Das Lied von Eis und Feuer 09 - George R.R. Martin - E-Book
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Das Lied von Eis und Feuer 09 E-Book

George R.R. Martin

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Beschreibung

Der Kampf um den eisernen Thron geht weiter ... Die heißersehnte Fortsetzung des größten Epos unserer Zeit!

Die Sieben Königreiche zerfallen weiter im Machtkampf der großen Adelshäuser, die einander eifersüchtig belauern in ihrer Gier nach dem Eisernen Thron. Einigkeit finden sie nur in ihrem Misstrauen gegen Daenerys Targaryen, der rechtmäßigen Erbin der Krone. Gemeinsam mit ihren drei Drachen und einer stetig wachsenden Armee greift sie vom Osten aus nach der Herrschaft über Westeros. Die größte Gefahr droht derweil jedoch aus dem Norden, wo schreckliche Geschöpfe sich erheben, um die Menschen des Südens zu überrennen. Allein Kommandant Jon Schnee und seine wenigen tapferen Männer von der Nachtwache stemmen sich verzweifelt gegen diese finstere Übermacht …

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Seitenzahl: 1198

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George R. R. Martin

Der Sohn des Greifen

Das Lied von Eis und Feuer 9

Ins Deutsche übertragenvon Andreas Hellweg

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »A Dance with Dragons« (Pages 1-499 + Appendix)bei Bantam Dell, a division of Random House, Inc., New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstveröffentlichung Mai 2012 bei Penhaligon, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Copyright © 2011 by George R.R. Martin

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Published in agreement with the author c/o Ralph M. Vicinanza, Ltd.

All rights reserved

Redaktion: Sigrun Zühlke und Thomas Gießl

UH · Herstellung: sam

Karten »Der Norden« und »Der Süden«: Franz Vohwinkel

Satz: DTP Service Apel, Hannover

ISBN 978-3-641-08863-7V009www.penhaligon.de

Prolog

Menschgestank hing in der Nacht.

Der Warg blieb unter einem Baum stehen und schnüffelte. Sein graubraunes Fell war von Schatten gesprenkelt. Ein Seufzer des Kiefernwinds trug den Menschengeruch zu ihm und dazu die schwächere Witterung von Fuchs und Hase, Seehund und Hirsch und sogar Wolf. Das waren ebenfalls Gerüche von Menschen, wie der Warg wusste; der Gestank alter Felle, tot und bitter, der die stärkeren Gerüche beinahe vollständig überlagerte: Rauch und Blut und Fäulnis. Nur Menschen zogen anderen Tieren die Haut ab und trugen deren Fell und Haar.

Warge fürchteten sich nicht wie Wölfe vor Menschen. Hass und Hunger brodelten in seinem Bauch, und er knurrte leise, um seinen einäugigen Bruder und seine kleine listige Schwester zu rufen. Während er durch den Wald rannte, folgte ihm sein Rudel dicht auf den Fersen. Die anderen hatten das Gleiche gewittert. Im Laufen spähte er auch durch ihre Augen und erblickte sich selbst an der Spitze. Ihr Atem hing warm und weiß aus den langen grauen Schnauzen. Eis hatte sich zwischen ihren Pfoten gebildet, hart wie Stein, aber jetzt hatte die Jagd begonnen, die Beute wartete vor ihnen. Lebendiges Fleisch, dachte der Warg, Fleisch zum Fressen.

Ein Mensch allein war ein schwaches Wesen. Groß und stark, mit guten scharfen Augen, doch blind für Geräusche und taub für Gerüche. Hirsch und Elch und sogar Hasen waren schneller, Bären und Eber grimmiger im Kampf. Im Rudel hingegen waren Menschen gefährlich. Während sich die Wölfe der Beute näherten, hörte der Warg das Klagen eines Welpen; hörte, wie die Kruste des Schnees, der in der letzten Nacht gefallen war, unter ungeschickten Menschenpfoten brach, hörte das Rasseln der Harthäute und der langen grauen Klauen, wie Menschen sie trugen.

Schwerter, flüsterte eine Stimme in ihm, Speere.

Den Bäumen waren Zähne aus Eis gewachsen, und die kahlen braunen Äste fauchten. Einauge preschte durch das Unterholz und ließ Schnee aufspritzen. Sein Rudel folgte ihm. Es ging einen Hügel hinauf und auf der anderen Seite hinunter, bis sich der Wald öffnete und sie die Menschen vor sich hatten. Einer war ein Weibchen. Das Fellbündel, das sie umklammerte, war ihr Welpe. Heb sie bis zuletzt auf, flüsterte die Stimme, die Männchen sind die eigentliche Gefahr. Sie brüllten einander an, wie es Menschen eben taten, doch der Warg konnte ihre Angst riechen. Einer hatte einen Holzzahn, der so groß war wie er selbst. Den schleuderte er, aber seine Hand zitterte, und der Zahn flog zu hoch.

Dann fiel das Rudel über sie her.

Sein einäugiger Bruder stieß den Zahnschleuderer in eine Schneewehe und riss ihm im Fallen die Kehle heraus. Seine Schwester schlich sich hinter das andere Männchen und sprang ihm in den Rücken. Damit blieben das Weibchen und der Welpe für ihn.

Das Weibchen hatte ebenfalls einen Zahn, einen kleinen, der aus Knochen gemacht war, aber sie ließ ihn fallen, als sich die Kiefer des Wargs um ihr Bein schlossen. Als sie zu Boden ging, umschlang sie ihren lärmenden Welpen mit beiden Armen. Unter ihren Fellen war das Weibchen nur Haut und Knochen, doch ihre Zitzen waren voller Milch. Das süßeste Fleisch war am Welpen. Der Wolf hob die besten Stücke für seinen Bruder auf. Um die Leichen herum färbte sich der gefrorene Schnee rosa und rot, während sich das Rudel die Bäuche vollschlug.

Viele Meilen entfernt in einer kleinen Hütte aus Lehm und Stroh mit Reetdach, einem Rauchloch und einem Boden aus gestampfter Erde zitterte, hustete und leckte sich Varamyr die Lippen. Seine Augen waren rot, seine Lippen aufgesprungen, seine Kehle war trocken und ausgedörrt, dennoch füllte der Geschmack von Blut und Fett seinen Mund, auch wenn sein geschwollener Bauch nach Nahrung schrie. Kinderfleisch, dachte er und erinnerte sich an Kuller. Menschenfleisch. War er so tief gesunken, dass er jetzt schon nach dem Fleisch von Menschen gierte? Fast konnte er hören, wie Haggon ihn anknurrte. »Menschen essen vielleicht das Fleisch von Tieren und Tiere das Fleisch von Menschen, aber ein Mensch, der das Fleisch eines Menschen frisst, ist eine Abscheulichkeit.«

Abscheulichkeit. Das war immer Haggons Lieblingswort gewesen. Abscheulichkeit, Abscheulichkeit, Abscheulichkeit. Menschenfleisch zu essen war abscheulich, sich als Wolf mit Wölfen zu paaren war abscheulich, und sich des Körpers eines anderen Menschen zu bemächtigen war die größte Abscheulichkeit von allen. Haggon war schwach und hatte Angst vor seiner eigenen Macht. Er ist weinend und allein gestorben, als ich ihm sein zweites Leben entrissen habe. Varamyr selbst hatte sein Herz verschlungen. Er hat mir viel und noch viel mehr beigebracht, und das Letzte, was ich von ihm gelernt habe, war, wie Menschenfleisch schmeckt.

Das war allerdings als Wolf gewesen. Mit seinen menschlichen Zähnen hatte er Menschenfleisch noch nie angerührt. Dennoch missgönnte er seinem Rudel das Festmahl nicht. Die Wölfe waren so ausgehungert wie er selbst, mager und durchgefroren und hungrig, und ihre Beute … zwei Männer, eine Frau und ein Säugling, die vor der Niederlage in den Tod flohen. Sie wären sowieso bald gestorben, durch den Hunger oder die Kälte. Auf diese Weise ging es besser, schneller. Eine Gnade.

»Eine Gnade«, sagte er laut. Seine Kehle war rau, trotzdem fühlte es sich gut an, eine menschliche Stimme zu hören, selbst wenn es nur die eigene war. Die Luft roch modrig und feucht, der Boden war kalt und hart, und das Feuer erzeugte mehr Rauch als Hitze. Er schob sich so nah an die Flammen heran, wie er nur wagte, hustete und zitterte abwechselnd, und seine Flanke pochte, wo die Wunde aufgegangen war. Seine Hose hatte sich bis zu den Knien mit Blut vollgesogen und trocknete zu einer harten braunen Kruste.

Distel hatte ihn davor gewarnt. »Ich habe sie so gut genäht wie ich kann«, hatte sie gesagt, »aber du musst dich ausruhen und die Wunde in Ruhe heilen lassen, sonst wird das Fleisch wieder aufreißen.«

Distel war seine letzte Gefährtin gewesen, eine Speerfrau, zäh wie eine alte Wurzel, warzig, vom Wind gegerbt und runzlig. Die anderen hatten sie unterwegs im Stich gelassen. Einer nach dem anderen ließen sie sich zurückfallen oder kämpften sich voran, strebten zu ihren alten Dörfern, zum Milchwasser oder nach Hartheim oder einem einsamen Tod in den Wäldern entgegen. Varamyr wusste es nicht, und es kümmerte ihn auch nicht. Ich hätte einen von ihnen nehmen sollen, als ich die Gelegenheit hatte. Einen der Zwillinge oder den großen Mann mit dem vernarbten Gesicht oder den Jungen mit dem roten Haar. Doch er hatte Angst gehabt. Einer der anderen hätte mitbekommen können, was da geschah. Dann hätten sie sich gegen ihn gewandt und ihn umgebracht. Und Haggons Worte hatten ihn verfolgt. So war die Gelegenheit ungenutzt verstrichen.

Nach der Schlacht hatten sich Tausende von ihnen durch den Wald geschleppt, hungrig, verängstigt und auf der Flucht vor dem Gemetzel, das an der Mauer über sie hereingebrochen war. Manche hatten darüber gesprochen, zu ihren verlassenen Häusern zurückzukehren, andere wollten sich für einen zweiten Angriff auf das Tor sammeln, doch die meisten irrten ziellos umher und wussten nicht, wohin sie gehen oder was sie tun sollten. Sie waren den Krähen in ihren schwarzen Röcken und den Rittern in ihrem grauen Stahl entgangen, doch nun wurden sie von unbarmherzigeren Feinden gejagt. Jeden Tag blieben mehr Leichen am Wegesrand zurück. Manche starben am Hunger, manche an der Kälte, manche an Krankheiten. Andere wurden von jenen erschlagen, die noch ihre Waffenbrüder gewesen waren, als sie mit Manke Rayder nach Süden gezogen waren, mit dem König-jenseits-der-Mauer.

Manke ist gefallen, erzählten sich die Überlebenden verzweifelt, Manke ist in Gefangenschaft, Manke ist tot. »Harma ist tot und Manke gefangen genommen, die anderen sind davongelaufen und haben uns im Stich gelassen«, hatte Distel behauptet, während sie seine Wunde nähte. »Tormund, der Weiner, Sechsleib, all diese tapfere Räuber. Wo sind sie hin?«

Sie erkennt mich nicht, hatte Varamyr da begriffen, und warum sollte sie auch? Ohne seine Tiere sah er nicht aus wie ein großer Mann. Ich war Varamyr Sechsleib, der Brot mit Manke Rayder gebrochen hat. Den Namen Varamyr hatte er sich mit zehn selbst gegeben. Ein Name, eines Herrn würdig, ein Name für die Lieder, ein mächtiger Name, der Furcht erregt. Trotzdem war er vor den Krähen davongerannt wie ein verängstigtes Kaninchen. Der schreckliche Herr Varamyr war zum Feigling geworden, aber er konnte den Gedanken nicht ertragen, dass die Speerfrau das erfuhr, deshalb hatte er sich ihr gegenüber Haggon genannt. Später hatte er sich gefragt, wie er ausgerechnet auf diesen Namen gekommen war, von all den Namen, die er hätte wählen können. Ich habe sein Herz gefressen und sein Blut getrunken, und dennoch sucht er mich weiter heim.

Eines Tages während der Flucht war ein Reiter auf einem weißen Pferd durch den Wald galoppiert gekommen und hatte geschrien, sie alle sollten zum Milchwasser kommen, wo der Weiner Krieger versammele, um die Schädelbrücke zu überqueren und den Schattenturm einzunehmen. Viele folgten ihm; die meisten nicht. Später ging ein Krieger in Fell und Bernstein von Feuer zu Feuer und beschwor die Überlebenden, nach Norden zu ziehen und Zuflucht im Tal der Thenns zu suchen. Warum er glaubte, dass sie dort in Sicherheit wären, wo doch die Thenns selbst längst von dort geflohen waren, erfuhr Varamyr nie, doch Hunderte folgten dem Mann. Hunderte andere gingen mit der Waldhexe, die eine Vision von einer Flotte Schiffe gehabt hatte, welche kommen würden, um das Freie Volk nach Süden zu bringen. »Wir müssen zum Meer aufbrechen«, rief Mutter Maulwurf, und ihre Gefolgsleute wandten sich nach Osten.

Varamyr hätte sich ihnen anschließen können, wenn er nur kräftiger gewesen wäre. Doch das Meer war grau und kalt und weit entfernt, und er wusste, dass er niemals lebend dort angekommen wäre. Neunmal war er gestorben und lag erneut im Sterben, doch diesmal würde es sein wahrer Tod sein. Ein Mantel aus Eichhörnchenfell, erinnerte er sich, er hat mir wegen eines Mantels aus Eichhörnchenfell das Messer in den Leib gerammt.

Dessen Besitzerin war tot gewesen, ihr Hinterkopf zerschmettert, blutiger Brei mit Knochenstücken, aber ihr Mantel sah warm und dick aus. Es schneite, und Varamyr hatte seine eigenen Mäntel an der Mauer verloren. Seine Schlaffelle und seine wollene Unterwäsche, seine Schaffell-Stiefel und seine pelzgesäumten Handschuhe, seinen Vorrat an Met und gehortetem Essen, die Haarsträhnen, die er von den Frauen genommen hatte, mit denen er das Bett geteilt hatte, sogar die goldenen Armreifen, die Manke ihm geschenkt hatte, alles hatte er verloren und zurückgelassen. Ich habe gebrannt und bin gestorben, und dann bin ich geflohen, halb verrückt vor Schmerz und Angst. Bei der Erinnerung daran schämte er sich immer noch, aber er war nicht allein gewesen. Andere waren ebenfalls geflohen, zu Hunderten und Tausenden. Die Schlacht war verloren. Die Ritter waren gekommen, und unbesiegbar in ihrem Stahl töteten sie jeden, der blieb, um sich ihnen zum Kampf entgegenzustellen. So hieß es fliehen oder sterben.

Doch dem Tod lief man nicht so leicht davon. Als Varamyr auf die tote Frau im Wald stieß, kniete er neben der Leiche, um ihr den Mantel abzunehmen, und er sah den Jungen nicht, bis er aus seinem Versteck sprang, und ihm das lange Knochenmesser in die Seite stieß und ihm den Mantel aus den zusammengekrallten Fingern riss. »Seine Mutter«, erklärte Distel ihm später, nachdem der Junge weggelaufen war. »Der Mantel gehörte seiner Mutter, und als er sah, wie du sie berauben wolltest …«

»Sie war tot«, sagte Varamyr und zuckte zusammen, als ihre Knochennadel seine Haut durchbohrte. »Irgendwer hat ihr den Schädel eingeschlagen. Irgendeine Krähe.«

»Keine Krähe. Hornfüße. Ich habe es gesehen.« Mit der Nadel zog sie die Wunde in seiner Seite zusammen. »Wilde, und wer ist jetzt noch da, um sie zu zähmen?« Niemand. Wenn Manke tot ist, ist das Freie Volk dem Untergang geweiht. Die Thenns, die Riesen und die Hornfußmänner, die Höhlenbewohner mit ihren spitzgefeilten Zähnen, und die Menschen von der Westküste mit ihren Streitwagen aus Knochen … alle waren dem Untergang geweiht. Sogar die Krähen. Sie wussten es vielleicht noch nicht, aber diese schwarzgekleideten Bastarde würden mit den anderen untergehen. Der Feind nahte.

Haggons heisere Stimme hallte in seinem Kopf wider. »Du wirst ein Dutzend Tode sterben, Junge, und jeder wird schmerzhaft sein … Doch wenn dein wahrer Tod kommt, wirst du wieder leben. Das zweite Leben ist einfacher und süßer, heißt es.«

Varamyr Sechsleib würde schon bald erfahren, ob das stimmte. Er schmeckte seinen wahren Tod im Rauch, der beißend in der Luft hing, und fühlte ihn in der Hitze unter seinen Fingern, wenn er die Hand unter den Stoff schob und seine Wunde berührte. Auch die Kälte war in ihn hineingekrochen, tief in seine Knochen. Diesmal würde es die Kälte sein, die ihn tötete.

Das letzte Mal war er durch Feuer gestorben. Ich bin verbrannt. Zunächst hatte er in seiner Verwirrung gedacht, ein Bogenschütze auf der Mauer habe ihn mit einem Brandpfeil durchbohrt … Doch das Feuer hatte in ihm gelodert und ihn verzehrt. Und der Schmerz …

Varamyr war schon neunmal gestorben. Einmal durch einen Speerstoß, einmal durch Bärenzähne in seiner Kehle und einmal in einem Schwall Blut, als er eine Totgeburt zur Welt gebracht hatte. Zum ersten Mal war er mit nur sechs Jahren gestorben, als die Axt seines Vaters seinen Schädel zertrümmerte. Doch selbst das war nicht so schmerzhaft gewesen wie das Feuer in den Eingeweiden, das prasselnd an seinen Flügeln entlanggekrochen war und ihn verschlungen hatte. Als er versucht hatte, vor dem Feuer davonzufliegen, hatte seine Angst die Flammen angefacht und sie noch heißer brennen lassen. Im einen Augenblick schwebte er noch über der Mauer und beobachtete mit seinen Adleraugen die Bewegungen der Männer unten. Im nächsten hatten die Flammen sein Herz in schwarze Kohle verwandelt und seinen Geist schreiend zurück in seinen eigenen Leib geschickt, und für eine kleine Weile war er dem Wahnsinn verfallen. Allein die Erinnerung daran ließ ihn schaudern.

Das war der Augenblick, da er bemerkte, dass sein Feuer erloschen war.

Nur ein grauschwarzes Gewirr aus verkohltem Holz war geblieben, und in der Asche fand sich noch ein wenig Glut. Es raucht noch, es braucht nur Holz. Varamyr biss die Zähne zusammen, um sich gegen den Schmerz zu wappnen, kroch zu dem Haufen abgebrochener Äste, den Distel gesammelt hatte, ehe sie zur Jagd aufgebrochen war, und warf einige Stöcke auf die Asche. »Na los«, krächzte er. »Brenne.« Er blies in die Glut und sprach ein wortloses Gebet zu den namenlosen Göttern von Wald und Berg und Feld.

Die Götter ließen sich nicht zu einer Antwort herab. Nach einer Weile stieg auch kein Rauch mehr auf. Langsam hielt die Kälte Einzug in die kleine Hütte. Varamyr hatte weder Feuerstein noch Zunder oder trockenes Anmachholz. Er würde das Feuer nicht mehr in Gang bringen können, nicht ohne Hilfe jedenfalls. »Distel«, rief er, heiser und mit Schmerz in der Stimme. »Distel!«

Ihr Kinn war spitz und ihre Nase flach, und sie hatte auf der Wange ein Muttermal, aus dem vier dunkle Haare sprossen. Ein hässliches Gesicht, hart dazu, und doch hätte er viel darum gegeben, es jetzt in der Tür der Hütte auftauchen zu sehen. Ich hätte sie nehmen sollen, ehe sie ging. Wie lange war sie schon fort? Zwei Tage? Drei? Varamyr war sich nicht sicher. In der Hütte war es dunkel, und er war immer wieder eingeschlafen. Dabei wusste er nie genau, ob draußen Tag war oder Nacht. »Warte«, hatte sie gesagt. »Ich komme mit Essen zurück.« Und wie ein Narr hatte er gewartet, von Haggon und Kuller geträumt und von all dem Unrecht, das er in seinem langen Leben begangen hatte, doch Tage und Nächte zogen dahin, und Distel kehrte nicht zurück. Sie kommt nicht wieder. Varamyr fragte sich, ob er sich irgendwie verraten hatte. Konnte sie seine Gedanken erraten, indem sie ihn einfach nur ansah, oder hatte er in seinen Fieberträumen gesprochen?

Abscheulichkeit, hörte er Haggon sagen. Es war beinahe, als wäre er hier in diesem Raum. »Sie ist nur eine hässliche Speerfrau«, sagte Varamyr sich. »Ich bin ein großer Mann. Ich bin Varamyr, der Warg, der Leibwechsler; es ist nicht recht, dass sie lebt und ich sterbe.« Niemand antwortete. Es war niemand da. Distel war fort. Sie hatte ihn verlassen, so wie alle anderen auch.

Sogar seine Mutter hatte ihn verlassen. Sie hat um Kuller geweint, aber nicht um mich. An dem Morgen, an dem sein Vater ihn aus dem Bett zerrte, um ihn Haggon zu übergeben, hatte sie ihn nicht einmal angesehen. Er hatte geschrien und um sich getreten, als man ihn in den Wald schleppte, bis sein Vater ihm eine Ohrfeige gegeben und ihm befohlen hatte, still zu sein. »Du gehörst zu deinesgleichen«, sagte er nur, als er ihn Haggon vor die Füße warf.

Er hatte nicht unrecht, dachte Varamyr zitternd. Haggon hat mir viel und noch viel mehr beigebracht. Er hat mir gezeigt, wie man jagt und fischt, wie man einen Kadaver zerlegt und einen Fisch entgrätet, wie ich mich im Wald zurechtfinde. Und er hat mich gelehrt, was es heißt, ein Warg zu sein, hat mich in die Geheimnisse der Leibwechsler eingeführt, obwohl die Gabe in mir viel stärker war als in ihm.

Jahre später hatte er versucht, seine Eltern zu finden, um ihnen zu sagen, dass er, Kugel, ihr Sohn, der große Varamyr Sechsleib geworden war, doch beide waren tot und verbrannt. In die Bäume und in die Bäche gegangen, in die Felsen und in die Erde. Zu Staub und Asche. Das hatte die Waldhexe zu seiner Mutter gesagt, an dem Tag, als Kuller gestorben war. Kugel wollte nicht zu einem Klumpen Erde werden. Der Junge hatte von einem Tag geträumt, an dem die Barden von seinen Taten sangen und ihm schöne Mädchen Küsse schenkten. Wenn ich groß bin, werde ich König-jenseits-der-Mauer, hatte sich Kugel geschworen. Das war ihm nicht gelungen, aber viel hatte nicht gefehlt. Varamyr Sechsleib war ein Name, den die Menschen fürchteten. Er ritt auf dem Rücken einer Schneebärin von vier Metern Höhe in die Schlacht, hatte sich drei Wölfe und eine Schattenkatze unterworfen und saß zur Rechten Manke Rayders. Wegen Manke liege ich jetzt hier. Ich hätte nicht auf ihn hören sollen. Ich hätte in meine Bärin schlüpfen und ihn in Stücke reißen sollen.

Vor Manke war Varamyr Sechsleib eine Art Herrscher gewesen. Er hatte allein unter seinen Tieren in einer Halle aus Moos und Schlamm und behauenen Baumstämmen gelebt, die zuvor Haggon gehört hatte. Ein Dutzend Dörfer huldigten ihm und gaben ihm Brot und Salz und Apfelwein oder brachten ihm Obst aus ihren Hainen und Gemüse aus den Gärten dar. Sein Fleisch verschaffte er sich selbst. Wann immer er eine Frau begehrte, schickte er seine Schattenkatze aus, um sich an sie heranzuschleichen, und auf welches Mädchen er auch den Blick warf, es folgte ihm widerstandslos in sein Bett. Manche weinten wohl, aber sie kamen dennoch. Varamyr schenkte ihnen seinen Samen, nahm eine Strähne von ihrem Haar, um ein Andenken an sie zu haben, und schickte sie zurück. Von Zeit zu Zeit tauchte ein tapferer Dorfheld mit dem Speer in der Hand bei ihm auf, um den Tierling zu erschlagen und seine Schwester oder Geliebte oder Tochter zu retten. Diese Kerle tötete er, doch den Frauen krümmte er kein Haar. Manche segnete er sogar mit Kindern. Kümmerlinge. Kleine, schwächliche Wesen wie Kugel, und keines hat die Gabe geerbt.

Die Furcht trieb ihn schwankend auf die Beine. Varamyr hielt sich die Seite, um den Blutfluss aus seiner Wunde aufzuhalten, schleppte sich zur Tür und zog das alte Fell zur Seite. Dahinter erhob sich eine weiße Wand. Schnee. Kein Wunder, dass es drinnen so dunkel und rauchig gewesen war. Der Schnee hatte die Hütte unter sich begraben.

Als Varamyr dagegendrückte, zerbröckelte der weiche, nasse Schnee und gab den Blick frei. Draußen war die Nacht so weiß wie der Tod; bleiche, dünne Wolken warteten tanzend dem silbernen Mond auf, während tausend Sterne kalt zuschauten. Er sah die buckligen Formen anderer Hütten, die unter Schneewehen verschwunden waren, und dahinter den bleichen Schatten eines Wehrholzbaumes, der mit Eis gepanzert war. Im Süden und Westen bildeten die Hügel eine weite weiße Wildnis, wo sich außer dem Schneegestöber nichts bewegte. »Distel«, rief Varamyr schwach und fragte sich, wie weit sie gegangen sein konnte. »Distel. Weib. Wo bist du?«

In der Ferne heulte ein Wolf.

Ein Schauer durchlief Varamyr. Dieses Heulen war ihm so vertraut, wie Kugel einst die Stimme seiner Mutter vertraut gewesen war. Einauge. Er war der älteste der drei, der größte, der wildeste. Pirscher war schlanker, schneller, jünger, Listig dagegen war verschlagener, aber beide hatten Angst vor Einauge. Der alte Wolf war furchtlos, gnadenlos und brutal.

Varamyr hatte in der Pein, die der Tod des Adlers ausgelöst hatte, die Gewalt über seine anderen Tiere verloren. Seine Schattenkatze war in den Wald gerannt, seine Schneebärin hatte sich gegen die Menschen in ihrer Umgebung gewandt und vier Männer in Stücke gerissen, ehe ein Speer sie gefällt hatte. Sie hätte auch Varamyr getötet, wenn er in ihre Nähe gekommen wäre. Die Bärin hatte ihn gehasst und jedes Mal getobt, wenn er in ihren Leib geschlüpft oder auf ihren Rücken geklettert war.

Seine Wölfe hingegen …

Meine Brüder. Mein Rudel. In vielen kalten Nächten hatte er bei seinen Wölfen geschlafen, hatte sich, umgeben von ihren zotteligen Leibern warm gehalten. Wenn ich sterbe, werden sie sich an meinem Fleisch gütlich tun und nur Knochen übriglassen, die dann im Frühling die Schneeschmelze begrüßen. Der Gedanke hatte etwas eigenartig Tröstliches an sich. Seine Wölfe hatten ihn auf ihren Streifzügen oft mitversorgt, daher erschien es ihm nur angemessen, wenn er ihnen am Ende als Nahrung diente. Vielleicht würde er sein zweites Leben damit beginnen, dass er das warme tote Fleisch von seiner eigenen Leiche riss.

Hunde waren die Tiere, die man am leichtesten an sich binden konnte; sie lebten so eng mit Menschen zusammen, sie hatten fast schon menschliche Züge. In den Leib eines Hundes zu schlüpfen war, als würde man einen alten Stiefel anziehen, dessen Leder vom Tragen weich geworden war. Und wie ein Stiefel für den Fuß gefertigt wurde, so war ein Hund für das Halsband geschaffen, sogar für ein Halsband, das ein menschliches Auge nicht sehen konnte. Wölfe waren schwieriger. Mit einem Wolf konnte ein Mensch sich anfreunden, ja, er konnte sogar den Willen eines Wolfes brechen, aber niemand konnte einen Wolf wirklich zähmen. »Wölfe und Frauen binden sich für das ganze Leben«, hatte Haggon oft gesagt. »Wenn du einen nimmst, ist das wie eine Heirat. Der Wolf wird von dem Tag an ein Teil von dir, und du ein Teil von ihm. Ihr werdet euch beide verändern.«

Andere Tiere ließ man besser in Ruhe, hatte der Jäger erklärt. Katzen waren eitel und grausam und stets bereit, sich gegen einen zu wenden. Elch und Hirsch waren Beute; wenn man ihre Leiber zu lange trug, wurde selbst der tapferste Mann zum Feigling. Bären, Keiler, Dachse, Wiesel … Haggon hatte nicht viel von ihnen gehalten. »In manche Leiber möchte man einfach nicht schlüpfen, Junge. Es wird dir nicht gefallen, was dann aus dir wird.« Vögel waren am schlimmsten, konnte man von ihm hören. »Menschen ist es nicht bestimmt, den Erdboden zu verlassen. Verbringe zu viel Zeit in den Wolken, und du willst nicht mehr herunterkommen. Ich kenne Leibwechsler, die es mit Falken, Eulen, Raben versucht haben. Selbst in ihrem eigenen Leib sitzen sie nur verträumt da und starren hinauf ins verdammte Blau.«

Wie auch immer, nicht allen Leibwechslern erging es so. Einmal, als Kugel zehn war, hatte Haggon ihn zu einer Leibwechsler-Versammlung mitgenommen. Die Warge, die Wolfsbrüder, waren die zahlreichsten in der Runde, doch der Junge hatte die anderen fremdartiger und faszinierender gefunden. Borroq ähnelte seinem Keiler so sehr, ihm fehlten nur noch die Hauer, Orell hatte seinen Adler, Dornros ihre Schattenkatze (in dem Moment, in dem er sie sah, wollte Kugel seine eigene Schattenkatze), Grisella ihre Ziege …

Doch keiner von ihnen war so mächtig gewesen wie Varamyr Sechsleib, nicht einmal der große, grimmige Haggon mit seinen Händen, hart wie Stein. Der Jäger starb weinend, nachdem Varamyr ihm Graufell genommen und ihn aus dem Tier vertrieben hatte, um es selbst zu besitzen. Kein zweites Leben für dich, alter Mann. Varamyr Dreileib nannte er sich damals noch. Mit Graufell waren es vier, obwohl der alte Wolf gebrechlich und beinahe zahnlos war und Haggon bald in den Tod folgte.

Varamyr konnte sich jedes Tier nehmen, das er wollte, es seinem Willen unterwerfen und sein Fleisch zu seinem eigenen machen. Hund oder Wolf, Bär oder Dachs …

Distel, dachte er.

Haggon hätte es Abscheulichkeit genannt, als schwärzeste Sünde überhaupt bezeichnet, doch Haggon war tot, verschlungen und verbrannt. Manke hätte ihn ebenfalls verflucht, aber Manke war erschlagen worden oder in Gefangenschaft geraten. Niemand wird es je erfahren. Ich werde Distel, die Speerfrau sein, und Varamyr Sechsleib wird tot sein. Seine Gabe würde mit seinem Körper sterben, glaubte er. Er würde seine Wölfe verlieren und den Rest seiner Tage als dürres, warziges Weib verbringen … doch er würde leben. Wenn sie zurückkommt. Wenn ich dann noch stark genug bin, um sie zu nehmen.

Schwindel schlug wie eine Woge über Varamyr zusammen. Er fand sich auf den Knien wieder, und seine Hände steckten in einer Schneewehe. Er nahm eine Hand voll Schnee und stopfte sich den Mund voll, rieb ihn sich in den Bart und auf die trockenen Lippen, saugte die Feuchtigkeit in sich hinein. Das Wasser war so kalt, dass er sich kaum überwinden konnte, es zu schlucken, und wieder fiel ihm auf, wie heiß sein Körper war.

Der geschmolzene Schnee verstärkte den Hunger. Sein Bauch verlangte nach Essen, nicht nach Wasser. Es hatte aufgehört zu schneien, doch der Wind nahm zu und blies Kristalle in die Luft, die ihm ins Gesicht stachen, als er sich durch die Wehen kämpfte. Die Wunde in seiner Flanke öffnete und schloss sich wieder. Sein Atem bildete eine weiße Wolke. Als er den Wehrholzbaum erreichte, fand er einen abgebrochenen Ast, der gerade lang genug war, um ihm als Krücke zu dienen. Er stützte sich schwer darauf und wankte weiter zu der Hütte, die ihm am nächsten war. Vielleicht hatten die Dorfbewohner bei der Flucht etwas zurückgelassen … einen Sack Äpfel, etwas Dörrfleisch, irgendetwas, das ihn am Leben hielt, bis Distel zurückkehrte.

Er hatte die Hütte beinahe erreicht, als die Krücke unter dem Gewicht brach und die Beine unter seinem Körper einknickten.

Wie lange er da lag und sein Blut den Schnee rötete, hätte Varamyr nicht sagen können. Der Schnee wird mich begraben. Das wäre ein friedlicher Tod. Warm, so heißt es, wird es einem am Ende, warm, und schläfrig fühlt man sich. Es wäre schön, sich wieder warm zu fühlen, obwohl es ihn mit Traurigkeit erfüllte, dass er das grüne Land wohl doch nicht sehen würde, das warme Land jenseits der Mauer, von dem Manke gesungen hatte. »Die Welt jenseits der Mauer ist nicht für unsereins bestimmt«, pflegte Haggon zu sagen. »Das Freie Volk fürchtet die Leibwechsler, doch es verehrt uns auch. Südlich der Mauer werden die Knienden uns jagen und abschlachten wie Schweine.«

Du hast mich gewarnt, dachte Varamyr, aber du warst es auch, der mir Ostwacht gezeigt hat. Er war damals kaum älter als zehn gewesen. Haggon hatte ein Dutzend Bernsteinketten und einen mit Fellen vollgepackten Schlitten gegen sechs Schläuche Wein, einen Block Salz und einen Kupferkessel getauscht. Ostwacht war ein besserer Ort zum Handeln als die Schwarze Festung; dort landeten die Schiffe an, die beladen waren mit den Waren aus den sagenhaften Ländern jenseits des Meeres. Die Krähen kannten Haggon als Jäger und Freund der Nachtwache, und immer warteten sie gespannt auf die Neuigkeiten, die er vom Leben jenseits ihrer Mauer brachte. Manche wussten sogar, dass er ein Leibwechsler war, aber niemand verlor je auch nur ein Wort darüber. Dort in Ostwacht an der See hatte der Junge zum ersten Mal vom warmen Süden geträumt.

Varamyr fühlte, wie die Schneeflocken auf seiner Stirn schmolzen. Das ist nicht so schrecklich wie Verbrennen. Lasst mich einschlafen und nicht mehr aufwachen, lasst mich mein zweites Leben beginnen. Seine Wölfe waren jetzt in der Nähe. Er konnte sie spüren. Dieses schwache Fleisch würde er zurücklassen und zu einem von ihnen werden, durch die Nacht jagen und den Mond anheulen. Der Warg würde zu einem echten Wolf werden. Aber zu welchem?

Nicht Listig. Haggon hätte es als Abscheulichkeit bezeichnet, doch Varamyr war häufig in sie hineingeschlüpft, wenn Einauge sie bestieg. Allerdings wollte er sein nächstes Leben nicht als Fähe führen, nicht solange er eine andere Wahl hatte. Pirscher wäre besser geeignet, der junge Rüde … Einauge hingegen war größer und wilder, und es war immer Einauge, der Listig bestieg, wenn sie läufig war.

»Es heißt, man vergisst«, hatte Haggon ihm wenige Wochen vor seinem eigenen Tod erzählt. »Wenn das Fleisch des Menschen stirbt, lebt sein Geist im Tier weiter, doch mit jedem Tag wird die Erinnerung schwächer, und das Tier wird immer weniger Warg und immer mehr Tier, bis nichts mehr von dem Menschen übrig ist und nur das Tier übrig bleibt.«

Varamyr wusste, dass dies stimmte. Als er den Adler übernahm, der Orell gehört hatte, spürte er den Zorn des anderen Leibwechslers über seine Gegenwart. Orell war von der abtrünnigen Krähe Jon Schnee erschlagen worden, und sein Hass auf den, der ihn getötet hatte, war so stark, dass selbst Varamyr den jungen Tierling verabscheute. Was Schnee war, hatte er gleich in dem Augenblick erkannt, in dem er den großen weißen Schattenwolf still an seiner Seite laufen sah. Ein Leibwechsler konnte stets einen anderen spüren. Manke hätte mir den Schattenwolf zugestehen sollen. Der wäre sogar würdig, einem König als Leib für das zweite Leben zu dienen. Er hätte es tun können, daran hegte Varamyr keinen Zweifel. Die Gabe war stark in Schnee, doch niemand hatte den jungen Mann unterwiesen, und er kämpfte gegen seine Natur an, die er eigentlich hätte auskosten sollen.

Varamyr konnte die roten Augen des Wehrholzbaums sehen, die ihn aus dem weißen Stamm heraus anstarrten. Die Götter halten Gericht über mich. Ein Schauer durchlief ihn. Er hatte Böses getan, unsägliche Dinge. Er hatte gestohlen, getötet und vergewaltigt. Er hatte sich mit Menschenfleisch den Bauch vollgeschlagen und das Blut sterbender Männer aufgeleckt, wenn es heiß und rot aus ihren aufgerissenen Kehlen spritzte. Er war Feinden durch den Wald nachgepirscht und hatte sie überfallen, während sie schliefen, ihnen die Eingeweide aus dem Bauch gerissen und sie auf dem schlammigen Boden verteilt. Wie süß ihr Fleisch geschmeckt hat. »Das war das Tier, nicht ich«, flüsterte er heiser. »Das war die Gabe, die ihr mir geschenkt habt.«

Die Götter ließen sich nicht zu einer Antwort herab. Sein Atem hing wie blasser Dunst in der Luft. Er spürte, wie sich in seinem Bart Eis bildete. Varamyr Sechsleib schloss die Augen.

Er träumte einen alten Traum von einer armseligen Hütte am Meer, von drei winselnden Hunden und den Tränen einer Frau.

Kuller. Sie hat um Kuller geweint, aber nicht um mich.

Kugel war einen Monat vor der Zeit geboren, und er war so oft krank gewesen, dass niemand glaubte, er würde überleben. Seine Mutter wartete, bis er fast vier war, ehe sie ihm einen richtigen Namen gab, und da war es bereits zu spät. Das ganze Dorf rief ihn Kugel, mit dem Namen, den seine Schwester Meha ihm gegeben hatte, als er noch im Bauch ihrer Mutter war. Meha hatte auch Kuller seinen Namen gegeben, doch Kugels kleiner Bruder war zum rechten Zeitpunkt geboren, groß und rot und kräftig, und hatte gierig an den Brüsten der Mutter gesaugt. Sie wollte ihn nach seinem Vater nennen. Aber Kuller ist gestorben. Als er starb, war er zwei, und ich war sechs. Drei Tage vor seinem Namenstag.

»Dein Kleiner ist jetzt bei den Göttern«, hatte die Waldhexe seiner Mutter erklärt, als sie weinte. »Er hat keine Schmerzen mehr, keinen Hunger, und er muss nicht mehr weinen. Die Götter haben ihn zu sich hinab in die Erde und in die Bäume geholt. Die Götter sind überall um uns herum, in den Felsen und Bächen, in den Vögeln und den Tieren. Dein Kuller hat sich jetzt zu ihnen gesellt. Er ist nun die Welt und alles, was in ihr ist.«

Die Worte der alten Frau hatten Kugel durchbohrt wie ein Messer. Kuller kann sehen. Er beobachtet mich. Er weiß Bescheid. Kugel konnte sich vor ihm nicht verstecken, konnte nicht hinter die Röcke seiner Mutter schlüpfen oder mit den Hunden wegrennen, um dem Zorn seines Vaters zu entgehen. Die Hunde. Hängeschwanz, Schnüffel, Knurr. Sie waren gute Hunde. Sie waren meine Freunde.

Als sein Vater die Hunde dabei erwischte, wie sie um Kullers Leiche herumschnüffelten, konnte er nicht wissen, welcher es getan hatte, also tötete er sie alle drei mit der Axt. Dabei zitterten seine Hände so heftig, dass er zwei Schläge brauchte, um Schnüffel zum Schweigen zu bringen und sogar vier für Knurr. Der Blutgeruch lag schwer in der Luft, und das Gejaule der sterbenden Hunde war schrecklich anzuhören, trotzdem ging Hängeschwanz sogar freiwillig zu Vater, als der ihn rief. Er war der älteste Hund, und seine Erziehung überwand die Angst. Als Kugel in seinen Leib schlüpfte, war es bereits zu spät.

Nein, Vater, bitte nicht, versuchte er zu sagen, aber Hunde beherrschen die Sprache der Menschen nicht, und so brachte er nur ein armseliges Winseln hervor. Die Axt krachte mitten in den Schädel des alten Hundes, und in der Hütte stieß der Junge einen Schrei aus. So sind sie dahintergekommen. Zwei Tage später schleppte sein Vater ihn in den Wald. Er nahm die Axt mit, und Kugel glaubte, er würde ihm das Gleiche antun wie den Hunden. Stattdessen brachte er ihn zu Haggon.

Mit einem Ruck erwachte Varamyr. Sein ganzer Körper zitterte heftig. »Steh auf«, schrie eine Stimme, »steh auf, wir müssen los. Es sind Hunderte von ihnen.« Der Schnee hatte ihn mit einer steifen weißen Decke überzogen. So kalt. Als er sich bewegen wollte, stellte er fest, dass seine Hand am Boden festgefroren war. Ein wenig Haut blieb hängen, als er sie losriss. »Steh auf«, kreischte sie wieder, »sie kommen.«

Distel war zu ihm zurückgekehrt. Sie hatte ihn an den Schultern gepackt, schüttelte ihn und schrie ihm ins Gesicht. Varamyr konnte ihren Atem riechen und dessen Wärme auf den von der Kälte tauben Wangen spüren. Jetzt, dachte er, tu es jetzt oder stirb.

Er nahm alle Kraft zusammen, die noch in ihm steckte, sprang aus seinem Leib und drängte sich in sie hinein.

Distel bäumte sich auf und schrie.

Abscheulichkeit. War sie das oder er oder Haggon? Er würde es nie erfahren. Sein altes Fleisch fiel zurück in die Schneewehe, als ihre Finger losließen. Die Speerfrau zuckte wild und kreischte. Seine Schattenkatze hatte sich oft heftig gewehrt, und die Schneebärin war eine Zeit lang halb verrückt gewesen und hatte nach Bäumen und Felsen und leerer Luft geschnappt, aber das hier war schlimmer. »Raus mit dir, raus mit dir!«, hörte er ihren Mund rufen. Ihr Körper taumelte, fiel und erhob sich wieder, ihre Hände fuchtelten wild, ihre Beine zuckten in einem grotesken Tanz mal hierhin und mal dorthin, während sein Geist und ihr Geist um den Leib rangen. Sie sog eisige Luft ein, und Varamyr hatte einen halben Herzschlag Zeit, um den Geschmack auszukosten und sich über die Kraft dieses jungen Körpers zu freuen, ehe ihre Zähne zusammenschnappten und seinen Mund mit Blut füllen. Sie hob ihre Hände vor sein Gesicht. Er versuchte, sie wieder nach unten zu drücken, aber die Hände wollten ihm nicht gehorchen, und sie krallte ihre Finger in seine Augen. Abscheulichkeit, schoss es ihm durch den Kopf, während er in Blut und Schmerz und Wahnsinn ertrank. Als er zu schreien versuchte, spuckte sie ihrer beider Zunge aus.

Die weiße Welt drehte sich und kippte. Einen Moment lang war es, als wäre er im Inneren des Wehrholzbaumes und schaute aus den geschnitzten roten Augen auf einen sterbenden Mann, der schwach auf dem Boden zuckte, und auf eine Irre, die blind und blutend unter dem Mond tanzte, rote Tränen weinte und ihre Kleider zerriss. Dann waren beide verschwunden, und er erhob sich schmelzend. Sein Geist wurde von einem kalten Wind getragen. Er war im Schnee und in den Wolken, er war ein Spatz, ein Eichhörnchen, eine Eiche. Ein Uhu flog lautlos zwischen den Bäumen hindurch und jagte einen Hasen; Varamyr war in dem Uhu, in dem Hasen, in den Bäumen. Tief unter dem gefrorenen Boden gruben sich Regenwürmer blind durch die Dunkelheit, und auch sie war er. Ich bin der Wald und alles, was darin ist, dachte er frohlockend. Hundert Raben stiegen in die Luft auf und krächzten, als sie ihn vorbeihuschen spürten. Ein großer Elch röhrte und erschreckte die Kinder, die auf seinem Rücken saßen. Ein schlafender Schattenwolf hob den Kopf und knurrte in die Luft. Ehe ihre Herzen den nächsten Schlag tun konnten, war er vorbei und suchte nach seinesgleichen, nach Einauge, Listig und Pirscher, nach seinem Rudel. Seine Wölfe würden ihn retten, redete er sich ein.

Das war sein letzter Gedanke als Mensch.

Der wahre Tod kam ohne Vorwarnung; er spürte einen Kälteschock, als habe man ihn in das eisige Wasser eines gefrorenen Sees getaucht. Dann lief er über mondhellen Schnee dahin, und sein Rudel war dicht hinter ihm. Die halbe Welt war dunkel. Einauge, erkannte er. Er bellte, und Listig und Pirscher antworteten.

Als sie die Bergkuppe erreichten, blieben die Wölfe stehen. Distel, erinnerte er sich, und ein Teil von ihm trauerte um den Verlust, den er erlitten hatte, und ein anderer um das, was er getan hatte. Unten hatte sich die Welt in Eis verwandelt. Frostige Finger krochen langsam den Wehrholzbaum hinauf und griffen nacheinander. Das leere Dorf war nicht mehr leer. Blauäugige Schatten wandelten zwischen den Schneebergen. Einige trugen braune Kleidung, andere schwarze, und manche waren nackt, und ihre Haut war weiß wie Schnee. Der Wind fuhr seufzend durch die Hügel und trug ihre Gerüche heran. Totes Fleisch, trockenes Blut, Haut, die nach Moder und Fäulnis und Urin stank. Listig knurrte, fletschte die Zähne und sträubte das Fell am Hals. Keine Menschen. Keine Beute. Die da nicht.

Die Wesen dort unten bewegten sich, aber sie lebten nicht. Eines nach dem anderen hoben sie die Köpfe in Richtung der drei Wölfe auf dem Hügel. Als Letztes sah das Wesen auf, das Distel gewesen war. Sie trug Wolle und Pelz und Leder, und darüber trug sie einen Mantel aus Raureif, der im Mondlicht glitzerte und knisterte, wenn sie sich bewegte. Blasse rosa Eiszapfen hingen von ihren Fingerspitzen, zehn lange Messer aus gefrorenem Blut. Und in den Höhlen, in denen ihre Augen gewesen waren, flackerte ein hellblaues Licht und verlieh ihren groben Zügen eine gespenstische Schönheit, die sie im Leben nie besessen hatten.

Sie sieht mich.

Tyrion

Er soff sich quer über die Meerenge.

Das Schiff war klein und die Kabine winzig, trotzdem gestattete ihm der Kapitän nicht, an Deck zu gehen. Von der Schaukelei unter seinen Füßen wurde ihm übel, und das miese Essen schmeckte noch ekliger, wenn es wieder hochkam. Aber wozu brauchte er gesalzenes Fleisch, harten Käse und von Maden wimmelndes Brot, wenn er sich von Wein ernähren konnte? Der war rot und sauer und sehr stark. Manchmal kam ihm auch der Wein hoch, aber zum Glück gab es davon stets Nachschub.

»Die Welt ist voller Wein«, murmelte er in seine klamme Kabine hinein. Sein Vater hatte für Trinker nichts übriggehabt, doch was spielte das noch für eine Rolle. Sein Vater war tot. Er selbst hatte ihn umgebracht. Ein Bolzen in den Bauch, Mylord, und ganz allein für Euch. Wenn ich nur besser mit der Armbrust umgehen könnte, hätte ich Euch in den Schwanz geschossen, mit dem Ihr mich gezeugt habt, Ihr verfluchter Bastard.

Unter Deck gab es weder Tag noch Nacht. Tyrion maß das Verstreichen der Zeit am Kommen und Gehen des Kabinenjungen, der ihm die Mahlzeiten brachte, die er nicht aß. Außerdem brachte der Junge stets Bürste und Eimer und machte sauber. »Ist das dornischer Wein?«, fragte Tyrion ihn einmal, als er den Korken aus dem Schlauch zog. »Er erinnert mich an eine gewisse Schlange, die ich einst kannte. Ein drolliger Kerl, bis ein Berg auf ihn fiel.«

Der Kabinenjunge gab keine Antwort. Er war hässlich, wenn auch zugegebenermaßen hübscher anzuschauen als ein gewisser Zwerg mit halber Nase und einer Narbe vom Auge bis zum Kinn. »Habe ich dich beleidigt?«, fragte Tyrion, während der Junge schrubbte. »Hat man dir befohlen, nicht mit mir zu sprechen? Oder hat irgendein Zwerg deine Mutter betrogen?« Wieder bekam er keine Antwort. »Wohin segeln wir? Sag es mir.« Jaime hatte die Freien Städte erwähnt, aber keine genauen Angaben gemacht. »Nach Braavos? Tyrosh? Myr?« Tyrion wäre lieber nach Dorne gefahren. Myrcella ist älter als Tommen, nach dornischem Recht steht ihr der Eiserne Thron zu. Ich werde ihr helfen, ihren Anspruch durchzusetzen, so wie es Prinz Oberyn vorgeschlagen hat.

Oberyn war jedoch tot, Ser Gregor Clegane hatte ihm mit der gepanzerten Faust den Schädel zu Brei geschlagen. Und würde Doran Martell ein solch gefährliches Spiel überhaupt wagen, ohne die Rote Viper, die ihn antrieb? Vielleicht legt er mich stattdessen in Ketten und liefert mich meiner süßen Schwester aus. Die Mauer wäre sicherer. Der Alte Bär Mormont hatte gesagt, die Nachtwache bräuchte Männer wie Tyrion. Wer weiß, vielleicht ist Mormont auch längst tot. Und inzwischen Slynt Lord Kommandant. Dieser Fleischersohn würde bestimmt nicht vergessen haben, wer ihn zur Mauer geschickt hatte. Und möchte ich wirklich für den Rest meines Lebens gepökeltes Rind und Haferbrei mit Mördern und Dieben teilen? Nicht dass dieser Rest sehr lange dauern würde. Dafür würde Janos Slynt schon sorgen.

Der Kabinenjunge tauchte seine Bürste ins Wasser und schrubbte mannhaft weiter.

»Hast du schon einmal die Freudenhäuser von Lys besucht?«, wollte der Zwerg wissen. »Gehen dort vielleicht die Huren hin?« Tyrion fiel das valyrische Wort für Hure nicht ein, und es war sowieso schon zu spät. Der Junge warf die Bürste in den Eimer und verließ die Kabine.

Der Wein hat meinen Verstand umnebelt. Hochvalyrisch hatte er bereits auf dem Schoß seines Maesters gelernt, obwohl, was dort in den Neun Freien Städten gesprochen wurde … nun, es war im Grunde nicht mehr eine einzige Sprache, sondern hatte sich eher in neun Dialekte aufgespalten, die immer mehr zu eigenständigen Sprachen wurden. Tyrion sprach ein wenig Braavosi und ein paar Brocken Myrisch. In Tyrosh sollte er in der Lage sein, die Götter zu verfluchen, einen Mann einen Betrüger zu schimpfen und ein Bier zu bestellen, was er einem Söldner zu verdanken hatte, den er einst auf dem Stein gekannt hatte. Zumindest sprechen sie in Dorne die Gemeine Zunge. Wie das dornische Essen und das dornische Recht war auch die dornische Sprache mit den Aromen der Rhoyne gewürzt, aber man konnte sie verstehen. Dorne, ja, Dorne für mich. Er krabbelte in seine Koje und klammerte sich an diesen Gedanken wie ein Kind an seine Puppe.

Tyrion Lennister hatte nie leicht einschlafen können. An Bord dieses Schiffes schlief er überhaupt nur sehr selten, und wenn, dann meist nur, wenn es ihm gelungen war, so viel zu trinken, dass er einfach für eine Weile ohnmächtig wurde. Wenigstens träumte er nicht. Für sein kurzes Leben hatte er längst genug geträumt. Und nur von Torheiten: Liebe, Gerechtigkeit, Freundschaft, Ruhm. Und davon, groß zu sein. Das alles konnte er niemals erreichen, wie Tyrion inzwischen eingesehen hatte. Aber er wusste nicht, wohin Huren gehen.

»Wohin auch immer Huren gehen«, hatte sein Vater gesagt. Seine letzten Worte, und was für Worte! Die Armbrust surrte, Lord Tywin fiel auf seinen Sitz zurück, und Tyrion Lennister fand sich an Varys’ Seite watschelnd in der Dunkelheit. Er musste den ganzen Schacht wieder nach unten geklettert sein, zweihundertdreißig Sprossen bis zu dem Ort, wo die orangefarbene Glut im Maul eines eisernen Drachen glühte. An nichts davon konnte er sich erinnern. Nur an das Geräusch der Armbrust und an den Gestank, als sich die Gedärme seines Vaters entleerten. Noch im Sterben hat er einen Weg gefunden, auf mich zu scheißen.

Varys hatte ihn durch die Tunnel begleitet, doch sie sprachen kein Wort, bis sie am Schwarzwasser herausgekommen waren, dort, wo Tyrion einen berühmten Sieg errungen und eine Nase verloren hatte. Der Zwerg hatte sich an den Eunuchen gewandt und verkündet: »Ich habe meinen Vater getötet«, und zwar im gleichen Ton, wie man vielleicht sagt: »Ich habe mir den Zeh gestoßen.«

Der Meister der Flüsterer war wie ein Bettelbruder gekleidet gewesen, in eine mottenzerfressene Robe aus grobem braunem Stoff mit einer Kapuze, unter der seine glatten fetten Wangen und der kahle runde Kopf im Schatten verschwanden. »Ihr hättet diese Leiter nicht hinaufsteigen sollen«, sagte er vorwurfsvoll.

»Wohin auch immer Huren gehen.« Tyrion hatte seinen Vater gewarnt, dieses Wort zu benutzen. Ich musste schießen, sonst hätte er es für eine leere Drohung gehalten. Er hätte mir die Armbrust weggenommen, wie er mir einst Tysha aus den Armen gerissen hat. Als ich ihn umgebracht habe, wollte er gerade aufstehen.

»Shae habe ich auch getötet«, hatte er Varys gestanden.

»Ihr wusstet, was sie für eine war.«

»Ja. Aber ich wusste nicht, was er für einer war.«

Varys kicherte. »Jetzt wisst Ihr es.«

Den Eunuchen hätte ich gleich mit umbringen sollen. Ein bisschen mehr Blut an den Händen, was hätte das schon ausgemacht? Er konnte nicht sagen, weshalb er seinen Dolch zurückgehalten hatte. Dankbarkeit war es nicht. Varys hatte ihn vor dem Schwert des Henkers gerettet, doch nur, weil Jaime ihn gezwungen hatte. Jaime … nein, ich denke lieber nicht an Jaime.

Stattdessen fand er einen frischen Schlauch Wein und saugte daran wie an der Brust einer Frau. Der saure Rote rann ihm über das Kinn ins fleckige Gewand, das gleiche, das er schon in seiner Zelle getragen hatte. Das Deck schwankte unter seinen Füßen, und als er versuchte aufzustehen, kippte es zur Seite und warf ihn hart gegen die Wand. Ein Sturm, erkannte er, oder ich bin noch betrunkener, als ich dachte. Er würgte den Wein hervor, blieb eine Weile in der Lache liegen und fragte sich, ob das Schiff sinken würde. Ist das Eure Rache, Vater? Hat der Vater Oben Euch zu seiner Hand ernannt? »Das ist der Lohn des Sippenmörders«, sagte er, während draußen der Wind heulte. Es wäre nicht gerecht, wenn der Kabinenjunge und der Kapitän mitsamt der Mannschaft ertrinken müssten für eine Untat, die er begangen hatte, aber wann waren die Götter je gerecht gewesen? Und ungefähr zu diesem Zeitpunkt verschlang ihn die Dunkelheit.

Als er sich wieder regte, fühlte sich sein Kopf an, als wollte er platzen, und das Schiff drehte sich in schwindelerregenden Kreisen, obwohl der Kapitän behauptete, sie seien in einen Hafen eingelaufen. Tyrion befahl ihm zu schweigen und strampelte schwach mit den Beinen, während ein riesiger glatzköpfiger Seemann sich ihn unter einen Arm klemmte und ihn in den Frachtraum trug, wo ein leeres Weinfass auf ihn wartete. Es war ein sehr kleines Fass, in dem sich selbst ein Zwerg sehr beengt fühlen musste. Während Tyrion sich wehrte, machte er sich in die Hose, was ihm allerdings auch keine sanftere Behandlung einbrachte. Er wurde kopfüber in das Fass gesteckt, und seine Knie wurden neben die Ohren gedrückt. Sein Nasenstummel juckte fürchterlich, doch die Arme waren so eingeklemmt, dass er sich nicht kratzen konnte. Ein Palankin, der zu einem Mann meiner Größe passt, schoss es ihm durch den Kopf, als man den Deckel zunagelte. Er wurde in die Höhe gehoben und hörte Rufe. Bei jedem Auf und Ab krachte sein Kopf an den Boden. Die Welt drehte und drehte sich im Kreis, als das Fass abwärtsrollte und dann mit einem Rumms zum Halten kam, dass er am liebsten aufgeschrien hätte. Ein anderes Fass donnerte gegen seines, und Tyrion biss sich auf die Zunge.

Vom Gefühl her war es die längste Reise, die er je unternommen hatte, und doch konnte sie nicht länger als eine halbe Stunde gedauert haben. Er wurde in die Höhe gehoben und abgesetzt, gerollt und gestapelt, umgekippt und wieder aufgerichtet und abermals gerollt. Durch die hölzernen Dauben hörte er die Rufe von Männern, und einmal wieherte neben ihm ein Pferd. Seine verkümmerten Beine verkrampften sich, und bald schmerzten sie so sehr, dass er darüber das Pochen in seinem Schädel vergaß.

Es hörte auf, wie es begonnen hatte, er wurde ein letztes Mal gerollt und durchgerüttelt, bis ihm schwindelig war. Die Sprache der Stimmen draußen kannte er nicht. Jemand hämmerte auf den Deckel des Fasses ein, der sich plötzlich löste. Licht und kühle Luft fluteten herein. Tyrion saugte gierig Luft in seine Lunge und wollte aufstehen, allerdings gelang es ihm lediglich, das Fass auf die Seite und sich selbst auf einen gestampften harten Lehmboden zu werfen.

Über ihm ragte ein lächerlich fetter Mann mit einem gelben Gabelbart auf, der einen Hammer aus Holz und einen Beitel aus Eisen in den Händen hielt. Sein Morgenrock war groß genug, um einen prächtigen Turnierpavillon abzugeben, doch der lose verknotete Gürtel hatte sich geöffnet. Darunter kamen ein riesiger weißer Bauch und dicke Brüste wie hängende Talgsäcke zum Vorschein, die mit dickem gelbem Haar bedeckt waren. Er erinnerte Tyrion an eine tote Seekuh, die einmal in den Höhlen unter Casterlystein angespült worden war.

Der fette Mann sah auf ihn herab und lächelte. »Ein betrunkener Zwerg«, sagte er in der Gemeinen Zunge von Westeros.

»Eine verwesende Seekuh.« Tyrions Mund war voller Blut. Er spuckte es dem fetten Mann vor die Füße. Sie standen in einem langen, düsteren Keller mit Tonnengewölbe, an dessen Steinmauern Salpeter blühte. Um sie herum standen genug Wein- und Bierfässer, um einen durstigen Zwerg die Nacht überstehen zu lassen. Oder das ganze Leben.

»Ihr seid frech. Das mag ich an einem Zwerg.« Als der fette Mann lachte, wackelte sein Fleisch so heftig, dass Tyrion fürchtete, er könnte umkippen und ihn unter sich zermalmen. »Habt Ihr Hunger, mein kleiner Freund? Seid Ihr müde?«

»Durstig.« Tyrion erhob sich mühsam auf die Knie. »Und schmutzig.«

Der fette Mann schnüffelte. »Zuerst ein Bad, sehr wohl. Dann Essen und ein weiches Bett, ja? Meine Diener werden sich darum kümmern.« Sein Gastgeber legte Hammer und Beitel zur Seite. »Mein Haus ist Euer Haus. Jeder Freund meines Freundes jenseits Seite des Meeres ist auch ein Freund von Illyrio Mopatis, ja.«

Und jedem Freund von Varys der Spinne traue ich höchstens so weit, wie ich ihn werfen kann.

Immerhin hielt der Fette Wort, was das versprochene Bad anging. Sobald Tyrion sich in das heiße Wasser gesetzt und die Augen geschlossen hatte, war er auch schon eingeschlafen. Er erwachte nackt auf einem Federbett aus Gänsedaunen, das sich so weich anfühlte, als würde er auf einer Wolke liegen. Seine Zunge fühlte sich pelzig an, und seine Kehle war ausgedörrt, doch sein Schwanz war hart wie eine Eisenstange. Er wälzte sich vom Bett, fand den Nachttopf und machte sich mit einem zufriedenen Seufzer daran, ihn zu füllen.

Im Zimmer herrschte Dunkelheit, doch durch die Schlitze der Fensterläden fiel gelbes Sonnenlicht herein. Tyrion schüttelte die letzten Tropfen ab und watschelte über gemusterte myrische Teppiche, weich wie frisches Frühlingsgras. Unbeholfen kletterte er auf die Fensterbank und stieß die Läden auf, um zu sehen, wohin Varys und die Götter ihn geschickt hatten.

Unter seinem Fenster standen sechs schlanke Kirschbäume mit kahlen braunen Ästen Wache um ein Marmorbecken. Ein nackter Junge stand auf dem Wasser und hielt die Klinge eines Bravos kampfbereit in der Hand. Er war schlank und hübsch, kaum älter als sechzehn, und das glatte blonde Haar fiel ihm auf die Schultern. Er sah so lebensecht aus, dass der Zwerg erst auf den zweiten Blick erkannte, dass der Junge aus bemaltem Marmor gehauen war. Das Schwert hingegen schimmerte wie echter Stahl.

Jenseits des Beckens ragte eine Ziegelmauer über dreieinhalb Meter in die Höhe, die von eisernen Spitzen gekrönt wurde. Dahinter lag die Stadt. Ein Meer aus Ziegeldächern drängte sich um eine Bucht. Er sah viereckige Backsteintürme, einen großen roten Tempel und in der Ferne einen Palast auf einem Berg. Draußen auf dem Meer glitzerte das Sonnenlicht auf dem tiefen Wasser. Fischerboote fuhren durch die Bucht, ihre Segel flatterten im Wind, und entlang der Küste reckten sich die Masten größerer Schiffe in die Höhe. Gewiss sticht eins nach Dorne in See, oder nach Ostwacht an der See. Allerdings könnte er die Überfahrt nicht bezahlen, und dafür, sich als Ruderer zu verdingen, war er auch nicht geschaffen. Ich könnte als Kabinenjunge anheuern und mir die Überfahrt verdienen, indem ich die Mannschaft auf der Meerenge in meinen Arsch lasse.

Er fragte sich, wo er war. Selbst die Luft riecht hier anders. Der kühle Herbstwind trug den Duft fremdartiger Gewürze heran, und er hörte ferne Rufe aus den Straßen jenseits der Mauer. Es klang irgendwie nach Valyrisch, trotzdem erkannte er höchstens ein Wort von fünfen. Nicht Braavos, schloss er, und auch nicht Tyrosh. Die kahlen Äste und die kalte Luft sprachen zudem gegen Lys, Myr oder Volantis.

Als er hörte, wie die Tür hinter ihm geöffnet wurde, drehte er sich zu seinem fetten Gastgeber um. »Wir sind in Pentos, ja?«

»Ebendort. Wo auch sonst?«

Pentos. Nun ja, Königsmund war es immerhin nicht. »Wohin gehen Huren?«, hörte er sich fragen.

»Huren findet man hier in Bordellen, so wie auch in Westeros. Ihr braucht aber kein Bordell aufzusuchen, mein kleiner Freund. Wählt einfach unter meinen Mägden. Keine wird sich Euch verweigern.«

»Sklaven?«, fragte der Zwerg spitz.

Der Fette streichelte eine Zacke seines geölten gelben Bartes, eine Geste, die Tyrion auffallend obszön erschien. »In Pentos ist die Sklaverei verboten, eine Bedingung des Vertrags, den die Braavosi uns vor hundert Jahren aufgezwungen haben. Trotzdem werden sie sich Euch nicht verweigern.« Illyrio nickte schwerfällig. »Aber jetzt müsst Ihr mich entschuldigen, mein kleiner Freund. Ich habe die Ehre, ein Magister dieser großen Stadt zu sein, und der Fürst hat uns zu einer Sitzung einberufen.« Er lächelte und enthüllte dabei die krummen gelben Zähne in seinem Mund. »Erkundet das Anwesen und das Grundstück, wenn Ihr mögt, aber verirrt Euch auf keinen Fall über die Mauern. Es wäre besser, wenn niemand erfährt, dass Ihr hier wart.«

»Wart? Bin ich denn nicht mehr hier?«

»Heute Abend haben wir ausreichend Zeit, um uns darüber zu unterhalten. Dann werden mein kleiner Freund und ich essen und trinken und große Pläne schmieden, ja?«

»Ja, mein fetter Freund«, erwiderte Tyrion. Er will Gewinn aus mir schlagen. Bei den großen Handelsherren der Freien Städte ging es immer nur um Gewinn. »Gewürzsoldaten und Käseritter«, hatte sein Hoher Vater sie voller Verachtung genannt. Falls je der Tag graute, an dem Illyrio Mopatis meinte, mit einem toten Zwerg einen höheren Gewinn erzielen zu können als mit einem lebendigen, würde er sich bei Sonnenuntergang abermals in einem Weinfass wiederfinden. Es wäre gut, wenn ich fort wäre, bevor dieser Tag anbricht. Dass er anbrechen würde, daran zweifelte er nicht; Cersei würde ihn ganz bestimmt nicht vergessen, und selbst Jaime war wahrscheinlich ärgerlich, nachdem er einen Armbrustbolzen in Vaters Bauch gefunden hatte.

Ein leichter Wind kräuselte unten im Becken das Wasser um den nackten Schwertkämpfer. Es erinnerte ihn daran, wie Tysha ihm das Haar zerzaust hatte, damals, im falschen Frühling ihrer Ehe, bevor er den Wachen seines Vaters geholfen hatte, sie zu vergewaltigen. An diese Wachen hatte er während seiner Flucht gedacht und sich zu erinnern versucht, wie viele es gewesen waren. Man sollte doch meinen, er würde sich daran erinnern. Aber nein. Ein Dutzend? Zwanzig? Einhundert? Er wusste es nicht mehr. Es waren erwachsene Männer gewesen, groß und stark … allerdings erschienen in den Augen eines dreizehnjährigen Zwergs alle Männer groß. Tysha wusste es. Jeder hatte ihr einen Silberhirschen gegeben, und so müsste sie nur die Münzen zählen. Einen Silberhirschen für jeden und einen Golddrachen für mich. Sein Vater hatte darauf bestanden, dass er sie ebenfalls bezahlte. Ein Lennister begleicht stets seine Schulden.

»Wohin auch immer Huren gehen«, hörte er Lord Tywin wieder sagen, und erneut surrte die Sehne.

Der Magister hat ihn aufgefordert, das Anwesen zu erkunden. In einer Zederntruhe mit Einlegearbeiten aus Lapislazuli und Perlmutt fand er saubere Kleidung. Die Kleidung war für einen kleinen Jungen genäht worden, stellte er fest, als er sich mühsam hineinzwängte. Der Stoff war durchaus edel, wenn auch etwas muffig, doch die Beine waren zu lang und die Ärmel zu kurz, und hätte er den Kragen zugeknöpft, wäre sein Gesicht so schwarz angelaufen wie Joffreys. Die Motten hatten sich ebenfalls schon daran gütlich getan. Wenigstens riechen die Sachen nicht nach Erbrochenem.

Tyrion begann seinen Erkundungsgang mit der Küche, wo zwei fette Frauen und ein Küchenjunge ihn misstrauisch beäugten, während er sich an Käse, Brot und Feigen bediente. »Ich wünsche einen guten Morgen, schöne Damen«, grüßte er und verneigte sich. »Wisst ihr, wohin Huren gehen?« Da sie nicht antworteten, wiederholte er die Frage auf Hochvalyrisch, allerdings musste er das Wort Hure durch Kurtisane ersetzen. Die jüngere und fettere Köchin zuckte diesmal wenigstens mit den Schultern.

Er fragte sich, was sie tun würde, wenn er sie an der Hand nahm und in sein Schlafzimmer zog. Keine wird sich Euch verweigern, hatte Illyrio behauptet, aber irgendwie vermutete Tyrion, dass er diese beiden nicht gemeint hatte. Die jüngere war alt genug, um seine Mutter zu sein, und die ältere war vermutlich deren Mutter. Beide waren nahezu so fett wie Illyrio, und ihre Titten waren größer als sein Kopf. Ich könnte in ihrem Fleisch ersticken. Es gab schlimmere Arten zu sterben. Zum Beispiel die, wie sein Hoher Vater gestorben war. Ich hätte ihn noch ein bisschen Gold scheißen lassen sollen, ehe er sein Leben aushauchte. Lord Tywin mochte mit Lob und Zuneigung stets sehr geizig gewesen sein, wenn es jedoch um Münzen ging, hatte er sich stets sehr freigiebig gezeigt. Es gibt nur eins, was erbärmlicher ist als ein Zwerg ohne Nase: ein Zwerg ohne Nase, der kein Gold hat.

Tyrion überließ die fetten Frauen ihren Broten und Kesseln und machte sich auf die Suche nach dem Keller, in dem Illyrio ihn in der vergangenen Nacht aus dem Fass befreit hatte. Er war nicht schwer zu finden. Hier gab es ausreichend Wein, um hundert Jahre betrunken zu bleiben; süßen Roten aus der Weite und herben Roten aus Dorne, hellen Bernsteinfarbenen aus Pentos, grünen Nektar aus Myr, fünf Dutzend Fässer mit Arborgold, und sogar Weine aus dem sagenhaften Osten, aus Qarth und Yi Ti und Asshai am Schatten. Am Ende wählte Tyrion ein Fässchen Starkwein, das laut Aufschrift aus dem Besitz von Lord Runzfort Rothweyn stammte, dem Großvater des gegenwärtigen Lord des Arbor. Der Wein war von so dunklem Violett, dass er im trüben Licht des Kellers fast schwarz wirkte, und er lag schwer und träge auf der Zunge. Tyrion füllte sich einen Becher und einen großen Krug und trug beides hinauf in den Garten, um unter den Kirschbäumen zu trinken, die er gesehen hatte.

Wie es der Zufall wollte, verließ er das Haus durch die falsche Tür und fand den Brunnen nicht, den er von seinem Fenster aus gesehen hatte, aber das störte ihn nicht. Der Garten hinter dem Haus war genauso schön und viel größer. Eine Zeit lang spazierte er hindurch und trank. Die Mauern hätten mit denen einer richtigen Burg nicht mithalten können, und die Eisenspitzen darauf wirkten eigenartig nackt, weil sie nicht mit Köpfen verziert waren. Tyrion stellte sich vor, wie der Kopf seiner Schwester darauf aussehen würde, mit Teer im goldenen Haar und Fliegen, die um ihren Mund schwärmten. Ja, und Jaime bekommt die Spitze neben ihr, entschied er.