Wild Cards - Der Sieg der Verlierer - - George R.R. Martin - E-Book

Wild Cards - Der Sieg der Verlierer - E-Book

George R.R. Martin

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Beschreibung

Wie weit darf ein Held im Namen der Gerechtigkeit gehen?

Eine Atomexplosion erschüttert Texas! Doch es handelt sich nicht um einen Akt des Terrors, sondern um einen schrecklichen Unfall. Ein kleiner Junge namens Drake kann sein mächtiges Wild-Cards-Talent nicht beherrschen und hat die Katastrophe ausgelöst. Die aus Assen und Jokern bestehende Eingreiftruppe der UNO – genannt Das Komitee – will den Jungen unter ihren Schutz stellen. Doch als seine Mitglieder in Texas eintreffen, ist Drake verschwunden …

Gleichzeitig versucht Drummer Boy, die Krise in der arabischen Welt zu beenden. Aber während des Einsatzes kommen ihm Zweifel. Kämpft er für die richtige Seite?

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Seitenzahl: 789

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unterstützt von Melinda M. Snodgrasspräsentiert

DER SIEG DER VERLIERER

Wild Cards 2

Geschrieben vonS.L. Farrell – Victor Milán – John Jos. Miller – Kevin Andrew Murphy – Walton Simons – Melinda M. Snodgrass – Caroline Spector – Ian Tregillis – Carrie VaughnIns Deutsche übertragenvon Simon Weinert

Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Wild Cards – Busted Flush« bei Tor Books, New York.

1. AuflageDeutsche Erstveröffentlichung Juni 2015bei Penhaligon, einem Unternehmen der VerlagsgruppeRandom House GmbH, München.Copyright © 2008 by George R.R. Martin and the Wild Cards TrustPublished by agreement with the authors and the authors’ agent, The Lotts Agency, Ltd.Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015 by Verlagsgruppe Random House GmbH.Redaktion: Hannes RiffelHK · Herstellung: samSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-17123-0www.penhaligon.de

Für Carl Keim,das Architektenass,den guten Freund,die scheußliche Karikatur eines Menschen

Misch weiterhin die Karten!

Double Helix

Einem Hungrigen ist alles Bittre süß.

Melinda M. Snodgrass

Ich lasse die Abschnitte über Asche und Würmer aus. Die Seiten sind dünn. Sie fühlen sich fast wie Federn an, wenn ich sie umblättere und nach Stellen suche, bei denen mir nicht die Galle hochkommt. Ich weiß, dass mein Vater stirbt. Ich muss nicht erst darüber lesen.

Hier ist eine Stelle. Sie klingt mehr nach Lord Dunsany als nach den Weisheiten längst verstorbener Hebräer. »Du baust deine Gemächer über den Wassern. Du fährst auf den Wolken wie auf einem Wagen und kommst daher auf den Fittichen des Windes.« Ich habe eine gute Stimme und verstehe sie zu gebrauchen. Jetzt setze ich sie ein, um die letzten Worte tiefer und weicher zu färben. Zwar ist mir bewusst, dass er schlafen sollte, aber ich will ihn nicht schlafen lassen. Ich will mit ihm reden. Seine Stimme hören, bevor sie für immer schweigt.

Dieser verdammte Kloß ist wieder da. Andauernd schlucke ich, damit er kleiner wird. Durch das Zwillingsfenster erkenne ich auf dem trägen Cam ein paar Sonnenstrahlen glitzern. Es ist August, und es kommt einem vor, als wolle dieser Sommer kein Ende nehmen. Im Zimmer ist es entsetzlich stickig, und die Luft ist schwer vom eklig süßen Geruch einer tödlichen Krankheit. Ich spüre, wie mir das Hemd am Rücken festklebt. Draußen knattert irgendwo ein Rasenmäher, und ein Hund kläfft verärgert. Wahrscheinlich werde ich den Rasen meiner Eltern selbst mähen müssen. Oder ich heure einen Teenager an. Durchs offene Fenster rieche ich das Gras. Die Zweige des Apfelbaums werden niedergedrückt von der rosafarbenen Last. Vielleicht geht es allen Lebewesen so, wenn sie sich vermehren.

Mein Vater berührt meinen Handrücken. Seine Haut fühlt sich an wie die hauchdünnen Seiten der Bibel, die jetzt in meinem Schoß liegt. »Danke …« Seine blauen Augen in dem Gesicht, das nur noch aus kantigen, von gespannter Haut überzogenen Knochen besteht, sind erstaunlich wach. »Da steht eine Menge Weisheit drin«, fügt er hinzu und legt seine Hand auf die Bibel. »Wenn du mir vorliest, findest du vielleicht etwas davon.«

Märchen und Fantastereien, denke ich, lasse mir jedoch nichts anmerken. »Dann hältst du mich also für einen Toren.« Ich grinse ihn an. »Danke.«

»Nein.« Er sieht mich ernst an. »Aber ich weiß, dass irgendwas nicht stimmt. Ich habe dich aufgezogen, Noel, vor mir kannst du das nicht verheimlichen.«

Er lächelt, aber wie bei jedem Kind, das mit der übernatürlichen Allwissenheit seiner Eltern konfrontiert wird, krampfen sich mir die Eingeweide zusammen. Genauso schnell vergeht es wieder. Schließlich bin ich achtundzwanzig, und für einen Augenblick bereitet es mir Vergnügen zu rätseln, was ich seiner Meinung nach getan habe. Ich habe keine Groupies geschwängert, denn als Hermaphrodit bin ich unfruchtbar. Schulden habe ich auch keine. Sowohl mein offizieller als auch mein geheimer Job bringen mir gutes Geld ein. Was glaubt er nur, was ich angestellt habe? Kurz spiele ich mit dem Gedanken, es ihm zu verraten.

Du weißt, Dad, dass ich Mitglied der Silver Helix bin, einer Abteilung des MI-7. Was du aber nicht weißt, ist, dass ich für sie töte. Ich könnte dir nicht mehr sagen, wie viele Leute ich umgelegt habe. Man behauptet immer, dass man sein erstes Opfer nie vergessen wird. Aber von dem habe ich genauso wenig ein Gesicht vor Augen wie von den anderen.

Natürlich tu ich das nicht. Ich stehe auf, lege die Bibel zur Seite und strecke mich. »Tee? Es gibt Zitronentörtchen und gekochte Zunge für Sandwichs. Isst du etwas?«

»Ich versuch’s.«

Unsere Küche ist klein und vollgestopft, in der Spüle türmt sich das Geschirr mehrerer Tage. Eine fette Fliege schwirrt träge zwischen dem Mülleimer und dem schmutzigen Geschirr hin und her. Ihr Summen hat fast etwas Hypnotisierendes. Nein, nein, nein. Mit einem heftigen Kopfschütteln vertreibe ich die Müdigkeit. Wie es aussieht, muss ich nicht nur einen Teenager, sondern auch eine Haushaltshilfe anheuern.

Die Zunge, tiefrot und mit Geschmacksknospen gesprenkelt, hat einen Fettüberzug, der im Kühlschranklicht schimmert. Die riesigen, mit Nahrungsmitteln überquellenden Kühlschränke in amerikanische Küchen sind fast schon obszön. Aber wir Engländer tasten uns langsam in dieselbe Richtung vor. Wer hat schon die Zeit, jeden Tag aufs Neue Essen einzukaufen?

Ich frage mich, wer die Zunge gekocht hat – meine Mutter bestimmt nicht. Sie kocht nie. Mein Vater hat sich um das Haus und ums Kind gekümmert und alle Mahlzeiten zubereitet. Dabei hat er alle Klischees der britischen Küche erfüllt. In meinem Innern flackert Wut auf, doch ich weiche ihr aus. Es ist nicht Mamas Schuld, dass er stirbt. Sie hat die Brötchen verdient, von daher hatte sie schon das Recht, sich zu Hause um die Arbeit zu drücken. Allerdings hatte ich den Verdacht, dass sie auch dann nicht gekocht oder geputzt hätte, wenn sie keinen Job gehabt hätte.

Ihr Engagement für den radikalen Feminismus hatte ihr Leben bestimmt. Verdammt, sie war sogar so militant, dass sie absolut alles tat, um mich als Jungen zu erziehen. Das ist nur schwer begreiflich, denn auch wenn meine Geschlechtsteile einigermaßen ulkig aussehen, besitze ich doch zweierlei Arten davon. Man hätte mich genauso gut als Mädchen erziehen können, ohne dass ich einen neuen Namen gebraucht hätte. Man hätte ihn nur anders aussprechen müssen.

Mein Funkmeldeempfänger vibriert. Ich balanciere in der einen Hand die Zunge, während ich mit der anderen nach dem richtigen Pager krame. Seit ich öfter nicht in England bin, habe ich einen Textmelder für medizinische Notfälle bei mir, dazu den Pager, über den mein Manager meine Auftritte mit mir abspricht, einen vom Komitee für Lilith und einen von Prinz Siraj, der Bahir gilt. Dazu noch den von der Silver Helix. Im Moment meldet sich der von Siraj.

Leck mich, denke ich fiebrig, ziehe jedoch mein Handy hervor und rufe ihn an. Natürlich will er mich sehen. Natürlich muss es gleich sein. Natürlich gehe ich.

Der einzige Grund, weshalb Bahir dem Premierminister der Vereinigten Arabischen Emirate einen Besuch abstattete und nicht dem Präsidenten, war eine unglückliche Bemerkung, die Al Maktum gegenüber Prinz Siraj in einem Pariser Restaurant fallen gelassen hatte. Denn der Premierminister hatte erwähnt, dass er gern bei einem heißen Bad entspannte und dabei durch die Fensterwand den Sonnenuntergang betrachtete. Nackte sind besonders verwundbar, und Badezimmer sind auf Gebäudeplänen besonders leicht ausfindig zu machen. Und die Tatsache, dass das Zimmer nach Westen gehen musste, machte es vollends zu einem Kinderspiel, meine Zielperson mithilfe von Google Earth aufzuspüren. Die Tageszeit war weniger günstig. Während der Morgen- oder Abenddämmerung kann ich meine Kräfte nicht einsetzen, und nach Sonnenuntergang kann ich mich nicht mehr in Bahir verwandeln. Wenn Siraj sich an das Gespräch allerdings recht erinnerte, dann las Al Maktum vor Sonnenuntergang noch gern eine Weile in der Badewanne. Und ich sollte schließlich nur eine Warnung überbringen, was selten viel Zeit in Anspruch nahm.

Durch das gekräuselte Wasser in der tiefen, mit Glasfliesen verkleideten Wanne lässt es sich nicht genau erkennen, aber die Hoden des Premierministers scheinen sich in seinen Bauch zurückgezogen zu haben. Er starrt zu mir auf, und Entsetzen steht in seinen dunklen Augen. Ich riskiere einen Blick in das Spiegelpaar an einer Wand des mit Marmor verkleideten Badezimmers. In meinem schwarzen Dischdascha und mit der Pistole am Gürtel gebe ich eine einigermaßen furchterregende Erscheinung ab. Auf eine Kopfbedeckung habe ich verzichtet, da die Fransen die Sicht aus den Augenwinkeln beeinträchtigen. Außerdem schwitze ich darunter in der Wüstenhitze, und mein Kopf fängt an zu jucken. Deshalb leuchtet mein rot-goldener Haarschopf im Lampenlicht. Mit der Spitze meines Krummsäbels kratze ich mich am Bart. Der Blick des Premierministers weicht nicht von der Klinge. Ich würde mir wirklich wünschen, dieses Genie in Whitehall, das den Einfall hatte, meinen männlichen Avatar als Ass im Nahen Osten einzusetzen, hätte nicht auf den Säbel als Teil von Bahirs Erscheinungsbild bestanden. Das sieht so absurd nach Tausendundeine Nacht aus, aber jetzt habe ich ihn nun mal an der Backe. Bahirs Klinge hat schon etliche Menschen einen Kopf kürzer gemacht – unter anderem den letzten Kalifen.

»Prinz Siraj lässt seinem Bruder Grüße bestellen und ist betrübt, dass sein Bruder den Ölpreis, den der Kalif festgesetzt hat, nicht respektiert.«

»Das sind doch nur ein paar Dollar.« Seine Stimme zittert, und er winselt. Ich kann sehen, wie ihm eine Gänsehaut über Schultern und Oberarme läuft.

»Einhundert Dollar.«

»Die vom Kalifen festgelegten dreihundert sind zu viel. In Europa und Amerika geht die Wirtschaft in die Knie. Was haben wir davon, wenn wir sie in den Ruin treiben? Wenn niemand mehr unser Öl kaufen kann, woher sollen dann unsere Profite kommen?«

»Diese Argumente hättest du dem Prinzen ins Gesicht sagen sollen, anstatt dich wie ein Dieb hinter seinem Rücken herumzuschleichen. Seine Hoheit ist kein Narr. Er wird mit den Preisen wieder nachlassen, aber erst, wenn der Westen mächtig in die Tasche gegriffen hat.«

»Mit dem Krieg in Ägypten hatten wir nichts zu tun. Warum sollten wir dafür Rache nehmen? Keiner unserer Soldaten hat dabei sein Leben verloren.« Er wird wütend und fragt sich allmählich, ob er wirklich um sein Leben bangen muss. Ich werfe einen Blick zum Fenster hinaus. Die Sonne ist dem Horizont gefährlich nah.

»Du sagst das ohne jede Scham, und das zeigt, dass du eine Marionette des Westens bist.«

Wenn man eine Klinge schnell durch die Luft sausen lässt, pfeift es tatsächlich, ganz schwach, nicht wie im Kino, aber immerhin ist für einen Sekundenbruchteil ein Geräusch zu hören, das dir sagt, dass etwas Schreckliches passieren wird. Der Premierminister zuckt zusammen und rudert mit den Armen. Sonnenstrahlen brechen sich in den aufspritzenden Wassertropfen, die in Kaskaden vor den Fenstern herabfallen. Blut schießt empor und glüht im abnehmenden Licht. Ich habe ihm die rechte Hand abgetrennt. Er schreit, was in dem kleinen Zimmer von den Marmorwänden widerhallt. Von draußen sind stampfende Schritte zu hören.

Die Warnung wurde ausgesprochen. Höchste Zeit, dass ich gehe.

John Bruckner, der Highwayman, kommt gerade aus Flints Büro, als ich dort aufschlage, um von meiner jüngsten Mission für Siraj zu berichten. Aus Höflichkeit gegenüber unserem Chef hat Bruckner im Büro seinen fleckigen Andy-Capp-Hut abgenommen, doch jetzt führt er ihn seiner angestammten Aufgabe zu: seinen beinahe kahlen Schädel zu bedecken. Ich drücke mich gegen die Wand, denn Highwayman hat die Statur und Anmut eines Bierfasses.

Einen übertriebenen Händedruck später bietet er mir eine seiner ekligen schwarzen Zigarren an, während er sich selbst eine in den Mund stopft. Ich winke ab und ziehe eine Zigarette hervor. Hitze schlägt mir von der Flamme seines Zippos entgegen, als ich mich zu dem Feuerzeug vorbeuge. Dann hält er die Flamme an die Spitze seiner Zigarre und saugt genussvoll daran, bis der Tabak rot aufglüht. Nachdem wir dieses Ritual abgehakt haben, lehnen wir uns an gegenüberliegende Korridorwände und mustern einander.

»Wie kommt es bloß, dass ich ein verdammter Lastwagenfahrer bin und du ein verflixter Zauberer?«

»Ich bin hübscher als du.«

»Da hast du recht, und du kleidest dich auch besser«, sagt er und zieht den Bund der schlabbernden Kordhose über seine Wampe.

»Was hast du getrieben?«

Er deutet mit dem Daumen auf Flints Tür und sagt: »Das alte Granitgesicht lässt mich Waffen aus Lagos zu den Truppen im Busch bringen.« Wenn Highwayman mit seinem Truck eine bestimmte Geschwindigkeit erreicht, kann er von London nach Melbourne oder Shanghai gelangen, ohne durch die dazwischenliegenden Gegenden zu fahren. »Die verreckten Straßen dort sind kaum besser als Trampelpfade«, fährt er fort. »Die haben meiner Aufhängung ganz schön zugesetzt. Verdammte Eingeborene.«

Aus ihm spricht hier nicht nur die »Bürde des weißen Mannes«. Bruckner hat auf seinen »Abkürzungen« abartige und verstörende Dinge gesehen, und er lebt fortwährend in der Angst, in diesem seltsamen, surrealen Niemandsland festzusitzen.

»Zeig mal ein bisschen mehr Dankbarkeit. Wenn Nigeria nicht wäre, hättest du kein Benzin mehr im Tank.«

»Ja, meinetwegen, aber warum können diese Neger keine verdammte Straße wie in der Ersten Welt bauen?«

Ich reiße mich zusammen. Bruckner ist Mitte sechzig. Die Zeiten haben sich geändert, nicht aber Highwayman. Er ist rassistisch und sexistisch und verachtet Fremde mit einem Überlegenheitsgefühl, wie es nur weiße Engländer empfinden können. Mit einem Grunzen und einem weiteren Ziehen am Hosenbund richtet er sich auf und sagt: »Muss mich vom Acker machen. Schaust du bei mir und den anderen Jungs noch auf ein Bier vorbei?«

»Geht nicht.« Ich deute mit einer Kopfbewegung auf Flints Bürotür.

»Na gut, nächstes Mal.«

Er stapft davon und zieht eine Rauchschwade hinter sich her wie die Abgase eines seiner Laster. Ich klopfe an die Tür. Zwar höre ich kein »Herein«, aber ich gehe trotzdem hinein. Flint sitzt auf seinem großen Steinstuhl. Die Polsterung jedes normalen Stuhls würde er mit seinem kantigen Felsleib schreddern.

Ich setze mich auf meinen gewohnten Platz, drücke die Kippe aus und ziehe die nächste Zigarette hervor. Das Licht von der Straße wirft Schatten auf die Bücherregale. Drinnen brennt nur eine kleine Lampe auf dem Schreibtisch, sodass Flints Augen rot aus dem grauen Steingesicht hervorleuchten.

»Gottverdammt! Müssen Sie für unsere Feinde unbedingt so gute Arbeit leisten?«

Oh, Mist. Ich hatte gehofft, Flint von meinen Maßnahmen in Dubai berichten zu können, bevor er davon erfährt. Dieses Glück war mir wohl nicht beschieden. Wie es aussieht, werde ich heute wohl kaum im Beifall meines Chefs schwelgen.

»Ich nehme an, die Emirate haben die Preise erhöht?«

»Sie wissen verdammt genau, dass sie das getan haben. Sie haben dem Typen die Hand abgeschlagen! Er ist mit dem Premier befreundet.«

»Hin und wieder muss ich einen Erfolg vorweisen, Sir, sonst fragt Siraj sich noch, ob sein Leibwächterass, beziehungsweise Assassine, eine komplette Niete ist.«

»Können Sie Siraj denn überhaupt nicht beeinflussen?«

»Bahir wird als plumper Auftragsempfänger angesehen. Ich glaube, Siraj würde Verdacht schöpfen, wenn der Assassine des Kalifen plötzlich politischen Scharfsinn an den Tag legt.«

Flint brummt etwas Unverständliches und nickt widerwillig. Es ist unheimlich, wenn sich mein Chef bewegt. Das sieht aus, als erwache eine Statue zum Leben. Er schnippt mit den Fingern und lässt eine Flamme auflodern, was mich kurz irritiert. Dann kapiere ich, dass sie für die Zigarette bestimmt ist, die ich zwischen meinen Fingern vergessen habe.

Meine Güte, so weit lässt er sich nur selten herab. Vermutlich hat er mir das eigenmächtige Blutbad verziehen. Indem ich mich nach vorn beuge, stecke ich meine Zigarette an. Der herbe türkische Tabak greift wie mit Klauenhänden nach meinen Lungen, doch der genussvolle Nikotinschub entschädigt für den leichten Schmerz und das Risiko von Lungenkrebs.

»Wohin sind Sie als Nächstes unterwegs?«

»Ich habe eine Verabredung.« Ich richte mich stolz auf, und Flint macht ein Geräusch wie blockierte Zahnräder, die ineinandergreifen. »Aber glauben Sie mir, das ist mir noch mehr zuwider als Ihnen. Babysitten ist nicht mein Ding.«

Bevor ich meinen Blasenmuskel in der kalten, dunklen Zwischenwelt einer Belastungsprobe aussetze, lege ich auf der Toilette eine Pause ein. Während der Urin gegen das Porzellan prasselt, kämpft mein besseres Ich gegen mein wahres Ich an. Eigentlich will ich Lohengrin anrufen und unsere Verabredung absagen, damit ich nach Hause zu Dad gehen und in meinem alten Zimmer schlafen kann. Wenn ich nach New York gehe, werde ich ein viel zu reichhaltiges und schweres Essen zu mir nehmen und anschließend mit dem deutschen Ass auf verschwitztem Bettzeug heftigen und unbeholfenen Sex haben. Was ihm an Raffinesse fehlt, macht Lohengrin durch reines Stehvermögen mehr als wett. Mir graut vor morgen. Selbst wenn ich mich wieder in meinen normalen Körper zurückverwandelt habe, wird im Unterleib ein unangenehmer Schmerz zurückbleiben.

Einen Moment lang betrachte ich widerwillig meinen kurzen und seltsam geformten Penis. Wäre mein Leben besser, leichter gewesen, wenn Mum ihn hätte wegoperieren lassen …?

Meine Gedanken zerschellen an der Wirklichkeit. Kein chirurgischer Eingriff der Welt hätte mich zu einem »richtigen Mädchen« gemacht. Ich packe ihn ein und mache den Reißverschluss zu. Dann gehe ich zum Waschbecken, um mir die Hände zu waschen. Das raue Papierhandtuch habe ich noch in der Hand, als ich die Verwandlung über mich ergehen lasse. Bald drücken Brüste gegen mein Hemd, und meine Hose spannt sich über eine weibliche Hüfte. Lange Fingernägel bohren sich durch das Papiertuch.

Das Bild im Spiegel ist etwas enttäuschend. Das herzförmige Gesicht wirkt abgespannt, und unter den silbrigen Augen bilden sich dunkle Ringe. Ich finde es ziemlich schockierend, dass sich die Anzeichen von Erschöpfung meines wirklichen Körpers auf meine Avatare übertragen. Nach einem Blick auf die Uhr berechne ich die Zeitverschiebung zwischen London und New York. Wenn ich in meiner Wohnung in Manhattan vorbeischaue, um mich zu schminken und umzuziehen, komme ich zu spät zum Abendessen mit Lohengrin. Aber sein Frauenbild ist ziemlich überholt. Er wird es typisch finden.

Ich stelle mir die Wohnung im Village vor. Während mein Körper an diesen kalten, fremden Ort springt, entscheide ich mich für das kleine Schwarze. Damit er mehr auf meine Beine achtet …

♣♦♠♥

Könnte

Caroline Spector

Es ist dunkel. Stickig. Über mir sind Hubschrauber zu hören. Ich muss etwas unternehmen. Jetzt höre ich sie schon schreien. O mein Gott, wie sie schreien, wenn ihnen das Fleisch von den Knochen gesengt wird! Ich muss Blasen machen. Muss dem Gestank verbrannter Haut entfliehen. Muss von den Schreien weg. Muss dafür sorgen, dass die Schreie weggehen.

Ich versuche, mir im Dunkeln den Weg freizuschießen. Einen Moment lang kann ich keine Blasen werfen. Es ist, als stünde zwischen mir und meiner Fähigkeit als Ass eine Wand – und dann entströmt meiner Hand eine Blasenflut. Staub und Schutt fallen von mir ab, und ich bekomme etwas davon in den Mund.

Licht. So klar und hell. Ich werfe noch mehr Blasen, bis ich die Dunkelheit vollends vertreibe und das Gewicht der Trümmer abschüttle.

»Aufhören!«

Ich schaue mich um. Ich bin nicht in Ägypten. Nirgends ein Hubschrauber. Keine zusammenbrechenden Menschen und auch kein sengendes Feuer. Nur die aseptische Sauberkeit des Untersuchungsraums im BICC, dem Biological Isolation and Containment Center. Wer sich bloß diese Namen ausdenkt!

Meine Fresse, ich hasse staatliche Einrichtungen. Warum um alles in der Welt zieht irgendjemand in eine aufgegebene Salzmine ein? Und dazu noch mitten in der Pampa, in New Mexico, um genau zu sein …

»Der Test dient dazu herauszufinden, wie viel Energie Sie aufnehmen können, Miss Pond.« Die körperlose Stimme gehörte Dr. Pendergast. Normalerweise war sie seidenweich, sodass man kaum merkte, wenn er zornig war. Allerdings machte ich eine Spur Ärger darin aus und wusste, dass ich unartig gewesen war.

Aber jetzt mal ehrlich: Wie oft wollten sie mich denn noch grün und blau prügeln? So langsam kam ich mir vor wie Karl der Kojote. Schmeiß mich doch einfach noch mal in die Schlucht, Chef. Oder verpass mir einen Todesstrahl. Was dir lieber ist.

Mir war nicht einmal klar, warum sie mich immer noch untersuchten. Anfangs hatten sie das übliche Programm gefahren: Ein Joker mit einer Visage, bei der einem die Luft wegblieb, und Bizeps so groß wie Wassermelonen. Der verpasste mir einen linken Haken, den ich irgendwie spürte. Ich gab mir Mühe, beim Anblick seines enttäuschten Gesichts nicht zu lachen.

Dann fingen sie mit den Kanonen, den Geschossen und den vorspringenden Wänden an. Also echt mal, wer zum Donnerwetter hat einfach mal so vorspringende Wände herumliegen? Ich meine, hat denn keiner von diesen Typen American Hero gesehen? Man hätte meinen können, sie hätten nie von Amazing Bubbles gehört.

Aber das eigentlich Oberkrasse war, dass sie gar nicht wollten, dass ich Blasen warf. Vielmehr betonte Dr. Pendergast, dass er auch nicht die kleinste Blase sehen wollte. Ich versuchte ihm zu erklären, dass ich einfach Blasen werfen musste, wenn sie mit derart heftigen Geschossen auf mich einprügelten. Sonst tat es weh.

Doch Dr. Pendergast scherte sich nicht darum. Ihn interessierte nur, wie viel Energie ich absorbieren konnte. Bislang hatten sie herausgefunden, dass ich, bis zur Maximalgröße aufgepumpt, einen Raum von zweieinhalb auf zweieinhalb Meter ausfüllte. Mit Bloat konnte ich es allerdings nicht aufnehmen. Sie erklärten mir, dass ich ab einem bestimmten Punkt nicht mehr breiter wurde, sondern kompakter. Schwerer, aber nicht größer. Ich hatte den Eindruck, dass sie das total interessant fanden.

Das Problem war folgendes: Wenn sie mich zu meiner vollen Größe aufgepumpt hatten und mich danach weiter bombardierten, wurde es immer schwieriger für mich, danach noch Blasen zu werfen. Je kompakter ich wurde, desto mächtiger wurde ich, aber desto schwerer wurde es auch, meine Macht einzusetzen. Verdammt, ich konnte kaum noch einen meiner aufgedunsenen Finger rühren.

Und es half auch nicht, dass jeder Schlag Erinnerungen mit sich brachte. Erinnerungen, denen ich mich nicht stellen wollte. Deshalb tat ich, was ich sonst auch immer mache: Ich dachte an etwas anderes. Egal was, Hauptsache, es lenkte mich von dem ab, was wie ein schlechter Rob-Zombie-Film in meinem Kopf herumgeisterte.

Meistens half es, wenn ich mir Ink vorstellte, nackt.

»Okay, Miss Pond, wir machen weiter.«

»Ach ja? Das glaube ich kaum«, gab ich zurück. Ich breitete die Arme aus und verströmte eine enorme Blasenflut. Dabei spürte ich, wie meine Kleider lockerer wurden. Mit der linken Hand raffte ich den Bund meiner Hose, damit sie nicht rutschte.

Die Blasen hüpften im Zimmer herum, doch mit der rechten Hand ließ ich noch mehr Blasen steigen. Der Raum füllte sich, und die Kugeln stießen bebend aneinander. Damit sich niemand an ihnen verletzte, hatte ich sie weich und gummiartig gemacht. Aber es würde eine Weile dauern, bis sie sich auflösten. Bis dahin war es nicht möglich, in dem Raum noch mehr Prügel auszuteilen. So hatte ich immerhin ein bisschen Zeit gewonnen.

»Miss Pond, Sie haben sich mit den Untersuchungen einverstanden erklärt.«

»Ich weiß, und jetzt bin ich durch mit den Untersuchungen. Soweit ich mich erinnere, war meine Beteiligung rein auf freiwilliger Basis.«

»Seien Sie nicht kindisch! Wir fangen gerade erst an, die wahren Ausmaße Ihrer Fähigkeiten zu entdecken.«

Ich blickte zu dem Einwegspiegel hinüber. Dr. Pendergast sah ich zwar nicht, aber ich konnte mir sein väterlich tadelndes Gesicht vorstellen. Und wie er seinen Van-Dyke-Bart striegelte, wenn er versuchte, »vernünftig« mit mir zu reden.

»Ja, äh, nun …« Mist. Markige Erwiderungen waren noch nie mein Ding gewesen. »Sie sind nicht mein Chef.« Mit hochgezogener Hose marschierte ich hinaus und brachte es gerade so fertig, mir nicht an die Stirn zu fassen.

Es klopfte an der Tür. Sie hatten mich in einem der Beamtenquartiere untergebracht. Vermutlich wurde das gemeine Volk nicht so gut behandelt.

Ich machte die Tür auf. Vor mir stand die unansehnlichste Frau, die mir je unter die Augen gekommen war. Ihr kurzes Haar sah aus, als hätte man es mit einer Sicherheitsschere geschnitten. Wangen und Stirn waren mit leuchtend roten Pickeln gespickt. »Miss Pond?«

»Das bin ich«, sagte ich.

»Ich bin Niobe.« Sie hielt inne.

»Niobe!« Ich umarmte sie ungestüm. Seit American Hero standen wir in E-Mail-Kontakt. Viele ihrer E-Mails waren herzzerreißend gewesen, und sie hatte mich tief berührt. Die Feststellung, ihre Eltern hätten sie nicht ganz optimal unterstützt, als ihre Wild Card aufgedeckt worden war, wäre ungefähr so, als würde man behaupten, bei Joker Plague spielten einige eher unattraktive Bandmitglieder mit. Allerdings hatte in ihren E-Mails noch etwas anderes mitgeschwungen, etwas Unausgesprochenes.

»Was machst du denn hier?«, fragte ich. »Schließlich bekommt nicht jeder einen All-inclusive-Urlaub im wunderschönen BICC bezahlt.«

»Nun, meine Eltern waren nicht so begeistert, dass ihre einzige Tochter nicht mit einem perfekten Auftritt in die Gesellschaft eingeführt werden würde. Mit dem Teil hat man es als Debütantin ziemlich schwer.« Ihr dicker Schwanz wischte über den Boden. Den hatte ich gar nicht bemerkt. Er besaß eine hässliche graue Farbe, war breit und scheckig, und Borsten standen von ihm ab.

Ich wandte mich um und fing an, meine restlichen Sachen in den Koffer zu packen. Niobe wirkte so verloren, dass mir unwohl wurde.

»Sie benutzen mich als Untersuchungsobjekt«, sagte sie. »So wie dich auch.«

»Du liebe Güte, das will ich nicht hoffen«, entgegnete ich mit einem Blick über die Schulter. »Mir haben sie nämlich die Seele aus dem Leib geprügelt.«

Sie lächelte mich matt an. »Nein«, sagte sie. »Ich habe ja auch keine solche Fähigkeit wie du. Weißt du eigentlich, dass du in echt besser aussiehst?«

Ich lachte. »Wow, was für ein Gedankensprung, Mädchen, äh, Frau.«

»Damit will ich sagen, dass du anders aussiehst als im Fernsehen.«

»Du meinst, weil ich gerade nicht fett bin.« Ich stopfte das letzte Kleidungsstück in meine Tasche. »Ja, ich habe eben den Untersuchungsraum mit Blasen zugeballert. Ich haue ab, und wenn ich nach New York zurückkehre, will ich nicht so leicht zu erkennen sein.«

Sie steckte die Hände in die Hosentaschen und machte ein unzufriedenes Gesicht. »Dann wirst du wohl keine Zeit mit den anderen Patienten verbringen.«

»Mir war nicht bewusst, dass mich jemand besuchen will«, sagte ich. »Bis auf die vielen bunten Sachen, mit denen sie auf mich einhämmern konnten, haben sie mich im Dunkeln darüber gelassen, was hier sonst noch so abgeht.«

Darauf zog Niobe eine noch missmutigere Miene. »Ja«, sagte sie. »Die behandeln uns wie Ratten im Käfig.«

»Hör mal«, sagte ich. »Ich habe noch total viel Zeit bis zu meinem Flug – wenn sie überhaupt genug Sprit zum Starten haben. Wie wäre es, wenn ich mitkomme, und du stellst mir vor, wen immer du mir vorstellen willst?«

»Das würdest du tun?« O mein Gott, sie hatte so traurige Augen!

»Klar, lass mich nur schnell meinen Kram packen.«

»Macht es Laune, zum Komitee zu gehören?«, fragte Niobe, während wir in einem Golfwagen des BICC den stillen Korridor entlangfuhren.

»Ich denke schon«, sagte ich. »Ich meine, es ist toll, bei einer guten Sache mitzumachen, aber manchmal … manchmal ist es hart.«

Kurz stieg mir der schwache Geruch von verbranntem Fleisch in die Nase. Ich sah mich um, doch nichts als glatte, makellose Wände rauschten an uns vorbei.

»Aber dadurch kannst du doch auch eine Menge anderer cooler Dinge tun.«

»Stimmt. Ich komme zu den Oscarverleihungen und zum MTV Video Music Award, und nach dem Debakel in Ägypten haben sie in Disneyland eine Parade für uns veranstaltet. Das war schon okay. Aber herumreisen und mit Journalisten quatschen ist nicht so prall.«

Der Wagen wurde langsamer, Niobe hatte den Fuß vom Pedal genommen und sah mich an. »Aber macht es denn nicht Spaß, wenn die Leute einen Sachen fragen und einem wirklich einmal zuhören?«

»Nun ja … gar nicht mal so sehr«, gab ich zurück. »Als wir aus Ägypten zurückgekommen sind, haben sie uns auf eine Publicitytour geschickt. Das war die Hölle. Nicht wegen der normalen Leute, die uns sehen wollten, die waren meistens cool.« Bis auf die eine Frau, die mich mit Schweineblut bewarf und mich eine Mörderin schimpfte, dachte ich. »Aber diese Pressetermine sind wirklich abtörnend. Glaub mir, das war gar kein Vergnügen.«

Wir beschleunigten wieder. »Oh«, sagte Niobe. »Ich dachte, dein Leben nach American Hero und der Gründung des Komitees wäre perfekt.«

»Ich glaube nicht, dass das Leben jemals perfekt ist.«

»Aber es war doch ziemlich perfekt, als Tiffani aus AH rausgeflogen ist.« Sie lächelte mich durchtrieben an.

Ich erwiderte das Lächeln. »Ja, dieser Moment war schon irgendwie perfekt.«

»Hast du schon die Werbung für die neue Staffel gesehen?«, fragte Niobe. Sie klang aufgeregt.

»Ja«, sagte ich. »Sie wollten mich in einem Trailer drin haben, aber ich war gerade außer Landes, als er gedreht wurde.«

»Was hältst du von den neuen Assen?«

»Ich glaube, die haben keinen blassen Schimmer, auf was sie sich da einlassen.«

Als Ass vergisst man manchmal, dass andere Leute mit dem Virus weniger Glück haben. Jeder weiß, dass das Virus tötet, aber viele vergessen, dass es Menschen auch zu Krüppeln macht.

Durch eine doppelte Schwingtür führte mich Niobe in die Kinderstation. Hier gab es bunte Mobiles, Plüschtiere und Poster an der Wand. Einige Mädchen hatten ihre Infusionsständer mit Perlen und Stickern beklebt. Zumindest hielt ich sie für Mädchen. Hierher brachten sie die schwersten Fälle – die Kinder, die das Wild-Card-Virus nicht nur verwandelt, sondern entstellt hatte.

»Heute haben wir einen besonderen Gast«, sagte Niobe. »Sie hat bei American Hero mitgemacht und ist jetzt ein Mitglied des Komitees: Amazing Bubbles!«

Es folgte kein donnernder Applaus, aber das hatte ich auch nicht erwartet. Im vergangenen Jahr hatte ich genügend Krankenhäuser besucht. Ob Walter Reed oder Beth Israel, sie waren alle gleich: voll mit kranken Leuten, die sich ein Stück normales Leben zurückwünschten. Selbst einem Ass zu begegnen schien für sie normal zu sein. Schließlich hatten sie mich in ihren Wohnzimmern im Fernsehen gesehen.

Niobe führte mich von Bett zu Bett. Auf einem lag ein Junge in einem karierten Pyjama. Er war indigoblau und sah aus wie Violetta Beauregarde nach der Sache mit dem Kaugummi. Wir kamen an einem weiteren Bett vorbei, auf dem ein Kind wie ein Ballon über der Decke schwebte. Ballon Girl winkte uns zu. Es war nicht zu übersehen, dass Niobe all diese Kinder mochte und dass sie von den Kindern gemocht wurde. Aber vor einem Bett blieb sie stehen und fing an zu lachen, bevor sie mich vorstellen konnte.

Mitten auf dem Bett hockte ein schmächtiger Junge. Seine Proportionen waren vollkommen in Ordnung, und er hatte einen schwarzen Haarschopf. Doch dann sah ich, wie sich sein Gesicht veränderte, als würde man einem Fleisch gewordenen Filmtrick beiwohnen.

Sein Haar wurde länger, bis es ihm auf die Hüfte herabfiel. Seine Züge verwandelten sich, sie wurden weiblicher. Dann erkannte ich, dass er wie Cher aussah.

»Okay«, sagte ich. »Das ist krank.«

Niobe kicherte. »Sieh dir das an.«

Der Körper des Jungen quoll auf, Arme und Beine blähten sich, als wären Ballons in ihnen versteckt.

»Das ist ja wohl nicht dein Ernst«, sagte ich. »Das Michelin-Männchen?«

Niobe und der Junge fingen gemeinsam an zu lachen, und da kapierte ich, dass dies eines von Niobes Kindern war. Ich hatte mitbekommen, dass sie eine psychische Verbindung zu ihnen hatte, mehr wusste ich allerdings nicht über ihre Fähigkeit. Darüber hatte sie sich mehr oder weniger ausgeschwiegen. Als sie genug gekichert hatte und wieder sprechen konnte, sagte sie: »Das ist Xerxes.«

Ich streckte ihm die Hand hin, und er reichte mir seine winzigen Finger. »Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen«, sagte er und klang dabei wie Marvin der Marsmensch.

»Damit solltest du auftreten«, sagte ich.

Niobe lachte nicht mehr. Ich war verblüfft. Sicherlich bin ich nicht die weltbeste Witzereißerin, aber so übel war mein Kommentar nun auch wieder nicht gewesen, oder? Und außerdem: Verglichen mit anderen Luschen, hatte es Xerxes nicht schlecht erwischt.

»Ähm, wir sollten wohl mal weiter«, sagte ich. »Hat mich gefreut, dich kennenzulernen, Xerxes.«

Niobe führte mich zu einem anderen Bett. Da ich mir über das Geschlecht des Patienten nicht im Klaren war, ließ ich erst einmal Niobe sprechen.

»Das ist Jenny«, sagte sie. »Jennys Karte wurde vor ungefähr einem Monat aufgedeckt. Sie ist nicht krank, aber wenn sie sich sehr aufregt, würgt sie ihre Eingeweide heraus.«

»Hi, Jenny«, sagte ich. »Aber spuck mir jetzt bloß nicht die Gedärme auf die Füße, okay?«

Niobe keuchte, doch Jenny lachte. Oder vielmehr gluckste sie. »Normal haben die Leute total Schiss, mir so was zu sagen«, sagte sie. »Wissen Sie, dass ich bei American Hero für Drummer Boy war?«

»Kann mir denken, warum«, sagte ich. »Er ist Musiker, und Mädels stehen auf Musiker.« Das war meine höfliche Antwort, wenn Leute mir mit Drummer Boy kamen. Insgeheim hielt ich ihn auch nach der Geschichte in Ägypten noch für einen Arsch.

»Würden Sie mein Buch signieren?« Mit einer ihrer Flossen schob sie mir ein Autogrammalbum zu.

Ich blätterte es durch. Darin standen eine erstaunliche Menge berühmter Leute. Offenbar hatte sie damit angefangen, bevor ihre Karte aufgedeckt worden war. Ziemlich weit hinten fand ich eine leere Seite und kritzelte meinen Namen und eine Widmung hinein.

»Bitte sehr. Ich kann Drummer Boy ja mal anrufen und ihn fragen, ob er dir ein signiertes Bild von sich schickt. Wenn du magst, versteht sich.«

»Das wäre toll!«, sagte Jenny. »Meine Güte, ich glaube, Sie sollten zur Seite treten.«

Niobe und ich wichen zurück, und tatsächlich spuckte Jenny ihre Eingeweide aus. Das war nicht nur widerwärtig anzuschauen, sondern stank auch bestialisch.

»Na gut, ich denke, Bubbles muss ihren Flug noch erwischen.«

Der Flug nach New York war, wie ich erwartet hatte: lang, langweilig und total überfüllt. (Je weniger Worte man über den Flug von Carlsbad nach El Paso verliert, desto besser. Das war der reinste Horror im Himmel.)

Ich war bereit, in meine Wohnung in Stuyvesant Town zurückzukehren. Das war zwar nicht die angesagteste Gegend der Stadt, aber für mich war es ein richtiges Zuhause. Sie lag an der Vierzehnten und der Avenue A. Noch auf der Lower East Side, aber nicht so schick. Noch nicht zumindest.

In dem Viertel war die Gentrifizierung gerade erst im Kommen. Noch gab es eine Menge billiger Klamottenläden, gute Multikulti-Küche (ebenfalls billig) und ein paar großartige Buchhandlungen, die zu Fuß erreichbar waren. Und der Komplex von Stuyvesant Town blieb weiterhin das, was er ursprünglich hatte sein sollen: ein Wohngebiet für die Mittelschicht.

Freilich wohnte ich illegal dort, in Untermiete bei einem Pärchen, das nach der Geburt seines Kindes nach Columbus gezogen war. Die beiden wollten näher bei ihren Verwandten leben, konnten sich aber nicht von der Vorstellung verabschieden, New Yorker zu sein. Deshalb hatten wir uns darauf geeinigt, dass ich die Wohnung räumen würde, falls sie zurückkehren sollten. Das war vor zwei Jahren gewesen, und ich fühlte mich ziemlich sicher – fürs Erste.

Allerdings kam ich ohne fahrbaren Untersatz nicht vom Flughafen nach Hause, und es gab nur eine Handvoll Taxis und eine grässlich lange Schlange mit Leuten, die eines haben wollten.

Am Ende saß ich auf dem Rücksitz eines zusammengeschusterten Karrens, der von einem Joker gezogen wurde. Der Kerl war einiges über drei Meter groß, und den Großteil seiner Länge machten die Beine aus. Es war verdammt schräg, von Papa Langbein durch New York kutschiert zu werden. Ich fragte mich, wo er sich seine Hosen schneidern ließ. Beim Männerausstatter für Übergrößen?

Auf den Straßen war fast kein Verkehr. Trotzdem mussten wir Autos umkurven, die ihre Besitzer hatten stehen lassen. Fahrräder schossen an uns vorbei, und die Leute darauf feuerten uns an. Busse fuhren, da der Präsident verfügt hatte, dass das Liniennetz bedient werden musste.

Die Lage war schon schlimm gewesen, als ich aufgebrochen war. Jetzt schien sie allerdings noch schlimmer zu sein. In fast allen Straßen sah man mit Brettern vernagelte Läden. Und die Geschäfte, die noch geöffnet hatten, vor allem Nachbarschaftsläden, hatten auf ihren Schildern draußen schockierende Preise stehen.

Der Joker fuhr an den Bordstein vor meinem Haus heran, und ich bezahlte ihn bar. Mit meinem Gehalt vom Komitee und meinen Sponsoringauftritten im vergangenen Jahr kam ich ganz gut über die Runden. Wer hätte gedacht, dass es derart lukrativ war, sich von einem Volvo anfahren zu lassen? Und wenn ich Werbung machte, musste ich mich wenigstens nicht fragen, ob die Leute, mit denen ich zu tun hatte, den nächsten Tag noch erleben würden.

Ich stieg in den vierten Stock. Das tut den Muskeln gut, dachte ich.

Wenn ich Energie aufnahm, wurde ich nicht nur fett. Auch meine Muskeln dehnten sich aus. So viel hatte ich schon alleine herausgefunden. Deshalb hatte ich angefangen zu trainieren, um so viel wie möglich Muskelfleisch auf mein Gerippe zu packen. Klar war ich jetzt ein bisschen schwabbeliger, aber ich neigte nicht mehr so sehr dazu aufzugehen. Und ich wollte beweglicher sein, wenn ich fett war. Dabei halfen die Muskeln auch.

Die Luft in meiner Wohnung war muffig. Ich riss alle Fenster auf und schaltete den Deckenventilator ein. Auf dem Tisch stapelte sich die Post. Nur in Stuyvesant Town wagte ich es, einem Nachbarn den Wohnungsschlüssel anzuvertrauen.

Ich blätterte die Post durch, zog Rechnungen und Fanbriefe heraus und warf den Schrott in den Müll. Dann fuhr ich den Rechner hoch. Mich erwartete eine irrsinnige Menge an E-Mails, darunter ein oder zwei von Ink:

An: [email protected]

Von: [email protected]

Ich weiß, wir haben erst heute Morgen miteinander gesprochen, aber ich vermisse dich jetzt schon.

Wenn du das BICC endlich hinter dir hast, müssen wir uns mal sehr, sehr lange über deinen Mund und meine Muschi unterhalten. Oder andersrum.

Jetzt mal ehrlich, allein Masturbieren wird irgendwann ganz schön öde …

Komm bald nach Hause!

Dein ständig sich wandelndes Mädchenspielzeug,

Juliet.

Sie hatte mir noch mehr E-Mails geschickt, aber die erste war ziemlich typisch. Von Niobe war auch eine im Posteingang.

An: [email protected]

Von: [email protected]

Liebe Michelle,

es war wundervoll, dich endlich einmal persönlich kennenzulernen. Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit miteinander verbringen können, aber ich war schon sehr dankbar für die Stunde, die du erübrigt hast.

Und ich möchte dir ganz besonders danken, dass du zu den Kindern gegangen bist. Es hat ihnen wirklich viel bedeutet. Xerxes fand dich witzig, und Jenny meinte, du wärst »total locker« gewesen, was ihr »Herausschlucken« angeht (ihre Worte, nicht meine).

Ich hoffe, wir bleiben in Kontakt. Deine Freundschaft bedeutet mir eine Menge.

Deine Niobe

Wenigstens Niobes E-Mail munterte mich auf. Ich vermisste Ink, aber nicht so sehr, wie ich es erwartet hatte. Und deshalb kam ich mir wie eine miese Freundin vor. Aber in letzter Zeit empfand ich gegenüber vielen Dingen eine gewisse Distanz.

Mein Handy brummte. Ich griff danach und las die SMS von John Fortune. Er bat mich, in sein Büro bei der UNO zu kommen. Mist, dort wollte ich nun wirklich nicht hin. Ich ließ die restlichen E-Mails ungelesen und schaltete den Computer aus.

»Hör mal, du weißt doch, dass ich dich nur ungern darum bitte«, sagte ich.

Fortune seufzte und legte den Kopf in die Hände. Na, toll, dachte ich. Er will mir ein schlechtes Gewissen machen. Passagiere für den Direktflug nach … Schluss damit! »Ich brauche eine Auszeit«, sagte ich. »Das geht jetzt schon über ein Jahr so, ich war auf zu vielen Missionen unterwegs.«

»Aber deshalb brauchen wir dich«, sagte er, während er den Kopf hob. »Du hast Einsätze angeführt. Du warst in Ägypten. Du warst im Behatu-Lager. Wer außer dir kann schon sagen, dass er einen Völkermord im Balkan verhindert hat?«

Ich schloss die Augen und holte tief Luft. Als ich sie wieder aufschlug, starrte Fortune ins Leere. Daran erkannte ich, dass Sachmet mit ihm sprach. Und, Junge, Junge, dabei wurde mir ganz anders. Ich meine, wer hat schon gern einen riesigen Skarabäus in der Stirn eingepflanzt und ein Wesen im Schädel, das Gott weiß wie mit dir kommuniziert? Bäh, keine Ahnung, wie er das aushielt – ständig mit jemand anders in einer Haut zu stecken, ständig belauscht zu werden. Ganz zu schweigen von dem gigantischen Pickel, den der Skarabäus auf seiner Stirn bildete. Diesen Look würde ich nicht unbedingt empfehlen.

»Ich weiß, dass du eine Pause brauchst, aber so, wie sich die Dinge gerade entwickeln, weiß ich nicht, ob ich auf dich verzichten kann.« Er schenkte mir dieses ach so verständnisvolle Lächeln, das verdächtig nach Sachmet aussah. »Folgendes«, fuhr er fort, »Jayewardene will, dass wir mit einem Team untersuchen, was an den Völkermordvorwürfen im Nigerdelta dran ist. Die Anschuldigungen kommen vom People’s Paradise of Africa, und das entwickelt sich gerade zu einem heftigen politischen Shitstorm.«

»Noch ein Völkermord?«, sagte ich. Mir krampfte sich der Magen zusammen, und mir wurde speiübel. »Ich glaube nicht, dass ich einen weiteren Völkermord aushalte.«

Daraufhin stellte er diesen »Tu-Es-Für-Die-Menschheit«-Blick zur Schau. Ganz ehrlich, als Produktionsassistent bei American Hero hatte ich ihn mehr gemocht.

Jener John Fortune war ein netter Typ gewesen. Dieser John Fortune war von dem, was ihn gerade umtrieb, so sehr in Beschlag genommen, dass ihm alles andere egal war. Außer vielleicht Curveball.

»Ich habe eine Menge für das Komitee getan, also tu nicht so, als wäre das nicht wahr«, sagte ich. »Ich brauche eine Pause. Schick doch Gardener oder Brave Hawk hin. Die sind erst seit ein paar Monaten dabei, die sind noch frischer.«

»Aber wenn es um eine Mission in Afrika geht, bist du unsere erste Wahl«, erwiderte er. »Wenn es sich tatsächlich um einen Völkermord handelt, dann ist eine Frau an vorderster Front öffentlichkeitswirksamer. Mit deinem typischen wütend-verheulten Blick könntest du viel erreichen.«

»Gardener ist auch eine Frau«, sagte ich. Ich starrte ihn an, ohne etwas hinzuzufügen. Er runzelte die Stirn und blickte ins Leere. Sachmet brachte ihn wieder zur Vernunft – zumindest hoffte ich das.

»Ich lasse es mir durch den Kopf gehen«, sagte er schließlich.

»Ich treffe mich in D. C. mit Ink «, erklärte ich ihm.

»Gut«, sagte er. »Nimm dein Handy mit.« Doch ich merkte, dass er mich gar nicht mehr beachtete. Er heckte bereits den nächsten großen Plan aus.

Als ich am nächsten Tag in Washington eintraf, musste ich zu Fuß vom Bahnhof zu Inks Wohnung gehen. Hier gab es nicht einmal Jokertaxis, und die U-Bahn war verstopft.

Ich hatte einen Schlüssel, also musste ich nicht klingeln. Überall lagen Klamotten herum, und wo Platz war, türmten sich Zeitungen und Illustrierte. Ich warf meine Tasche hin und fing an aufzuräumen. Das würde sie ohne Ende nerven. Denn sie behauptete, dass sie nichts mehr fand, wenn die Sachen nicht dort waren, wo sie sie hingetan hatte.

Ich war schon einige Zeit am Aufräumen, als mein Handy summte. Ich sah auf das Display. Es war Ink.

»Hi, Baby«, sagte ich.

»Du warst schnell«, sagte sie. »Du räumst jetzt aber hoffentlich nicht die Wohnung auf, oder?«

Ich sah mich um. Die Zeitungen und Illustrierte waren sauber gestapelt, und die Klamotten hatte ich zur Wäsche geworfen oder zusammengelegt und weggetan. Das Bett war frisch bezogen und das Geschirr verräumt.

»Nein – natürlich nicht. Ich weiß doch, dass du das nicht magst.«

»Lügnerin. Du lügst wie gedruckt.«

»Du hast recht. Ich bin eine elende Lügnerin«, gab ich zurück. »Im Gegensatz zu dir. Du bist bloß wahnsinnig unordentlich.«

»Ich muss immer bis spät arbeiten«, sagte Ink. »Wie wär’s, wenn du herkommst und wir zusammen essen gehen?«

Ich verdrehte die Augen. Schon wieder ein Fußmarsch.

»Klar doch, Schatz. Wie du meinst.«

Die Büros vom SCARE erinnerten mich an das BICC. Kalt, unpersönlich und nicht auf menschliche Bedürfnisse abgestimmt.

Ich musste am Empfangsschalter warten, bis Ink herunterkam und mich nach oben brachte. Nur weil ich für Jayewardene und die UNO und nicht für die US-Regierung arbeitete, wurde ich wie ein Sicherheitsrisiko behandelt. Jetzt mal ehrlich: Wenn ich gewollt hätte, hätte ich aus dem Empfangsschalter Kleinholz machen können.

Der Fahrstuhl ging auf, und Ink trat heraus. Ihr Aussehen überraschte mich immer noch. Statt der kurzen Igelfrisur hatte sie einen glatten Pagenschnitt. Auch ihre Tattoos waren nicht immer sichtbar, und anstelle ihrer allgegenwärtigen halbhohen Converse-Basketballschuhe trug sie Pumps. Ihr Kostüm war geschmackvoll und in zurückhaltendem Grau gehalten. Ich hätte heulen können.

Als wir im Aufzug standen, stellte sich Ink auf die Zehenspitzen und küsste mich.

»Wofür war der?«, fragte ich.

»Ich habe dich vermisst«, sagte sie. »Meine Güte, kann ich dich nicht einmal mehr küssen, ohne dass du gleich was Komisches dabei denkst? Du hast doch nicht wieder diese Albträume gehabt, oder?«

Ich gab keine Antwort.

»Also doch«, sagte sie. »Und diese Flashbacks hattest du auch.«

»John hat mich gebeten, ein Team in Nigeria zu leiten«, sagte ich, weil ich das Thema wechseln wollte.

»Du hast ihm hoffentlich abgesagt. Du brauchst bestimmt nicht noch mehr Stress.«

Allmählich bekam ich miese Laune. Meine Mutter hatte einmal gesagt, dass es nicht die großen Dinge sind, die eine Beziehung kaputtmachen. Es sind die kleinen Sachen, die Alltäglichkeiten, die sich immerzu wiederholen und einem total auf den Zeiger gehen. Es ärgerte mich, dass mich Inks Sorge und Aufmerksamkeit so nervten. Und es ärgerte mich, dass sie recht hatte. »Ja, ich habe ihm abgesagt, habe aber gemeint, dass ich zur Verfügung stehe, falls er mich für was anderes braucht.«

Zum Glück öffnete sich der Aufzug, und sie hatte keine Gelegenheit mehr, etwas zu erwidern. Während wir durch das überdimensionierte Großraumbüro stapften, bemerkte ich, dass viele Kollegen Ink mitleidige Blicke zuwarfen. Sie nickte einigen von ihnen zu.

»Was ist los?«, flüsterte ich.

»Gleich.«

Wir blieben vor einer großen Tür stehen. Ink steckte den Schlüssel, der an ihrem Armband hing, ins Schloss. Als die Tür aufging, betraten wir ein hübsches Wartezimmer. In einer Ecke und neben einer zweiten Tür stand ein Schreibtisch. Ink setzte sich dahinter. »Nimm dir einen Stuhl«, sagte sie.

Ich stellte einen Stuhl neben den Tisch und ließ mich darauffallen. Da klingelte das Telefon, und Ink ging ran.

»Ja, Sie sprechen mit dem Büro des Direktors«, sagte Ink. »Nein … Tut mir leid … Er kommt heute nicht mehr zurück.«

Es folgte eine Pause.

»Natürlich, ich stehe Ihnen für Fragen gern zur Verfügung.«

Sie streckte ihren Arm aus, und ich sah, wie Worte darüber hinwegglitten. Ich möchte nichts lieber tun, als heute Nachmittag mit Ihnen zu sprechen. Zumal Ihre hirnlosen Fragen dafür sorgen werden, dass mir eine halbe Stunde meiner Lebenszeit geraubt wird.

»Ja, die Zusammenarbeit mit dem neuen Direktor ist wundervoll.«

Solange man mit einem von sich eingenommenen, narzisstischen Idioten klarkommt, der immer den längsten Schwanz haben muss.

»Selbstverständlich werden wir Nephi Callendar vermissen. Als Straight Arrow war er ein Streiter für das Gute, und als Chef von SCARE ging es ihm immer um das Wohl des amerikanischen Volkes.«

Sie legte das Bein auf den Tisch, sodass der Rock etwas nach oben rutschte, und ich las die gotischen Buchstaben darauf: Und er war ein anständiger Kerl, im Gegensatz zu dem Neuen, der den IQ von einem Glas warmer Milch hat. Allerdings hätte Nephi einen hysterischen Anfall bekommen, wenn er gewusst hätte, dass du und ich mehr als nur beste Freundinnen sind.

»Aber der neue Direktor hat einige spannende Ideen für die Abteilung.«

Sie zog ihr Hemd hoch, sodass ihr Bauch zu sehen war. Darauf stand: Wenn er nicht gerade trainiert oder seine stündliche Büroreinigung vornimmt. Was für ein Kauz. Aber kein sympathischer Kauz.

»Nun, noch sind seine Pläne geheim. Ich habe nicht die Befugnis, sie jetzt schon zu enthüllen. Aber ich bin überzeugt, dass er mit ihnen vor die Presse gehen wird, sobald er bereit ist. Ja, klar, es war mir ein Vergnügen.«

»Ich hab gar nicht gewusst, dass Callendar gekündigt hat«, sagte ich.

»Er hat nicht gekündigt, er ist in den Ruhestand gegangen. Da warst du gerade im BICC. Mich hat er auf gut Glück eingestellt. Schließlich habe ich davor nur als Produktionsassistentin bei American Hero gearbeitet. Aber er meinte, er braucht alle Asse, die er kriegen kann, und was ich bei AH geleistet habe, wäre kein bisschen einfacher als das, was ich hier zu tun bekäme. Scheiße, Mann, ich bin so was von deprimiert.«

Ich stand auf und ging um den Tisch herum, um sie zu umarmen. »Mach dir darüber keine Gedanken. Wenn das hier nichts wird, kann ich dir bestimmt einen Job beim Komitee vermitteln.«

»Lass uns einfach essen gehen und dann nach Hause«, sagte sie und küsste mich. Dann setzte sie hinzu: »Mir fällt bestimmt was Hübsches ein, womit wir uns den Abend vertreiben können.«

Ich marschierte durch das Behatu-Lager. Offenbar war es früher Morgen, denn noch war die Hitze nicht drückend. Meine Schritte wirbelten auf der ungepflasterten Straße Staubwolken auf. Die Berge rings um das Tal wirkten so nahe, dass ich meinte, den Schnee riechen zu können. Wie viele Jahrhunderte lang hatten Menschen wegen dieser gleichgültigen Balkangipfel Kriege geführt? Die vielen Toten – wozu?

Ein paar Meter vor mir lag ein Mädchen. Sie war erst ungefähr zehn Jahre alt. Das war schwer zu sagen, weil sie so dürr war. Ich wollte nicht näher heran, aber das gehörte zu meiner Arbeit. Ich kauerte mich neben sie hin und strich ihr das Haar aus dem Gesicht. Über ihren Hals verlief ein tiefer Schnitt. Darunter sammelte sich das Blut in einer Pfütze.

»Ich habe noch eine gefunden«, sagte ich laut.

»Wir sind gleich da.« War das Curveball? Oder vielleicht Earth Witch?

Ich berührte das Gesicht des Mädchens. Es war voller blauer Flecken und Schrammen. Seine Lippen waren geschwollen. Den Rest ihres Körpers brauchte ich mir gar nicht erst anzuschauen, um zu wissen, dass sie vergewaltigt worden war. Das war hier geschehen. Frauen, Mädchen, Großmütter, alle waren systematisch vergewaltigt und gefoltert worden. Deshalb waren wir hier. Wir sollten dem ein Ende setzen.

Doch für das Mädchen kamen wir zu spät.

Sie schlug die Augen auf. Weiße Augen, die nichts sahen. Ich machte einen Satz rückwärts und fiel auf den Hintern.

»Mörder«, sagte sie. »Killer.«

Aus ihrem Mund spritzte Blut und traf mich.

»Wach auf!«

Ich öffnete die Augen, wusste aber für einen Moment nicht, wo ich war. Ink schüttelte mich kräftig. »Komm schon, Michelle, wach auf!«

»Ich bin ja wach«, sagte ich mit trockenem Mund und bekam deshalb nur ein Krächzen heraus.

»Meine Fresse, hast du mir einen Schreck eingejagt!«

»Tut mir leid«, sagte ich hölzern und konnte meinen eigenen Angstschweiß riechen.

»Du solltest beim Komitee aufhören«, sagte Ink, während sie ihren Morgenmantel aufhob und aus dem Bett schlüpfte. Ich hörte, dass sie in die Küche ging und den Wasserhahn aufdrehte. Dann kam sie mit einem Glas Wasser zurück und reichte es mir.

»Ich kann nicht aufhören«, sagte ich. Das Wasser war kalt und schmeckte so gut, dass es wehtat.

»Warum nicht? Das Geld brauchst du doch nicht.«

Das Bettzeug war schweißnass. Also ging ich zum Schrank, holte frische Laken heraus und begann, das Bett abzuziehen.

»Ich kann nicht aufhören, weil es dort für mich noch viel zu tun gibt.«

»Hast du denen überhaupt mal gesagt, was mit dir los ist? Du leidest unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, Herrgott noch mal!«

Ich riss ein Kissen aus seinem Bezug. »Kann mich nicht erinnern, wann du eine Zulassung als Psychiaterin bekommen hättest.«

»Fick dich!«, fuhr sie mich an und zerrte das Laken von der Matratze. »Ich kann dein Scheißmachogehabe nicht ausstehen. Du musst mich nicht beeindrucken! Ich kenne dich. Ich kenne dich in- und auswendig. Ich weiß, dass du alles geben würdest, um jemand anders zu helfen. Aber du kannst nicht die ganze Welt retten.«

Mir steckte ein Kloß im Hals. Ich würde jetzt nicht heulen. Denn ich verabscheute heulende Frauen. »Können wir bitte einfach nicht mehr darüber reden?« Ich wandte mich ab. Hätte ich ihr ins Gesicht geschaut, hätte ich losgeflennt.

»Na schön«, sagte sie. Ich hörte, wie das Tuch, das sie über die Matratze spannte, wieder zurückschnappte. Da drehte ich mich um und half ihr.

Nachdem wir das Bett frisch bezogen hatten, legten wir uns wieder hin. Doch sie blieb auf ihrer Seite und ich auf meiner, als klaffte zwischen uns ein Abgrund. Wahrscheinlich war da auch einer, aber ich wusste nicht, was ich dagegen tun sollte.

♣♦♠♥

Double Helix

So soll von deinem Hause das Schwert nimmermehr lassen.

Melinda M. Snodgrass

Ich stehe in Flints Büro am Fenster und blicke auf den Verkehr hinaus. Anders als in New York hört man hier noch wildes Gehupe und das Keuchen und Aufheulen von Motoren, doch selbst mit unseren Bohrplattformen und dem Öl aus Nigeria ist Benzin extrem teuer, und die Anzahl der Autos auf den Straßen nimmt beständig ab.

»Auf den Ölfeldern kam es zu einigen Zwischenfällen. Das People’s Paradise stellt es so dar, als wäre es eine Reaktion der unterdrückten örtlichen Bevölkerung auf die Zentralregierung in Lagos, aber es ist äußerst plötzlich und zielgerichtet passiert. Ich denke, der auf Lebenszeit gewählte Präsident Dr. Kitengi Nshombo ist sehr darauf bedacht, sich diese Ölfelder selbst unter den Nagel zu reißen.«

»Wir dürfen dieses Öl nicht verlieren. Bruckner wäre am Boden zerstört, wenn er nicht mehr mit seinem Lastwagen fahren kann.« Es gehört zu meine Maske, dass ich alles leicht und ein wenig sarkastisch nehme, aber in Wahrheit verspüre ich einen Anflug echter Angst, die durch den Nebel aus Erschöpfung schneidet, der mich zu umgeben scheint. Was, wenn es kein Benzin mehr für Krankenwagen gibt? Was, wenn ich nicht da bin und Mum Dad nicht ins Krankenhaus bringen kann?

»Und jetzt mischt sich die verdammte UNO mit ihrem Komitee ein.« Flint steht tatsächlich auf. Obwohl der Boden verstärkt ist, spüre ich, wie die Holzdielen zittern und sich biegen, als er sich zu mir ans Fenster gesellt. »Sie müssen deren Effektivität mindern. Sie von Jayewardene abspalten. Dass die UNO über eine Armee von Assen verfügt, stellt eine beunruhigende Entwicklung dar, und der Generalsekretär scheint das Komitee nur zu gern einzusetzen.«

»Hören Sie, ich würde eine schlechte Figur abgeben, wenn ich Jayewardene beseitigen würde. Nshombo hingegen …« Ich lasse den Satz vieldeutig ausklingen. »Ich könnte Kongoville einen kleinen Besuch abstatten.«

»Dann würde seine Schwester seinen Platz einnehmen. Sie glaubt fest an sein sozialistisches Paradies und geht für seine Überzeugungen über Leichen. Allerdings ist sie sadistisch veranlagt und würde noch viel Schlimmeres anrichten. Die wahre Macht liegt ohnehin bei diesem Ass, Tom Weathers. Er besitzt ein erschreckendes Arsenal an Superkräften. Jede Einzelne von ihnen wäre schon mächtig. Zusammen jedoch …« Er hält kurz inne. »Gut möglich, dass er das mächtigste Ass der Welt ist.«

Ich greife in meine Tasche, ziehe mein Zigarettenetui hervor, nehme eine Zigarette heraus und klopfe mit ihr auf den Deckel. In der silbernen Fläche spiegelt sich verzerrt mein Gesicht. »Das mag schon sein, aber ich wette, dass er trotz allem stirbt, wenn ihn eine Kugel im Kreuz trifft.«

»Dazu könnte es kommen, aber jetzt noch nicht. Wenn die herrschende Klasse in Kongoville wegstirbt, während sie noch in einem festgefahrenen Disput mit uns steckt …«

»Wie recht Sie doch haben! Nur nicht die Hände schmutzig machen und hinterher bloß alles abstreiten können …«

»Haben Sie irgendeine Möglichkeit, dieses Komitee zu zerschlagen?«

»Ich versuche es, aber mir bleiben nur die Nächte. Und nicht einmal alle Nächte, denn Noel Matthews führt ja auch noch ein Leben als Zauberkünstler.«

»Ich dachte, Lilith leistet nachts die beste Arbeit.« Wie bizarr, wenn diese Steinlippen eine so plumpe sexuelle Anspielung äußern.

»Je nun, ich kann eben pro Nacht immer nur eine bestimmte Anzahl Männer ficken, und meine Möglichkeiten sind einigermaßen begrenzt. Aber wenn Lohengrin und DB aufeinander losgehen würden …« Das Bild ist unwiderstehlich: Lohengrins Schwert gegen DBs Schallattacke. Was für ein Zweikampf! »Das wäre kein Kunststück. Männer sind so vorhersehbar.«

Flint hält fragend den Kopf schief. »Nur weil Sie die Schlampe spielen. Warum tun Sie das? Entspricht das Ihrem Bild von Frauen? Männern sind Sie ja auch nicht gerade besonders wohlgesinnt.«

»Stimmt, denn ich verabscheue Menschen. Die sind ganz allgemein scheiße.«

»Hmmm.« Und damit ist Flint wieder in Afrika. »Versuchen Sie, sich nach Afrika versetzen zu lassen. So können wir kontrollieren, welche Informationen zurückfließen.«

Das ganze Gerede von kontrollierten Informationsflüssen und abgebrochenen Untersuchungen kommt endlich in meinem übermüdeten Gehirn an. »Sind wir uns sicher, dass im Nigerdelta nichts vor sich geht …«

»Absolut sicher. Und wir werden nicht zulassen, dass das PPA unter einem Vorwand einmarschiert.«

»Und wenn sie es trotzdem tun?«

»Dann wird man sich um sie kümmern.«

In dem Zimmer riecht es sauer und moderig. Ich will das Fenster aufmachen, aber es ist ein rauer Tag mit Regen und Sturmböen. Dads Atem geht rasselnd, und seine Haut wirkt grau. Ich muss ihn warm halten.

Ich sollte nicht hier sein. Ich sollte bei Lohengrin in New York sein. Aber ich musste nach Hause gehen. Obwohl ich das Abendessen gecancelt habe, kann ich immer noch direkt in Lohengrins Bett teleportieren. Das wäre ihm wahrscheinlich lieber. Man muss dem deutschen Ass jedoch zugutehalten, dass er keinen Gedanken an das Geld verschwendet, das er für mich ausgibt. Weiß Gott, von seinen ganzen Sponsoringverträgen hat er genug Kohle.

Beim Gedanken an Essen krampft sich mir der ausgehungerte Magen zusammen. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal eine richtige Mahlzeit zu mir genommen habe. Auf meinen Ellbogen gestützt, halte ich eine Tasse Tee, und auf dem Nachttisch steht ein Teller mit Macarons, die ich bei einem Konditor mitgenommen habe. Doch Dad will, dass ich ihm vorlese. Wenn er einschläft, werde ich etwas essen. Mit zitternder Hand reicht er mir die Bibel. Die Psalmen sind aufgeschlagen. Ich fange einfach an zu lesen, aber für mich sind sie alle gleich.

ENDE DER LESEPROBE