Kate war entlastet.

Hiram hatte eine Bühne am Ende der Cafeteria betreten. Hinter ihm hing eine riesige SoftScreen, auf der er mit Kopf und Schultern abgebildet wurde. Er lächelte auf die Anwesenden herab wie ein gütiger Gott, und Drohnen mit juwelenartigen Bildern der verschiedenen OurWorld-Kanäle schwebten wie ein Heiligenschein um seinen Kopf. »Zunächst darf ich Ihnen allen für Ihre Geduld danken und dafür, dass Sie gekommen sind, um diesem historischen Moment beizuwohnen. Die Show möge beginnen!«

Der geckenhafte Virtuelle in der limonengrünen Uniform materialisierte auf der Bühne neben Hiram; seine altmodische Brille funkelte im Scheinwerferlicht. Er hatte drei Kameraden in pink, blau und scharlachrot dabei, die alle mit einem Musikinstrument bewaffnet waren – eine Oboe, eine Trompete und eine Piccoloflöte. Es gab vereinzelten Applaus. Die vier machten eine angedeutete Verbeugung und tänzelten in den rückwärtigen Bereich der Bühne, wo ein Schlagzeug und drei E-Gitarren auf sie warteten.

»Diese Darstellung wird von einer Station nahe Brisbane in Australien zu uns nach Seattle übertragen«, sagte Hiram, »wobei sie mit einer Zeitverzögerung von wenigen Sekunden über verschiedene Nachrichtensatelliten läuft. Ich muss euch sagen, die Jungs haben in den letzten paar Jahren einen Haufen Kohle gemacht – der neue Song ›Let Me Move You‹ war für vier Wochen die Nummer Eins auf der Welt, und der ganze Erlös wurde für wohltätige Zwecke gespendet.«

»Neuer Song«, murmelte Kate zynisch.

Bobby beugte sich zu ihr hinüber. »Sie mögen die Fabulous Five nicht?«

»Ach, kommen Sie«, sagte sie. »Die Originalgruppe ist vor fünfundsechzig Jahren auseinandergegangen. Zwei der Bandmitglieder sind schon vor meiner Geburt gestorben. Ihre Gitarren und Schlagzeuge waren klobig und altmodisch im Vergleich zu den neuen Airware-Bands, wo die Musik dem Tanz der Darsteller folgt … und überhaupt sind diese ganzen neuen Songs Müll, der von Experten-Systemen aufpoliert wurde.«

»Alles Teil unseres – wie bezeichnen Sie es in Ihren Polemiken? – unsres kulturellen Verfalls«, sagte er mit sanfter Stimme.

»Teufel, ja«, entgegnete sie übellaunig, was ihr angesichts seiner Unbekümmertheit fast schon peinlich war.

Hiram redete noch immer. »… kein bloßes Hirngespinst. Ich wurde im Jahr 1967 geboren, im Sommer der Liebe. Manch einer sagt, in den Sechzigern hätte eine Kulturrevolution stattgefunden, die im Sand verlaufen wäre. Vielleicht stimmt das – wenn man das Fehlen konkreter Auswirkungen als Maßstab nimmt. Dennoch hat diese Zeit mit ihrer Musik von Liebe und Hoffnung mich und andere meiner Generation nachhaltig geprägt.«

Bobbys und Kates Blicke trafen sich. Er tat so, als ob er sich übergeben müsse, und sie hielt schnell die Hand vor den Mund, um nicht vor Lachen loszuprusten.

»… und am Höhepunkt jenes Sommers, am 25. Juni 1967, wurde eine globale Fernsehshow veranstaltet, um der Menschheit die Leistungsfähigkeit des noch in den Kinderschuhen steckenden Kommunikations-Netzwerks zu demonstrieren.« Hinter Hiram gab der Fabulous Five-Schlagzeuger den Takt vor, und die Gruppe legte mit einer zum Trauermarsch verfremdeten Parodie der Marseillaise los, die in eine schön gesungene dreiteilige Harmonie überging. »Das war Englands Beitrag«, übertönte Hiram die Musik. »Ein Lied über die Liebe, das für zweihundert Millionen Menschen auf der ganzen Welt gesungen wurde. Diese Show hieß Our World. Ja, so war es. Daher habe ich auch den Namen für meine Firma. Ich weiß, es klingt etwas sentimental – aber als ich mit zehn Jahren die Aufzeichnung dieses Ereignisses sah, wusste ich sofort, was ich mit meinem Leben anfangen würde.«

Sentimental stimmt, sagte Kate sich, aber unbestreitbar effektiv; das Publikum starrte nämlich gebannt auf Hirams riesiges Portrait, während die Musik eines Sommers, der siebzig Jahre zurücklag, in der Cafeteria widerhallte.

»Und nun«, sagte Hiram mit schauspielerischer Verve, »glaube ich, dass ich mein Lebensziel erreicht habe. Ich würde vorschlagen, ihr sucht euch etwas zum Festhalten – vielleicht sogar die Hand des Nachbarn …«

Der Boden wurde transparent.

Kate taumelte, als sie plötzlich über leerem Raum hing. Die Augen wurden getäuscht, obwohl der Boden unter ihren Füßen durchaus fest blieb. Nervöses Gelächter kam auf, ein paar Schreie wurden ausgestoßen, und das leise Klirren zu Boden fallender Gläser ertönte.

Zu ihrer Überraschung stellte Kate fest, dass sie Bobbys Arm gepackt hatte. Sie spürte dort einen festen Muskelstrang. Er hatte ihre Hand auf seine gelegt, anscheinend aber ohne Hintergedanken.

Sie ließ die Hand, wo sie war. Fürs erste jedenfalls.

Sie schien über einem Sternenhimmel zu schweben, als ob die Cafeteria in den Weltraum versetzt worden wäre. Die vor einem schwarzen Hintergrund angeordneten ›Sterne‹ waren in ein kubisches Gitter integriert und durch dünne Stränge aus vielfarbigem Licht miteinander verbunden. Beim Blick ins Gitter mit den perspektivisch verkürzten Bildern hatte Kate das Gefühl, in einen unendlichen Tunnel zu schauen.

Während die Musik noch spielte, und zwar so kunstvoll, dass sie von der Originalaufnahme kaum zu unterscheiden war, sagte Hiram: »Sie schauen nicht etwa nach oben in den Himmel oder in den Weltraum. Stattdessen schauen Sie nach unten, in die kleinsten Strukturen der Materie.

Dies ist ein Diamantkristall. Die weißen Punkte, die Sie erkennen, sind Kohlenstoffatome. Die Stränge sind die Valenzkräfte, die sie zusammenhalten. Ich lege Wert auf die Feststellung, dass das, was Sie gleich sehen werden, zwar verstärkt, aber keine Simulation ist. Mit moderner Technologie – Rastertunnelmikroskopen zum Beispiel – sind wir in der Lage, sogar auf der atomaren Ebene Bilder von Materie zu erzeugen. Alles, was Sie sehen, ist real. Und nun geht es weiter.«

Holografische Abbildungen wallten auf und füllten den Raum aus, als ob die Cafeteria und alle Anwesenden im Gitter versinken und dabei schrumpfen würden. Kohlenstoffatome blähten sich wie fahle graue Ballons über Kates Kopf auf und enthüllten vexierbildartige Strukturen im Innern. Der sie umgebende Raum funkelte. Lichtpunkte flackerten auf und verloschen genauso schnell, wie sie entstanden waren. Es mutete sehr ästhetisch an, als ob man durch eine Wolke aus Lametta geflogen wäre.

»Sie sehen den Weltraum«, sagte Hiram. »Leeren Raum. Dies ist die Materie, die das Universum ausfüllt. Nur dass wir den Weltraum nun mit einer Auflösung sehen, die die Leistungsfähigkeit des menschlichen Auges bei weitem übertrifft und eine Ebene erreicht, bei der die einzelnen Elektronen sichtbar werden – und auf dieser Ebene werden die Quanteneffekte wirksam. Leerer Raum ist in Wirklichkeit voll, voll mit fluktuierenden Energiefeldern. Und diese Felder manifestieren sich wiederum als Partikel: Photonen, Elektron-Positron-Paare, Quarks. Sie erlangen eine streiflichtartige Existenz durch geliehene Masse-Energie und verschwinden wieder in Übereinstimmung mit dem Energieerhaltungssatz. Wir Menschen sehen Raum und Energie und Materie aus weit überhöhter Position, wie ein übers Meer fliegender Astronaut. Wir sind zu hoch, um die Wellen und die Schaumkronen zu erkennen. Dennoch sind sie da.

Aber wir sind noch nicht am Ende unsrer Reise angelangt. Haltet euch an den Drinks fest, Leute!«

Der Maßstab explodierte erneut. Kate sah, dass sie ins glasige Zwiebelschalen-Innere eines Kohlenstoffatoms flog und erkannte einen festen leuchtenden Knoten im Zentrum, eine Traube deformierter Sphären. War das vielleicht der Nukleus …? – Und waren diese inneren Sphären etwa Protonen und Neutronen?

Während der Nukleus auf sie zuflog, hörte sie einige Leute aufschreien. Sie hatte noch immer Bobbys Arm gepackt und versuchte ruhig zu bleiben, als sie hineingeschleudert wurde.

Und dann …

… gab es keine Gestalt mehr. Keine Form, kein definites Licht, keine Farbe außer einem blutigen Rotton. Dennoch registrierte sie Bewegung, ein langsames, bedrohliches und endloses Zucken, das von Blasen durchsetzt wurde, die emporstiegen und platzten. Es war, als ob eine brackige Brühe blubberte.

»Wir haben das erreicht«, sagte Hiram, »was die Physiker als Planck-Länge bezeichnen. Wir befinden uns nun zwanzig Größenordnungen unter dem virtuellen Teilchen-Niveau, das wir gesehen hatten. Auf dieser Ebene sind wir nicht mehr imstande, die Struktur des Raums hinreichend zu beschreiben: Topologie und Geometrie lösen sich auf, Raum und Zeit gehen ineinander über.«

Auf dieser fundamentalen Ebene waren der Ablauf der Zeit und die Ordnung des Raums aufgehoben. Die Vereinheitlichung der Raumzeit wurde von den Kräften der Quantengravitation zerstört, und der Raum mutierte zu einem brodelnden Wahrscheinlichkeits-Schaum, durchzogen von Wurmlöchern.

»Jawohl, Wurmlöcher«, sagte Hiram. »Was wir hier sehen, sind die Mündungen von Wurmlöchern, die spontan entstehen und mit elektrischen Feldern ausgekleidet sind. Der Raum verhindert per definitionem, dass alle Dinge an einem Ort sich konzentrieren, nicht wahr? Auf dieser Ebene ist der Raum körnig, und wir können uns nicht darauf verlassen, dass diese Definition noch zutrifft. Deshalb vermag eine Wurmloch-Mündung beliebige Punkte in dieser kleinen Region der Raumzeit miteinander zu verknüpfen – überall: Seattle, Brisbane in Australien oder den Planeten eines fremden Sonnensystems. Es ist, als ob die Raumzeit-Brücken spontan entstünden und genauso schnell wieder abgebrochen würden.« Sein großes Gesicht lächelte aufmunternd auf sie herab. Ich verstehe das genauso wenig wie ihr, verkündete das Bild. Vertraut mir. »Meine technischen Mitarbeiter werden Ihnen später für detaillierte Auskünfte zur Verfügung stehen.

Die eigentliche Frage lautet jedoch, was wir damit überhaupt bezwecken. Vereinfacht ausgedrückt werden wir in diesen Quantenschaum hineingreifen und das Wurmloch herausziehen, das wir gerade brauchen: Ein Wurmloch, das unser Laboratorium hier in Seattle mit einer identischen Einrichtung im australischen Brisbane verbindet. Und nachdem wir dieses Wurmloch stabilisiert haben, wird es eine Leitung darstellen, über die wir Signale übermitteln können – schneller als das Licht.

Und dies, meine Damen und Herren, ist der Grundstein einer neuen Kommunikations-Revolution. Keine teuren Satelliten mehr, die von Mikrometeoriten sandgestrahlt werden und aus dem Orbit auf die Erde stürzen. Keine lästigen Zeitverzögerungen mehr. Keine horrenden Gebühren mehr – die Welt, unsere Welt, wird endlich wahrhaft vereint sein.«

Die Musik der Virtuellen wurde nun von lebhaften Diskussionen überlagert, und es wurde sogar Widerspruch laut: »Unmöglich!« – »Wurmlöcher sind instabil. Das weiß jedes Kind.« – »Strahlungseinwirkung führt zum sofortigen Zusammenbruch eines Wurmlochs.« – »Sie wollen nicht im Ernst …«

Hirams riesiges Gesicht dräute über dem wabernden Quantenschaum. Er schnippte mit den Fingern. Der Quantenschaum verschwand und wurde durch ein einzelnes Artefakt ersetzt, das in der Dunkelheit unter ihren Füßen hing.

Ein leiser Seufzer ertönte.

Kate sah eine Anzahl glühender Lichtpunkte – Atome? Die Lichter bildeten eine geodätische Sphäre, die in sich selbst gekrümmt war und langsam rotierte. Und im Innern erkannte sie eine weitere Sphäre, die sich gegenläufig drehte – und darin noch eine Sphäre, und noch eine, bis zur Grenze der Auflösung. Es war wie eine Art Uhrwerk, ein Planetarium aus Atomen. Die ganze Struktur pulsierte in einem fahlen blauen Licht, und sie spürte die Präsenz gewaltiger Energien.

Sie musste zugeben, dass das alles wunderschön war.

»Dies wird als Casimir-Maschine bezeichnet«, sagte Hiram. »Sie ist die vielleicht komplizierteste Maschine, die je von Menschenhand erschaffen wurde; eine Maschine, an der wir jahrelang gearbeitet haben – und dabei beträgt ihre Größe nur ein paar hundert Atomdurchmesser.

Wie Sie sehen, bestehen die Schalen aus Atomen – genauer gesagt aus Kohlenstoffatomen; die Struktur ist der in der Natur vorkommenden stabilen Struktur mit der Bezeichnung ›Buckminster-Fulleren‹ entlehnt, Kohlenstoff-60. Die Schalen entstehen durch den Beschuss von Graphit mit Laserstrahlen. Wir haben die Konstruktion mit elektrischen Ladungen beschickt, und zwar mit Käfigen namens ›Penning-Fallen‹ – also elektromagnetischen Feldern. Die Struktur an sich wird von starken Magnetfeldern zusammengehalten. Der Mindestabstand der Schalen beträgt gerade einmal ein paar Elektronendurchmesser. Und in diesen winzigen Lücken geschieht ein Wunder …«

Kate wurde Hirams Selbstbeweihräucherung allmählich überdrüssig, und sie konsultierte kurz die Suchmaschine. Der ›Casimir-Effekt‹, so wurde sie belehrt, bezog sich auf die virtuellen Teilchen, die sie hatte aufflackern sehen. In den engen Lücken zwischen den Atomhüllen vermochten aufgrund von Resonanzeffekten nur bestimmte Arten von Partikeln zu existieren. Deshalb waren diese Lücken noch leerer als der ›leere‹ Raum und hatten ein dementsprechend niedriges Energieniveau.

Auf diesem Negativenergie-Effekt beruhte unter anderem das Konzept der Antigravitation.

Die verschiedenen Ebenen der Struktur rotierten nun schneller. Kleine Uhren wurden am Rand der Maschinen-Abbildung eingeblendet und zählten von zehn abwärts, neun, acht, sieben … Das Gefühl sich verdichtender Energien war förmlich mit Händen zu greifen.

»Die Konzentration der Energie in den Casimir-Lücken erhöht sich«, sagte Hiram. »Gleich werden wir die Wurmlöcher des Quantenschaums mit negativer Casimir-Effekt-Energie überlagern. Die Antigravitations-Effekte werden sich stabilisieren und die Wurmlöcher vergrößern.

Wir veranschlagen die Wahrscheinlichkeit, ein Wurmloch zu finden, das Seattle und Brisbane verbindet, auf eins zu zehn Millionen. Eine angemessene Fehlertoleranz liegt dieser Kalkulation schon zugrunde. Also werden wir ein paar Dutzend Millionen Anläufe brauchen, um das gewünschte Wurmloch zu lokalisieren. Weil dies eine atomare Maschine ist, die verdammt schnell arbeitet, dürften aber selbst ein paar hundert Millionen Versuche nicht einmal eine Sekunde dauern … Und das Schöne daran ist: Auf der Quantenebene existieren die Verbindungen zu allen Orten bereits. Wir müssen sie nur noch finden.«

Die Musik der Virtuellen schwoll zum finalen Crescendo an. Kate schaute auf die wie wild rotierende glühende Frankenstein-Maschine unter ihren Füßen, die vor Energie schier barst.

Dann beendeten die Uhren den Zählvorgang.

Ein greller Blitz zuckte durch die Halle. Ein paar Leute schrien auf.

Nachdem Kates Sicht sich wieder geklärt hatte, war die noch immer rotierende atomare Maschine nicht mehr allein. Eine silbrige Perle von perfekter Kugelform schwebte neben ihr. Eine Wurmloch-Mündung?

Und die Musik hatte sich auch verändert. Die Fabulous Five waren nun bei der choralartigen Passage ihres Lieds angelangt. Die Musik wurde von einem dissonanten Gesang verzerrt, der dem kristallklaren Klang des Originals ein paar Sekunden vorauseilte.

Von der Musik abgesehen herrschte Totenstille im Raum.

Hiram schnaufte, als ob er den Atem angehalten hätte. »Das ist es«, sagte er. »Das neue Signal, das Sie hören, ist dasselbe Lied, nur dass es durchs Wurmloch übertragen wird – ohne signifikante Zeitverzögerung. Wir haben es geschafft. Heute Abend sendet die Menschheit zum ersten Mal in der Geschichte ein Signal durch ein stabiles Wurmloch …«

Bobby beugte sich zu Kate hinüber. »Das erste Mal, wenn man die Probeläufe außen vor lässt«, sagte er sarkastisch.

»Wirklich?«

»Natürlich. Sie glauben doch nicht im Ernst, dass er das alles dem Zufall überlassen hat, oder? Mein Vater ist ein Schauspieler. Trotzdem sollte man dem Mann diesen Moment des Ruhms gönnen.«

Der riesige Bildschirm zeigte einen grinsenden Hiram. »Meine Damen und Herren – vergessen Sie nie, was Sie heute Abend gesehen haben. Dies ist der Beginn der eigentlichen Kommunikations-Revolution.«

Zuerst war der Applaus verhalten, schwoll aber schnell zu einer Ovation an.

Kate wurde von der Dynamik mitgerissen. Ich weiß nicht, wohin das noch führen soll, sagte sie sich. Bestimmt waren die Möglichkeiten dieser neuen Technologie – die immerhin auf der Manipulation von Raum und Zeit selbst basierte – nicht auf den bloßen Datentransfer beschränkt. Sie hatte das Gefühl, dass nichts mehr so sein würde, wie es einmal war.

Ein Lichtreflex traf Kates Auge. Er stammte von einer über ihrem Kopf schwebenden Lichtquelle. Eine der Drohnen zeigte ein Bild des Raumschiffs, das sie zuvor schon gesehen hatte. In völliger Stille stieg es in den blaugrauen Himmel über Zentralasien auf. Es wirkte irgendwie nostalgisch – eher wie ein aus der Vergangenheit heraufbeschworenes als ein zukunftsweisendes Bild.

Niemand sonst achtete darauf, und für sie war es auch ziemlich uninteressant. Sie wandte den Blick ab.

 

Eine grün-rote Flamme schoss in gekrümmte Kanäle aus Stahl und Beton. Das Licht breitete sich pulsierend über die Steppe aus und erfasste Vitali. Der gleißend helle Schein überblendete die trüben Flutlichter, die noch immer die Stufenrakete anstrahlten, und sogar die leuchtende Sonne über der Steppe. Und bevor das Schiff sich noch vom Boden gelöst hatte, erreichte ihn der Schall. Es war ein Donner, der ihn förmlich durchrüttelte.

Vitali ignorierte den stechenden Schmerz im Arm und in der Schulter und das taube Gefühl in Händen und Füßen. Er stand auf, öffnete den Mund mit den rissigen Lippen und schrie gegen dieses göttliche Inferno an. In solchen Momenten wurde er wie immer zu einem sentimentalen alten Narren.

Um ihn herum tobte das Chaos. Die Leute, die halb verhungerten, schlecht ausgebildeten Techniker und die feisten, korrupten Manager hatten schlagartig das Interesse am Start verloren. Sie drängten sich vor Funkgeräten und Palmtop-Fernsehgeräten, juwelenartigen SoftScreens, die erstaunliche Bilder aus Amerika zeigten. Vitali kannte die Einzelheiten nicht und wollte sie auch gar nicht wissen; er wusste auch so, dass Hiram Patterson sein Versprechen beziehungsweise seine Drohung wahrgemacht hatte.

Noch in dem Moment, wo sein schöner Vogel, die letzte Molnija, sich vom Boden erhob, erkannte er, dass er keine Zukunft mehr hatte.

Vitali straffte sich. Er war entschlossen, die Rakete so lang zu verfolgen, bis dieser Lichtpunkt an der Spitze der großen Rauchsäule mit dem All verschmolz …

Der Schmerz im Arm und in der Brust wurde schier unerträglich, als ob eine knochige Hand zupackte. Er rang nach Luft und versuchte noch immer, sich auf den Beinen zu halten. Plötzlich wurde er in ein anderes Licht getaucht, das noch heller war als das Raketenlicht, das die Steppe von Kasachstan überflutete; dann wurde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen.

2

Das geistige Auge

 

Während Kate über Land chauffiert wurde, ließ sie die für Seattle typische Landschaft auf sich wirken: Grüne Hügel, die zum Meer hin abfielen und vom grauen Herbsthimmel überwölbt wurden.

Hirams Anwesen – eine riesige geodätische Kuppel – mutete wie ein Ufo an, das auf einem Hügel gelandet war. Es war eins der hässlichsten und bizarrsten Gebäude, die Kate je gesehen hatte.

Bei der Ankunft übergab sie ihren Mantel einer Drohne. Ihre Identität wurde überprüft – wobei nicht nur die Implantate gelesen wurden, sondern wahrscheinlich auch ein Musterabgleich zur Identifikation des Gesichts erfolgte und sogar eine noninvasive DNA-Sequenzierung. Das alles war eine Sache von Sekunden. Dann wurde sie von Hirams Robot-Dienern ins Haus geführt.

Hiram war bei der Arbeit. Das wunderte sie nicht. Das halbe Jahr seit der Einführung seiner wurmlochgestützten DataPipe-Technologie war für ihn das arbeitsreichste und für OurWorld laut Aussage der Analysten das bisher erfolgreichste gewesen. Zum Abendessen sei er wieder zurück, sagte die Drohne. Also wurde sie zu Bobby gebracht.

 

Im großen Raum herrschte Zimmertemperatur. Die Wände waren so kahl wie in einer Gefängniszelle. Das Licht war trübe, der Schall nachhallfrei und gedämpft. Das Mobiliar bestand aus ein paar Liegen aus schwarzem Leder. Neben jeder Liege stand ein Beistelltisch mit einem Wasserhahn und einem Tropf.

Und da lag Bobby Patterson, wohl einer der reichsten und mächtigsten jungen Männer des Planeten, im Dunkeln allein auf einer Couch. Die Augen waren offen, aber blicklos, und die Gliedmaßen waren schlaff. Ein Metallband spannte sich um die Schläfen.

Sie setzte sich auf eine Liege neben Bobby, musterte ihn und sah, dass er schwach atmete. Der Schlauch, den er in einen Stunt im Arm geschoben hatte, versorgte den degenerierten Körper.

Er war mit einem weiten schwarzen Hemd und einer kurzen Hose bekleidet. Wo die Kleidung auf dem Körper auflag, zeichneten sich Muskelstränge ab, was aber kein Indiz für einen gesunden Lebensstil war. Heute war es möglich, einen solchen Körper durch Hormonbehandlungen und elektrische Stimulation zu formen. Diese Art des ›Bodybuilding‹ vermochte man auch im Liegen auszuüben, gleich einem Patienten, der auf der Intensivstation im Koma lag.

Er hatte den Mund geöffnet, und Speichel sickerte aus dem Mundwinkel. Sie wischte ihn mit dem Zeigefinger ab und klappte den Mund sachte zu.

»Danke.«

Sie fuhr herum. Bobby – ein anderer Bobby, der genauso gekleidet war wie der erste – stand feixend neben ihr. Empört versetzte sie ihm einen Knuff in die Magengrube. Die Faust ging natürlich durch ihn hindurch. Er zuckte nicht einmal zusammen.

»Dann sehen Sie mich also«, sagte er.

»Ich sehe Sie.«

»Sie haben Netzhaut- und Cochlearimplantate, ja? Dieser Raum wurde als Produktionsstätte für Virtuelle konzipiert, die mit der CNS-verstärkten Technologie abwärtskompatibel sind. In meinen Augen hocken Sie gerade auf einem gemein aussehenden Phytosaurier.«

»Einem was?«

»Einem Krokodil aus der Trias. Dem übrigens dämmert, dass Sie auf ihm sitzen. Willkommen, Ms. Manzoni.«

»Kate.«

»Ja. Ich freue mich, dass Sie meiner, unsrer Einladung zum Abendessen gefolgt sind. Obwohl ich nicht erwartet hätte, dass Sie ein geschlagenes halbes Jahr brauchen würden, um sich zu einer Entscheidung durchzuringen.«

Sie zuckte die Schultern. »Hiram wird immer reicher ist nicht gerade ein toller Aufhänger.«

»Ähem. Was impliziert, dass Sie auf etwas gestoßen sind.« Er hatte natürlich Recht, und Kate enthielt sich einer Antwort. »Oder«, sagte er, »vielleicht sind Sie endlich meinem charmanten Lächeln erlegen.«

»Das wäre ich vielleicht auch, wenn Sie nicht gesabbert hätten.«

Bobby warf einen Blick auf sein bewusstloses Alter Ego. »Eitelkeit? Sollen wir etwa auf unser Äußeres achten, wenn wir eine virtuelle Welt erforschen?« Er runzelte die Stirn. »Aber vielleicht haben Sie Recht. Ich sollte meine Marketing-Leute darauf ansetzen.«

»Ihre Marketing-Leute?«

»Sicher.« Er ›nahm‹ ein metallenes Stirnband von einer Liege neben sich; es handelte sich um eine virtuelle Kopie, die vom Original losgelöst wurde, das auf der Couch liegen blieb. »Das ist das GeistigeAuge. Die neueste VR-Technologie von OurWorld. Möchten Sie es auch einmal versuchen?«

»Lieber nicht.«

Er musterte sie. »Eine VR-Jungfrau sind Sie aber auch nicht mehr, Kate. Ihre sensorischen Implantate …«

»… erfüllen gerade einmal die Mindestanforderungen, um in der modernen Welt klarzukommen. Haben Sie schon mal versucht, ohne VR-Fähigkeiten sich im SeaTac Airport zurechtzufinden?«

Er lachte. »Ich werde immer durchgeschleust. Ich glaube, Sie halten das alles für eine großangelegte Unternehmens-Verschwörung.«

»Natürlich ist es das. Die technologische Invasion unsrer Wohnungen, Autos und Arbeitsplätze hat schon lang den Sättigungspunkt erreicht. Nun wollen sie auch noch Zugriff auf unsre Körper.«

»Regen Sie sich ab.« Er hielt das Stirnband hoch. Es war ein rekursiver Moment, sagte sie sich, eine virtuelle Kopie von Bobby, die eine virtuelle Kopie eines virtuellen Generators hielt. »Das hier ist etwas anderes. Versuchen Sie es mal. Machen Sie einen Trip mit mir.«

Sie zögerte erst – dann wurde sie sich bewusst, dass ihr Verhalten unhöflich war, und sie willigte ein. Schließlich war sie hier nur ein Gast. Sein Angebot einer intravenösen Behandlung lehnte sie jedoch ab. »Wir schauen uns nur mal kurz um und kommen zurück, bevor unsre Körper zerfallen. Einverstanden?«

»Einverstanden«, sagte er. »Machen Sie es sich auf einer Couch bequem und legen Sie das Stirnband an.« Vorsichtig hob er die virtuelle Garnitur über den Kopf. Sein konzentriertes Gesicht war wirklich schön, sagte sie sich; er sah aus wie Jesus mit der Dornenkrone.

Sie legte sich auf eine Couch und nahm sich auch ein GeistigesAuge-Band. Es war warm und elastisch, und als sie es über den Kopf streifte, schien es sich an den Schädel anzuschmiegen.

Dann zwickte das Band. »Autsch.«

Bobby setzte sich auf der Couch auf. »Infusoren. Keine Sorge. Der Input erfolgt hauptsächlich transcranialis über magnetische Stimulation. Nach dem Neustart werden Sie aber nichts mehr spüren …« Als er sich wieder hinlegte, sah sie, wie seine beiden Körper aus Fleisch und Bildpunkten sich kurz überlagerten.

Der Raum wurde verdunkelt. Für ein paar Sekunden sah und hörte sie nichts mehr. Das Körperbewusstsein verschwand, als ob ihr das Gehirn aus dem Schädel gesaugt worden wäre.

Sie spürte, wie sie mit einem unmerklichen Aufprall in den Körper zurückfiel. Sie stand.

In einer Art Schlamm.

Hitze und blaues, grünes und braunes Licht schlugen über ihr zusammen. Sie befand sich an einem Flussufer und war bis zu den Knöcheln in zähen schwarzen Schlick eingesunken.

 

Der Himmel leuchtete hellblau. Sie stand am Rand eines Walds, einer üppigen Vegetation mit Farnen, Kiefern und Koniferen, deren dichtes dunkles Laub einen großen Teil des Lichts ausblendete. Die Hitze und Feuchtigkeit waren fast unerträglich; sie spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach und Bluse und Hose durchtränkte. Das Haar klebte ihr an der Stirn. Der nahe Fluss war breit, lehmig-braun und wälzte sich träge dahin.

Auf der Suche nach festerem Untergrund drang sie tiefer in den Wald ein. Die Vegetation war fast undurchdringlich; Blätter und Schösslinge schlugen ihr ins Gesicht und gegen die Arme. Es wimmelte von Insekten bis hin zu großen blauen Libellen und der Dschungel wurde von allerlei Geräuschen erfüllt: es zirpte, knurrte und krächzte.

Das Gefühl der Realität war geradezu überwältigend. Diese VR war weitaus authentischer als alle anderen, die sie bisher erlebt hatte.

»Beeindruckend, nicht wahr?« Bobby stand neben ihr. Er trug Khaki-Shorts, ein Safarihemd und einen breitkrempigen Buschhut und hatte sich eine altertümlich aussehende Flinte über die Schulter gehängt.

»Wo sind wir? Ich meine …«

»Wann sind wir? Das ist Arizona: Die späte Trias, vor ungefähr zweihundert Millionen Jahren. Sieht eher aus wie Afrika, was? In diesem Zeitalter sind die Schichtungen der Bunten Wüste{1} entstanden. Hier gedeihen Schachtelhalme, Farne, Zikaden, Bärlapp … Dennoch ist es in mancherlei Hinsicht eine öde Welt. Die Entstehung der Blumen liegt noch weit in der Zukunft. Das gibt einem schon zu denken, nicht?«

Sie stellte den Fuß auf einen Baumstamm und versuchte, den Schlick von den Beinen abzukratzen. In der drückenden Hitze bekam sie großen Durst. Der nackte Arm war mit unzähligen Schweißtröpfchen bedeckt, die absolut echt glitzerten und sich so heiß anfühlten, als ob sie gleich sieden würden.

Bobby wies nach oben. »Schauen Sie.«

Ein Vogel flatterte mit unbeholfenen Flügelschlägen in den Ästen eines Baums herum … Nein, das Tier war zu groß und plump für einen Vogel. Außerdem hatte es keine Federn. Vielleicht war es eine Art fliegendes Reptil. Das purpurne Wesen bewegte sich mit einem ledernen Knarren, bei dem es Kate kalt den Rücken hinunterlief.

»Geben Sie es zu«, sagte er, »sie sind beeindruckt.«

Sie ließ die Arme kreisen und schüttelte die Beine aus. »Das Körpergefühl ist echt stark. Ich spüre die Gliedmaßen, und wenn ich mich vor- und zurückbeuge, habe ich ein Gefühl für oben und unten. In Wirklichkeit liege ich wohl noch immer auf der Couch und sabbere wie Sie.«

»Ja. Die propriozeptiven Merkmale des GeistigenAuges sind schon enorm. Man gerät nicht einmal ins Schwitzen. Nun ja, mit gewissen Ausnahmen; manchmal tritt noch ein kleines Leck auf. Das ist VR-Technologie der vierten Generation. Am Anfang gab's die primitiven Brillen und Handschuhe, dann kamen Sinnesorgan-Implantate – wie Ihre – und kortikale Implantate, die als direkte Schnittstelle zwischen externen Systemen und dem Zentralnervensystem dienten …«

»Barbarisch«, sagte sie.

»Vielleicht«, erwiderte er leise. »Das GeistigeAuge ist letzter Stand der Technik. Die Stirnbänder erzeugen magnetische Felder, die bestimmte Bereiche des Gehirns stimulieren. Ohne dass eine physikalische Intervention nötig wäre.

Aber es ist nicht nur die Redundanz der Implantate, die den Reiz der Sache ausmacht«, fuhr er launig fort. »Es sind die Präzision und der Umfang der Simulation, die wir zu erschaffen vermögen. Eben wird eine Fischaugen-Karte der Szene direkt in Ihre Sehrinde projiziert. Wir stimulieren die Amygdala und die Insula im Schläfenlappen, um Sie mit einem Geruchssinn auszustatten. Das ist wichtig für die Authentizität des Erlebnisses. Gerüche werden direkt ans limbische System des Gehirns übermittelt, den Sitz der Emotionen. Deshalb haben Gerüche eine so intensive Wirkung, müssen Sie wissen. Wir verursachen sogar leichte Schmerzen, indem wir den vorderen Kortex des Cingulum cerebri ansteuern – nicht das Zentrum des Schmerzes, sondern der bewussten Wahrnehmung von Schmerz. Wir arbeiten überhaupt viel mit dem limbischen System, um den visuellen Eindrücken eine emotionale Entsprechung zu verleihen.

Dann gibt es noch die Propriozeption, das Körpergefühl, das sehr komplex ist und sensorische Inputs von der Haut, den Muskeln und Sehnen beinhaltet, des weiteren visuelle und motorische Informationen vom Gehirn und Gleichgewichts-Meldungen vom Innenohr. Das Gehirn musste erst gründlich kartiert werden, bevor wir dazu in der Lage waren. Jetzt sind wir imstande, Sie fallen, fliegen und Purzelbäume schlagen zu lassen, ohne dass Sie von der Couch aufstehen müssten … und wir sind imstande, Ihnen Wunder zu zeigen wie dieses.«

»Sie sind sehr bewandert in dieser Materie. Und ziemlich stolz darauf, nicht wahr?«

»Natürlich bin ich das. Es ist schließlich meine eigene Entwicklung.« Er blinzelte, und sie wurde sich bewusst, dass er ihr zum ersten Mal für längere Zeit ins Gesicht gesehen hatte. Selbst hier in diesem virtuellen Trias-Dschungel verursachte er ihr noch ein vages Unbehagen – obwohl sie sich auf irgendeiner Ebene zu ihm hingezogen fühlte.

»Bobby, in welcher Hinsicht ist das überhaupt Ihre Entwicklung? Haben Sie sie etwa initiiert? Oder haben Sie sie entdeckt?«

»Ich bin nur Angestellter im Unternehmen meines Vaters. Aber ich leite die GeistigeAuge-Forschung. Ich unterziehe die Produkte Feldversuchen.«

»Feldversuche? Sie meinen, Sie kommen her und spielen ›Jag-den-Dinosaurier‹?«

»Als ›spielen‹ würde ich es nicht bezeichnen«, sagte er milde. »Ich zeige es Ihnen.« Er stand voller Spannkraft auf und drang tiefer in den Dschungel ein.

Sie hatte Mühe, ohne Buschmesser Schritt zu halten, und bald rissen die Dornen die dünne Kleidung auf und bohrten sich ihr ins Fleisch. Es schmerzte, aber nicht zu sehr – natürlich nicht. Es war nicht real, nur ein verdammtes Abenteuerspiel. Also hastete sie hinter Bobby her und schimpfte innerlich auf dekadente Technologie und obszönen Reichtum.

Sie gelangten zu einer weiten Lichtung mit umgestürzten verkohlten Bäumen, zwischen denen zarte grüne Triebe sprossen. Vielleicht hatte ein Blitz die Bäume gefällt.

Bobby streckte den Arm aus und hielt sie am Rand der Lichtung zurück. »Schauen Sie.«

Ein Tier wühlte mit Schnauze und Pfoten im verkohlten Holz. Es war etwa zwei Meter lang, mit einem wolfsartigen Kopf und Kaninchenzähnen. Trotz der wölfischen Erscheinung grunzte es wie ein Schwein.

»Ein Cynodont«, wisperte Bobby. »Ein Proto-Säugetier.«

»Unser Vorfahr?«

»Nein. Die Säugetiere haben sich bereits abgespalten. Die Cynodonts laufen in eine evolutionäre Sackgasse … Scheiße.«

Ein lautes Knacken ertönte im Unterholz auf der anderen Seite der Lichtung. Es war ein Jurassic Park-Saurier. Das mindestens zwei Meter hohe Vieh hüpfte auf stämmigen Hinterbeinen aus dem Wald, mit aufgerissenem Maul und glitzernden Schuppen.

Das Cynodont schien zu erstarren und heftete den Blick auf den Räuber.

Der Saurier sprang auf den Rücken des Cynodonts, das unter dem Gewicht des Angreifers in die Knie ging. Die beiden Urviecher wälzten sich auf dem Boden und knickten die jungen Bäumchen um, die dort wuchsen. Das Cynodont quiekte wie ein Schwein.

Sie packte Bobbys Arm, zog sich in den Dschungel zurück und spürte, wie der Boden unter der Wucht des Zusammenpralls bebte. Schon beeindruckend, gestand sie sich ein.

Der Carnosaurus gewann schließlich die Oberhand. Er hielt das Opfer mit seinem Körpergewicht am Boden, beugte sich zum Genick des Proto-Säugetiers hinunter und schlug die Zähne hinein. Das Cynodont wehrte sich zwar noch, aber schon ragten weiße Knochen aus dem zerfetzten Nacken, und Blut schoss heraus. Als der Carnosaurus seinem Opfer dann den Bauch aufriss, stieg Kate ein derart bestialischer Gestank nach dem halbverdauten Fleisch des Mageninhalts in die Nase, dass sie sich beinahe übergeben hätte …

Beinahe, aber nicht ganz. Natürlich nicht. Bei genauerem Hinsehen sah sie auch, dass das sprudelnde Blut des Protosäugetiers immateriell war und dass die Schuppen des Sauriers verräterisch glitzerten. Das galt für jede VR: Effektvoll und doch beschränkt. Sogar der Geruch und die Geräusche waren zur Erbauung des Benutzers modelliert worden. Es war so harmlos – und so synthetisch – wie der Besuch eines Themenparks.

»Ich glaube, das ist ein Dilophosaurus«, murmelte Bobby. »Fantastisch. Das ist es, was ich an diesem Zeitalter so mag. Es ist eine Art Kreuzung des Lebens. Alles überlappt sich hier, das Alte mit dem Neuen, unsere Vorfahren und die ersten Dinosaurier …«

»Ja«, sagte Kate, die sich inzwischen wieder gefangen hatte. »Aber es ist nicht real.«

Er tippte sich an den Kopf. »Es ist wie jede Fiktion. Sie sind wirklich ein ungläubiger Thomas.«

»Trotzdem ist es nur ein Magnetfeld, das das Kleinhirn anregt. Meine Güte, das ist nicht einmal die echte Trias, nur die schlechte Extrapolation irgendeines Akademikers, auf die man für den virtuellen Touristen ein bisschen Farbe aufgepeppt hat.«

Er lächelte sie an. »Sie geraten immer gleich in Rage. Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?«

Sie schaute in seine leeren blauen Augen. Bisher hatte er die Richtung vorgegeben. Wenn du weiterkommen willst, sagte sie sich, wenn du das Ziel erreichen willst, mit dem du hergekommen bist, dann musst du ihn aus der Reserve locken. »Bobby, im Moment liegen Sie nur in einem dunklen Raum. Das bedeutet überhaupt nichts.«

»Klingt so, als ob Sie Mitleid für mich empfinden würden.« Er schien verwundert.

»Ihr ganzes Leben scheint so abzulaufen. Trotz Ihrer Sprüche von VR-Projekten und Unternehmensverantwortung haben Sie über gar nichts reale Kontrolle, nicht wahr? Die Welt, in der Sie leben, ist genauso unwirklich wie eine virtuelle Simulation. Denken Sie mal nach: Sie waren ganz allein, bevor ich gekommen bin.«

Er ließ sich das durch den Kopf gehen. »Vielleicht. Aber dann sind ja Sie erschienen.« Er schulterte die Flinte. »Kommen Sie. Zeit zum Abendessen mit Papa.« Er runzelte eine Augenbraue. »Vielleicht bleiben Sie noch ein wenig, nachdem Sie von uns bekommen haben, was Sie wollen – was auch immer es ist.«

»Bobby …«

Er hatte schon die Hände zum Stirnband geführt.

 

Das Abendessen war eine heikle Angelegenheit.

Die drei saßen unter dem Kuppeldach von Hirams Anwesen. Sterne und die schmale Sichel des Halbmonds zeigten sich in Lücken der dahinstiebenden Wolken. Der Himmel hätte nicht spektakulärer anmuten können – und dann fiel ihr ein, dass dank Hirams Wurmloch-DataPipes der Himmel sich verdunkeln würde, wenn auch die letzten Kommunikations-Satelliten aus dem niedrigen Orbit in die Atmosphäre gestürzt waren.

Die appetitlich zubereiteten Speisen wurden von stummen Drohnen-Robots serviert. Die Gänge bestanden aus profanen Meeresfrüchten, wie sie in einem Dutzend Restaurants in Seattle auf der Speisekarte standen, und der Wein war ein durchschnittlicher kalifornischer Chardonnay. Im ganzen Haus gab es keinerlei Hinweis auf Hirams vielfarbige Ursprünge, wie es dem Ambiente überhaupt an Originalität und einer persönlichen Note fehlte.

Hiram nahm sie förmlich ins Kreuzverhör. Er bestürmte sie mit Fragen über ihren persönlichen Hintergrund, ihre Familie und den beruflichen Werdegang. Und sie ertappte sich dabei, dass sie mehr preisgab, als sie wollte.

Unter dem Firnis der Höflichkeit schimmerte unverhohlene Feindseligkeit durch. Er weiß, worauf ich es abgesehen habe, sagte sie sich.

Bobby verhielt sich still und aß auch nur wenig. Obwohl er sich wieder bemühte, Blickkontakt zu vermeiden, schien er sich ihrer Präsenz stärker denn je bewusst zu sein. Sie spürte Anziehung – wobei aber nicht viel dazu gehörte, um das zu merken – und eine gewisse Faszination. Vielleicht war es ihr gelungen, diese bräsige, aalglatte Fassade etwas anzukratzen. Dennoch hielt sie es bei nüchterner Überlegung für wahrscheinlicher, dass er nur wegen seiner eigenen Reaktion auf sie verwirrt war.

Oder vielleicht war das alles auch nur Einbildung, und sie sollte es sein lassen, die Gedanken anderer Leute ergründen zu wollen – eine Angewohnheit, die sie bei anderen schließlich auch entschieden verurteilte.

»Ich verstehe das einfach nicht«, sagte Hiram. »Wie ist es möglich, dass der Wurmwald, ein immerhin vierhundert Quadratkilometer großes Objekt, erst 2033 entdeckt wurde? Ich weiß wohl, dass er hinter Uranus steht, aber trotzdem …«

»Das Phänomen extrem dunkel und langsam«, sagte Kate. »Es handelt sich offensichtlich um einen Kometen, nur dass er größer ist als alle bekannten Kometen. Wir wissen nicht, woher er stammt; vielleicht gibt es irgendwo hinter Neptun eine ganze Wolke solcher Objekte.

Zumal niemand in dieser Richtung gesucht hat. Selbst die Raumwacht konzentriert sich auf den erdnahen Raum und auf die Objekte, die uns in naher Zukunft vielleicht treffen könnten. Der Wurmwald wurde von einem Verein von Amateur-Sternguckern entdeckt.«

»Ähem«, sagte Hiram. »Und nun ist er hierher unterwegs?«

»Ja. In fünfhundert Jahren wird er hier sein.«

Bobby wedelte mit einer kräftigen, manikürten Hand. »Aber das ist noch so lang hin. Es gibt sicher Pläne für einen solchen Notfall.«

»Was für Notfallpläne denn? Bobby, der Wurmwald ist ein Gigant. Wir wissen nicht einmal in der Theorie, wie wir den verdammten Brocken aus dem Weg räumen sollten. Und wenn das Ding runterkommt, gibt es kein Entrinnen.«

»Ihr wisst es also nicht einmal in der Theorie«, sagte Bobby trocken.

»Ich meine, die Astronomen …«

»Wenn man Sie so reden hört, könnte man fast glauben, Sie hätten ihn selbst entdeckt.« Mit diesem Sarkasmus revanchierte er sich nun für ihre unverschämte Art von vorhin. »Manche Leute neigen anscheinend dazu, sich mit fremden Federn zu schmücken, nicht wahr?«

Hiram lachte keckernd. »Ich sehe schon, ihr versteht euch prima, Kinder. Eine interessante Diskussion … Und Sie, Ms. Manzoni, glauben natürlich, die Menschen hätten ein Recht zu erfahren, dass die Welt in fünfhundert Jahren untergehen wird?«

»Sie etwa nicht?«

»Sie sollten auch einmal die Konsequenzen bedenken«, meinte Bobby. »Die Selbstmorde, der sprunghafte Anstieg der Abtreibungszahlen, die Aufgabe diverser Umweltschutz-Projekte.«

»Ich überbringe nur die schlechte Nachricht«, sagte sie grimmig. »Dafür, dass der Wurmwald