Das Lied & das Ich - Ian Bostridge - E-Book

Das Lied & das Ich E-Book

Ian Bostridge

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Beschreibung

«Wenn man als Sänger auftritt, dann nimmt man eine Stimme an, aber bis zu welchem Grad ist diese Stimme Deine eigene? Oder die des Komponisten? Oder die des Dichters oder Librettisten? Und inwieweit bringt das Musikstück, das Du interpretierst, eine stille, manchmal unterschwellige Geschichte mit sich, die vielleicht Fragen aufwirft, welche im Konzertsaal selten gestellt werden können?» Ian Bostridge, dessen unvergleichlich schönes Buch über Schuberts «Winterreise» hierzulande mit über 30 000 verkauften Exemplaren zu einem Bestseller geworden ist, erkundet in seinen eleganten Essays die hochkomplexe Interaktion zwischen der Identität des aufführenden Künstlers und den Identitäten, die intentional in einem Kunstwerk zum Ausdruck gelangen oder doch darin verborgen eingelagert sind. Claudio Monteverdis Oper «Tankred und Clorinda», Robert Schumanns «Frauenliebe und Leben» und die «Chansons madécasses» von Maurice Ravel bilden dabei Anschauungsmaterial, an dem sich sowohl die «ewigen» Fragen der Interpretationskunst wie auch aktuelle Herausforderungen, etwa das Problem der «kulturellen Aneignung», diskutieren lassen.

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Ian Bostridge

Das Lied & das Ich

Betrachtungen eines Sängers über Musik, Performance und Identität

Aus dem Englischen übersetzt von Annabel Zettel

C.H.Beck

Zum Buch

«Normalerweise können Sänger nicht erklären, was sie tun. Ian Bostridge kann es.»

Richard Sennett

«Ian Bostridge vereint in sich wie kein anderer die Gaben eines gefeierten Tenors mit denen eines ausgebildeten Historikers.» Stephen Greenblatt

«Wenn man als Sänger auftritt, dann nimmt man eine Stimme an, aber bis zu welchem Grad ist diese Stimme Deine eigene? Oder die des Komponisten? Oder die des Dichters oder Librettisten? Und inwieweit bringt das Musikstück, das Du interpretierst, eine stille, manchmal unterschwellige Geschichte mit sich, die vielleicht Fragen aufwirft, welche im Konzertsaal selten gestellt werden können?»

Über den Autor

Ian Bostridge ist ein auf der ganzen Welt gefragter Liedsänger, der auch in Deutschland regelmäßig Konzerte gibt und mehrfach mit dem Echo-Klassik ausgezeichnet wurde. Sein in viele Sprachen übersetztes Buch «Schuberts Winterreise. Lieder von Liebe und Schmerz» liegt in der 5. Auflage vor.

Inhalt

Tafelteil

Vorwort

1: Verschwimmende Identitäten

Geschlechter auf der Bühne

2: Verborgene Geschichten

Ventriloquismus und Identität in Ravels Chansons Madécasses

3: «These fragments I have shored against my ruins»

Meditationen über den Tod

Dank

Anmerkungen

Motto

Vorwort

Verschwimmende Identitäten

Verborgene Geschichten

«These fragments I have shored against my ruins»

Bildnachweis

Tafelteil

Personenregister

Für Lucasta, il miglior fabbro

«Ich schlüpfte also in die Doppelrolle Und rief, und hörte rufen: «Was! Sie hier?»

T. S. Eliot, «Little Gidding»[1]

«Stattdessen gehe ich davon aus, dass Identitäten niemals einheitlich sind. In der Spätmoderne erscheinen sie zunehmend fragmentiert und zerstreut, jedoch niemals eindeutig. Identitäten sind konstruiert aus unterschiedlichen, ineinandergreifenden, auch antagonistischen Diskursen, Praktiken und Positionen. Sie sind Gegenstand einer radikalen Historisierung und beständig im Prozess der Veränderung und Transformation begriffen. (…) Identitäten sind daher innerhalb und nicht außerhalb von Repräsentation konstituiert.»

Stuart Hall, «Wer braucht ‹Identität›?»[2]

Tafelteil

Domenico Tintoretto, Tancredi tauft Clorinda, 1586–1600. Öl auf Leinwand.

Anthonis van Dyck, Thomas Howard Graf von Arundel und seine Frau Alathea Talbot, 1639/1640. Öl auf Leinwand.

«Bist du es, mein Kind?» Produktionsfoto der US-Premiere von Benjamin Brittens Curlew River, aus dem Synod House, Cathedral of St. John the Divine, New York City, 26. Oktober 2014, mit Ian Bostridge als Madwoman.

«Zweifellos wird uns der Signore bald verlassen. Wir müssen alle das verlieren, was wir am besten zu genießen glaubten.» Produktionsfoto von Benjamin Brittens Tod in Venedig, London Coliseum, Mai 2007. Von links nach rechts: Peter van Hulle (Hotelportier), Peter Coleman Wright (Hotelmanager), Ian Bostridge (Aschenbach).

Vorwort

Diese Essays entstanden ursprünglich als Vorlesungen, die Berlin Family Lectures an der University of Chicago, und ich möchte zunächst der Familie Berlin und der University of Chicago für diese Einladung danken. Sie war eine wertvolle Gelegenheit nachzudenken. Als Sänger hatte ich 2020 und 2021 aufgrund der Pandemie kaum Gelegenheit, live aufzutreten. Daher war ich, wie alle Künstler weltweit, gezwungen, eine Identität, ein Selbst, in Frage zu stellen, das in den vergangenen 20 oder 30 Jahren dadurch definiert war, auf der Bühne zu stehen und dem Publikum in Konzertsälen und Opernhäusern Musik unmittelbar physisch und in Echtzeit nahezubringen.

Meine Karriere war insofern ungewöhnlich, als ich vor meiner professionellen Laufbahn als Sänger, die erst mit Ende 20 begann, akademischer Historiker war. Die erzwungene Stille des vergangenen Jahres gab mir die Möglichkeit, mich wieder auf meine Identität als Historiker zu besinnen und nachzudenken. So konnte ich mich intensiver, als ich es sonst getan hätte, mit den Hintergründen einiger der großartigsten Werke klassischer Musik befassen, die ich in der Vergangenheit interpretiert habe oder gerne noch interpretieren möchte, von Komponisten, angefangen bei der italienischen Renaissance mit Claudio Monteverdi bis hin zu Benjamin Britten im England des 20. Jahrhunderts.

In diesen Essays werde ich mich auf eine Reise unter die Oberfläche jener Werke wagen, um meine Funde zu teilen und Fragen zu stellen, die im Konzertsaal für gewöhnlich nicht gestellt werden. Die Tradition der westlichen klassischen Musik ist keineswegs dem Untergang geweiht oder kulturell autoritär, sondern weiterhin lebendig, da sie uns immer wieder dazu einlädt, Fragen zu stellen. Die einzelnen musikalischen Werke, die ich erkunden möchte, erweisen sich als fluide und offen, bewirken aber zugleich, dass wir uns emotional mit den Konflikten und Widersprüchen menschlicher Erfahrung auseinandersetzen, einschließlich genderspezifischer oder kolonialer Machtverhältnisse und der Art und Weise, wie wir der ultimativen Auflösung von Identität, dem Tod, begegnen – ein Aspekt, der während der seit über einem Jahr andauernden globalen Pandemie gedanklich in den Vordergrund gerückt ist. Im besten Falle verkörpert Musik mit seltsamer Kraft das, was der Dichter John Keats «Negative Capability» («negative Fähigkeit») nannte, die kreative Fähigkeit, mit Zweifeln und Mysterien zu leben. Sie bringt uns zum Nachdenken und trägt uns zugleich über das Denken hinaus.

Die Frage (und Hinterfragung) der Identität ist der Ausgangspunkt dieser Essays, aber sie bleiben doch immer noch Essays: provisorisch, experimentell, suggestiv. Sie legen keine These dar; sie haben keine Agenda. In ihren Gedankengängen streben sie danach, Komplexität ans Licht zu bringen oder hervorzuheben, Textur hinzuzufügen, zu problematisieren. Da ich mich instinktiv auf meine Praxis als Interpret berufe, widme ich mich diesen Themen nicht als Philosoph oder Sozialtheoretiker, sondern aus dem Gefühl heraus, dass sich persönliche Identität aus einer Begegnung des Selbst mit dem, was außerhalb des Selbst liegt, bildet: dass sie sowohl kulturell konstruiert als auch durch intuitive Subjektivität geformt wird. Wenn Identität zum Teil performativ ist, dann sollen diese Essays wiederum eine Performance mit offenem Ausgang bieten, in der ich den Leser – das Publikum – dazu einlade, auf die verschiedenen Stränge, Themen und Variationen zu reagieren, wie sie es vielleicht auch bei einem Musikstück selbst tun würden.

Der erste Essay befasst sich damit, wie die Vokalwerke von Monteverdi, Schumann und Britten – keines direkt opernartig – die Geschlechtergrenzen verwischen können. Im zweiten Essay gehe ich den historischen und politischen Wurzeln eines einzelnen Liedes aus Ravels Chansons Madécasses (Madagassische Lieder) nach, das mich immer verfolgt und verunsichert hat. Ich hoffe, unsere Resonanz darauf intensivieren und schulen zu können, und möchte über Vergangenheit und Zukunft nachdenken, indem ich den unklaren, oft verstörenden Kontext des Liedes und die Art ergründe, wie es koloniale und «alterisierte» Identitäten, «verAnderte» («othered») Identitäten konstruiert und dekonstruiert. Im dritten Essay schließe ich mit dem Tod, weil er das Ende von allem ist; weil die Musik zum Tod spricht; und weil der Tod die Abwesenheit ist, in deren Angesicht jede menschliche Identität konstruiert ist.

*