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Wenn Licht auf Schatten trifft ... Seit Jahren verbirgt Ren ihre Lichtmagie – bis ihre Familie von einem Dämon angegriffen wird. Da bricht das Licht aus ihr heraus; so hell, dass es selbst ihre Feinde sehen. Doch Ren hat noch andere Sorgen: Ihr Onkel wurde durch den Dämon vergiftet und sie muss dringend ein Heilmittel finden. Auf ihrer Suche begegnet ihr ausgerechnet Sunho – ein Kopfgeldjäger, der auf sie angesetzt wurde. Sunho ahnt nicht, wer Ren wirklich ist. Und wie sehr ihre Schicksale miteinander verwoben sind ... Der Auftakt einer fesselnden Romantasy-Dilogie basierend auf einer koreanischen Sage Axie Ohs New York Times-Bestseller ist eine außergewöhnliche Neuerzählung einer koreanischen Sage voller Spannung und Geheimnissen, Liebe und märchenhafter Atmosphäre. Ein Muss für alle Romantasy-Fans! - Band 1 einer fesselnden Romantasy-Dilogie - Koreanische Mythologie: basierend auf der Sage Der Holzfäller und die Himmelsfee - Beliebte Tropes: Grumpy x Sunshine, Hidden Identity, Found Family sowie eine abgewandelte Form von Enemies to Lovers - Spannende Komibantion: Action, Geheimnisse und Intrigen treffen auf märchenhafte Momente, die an Studio-Ghibli-Filme erinnern - Originelles Setting: Schwebende Welt vs. Unterwelt vs. idyllische Berglandschaft - Über den Kampf mit den eigenen Dämonen und den Glauben an das innere Licht - Erstauflage mit opulentem Farbschnitt
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Liebe Leser*innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.
Deshalb findet ihr auf der letzten Seite eine Content Note.
Achtung: Diese enthält Spoiler für die gesamte Geschichte!
Wir wünschen euch das bestmögliche Lesevergnügen.
Euer Loewe-Team
Für meinen Dad,
der mir schon immer Flügel verliehen hat.
INHALT
ERSTER AKT: Eine Welt in Finsternis
Kapitel 1REN – Östlich des Haebaek-Gebirges – Schneller und schneller …
Kapitel 2SUNHO – Unterwelt – Mithril-Fabrik, Neunter Bezirk – Sunho wich von …
Kapitel 3SUNHO – Unterwelt – Lagerhalle der Mithril-Fabrik, Neunter Bezirk – Leise fiel die …
Kapitel 4REN – Haebaek-Gebirge – Gorye – Ren lag auf …
Kapitel 5REN – Haebaek-Gebirge – Gorye – Dämon!«, brüllte jemand, …
Kapitel 6SUNHO – Unterwelt – Fünfter Bezirk, Außenring – Hast du von …
Kapitel 7REN – Haebaek-Gebirge – Gorye – Am Tag nach …
ZWEITER AKT: Licht findet einen Weg
Kapitel 8JAEIL – Unterwelt – Bahnhof, Dritter Bezirk, Mittstadt – Als der Zug …
Kapitel 9SUNHO – Unterwelt – Jenseits der sareniyanischen Grenze – Ein durchdringendes Pfeifen …
Kapitel 10REN – Haebaek-Gebirge – Nachdem sie Gorye …
Kapitel 11SUNHO – Westlich des Haebaek-Gebirges – Besetzte Gebiete – Ein lauter Schlag, …
Kapitel 12REN – Westlich des Haebaek-Gebirges – Besetzte Gebiete – Ren hatte in …
Kapitel 13JAEIL – Unterwelt – Vierter Bezirk, Außenring – Der Zug ist …
Kapitel 14SUNHO – Westlich des Haebaek-Gebirges – Besetzte Gebiete – Zitternd saß Sunho …
Kapitel 15REN – Westlich des Haebaek-Gebirges – Besetzte Gebiete – Silbrig schimmerte das …
Kapitel 16SUNHO – Westlich des Haebaek-Gebirges – Besetzte Gebiete – Nachdem Hwi das …
Kapitel 17REN – Westlich des Haebaek-Gebirges – Besetzte Gebiete – Ren spürte, wie …
Kapitel 18REN – Westlich des Haebaek-Gebirges – Besetzte Gebiete – Am nächsten Morgen …
Kapitel 19SUNHO – Seorawon, Hafenstadt am Nakjin-Fluss – Besetzte Gebiete – Sunho zog Hwi …
Kapitel 20REN – Seorawon, Hafenstadt am Fluss Nakjin – Besetzte Gebiete – Dank Sunhos Münzen …
Kapitel 21JAEIL – Unterwelt – Mithril-Fabrik, Neunter Bezirk – Jaeil stand vor …
DRITTER AKT: Die Unterwelt
Kapitel 22SUNHO – Unterwelt – Vierter Bezirk, Außenring – Sunho griff nach …
Kapitel 23REN – Unterwelt – Fünfter Bezirk, Außenring – Irgendwann musste Sunho …
Kapitel 24SUNHO – Unterwelt – Wolryudang, Siebter Bezirk – Am nächsten Morgen …
Kapitel 25SUNHO – Unterwelt – Madang-Viertel, Vierter Bezirk – Sunho bahnte sich …
Kapitel 26REN – Unterwelt – Wolryudang, Siebter Bezirk – Zehn Stunden zuvor – Am Morgen des …
Kapitel 27REN – Unterwelt – Das Zimmer, in …
Kapitel 28SUNHO – Unterwelt – Unter den Mithril-Minen – Zeig mir deine …
Kapitel 29REN – Schwebende Welt – In den Mithril-Minen – Sunho. Sie hatte …
Kapitel 30SUNHO – Schwebende Welt – Mithril-Labor – Das Laboratorium machte …
Kapitel 31REN – Schwebende Welt – Mithril-Laboratorium – Ren raste zurück. …
VIERTER AKT: Die Schwebende Welt
Kapitel 32JAEIL – Unterwelt – Der Kern – Kraftvoll schoss das …
Kapitel 33SUNHO – Unterwelt – Wolryudang, Siebter Bezirk – Wir brechen in …
Kapitel 34REN – Schwebende Welt – Ren wurde von …
Kapitel 35REN – Schwebende Welt – Tempel des Hellen Mondes – Augenblicklich ließ der …
Kapitel 36SUNHO – Unterwelt – Sunho fiel. …
Kapitel 37REN – Schwebende Welt – Auf der Wiese – Taumelnd wich Ren …
Danksagung
Content Note
ERSTER AKT
EINE WELTIN FINSTERNIS
1
REN
Östlich des Haebaek-Gebirges
Schneller und schneller schlug die Trommel, während Ren in die Mitte des Kreises purzelte, ein Rad schlug, schwungvoll auf den Händen landete und mit den Füßen in die Luft gereckt weiterlief. Als ihre Maske von ihrem Kinn zu rutschen drohte, schob sie diese rasch zurecht, um die Illusion aufrechtzuerhalten, dass sie kein Mädchen, sondern ein Dämon mit rosa Gesicht war.
Auf der anderen Seite des Kreises brach das Publikum in schallendes Gelächter aus. Denn Wook Samchon, der lediglich eine kurze Jacke über dem freien Oberkörper trug, ließ aufreizend die Hüfte wackeln. Wie Ren hatte auch er eine Maske auf, allerdings war seine an den Wangen mit blauen Punkten bemalt. Betont lässig breitete er einen Papierfächer aus und wedelte sich damit kokett Luft zu. Ein paar ältere Frauen reagierten darauf mit anzüglichen Kommentaren, während manche der jungen Männer errötend um die besten Plätze rangelten.
Von einer Hand auf die andere hopsend – was Ren mit den Beinen ausbalancierte – bewegte sie sich auf Samchon zu.
Das Publikum war zwar kleiner als im vergangenen Jahr, machte dies jedoch durch seine Begeisterung wett. Einige der Menschen aus dem Dorf hatten Fässer an den Rand der kreisrunden Spielfläche gerollt und schlugen mit der flachen Hand darauf; im Rhythmus der Trommeln von Rens Imobu, ihrem Onkel.
Der Auftritt der Truppe dauerte nun schon eine halbe Stunde. Ren hätte auch noch weitergemacht, doch die Karawane musste am Mittag aufbrechen, wenn sie es bis Ende der Woche nach Gorye schaffen wollten. Ihr Imobu erhöhte sein Tempo und schlug in rascher Folge auf beide Seiten seiner Sanduhrtrommel – das Signal, die Vorführung schleunigst zu Ende zu bringen.
Ren sprang auf ihre Füße und ließ den Blick über die Menge gleiten. Dabei fiel ihr ein junges Mädchen auf, vielleicht sieben oder acht Jahre alt, das im Schneidersitz vor einer Gruppe älterer Jungen saß. Obwohl die Kerle sie von hinten immer wieder anstießen, hatte die Kleine nur Augen für Ren.
Der Anblick rührte sie; das Mädchen erinnerte sie an sich selbst. Als Ren etwa im selben Alter gewesen war, hatte sie während der Auftritte ihrer Tante, ihrer Imo, nicht einmal gewagt zu blinzeln, um ja keine einzige Hand- oder Kopfbewegung zu verpassen. Allein mit ihrem Körper konnte ihre Imo ganze Welten und Figuren zum Leben erwecken. Dann war sie ein Reh, das flink durch einen vom Mond beschienenen Wald rannte. Oder ein Schiffbrüchiger auf hoher See, ein Spielball der Wellen. Sie brachte Ren zum Lachen, wenn sie einen schlauen, aber in die Enge getriebenen Fuchs spielte, der mit eingezogenem Schwanz das Weite suchte, und zum Weinen, wenn sie als Witwe auf einem Berg um einen Geliebten trauerte, der niemals wiederkehren würde.
Durch die Geschichten, die Imo erzählte, lebte sie tausend Leben, kämpfte gegen Dämonen und überlistete Gottheiten.
Dieses Mädchen nun blickte Ren an, als wäre sie zu ebensolchen Wundern fähig.
Das pantomimische Spiel von Samchon und ihr sollte eigentlich die Geschichte eines Dämons erzählen, der einen Adeligen übers Ohr hauen will, letzten Endes aber selbst ausgetrickst wird. Allerdings hatten sie schon vor einer Weile den Faden verloren. Um ihren Auftritt abzuschließen, mussten sie ihn wieder aufnehmen – doch erst nach einem letzten Kunststück.
Ren rannte quer durch den Kreis und sprang auf ein Fass. Dort drehte sie sich zu ihrem Onkel um, der nur auf ihr Zeichen gewartet hatte. Zweimal donnerte Imobu mit seinem Klöppel auf die linke Seite seiner Trommel, um ein dumpfes Stakkato zu erzeugen, bevor er mit der flachen Hand auf die rechte Seite hieb.
Ein Sprung und eine hohe Drehung hätten wohl genügt, um die Menge zu beeindrucken, aber …
Ren schloss die Augen und fühlte nach dem Licht in ihrem Innern. Es war immer da, wie eine ewige Flamme, die im Rhythmus ihres Herzens auf und ab loderte. Sie rief danach, jedoch nur nach einem einzelnen Funken, der sich von ihrer Körpermitte aus bis in ihre Arme ausbreitete und schließlich aus ihren Fingerspitzen strömte.
Es war ein windstiller Tag, doch das Licht brachte die Luft in Bewegung. Unter Ren bildete sich ein kräftiger Wirbel, der am Fass hinaufwehte und ihre Hose aufplusterte. Mit einem Rückwärtssprung ließ sie sich davon in den Himmel heben. Kurz wallte Panik in ihr auf – sie war hoch, zu hoch –, doch dann drehte sie sich in der Luft und schlug einen Salto, bevor sie sicher auf der festen Erde landete.
Kurz herrschte Stille, dann brach die Menge in tobenden Applaus aus.
Samchon rannte zu ihr. »Du hast Nerven!«, sagte er, aber das Grinsen in seiner Stimme war nicht zu überhören.
»Meinst du, Imo hat es gesehen?«, fragte Ren. Nun, da das Adrenalin wieder nachließ, beschlichen sie Zweifel, das Richtige getan zu haben. Ihre Tante hatte sie davor gewarnt, ihre Magie einzusetzen, vor allem vor Fremden. Zu ihrer Verteidigung könnte Ren zwar behaupten, dass sie den Leuten bloß eine gute Show hatte bieten wollen – ein begeistertes Publikum war schließlich ein großzügiges Publikum. Aber wenn sie ehrlich mit sich war, war das nur ein Teil der Wahrheit.
»Hoffentlich nicht«, meinte Samchon gut gelaunt. »Auf geht’s!«
Er packte das Band an ihrer Taille. Wie einstudiert zog er mit einem kräftigen Ruck daran, während Ren sich wie ein Kreisel in die Gegenrichtung drehte. Zwischen ihnen spannte sich das Band, das ihr Imobu mit Färberdisteln rot eingefärbt hatte. Ren ließ sich zu Boden fallen und blieb mit ausgebreiteten Gliedern reglos liegen.
Als hätte man einen Damm geöffnet, spülten die Dorfbewohner nun zu ihr und drückten ihr Essen und Münzen in die Hände. Ren sprang auf, um alles entgegenzunehmen, und lachte mit den Kindern, die an ihrer Hose zogen, aber enttäuscht feststellen mussten, dass aus dem Saum kein Wind hervorbarst. Erst einige Minuten später konnte Ren sich von ihnen lösen, um auf die Suche nach Wook Samchon zu gehen.
Sie fand ihn am Rand des Dorfes, wo er auf einem erhöhten Holzsteg saß und ihre Einnahmen zählte. Über ihm bog sich eine Kiefer, als würde sie ihm über die Schulter linsen.
Die Maske hatte er abgenommen, sodass man nun sein hübsches, erhitztes Gesicht sehen konnte. Obwohl Wook Imos Bruder war und Ren ihn daher meist schlicht Samchon nannte – was wie Imobu Onkel hieß, jedoch deutlich machte, dass er mit Imo nicht verheiratet war –, war er gerade erst achtzehn. Ein gutes Jahr älter als Ren. Sie war fast siebzehn. Wie frisch gesprossene Pflänzchen standen seine Haare wild in alle Richtungen ab und Ren unterdrückte den Impuls, sie glatt zu streichen, wie ihre Imo es getan hätte.
Stattdessen setzte sie sich neben ihn, schlüpfte aus ihren Sandalen und zog die Beine auf den Steg. Dann legte sie alles, was sie ergattert hatte, zu Samchons Gewinn: ein Körbchen Sojabohnen, ein kleiner Topf Sojasoße und ein Stück fermentierte Bohnenpaste. Dieses Dorf war bekannt für seine Sojabohnenprodukte. Nachdem sie die Münzen aus ihren Taschen geholt hatte, warf sie auch diese auf die hölzerne Plattform, wo sie klimpernd kreiselten, bevor sie umkippten.
Schulter an Schulter beugten sich Ren und Samchon über das Sammelsurium an Lebensmitteln und Geld. Es war eine mickrige Ausbeute, weniger als ein Viertel dessen, was sie in früheren Jahren hier verdient hatten. Nicht dass es in den anderen Dörfern bisher besser gelaufen wäre, dennoch war der Anblick erschreckend. So begeistert, wie die Menge gewesen war, hatte Ren sich deutlich mehr erhofft.
»Tja«, sagte Samchon nach einer langen Pause, »ich mag Sojabohnen ja echt gerne.«
»Die letzte Ernte ist zu einem Großteil verfault«, ertönte hinter ihnen eine ernste Stimme, die Ren und Samchon aufschrecken ließ.
Lautlos war ihre Imo den kurzen Weg vom Dorf gekommen – eine beeindruckende Leistung, wenn man bedachte, dass sie sich vor zwei Tagen den Knöchel verstaucht hatte und sich mithilfe eines Gehstocks bewegte. Ein paar Strähnen ihres dunkelbraunen Haars flatterten um ihr ernstes Gesicht, während sie den Blick an ihnen vorbei zu den leeren Feldern gleiten ließ. »Die Erde leidet unter irgendeiner Krankheit.«
Imos Worte ließen Ren schaudern. Die Menschen der Karawane hatten die Veränderungen überall auf ihrer Reise bemerkt; auf dem Weg nach Osten zu den kleinen Dörfern, die verstreut in den Flusstälern lagen, und anschließend auf der Strecke gen Norden zu den größeren Küstenstädten. Je weiter sie ins Innere des Landes vorgedrungen waren, in Richtung der westlichen Berge, desto schlimmer war es geworden. Ihre Jägerinnen berichteten von allzu stillen Wäldern, wo ein ins Dickicht geschossener Pfeil keinen einzigen Vogel aufschreckte, von Seen, die so reglos dalagen, als wären sie aus Glas, und von vertrockneten Lichtungen, auf denen früher einmal prächtige Wildblumen geblüht hatten.
Die Menschen, die in den Dörfern nahe der Berge wohnten, waren abergläubisch – eine schwierige Ernte schob man auf verstimmte Geister, ein krankes Kind war das Werk von Dämonen. Gorye, das letzte Ziel der Karawane, lag direkt am Fuß des höchsten Bergs und war von allen Dörfern am abgelegensten.
Ginge es nach Ren, würden sie auf den Besuch dort ganz verzichten. Die Menschen aus Gorye waren alle griesgrämig und schlecht gelaunt. Doch Imo und die Vorstehenden der Karawane bestanden darauf, dass sie jedes Jahr dort vorbeischauten. Gorye war auf den Handel mit ihnen angewiesen, außerdem gab es dort seltene Pflanzen, die nur hoch oben in den Bergen wuchsen und aus denen die Ältesten aus Rens Tal Medizin herstellten.
Den Berg zu bewachen, ist eine schwere und undankbare Aufgabe, sagte ihre Tante immer, wenn Ren sich wie so häufig beklagte. Es ehrt uns, ihre Bürde zu erleichtern.
Vor was denn bewachen? Langeweile?, grummelte Ren dann gerne.
Fünf Tage brauchte die Karawane jedes Mal für diese letzte Etappe. Und an jedem rückten die hohen Gipfel des Haebaek-Gebirges etwas näher, bis sie so dicht über ihnen thronten, dass die Truppe eines Morgens gänzlich ohne Tageslicht erwachte, da der Wald vollkommen in Schatten getaucht war.
»Du hast nicht auf mich gehört«, schalt Imo nun und Ren zuckte zusammen.
Samchon blickte von den Münzen auf, die er zum dritten Mal zählte.
»Ich habe dich gebeten, nicht aufzufallen«, fuhr ihre Tante fort. »Eine Bitte, die mir nicht zu viel verlangt erschien.«
»Es war nur ein bisschen Wind«, meinte Samchon, der sich wie üblich auf Rens Seite schlug.
»Ein Wind bei Dämmerung ist ein Sturm bei Nacht. Was, wenn Gerüchte die Runde machen?«
Ren senkte den Kopf. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Es kommt nicht wieder vor, versprochen.«
Imo fasste sie fest in ihren Blick. »Nein, das wird es nicht«, bestätigte sie leise. »Denn in Gorye übernimmst du keine Rolle, sondern begleitest Imobu auf der Flöte.«
Ren sah sie fassungslos an. »Aber das ist unsere letzte Vorstellung in diesem Jahr!«
Zurück im Tal würden sie sich auf die harten Wintermonate vorbereiten müssen. Das bedeutete, keine Auftritte mehr – zumindest keine wie die während der Karawanenzüge: vor großem Publikum und vielen neuen Gesichtern. Auch wenn Ren die Leute aus Gorye missmutig und humorlos fand, hatte sie sich trotzdem darauf gefreut, ein letztes Mal ihren Part zu spielen.
»Es war ein Versehen.« Nun wurde Ren laut. »Ich sehe nicht ein, warum ich wegen so einer Kleinigkeit bestraft werden soll!«
»War es denn ein Versehen?«, fragte Imo. Anders als Ren sprach sie vollkommen ruhig weiter – sie erhob nie die Stimme, es sei denn, eine ihrer Rollen erforderte es. Dennoch trafen ihre Worte Ren, weil leider viel zu viel Wahrheit in ihnen lag. Sie hatte das Licht heraufbeschworen, obwohl ihr bewusst gewesen war, dass ihre Tante es verboten hatte.
»Nur ein bisschen Wind …«, wiederholte diese. »An einem Tag wie heute mag eine solche Aktion vielleicht gut ausgehen – wenn die Sonne scheint und wir von Freunden umgeben sind. Doch schneller als ein Atemzug kann sich die Dunkelheit auf uns senken, Ren. Ich bin um deine Sicherheit besorgt. Um unser aller Sicherheit.«
»Was ist mit deinem Knöchel?«, fragte Ren. Wenn sie nicht auftrat, würde es Imo tun müssen.
»Bis wir in Gorye sind, wird er geheilt sein.« Ihre Tante stieß ein Seufzen aus. »Wo ist Imobu?«
»Bestimmt hat er sich beschwatzen lassen, den Leuten aus dem Dorf zu helfen«, antwortete Samchon. Allein sein Tonfall verriet Ren, dass er besorgt war.
»Einer von euch sollte ihn besser holen gehen. Wir müssen bald aufbrechen.«
Ren stand auf. »Ich mach das«, murmelte sie, bevor sie in Richtung Dorf davoneilte.
Sie war verärgert, aber nicht nur weil sie nicht auftreten durfte oder weil sie Imo enttäuscht hatte, was sie für gewöhnlich gewissenhaft vermied. Nein, es lag vor allem daran, dass ihre Tante nicht einmal versucht hatte zu verstehen, warum sie es getan hatte.
Ren hatte ihre Entscheidung sofort bereut und sie hatte sich entschuldigt – warum konnte Imo ihr nicht wenigstens ein bisschen entgegenkommen? Seufzend kickte Ren einen Kiesel ins Gebüsch und setzte dann mit schweren Schritten ihren Weg fort.
Dieses Dorf unterschied sich kaum von den anderen, durch die ihre Karawane auf der Reise gekommen war: Die Hütten waren mit Reet gedeckt und die winzigen Vorhöfe bestanden aus blanker Erde. Ein Klopfen lockte Ren zu einem kleinen Eckhaus, wo Imobu mit einem Stein einen hölzernen Stützpfeiler an die richtige Stelle schlug. Ihr Onkel war so groß, dass er nur die Arme zu heben brauchte, um das Dach zu berühren.
Hinter ihm wartete geduldig ein älteres Ehepaar. Als Imobu fertig war, verneigte sich der größere der beiden Männer tief, während sein Gatte ihrem Onkel ein kleines in Stoff geschlagenes Päckchen überreichte.
»Bitte nehmt diese bescheidene Gabe als Bezahlung«, sagte der kleinere Mann. »Wir wünschten, wir hätten etwas Wertvolles zu bieten.«
»Das ist mehr als genug«, sagte Imobu, der das Päckchen mit beiden Händen annahm.
Als er sich umdrehte und Ren entdeckte, winkte er sie zu sich. Vor ihren Augen faltete er den Stoff auseinander und brachte zwei flache Pfannkuchen zum Vorschein, die mit Zimt und Honig gefüllt waren.
»Hmmm«, meinte ihr Onkel nachdenklich. »Wir könnten sie mit Imo und Wook Samchon teilen …« Er wackelte mit den Augenbrauen. »Oder …«
»… wir könnten sie sofort verputzen«, beendete Ren grinsend seinen Satz.
Imobu zwinkerte ihr zu und reichte ihr den größeren der Pfannkuchen, bevor sie zusammen zu dem Platz östlich des Dorfes schlenderten, wo die Karawane ihr Lager aufgeschlagen hatte.
»Imo ist böse auf mich«, sagte Ren, während sie an ihrem Leckerbissen knabberte. So aufgewühlt sie gerade auch war, der süße Nachtisch, der innen weich und außen kross gebraten war, schmeckte doch köstlich. Ihrem Onkel zu erklären, womit sie Imos Tadel verdient hatte, war nicht nötig. »Habe ich mich falsch verhalten?«
Er antwortete nicht sofort, sondern aß erst einmal seinen Pfannkuchen auf. Als sie in Sichtweite der Wagen waren, blieb er stehen, um Ren eine Blüte aus dem Haar zu pflücken, die prompt von einer Brise erfasst und zu den Bergen getragen wurde, sobald er sie losließ. So lange wie möglich sah Ren ihr nach, bis sie nur noch ein winziger Fleck am Horizont war.
»Manchmal trägt man ein Gefühl in sich, das zu mächtig ist, um es zu unterdrücken«, sagte Imobu. Seine tiefe, warme Stimme rollte wie eine sanfte Welle über Ren hinweg. »Man muss es einfach herauslassen. Daran ist nichts verkehrt.«
In Rens Augen stiegen heiße Tränen. Genau das war die Wahrheit, die ihre Tante anscheinend nicht verstehen konnte. Imo wollte nicht, dass sie ihre Magie einsetzte, doch manchmal konnte Ren einfach nicht anders. Denn wenn sie es tat, fühlte sie sich wie während ihrer Auftritte: wahrhaftig frei.
»Ich habe etwas für dich«, sagte ihr Onkel. »Aber zuerst …«, er beugte sich ein Stück zurück, um zu ihr hinunterblicken zu können, »… zeig mir das Gesicht, das ich so liebe.«
Einen Augenblick blinzelte Ren verständnislos.
Sie hatte ganz vergessen, dass sie noch immer ihre Maske trug.
Allzu ungewöhnlich war das nicht. Manchmal trug sie tagelang ihre Maske und nahm sie nur ab, um sich das Gesicht zu waschen. Angewöhnt hatte sie sich das, als sie noch ein kleines Kind gewesen war und die Verkleidung ihr das Gefühl von Sicherheit gegeben hatte. Solange sie ihre Maske trug, konnte niemand erkennen, was sie dachte oder fühlte.
Als ihre Tante sie vor zehn Jahren zum ersten Mal mit ins Tal genommen hatte, hatte sie Ren eine Maske geschenkt, die sie ein ganzes Jahr nicht abgenommen hatte. Samchon, der damals acht gewesen war, hatte sie aufgezogen: Woher wissen wir eigentlich, dass du ein kleines Mädchen bist und kein Dämon?
Imo hatte sie in Ruhe gelassen. Und Imobu …
Ihr Onkel war damals genauso groß gewesen wie jetzt, nur war Ren natürlich noch viel kleiner gewesen. Einen ganzen Monat lang hatte sie jedes Mal gezittert, wenn er den Raum betreten hatte, also war er aus Rücksicht auf Abstand geblieben. Seine Anwesenheit hatte Ren nur anhand der Geschenke bemerkt, die er für sie hinterließ: in Blätter gewickelte Eicheln, Blumen mit eigenartigen Blüten, vom Fluss glatt polierte Steine. Sie hatte sie regelmäßig auf ihrem Kissen oder neben ihren Sandalen gefunden. Er hatte ihr sogar ein Boot gebaut, das er am Ufer vertäute, sodass sie darin auf dem Rücken liegen und die Sterne beobachten konnte. Außerdem hatte er ihr eine Umhängetasche angefertigt und dazu alles, was man als Artistin so brauchte, damit sie Imo mit ihrer eigenen Flöte und ihrem eigenen Fächer nachahmen konnte.
Der erste Mensch, dem Ren damals ihr Gesicht gezeigt hatte, war Imobu gewesen.
Zufällig war sie auf ihn gestoßen. Stumm hatte ihr Onkel hinter dem Haus am Fluss gesessen und unwillkürlich aufgeblickt, als er Ren bemerkte. So schnell er sich auch wieder weggedreht hatte, hatte sie doch die Tränen in seinen Augen bemerkt. An jenem Tag hatte Ren den Grund dafür noch nicht gekannt – erst viel später hatte sie erfahren, dass er und Imo ein Kind verloren hatten –, trotzdem hatte sie gespürt, dass seine Traurigkeit wie ein Echo ihrer eigenen war.
Also hatte sie ihre Maske abgenommen und sie ihm aufgesetzt, um seine Tränen zu verbergen, so wie sie dahinter ihre eigenen versteckte. Doch natürlich hatte die kleine Kindermaske das große Gesicht nur zum Teil bedeckt, hauptsächlich Augen und Nase, was so albern ausgesehen hatte, dass Ren nicht anders konnte, als zu lachen. Und kurz war auch Imobu in ihr Gelächter eingefallen. Anschließend hatte er sie in seine starken Arme genommen und noch nie hatte Ren sich geborgener gefühlt.
»Dieses Gesicht?«, fragte Ren nun und hob ihre Maske, um ihm die Zunge herauszustrecken.
»Ja«, antwortete ihr Onkel. Die Liebe in seiner Stimme war so klar wie an jenem Morgen am Fluss. »Genau das.« Schließlich zeigte er auf einen Felsen in der Nähe. »Warte da«, sagte er und lief zu den Wagen.
Sie tat wie geheißen, setzte sich und streckte die Beine aus. Wenig später kam Imobu mit einem in eine Bambusmatte gewickelten Päckchen zurück, das er ihr in den Schoß legte.
»Ein Geschenk«, sagte er stolz, »für dich.«
Aufgeregt löste Ren die Knoten der Schnur und faltete die Matte auseinander, um einen Papierschirm zum Vorschein zu bringen. Auf den allerersten Blick war ihr klar, dass ihr Onkel ihn selbst gemacht hatte – so kunstvoll war er gearbeitet. Ren umfasste den glatten Griff und bewegte den Schieber nach oben. Wie eine Blume öffnete sich der Bezug, der in einem wunderschönen Rot leuchtete und mit goldenen Schnörkeln verziert war.
»Lass ihn tanzen«, sagte er.
Also stand sie auf und zwirbelte den Schirm in den Händen, sodass das Rot und Gold in der Luft wie zu Sternschnuppen verschmolzen – selbst das zischende Geräusch, das die Bewegung verursachte, war herrlich.
»Ich weiß, dein Geburtstag ist erst in einer Woche …« Imobu rieb sich den Nacken.
Mit dem Schirm in der Hand schlang Ren die Arme um ihn. »Er ist großartig! Vielen Dank.«
Behutsam ließ er sie wieder zu Boden. »Gehen wir zu den anderen, bevor sie auf die Idee kommen, uns zurückzulassen!«
Während sie mit ihrem Onkel zum Lager lief, spürte Ren, wie der Ärger von vorhin von ihr abfiel. Imo hatte einen guten Grund, ihr böse zu sein – sie war um Rens Sicherheit und um die der Karawane besorgt.
Und müsste Ren sich zwischen ihrer Magie und dem Wohl ihrer Familie entscheiden, wäre die Entscheidung immer klar. Für sie stand ihre Familie an erster Stelle. Wenn sie ihre Kräfte unterdrücken musste, um sie zu beschützen, dann würde sie das eben tun.
Und ganz vielleicht würde ihre Tante sie doch auftreten lassen, wenn sie erst merkte, wie ernst Ren es meinte – bis zu ihrem letzten Ziel waren es noch fünf Tage, ausreichend Zeit, um zu beweisen, dass sie das Licht dort vergraben konnte, wo es hingehörte.
Dieser Gedanke und die Aussicht darauf, in wenigen Wochen wieder im Tal die kühlen Wintertage und sternenerfüllten Nächte zu verbringen, umgeben von denen, die sie liebte, hob ihre Laune. Sie ließ ihren Schirm kreisen und rannte voraus, voller Vorfreude darauf, nach Gorye aufzubrechen.
2
SUNHO
Unterwelt
Mithril-Fabrik, Neunter Bezirk
Sunho wich von den Toren zurück, als die Fabriksirene warnend losheulte und aus den großen Schornsteinen Rauch wie Schwingen in die Nacht stieg. Er zog seinen Schal, dessen rote Fäden immer blasser und dünner wurden, höher über die Nase und die Bewegung ließ das Schwert, das er mit einem Riemen an seinen Rücken geschnallt hatte, leicht verrutschen. Fünfzehn Sekunden lang dröhnte die Sirene weiter, während die Schlote so viel Qualm in den Himmel spuckten, dass er alles bedeckte. Als es vorbei war, wandte Sunho sich ab – und entdeckte inmitten der Schwaden blaue Funken: Mithril-Partikel.
In der Nähe gurrte eine Taube. Er folgte dem Laut um eine Ecke, hinter der ein Junge und ein Mädchen im Schatten der Fabrikmauer lungerten. Der Junge hatte silberweißes Haar und war recht schmächtig. Tag. Sunho hatte sich den Namen bei ihrer ersten Begegnung eingeprägt. Er war siebzehn, genau wie Sunho. Sobald Tag die Hände sinken ließ, verstummte das gurrende Trillern. Das Mädchen, Yurhee, war ein paar Jahre älter. Ihr Haar – braun mit roten Strähnen – hatte sie sich mit einer Schmetterlingsspange zurückgesteckt. Als Sunho sich näherte, stieß sie sich von der Wand ab, an der sie mit lässig angewinkeltem Knie gelehnt hatte.
»Wir waren nicht sicher, ob du es schaffst«, sagte sie. »Die Patrouillen sind in Scharen unterwegs.«
»Auf meinem Weg hierher bin ich einigen begegnet«, bestätigte Sunho und erinnerte sich an die stampfenden Schritte und die wogenden Laternen in den dunklen Straßen. Doch da er sich stets im Schatten gehalten hatte, war er ihrem Licht entgangen.
Er war direkt von einem Überfall im Achten Bezirk gekommen, für den man ihn angeheuert hatte. Hätte man ihn ohne die nötigen Papiere aufgegriffen, die seine Anwesenheit in Mittstadt erklärten, wäre er direkt im Gefängnis gelandet. Zwei große Aufträge in einer Nacht waren riskant, doch in der Botschaft von heute Morgen hatte Yurhee ihm eine üppige Bezahlung versprochen.
»Sunho, du bist verletzt.« Yurhee hob eine Hand in Richtung seines Nackens, woraufhin Sunho instinktiv zurückwich. Offenbar hatte er während des Überfalls etwas abbekommen.
Yurhee zog erst eine Augenbraue in die Höhe, dann ihre Hand zurück. »Tut mir leid. Gewohnheit. Ich hab einfach was übrig für verschlossene, emotional unzugängliche Jungs.«
Nun zog auch Tag, der hinter ihr stand, eine Augenbraue hoch und runzelte die Stirn.
Sunho hatte die beiden vor einem Monat kennengelernt, als sie ihn angeworben hatten, um mit ihnen einen Kleinganoven um seine Fracht zu erleichtern. Sie stahlen nur von gierigen Bastarden, die es nicht anders verdienten, wie Yurhee gerne betonte. Keiner von beiden verstand sich besonders gut auf Nahkampf, weshalb sie eine Anzeige aufgegeben hatten, um nach einem Söldner zu suchen, der mit dem Schwert umgehen konnte.
»Ich schau mal nach dem Sprengstoff«, nuschelte Tag nun. Neben der Mauer ging er in die Hocke, schob einige Ranken Efeu beiseite und brachte dahinter zwei Kanisterbomben zum Vorschein, die mit einem Zeitzünder versehen waren.
Ein mulmiges Gefühl machte sich in Sunhos Magen breit. Für seine bisherigen Aufträge war er stets nur ein kleines Risiko eingegangen – eine sareniyanische Mithril-Fabrik zu berauben, war dagegen eine ganz andere Sache. Sollte man sie erwischen, wäre ihr Schicksal deutlich schlimmer als eine Gefängnisstrafe.
Yurhee griff in ihre Jacke und zog eine Papierrolle heraus, die sie mit einer flinken Handbewegung vor ihnen ausbreitete. Darauf waren die umliegenden Gebäude skizziert, versehen mit Notizen zu Wachablösungen und geschätzter Wegzeit zwischen verschiedenen markierten Punkten. »Wir müssen von hier …«, sie deutete auf ihre Position vor der nordöstlichen Mauer, »… nach da.« Ihr Finger tippte auf eine mit einem X markierte Stelle im größten Gebäude des hinteren Fabrikkomplexes.
»Was ist dort?«, fragte Sunho.
Sie zwinkerte, rollte die Karte wieder zusammen und steckte sie in ihre Jacke. »Wirst du bald sehen.«
Noch konnte er einen Rückzieher machen, doch damit würde er auf die Bezahlung verzichten, die Yurhee ihm zugesagt hatte. Sunho zog die Riemen seines Schwerts straffer, um es noch besser zu sichern. Dann spähte er zur oberen Kante der Fabrikmauer, die im dichten Qualm kaum zu erkennen war.
»Fang!«, rief Yurhee. Gerade rechtzeitig drehte Sunho sich um, sodass er die Enterpistole auffangen konnte, die sie ihm zuwarf. »Damit kannst du umgehen, oder?« Ohne seine Antwort abzuwarten, sprang sie auf Tags Rücken. Dieser zielte mit seiner eigenen Pistole und schoss. Sobald sich der Haken in der Wand nahe der Mauerkante verankert hatte, löste Tag den Seilzug aus und die beiden sausten in die Höhe.
Sunho fokussierte eine Stelle etwas links von Tags Enterhaken und drückte ab. Sein Haken drang in den Beton ein und Sunho packte fester zu, als er in die Luft gerissen wurde. Kaum war er tief geduckt oben auf der Mauer gelandet, ertönte erneut die durchdringende Sirene und die Rauchschlote spuckten die nächste Ladung Qualm aus.
Rasch seilte Sunho sich auf der anderen Seite ab, um neben Tag und Yurhee hinter einem Stapel hoher Kisten in Deckung zu gehen. Yurhee hob einen Finger an die Lippen. Durch einen Spalt entdeckten sie zwei Sicherheitsleute, die ihre Runden drehten. Wann immer sie an einem Gebäude vorbeiliefen, warfen ihre Laternen groteske Schatten an die Wände.
Die Wachen trugen Masken mit Rauchfiltern und Kurzschwerter an der Taille, was zur Standardausrüstung gehörte. Ihre Stimmen hallten zu ihnen, sodass Sunho Bruchstücke ihrer Unterhaltung aufschnappen konnte: Im Achten Bezirk hatte eine Nudelbar eröffnet, wo die beiden nach ihrer Schicht noch einen späten Happen essen wollten.
Kurz erleuchtete der Schein ihrer Lampen den Zugang zu einer schmalen Gasse, bevor die beiden Wachleute um die Ecke und außer Sicht verschwanden.
»Habt ihr das gesehen?«, sagte Yurhee. »Da müssen wir durch. Ist der schnellste Weg.«
Lautlos verließen sie ihre Deckung und sprinteten über den offenen Hof in die Gasse. Hier war der Rauch dichter, da der Spalt zwischen den Gebäuden ihn wie ein Trichter einfing. Yurhee, die vor Sunho ging, zog eine Maske von ihrem Gürtel und legte sie an. Links und rechts von ihnen befanden sich Raffinerien, in denen Mithril-Erz zu Barren veredelt wurde. Was bei dem Prozess übrig blieb, wurde ausrangiert. Sunho achtete darauf, nicht an das viele umherliegende Metall zu stoßen. Fehlte noch, dass er durch ein Scheppern den Sicherheitsdienst alarmierte.
Der knappe Blick auf die Karte vorhin hatte Sunho gereicht, um sich den groben Lageplan des Fabrikgeländes einzuprägen. Die Raffinerien – insgesamt gab es sechs, von denen je zwei blockartig aneinandergebaut waren – bildeten den vorderen Bereich der Anlage. Im hinteren Teil befand sich dagegen die Lagerhalle, ebenso wie das Tor, das nach Mittstadt führte.
Am Ende des schmalen Durchgangs angekommen, warteten sie schweigend darauf, dass die Wachen – erkennbar durch ihre hellen Laternen – vorbeigelaufen waren. Da jeder der drei Raffinerieblöcke von je zwei Sicherheitsleuten umkreist wurde, zogen eine Menge Laternen umher, was die allgegenwärtige Gefahr überdeutlich machte. Schließlich hatten sie dennoch das Ende des letzten Durchgangs erreicht und wollten gerade die schützende Deckung verlassen, als in einer Nische des Gebäudes direkt vor ihnen eine Tür aufschwang. Heraus trat ein Wachmann mit Atemmaske.
Sobald er Sunho sichtete, stürzte er sich mit einem Dolch auf ihn. Sunho wich aus. Mit einem schnellen Satz packte er den Mann an der Maske und rammte seinen Kopf gegen die Wand. Bewusstlos sank der Wächter zu Boden.
Flink schlüpfte Tag durch die Tür und kam wenige Minuten später zurück. Er schüttelte den Kopf: Sonst hielt sich niemand im Gebäude auf.
»Wenn wir Glück haben, vermissen sie ihn erst später«, meinte Yurhee und nahm ihre Maske ab. »Scheiße.«
Sunho folgte ihrem Blick zu dem Emblem, das an der Schulter des Mannes angebracht war: ein ausgebreitetes Paar gefiederter Schwingen, ähnlich denen einer Taube.
»Was hat ein sareniyanischer Soldat hier zu suchen?«
Beim Anblick des Symbols stieg ihm gleißende Hitze von seinem Schlüsselbein zu seinem Hals hinauf. Instinktiv fasste er an seinen Schal, stellte aber erleichtert fest, dass er nicht verrutscht war.
»Sollen wir die Mission abbrechen?«, fragte Tag leise. »Von denen könnte es noch mehr geben.«
»Nein«, sagte Yurhee nach kurzer Überlegung. Schweißperlen rannen über ihre Wange. »Dafür ist es jetzt zu spät.«
Während sie und Tag den Mann in das Gebäude zogen, stand Sunho Schmiere. Dabei ließ er die Schultern kreisen und dehnte die Arme, um zumindest einen Teil der Anspannung darin loszuwerden. Doch Tags Frage hatte in ihm eine ungute Ahnung geweckt.
Er hatte nicht wie sonst von einem Job, sondern einer Mission gesprochen.
Da kam das Diebesduo zurück in die schmale Gasse und schloss hinter sich die Tür. Laut Yurhees Karte verlief ihr weiterer Weg durch das Turbinenfeld schnurgeradeaus. Für diesen Teil des Geländes hatte sie nicht notiert, wo die Sicherheitsleute ihre Runden drehten, also verlangsamten sie ihren Sprint, immer den Lichtern der entfernten Lagerhalle entgegen. Die weite Fläche, die sie nun im Laufschritt überquerten, war vollkommen frei, abgesehen von den gewaltigen Turbinen. Unermüdlich sirrten ihre Rotorblätter, um Energie für die Fabrik zu erzeugen. Und nicht nur dafür waren sie gut: Die Schaufelräder schoben außerdem den Rauch, der von den Schornsteinen aufstieg, fort von Mittstadt in Richtung des Außenrings. Sunho musste an Wolken denken. Blaue Wolken, versetzt mit Gift.
Grimmig durchzuckte ihn der Gedanke: Wer auch immer behauptet hat, in der Unterwelt gäbe es keine Wolken – er hat sich geirrt.
»Ich dachte, das Militär darf keine direkten Geschäfte mit den Mithril-Fabriken machen«, sagte Tag, der mühevoll mit ihnen Schritt hielt. Doch obwohl sein Schnaufen hinter der Maske nicht zu überhören war, wurde er nicht langsamer.
»Mein Informant hat mir erzählt, dass der Minister, dem die Fabrik gehört, korrupt ist. Nicht dass das ungewöhnlich wäre«, meinte Yurhee mit einem düsteren Lachen. »Könnte mir vorstellen, dass er sich vom sareniyanischen Militär bestechen lässt, damit sie Zugang zu seinen Mithril-Lagern bekommen.«
Nachdem vor zehn Jahren sowohl Sareniyas Königin als auch deren Thronfolgerin gestorben waren, war der Schwebende Rat, das Führungsgremium der Schwebenden Welt und der Unterwelt, vollkommen zusammengebrochen. Während dieser Zeit des Chaos war General Iljin, der Befehlshaber über die sareniyanischen Streitkräfte, an die Macht gelangt – an weit mehr Macht als zuvor als Diener der Königin und des Rates. Sieben Jahre lang hatte er daraufhin das Militär gestärkt, vor allem, indem er die Flotte auf Mithril-Antrieb umstellte. Zudem hatte er die Grenzen des Reiches durch eine Reihe von brutalen Feldzügen ausgeweitet, zuerst gegen die kleineren benachbarten Königreiche, anschließend gegen das Großreich Volmar im Norden.
Doch die im Rat sitzenden Adeligen hatten den stetig anwachsenden Reichtum und Einfluss des Generals als bedenklich empfunden, weshalb sie vor drei Jahren ein Gesetz erlassen hatten, das den Zugriff des Militärs auf Mithril einschränkte. Ab sofort erhielt es eine festgesetzte Menge, um die Luftschiffe der Flotte mit Energie zu versorgen. Ansonsten durfte Mithril nur noch an Privatpersonen verkauft werden, die damit Vergnügungsschiffe und Privatflugzeuge betrieben. Dem Adel kam das natürlich sehr entgegen, bestand dessen einziges Interesse doch darin, sich die eigenen Taschen zu füllen.
Wenn also der Minister des Neunten Bezirks, ein Adeliger mit Sitz im Rat, Handel mit dem Militär trieb, dann brach er damit das Gesetz und hatte sich des Verrats schuldig gemacht. Sunho wusste nicht, welche Konsequenzen es hätte, sollte das ans Licht kommen – ob dem Minister eine Strafe drohte oder vielleicht sogar dem General selbst, schließlich war er Anführer der Streitmacht. Bislang hatte der Rat die Autorität des Generals nie infrage gestellt, um nicht Gefahr zu laufen, einen Staatsstreich heraufzubeschwören.
»Spielt alles keine Rolle«, sagte Yurhee und schüttelte entschieden den Kopf. »Was die Sareniyaner auch im Schilde führen, an unserem Plan ändert es nichts.«
Der Nachdruck in Yurhees Stimme ließ Sunho aufhorchen. Was war ihr Plan? Ginge es nur um Geld, wären die Villen im Inneren Zirkel ein viel leichteres Ziel als eine Mithril-Fabrik gewesen. Auf Mithril selbst konnten sie es auch nicht abgesehen haben, weil sie keinerlei Möglichkeiten hatten, das giftige Metall zu transportieren.
Doch bevor er danach fragen konnte, gelangten sie in unmittelbare Nähe der Lagerhalle. Diese war gigantisch, zwei Stockwerke hoch und so lang wie ein Häuserblock im Inneren Zirkel. Anders als bei den Raffinerien waren hier an jeder der vier Ecken je zwei Wachleute mit Laternen postiert. Mit ausreichend Abstand zum nächsten Lichtkegel gingen Sunho, Yurhee und Tag in die Hocke.
»Wir müssen an den Wachen dort vorbei, ohne die übrigen Posten zu alarmieren«, sagte Yurhee.
Sunhos Schwertscheide grub sich in den Boden, also zog er am Trageriemen, um sie weiter nach oben zu zurren.
»Wie viel Zeit ist seit der letzten Sirene vergangen?«, fragte Yurhee.
»Sollte bald wieder so weit sein«, meinte Tag. »Was hast du vor?«
»Seht ihr, wie weit sie voneinander entfernt sind?« Zwischen den Wachposten an jeder Ecke lagen je dreißig Schritte. »Im Dunkeln können sie sich gegenseitig nicht sehen. Nur die Laternen geben ihre Position an. Wenn wir es geschickt anstellen, sollten wir das erste Paar ausschalten können, ohne die anderen aufzuschrecken.«
»Die Sirene heult nur fünfzehn Sekunden.« Tag rückte näher heran. Die Maske baumelte um seinen Hals. »Und hier hört man sie bestimmt nicht mehr so laut wie am Eingang.«
Yurhee redete eilig: »Dann müssen wir einfach schnell sein. Wir haben nur einen Versuch. Sunho, kannst du –?«
Der Warnton dröhnte los.
Mit eingezogenem Kopf sprinteten sie los. Der Wachmann, der ihnen am nächsten stand, bemerkte sie und wollte sein Schwert ziehen. Doch mit einem Satz war Sunho bei ihm, packte seine Hand und stieß ihm gleichzeitig gegen den Hals, damit er nicht schreien konnte. Dann trat Sunho hinter ihn, schlang den Arm um seinen Nacken und verdrehte ihm das Handgelenk, bis der Mann das Schwert fallen ließ.
Neben ihm rangen Yurhee und Tag mit der zweiten Wache. Tag hielt der Frau den Mund zu. Aus dem Augenwinkel sah Sunho, wie die Laterne in ihrem Griff erst schwankte und dann herabfiel.
Blitzschnell fing er sie auf.
Während er mit ruhiger Hand die Laterne hielt, spannte er den anderen Arm um den Hals des Mannes weiter an, bis dieser sich endlich nicht mehr wehrte.
Yurhee drückte der Wachfrau ein Tuch auf den Mund, das sie wohl in Schlafmittel getränkt hatte, da diese kurz darauf die Augen verdrehte. Beide Sicherheitsleute glitten zu Boden. Die Sirene verstummte.
Angespannt spitzten sie die Ohren und warteten ab, doch als niemand Alarm schlug, nickte Yurhee Sunho anerkennend zu, während er noch immer die Laterne hochhielt. »Gut gefangen.«
Sie trat an die Tür und steckte eine dicke Nadel ins Schloss, das wenig später mit einem Klicken aufsprang.
»Einer von uns muss hierbleiben und das Licht halten, damit niemand Verdacht schöpft.«
»In der Halle könnten noch mehr Wachleute sein«, meinte Tag und nahm Sunho die Laterne ab. »Geht ihr zwei rein. Ich bleibe hier draußen.« Mit dem Rücken stemmte er sich gegen die Tür, um sie den beiden aufzuhalten. »Seid vorsichtig.«
Yurhee trat über die Schwelle.
»Warte«, sagte Sunho, und als sie sich zu ihm umdrehte, tanzte der Feuerschein in ihren Augen. »Was stehlen wir, Yurhee?«
»Ist das wichtig?«, fragte Tag. Sein Tonfall war gelassen, ohne jeden Vorwurf. Wenn überhaupt, klang er neugierig. »Bezahlt wirst du so oder so.«
Tag hatte recht. Es spielte keine Rolle. Sunho würde die Sache in jedem Fall durchziehen, allein der Bezahlung wegen.
»Ich will es wissen«, entgegnete er dennoch.
Yurhee machte einen Schritt ins Gebäude, jedoch ohne Sunho aus den Augen zu lassen. Als sie den Kopf schief legte, funkelte ihre Schmetterlingsspange im Licht der Laterne. »Ist dir eigentlich bewusst, dass du gerade zum ersten Mal meinen Namen gesagt hast?«
Sunho blinzelte. Tatsächlich? Er war von Natur aus ein Einzelgänger und blieb lieber für sich. Dass er mit denselben Leuten mehr als nur einen Job durchzog, kam so gut wie nie vor. Yurhee und Tag gehörten zu den wenigen Ausnahmen.
»Weißt du, nach dem ersten Ding, das wir zusammen gedreht haben, habe ich zu Tag gesagt: Er ist genau wie wir. Ein Typ aus dem Außenring, der einfach nur überleben will.«
Wie sie. Ein seltsames Gefühl prickelte in Sunhos Kehle – unangenehm, fast schmerzvoll.
»Scheiß aufs Überleben. Ich will leben.« Sie grinste waghalsig, genau wie Tag, auch wenn es bei ihm sanfter wirkte. »In einer freien Welt. Unter einem Himmel, der nicht voll ist von Giftwolken, sondern echten.«
Sie klang wieder wie vorhin, so voller Leidenschaft, voller Sehnsucht, was Sunho gleichzeitig fremd und vertraut vorkam.
Denn auch er sehnte sich verzweifelt nach etwas, das ihm fehlte.
»Wir stehlen eine Karte der Mithril-Minen«, sagte Yurhee. »Das ist unser Ziel hier. Und wenn wir sie erst haben, stellen wir die Welt auf den Kopf.«
3
SUNHO
Unterwelt
Lagerhalle der Mithril-Fabrik, Neunter Bezirk
Leise fiel die Tür hinter ihnen ins Schloss und sperrte das Licht von Tags Laterne aus, während Sunho den Boden musterte. Augenblicklich spürte er die große Menge Mithril, die hier lagerte. Die Luft war schwer davon, außerdem nahm Sunho ein leises Summen wahr, von dem sich die Härchen auf seinen Armen aufstellten. Aus Hunderten metallener Kisten sickerte ein trübes blaues Schimmern in die Dunkelheit. Als Sunho die Etiketten der nächstgelegenen überflog, stellte er fest, dass die meisten in den Kern transportiert werden sollten, wo Händler das kostbare Metall profitabel weiterverkaufen würden. Einige wenige waren für den Stützpunkt Yongin vorgesehen, die größte Militäreinrichtung Sareniyas außerhalb der Großen Mauer.
»Sunho!«, drängte Yurhee, die eine metallene Treppe hinauflief, und schnell folgte er ihr auf einen hoch gelegenen Steg, wo sie ein Gitter aus der Wand nahm. »Hierdurch sollten wir zum Büro des Vorarbeiters gelangen. Beeil dich, uns läuft die Zeit davon.«
Sunho hatte vorhin einen Blick auf den Countdown des Zeitzünders an den Bomben erhascht, der auf dreißig Minuten eingestellt gewesen war – inzwischen war mindestens die Hälfte davon vergangen. Doch nicht allein das machte ihnen Druck. Auch der sareniyanische Soldat, den sie bewusstlos zurückgelassen hatten, konnte jeden Moment zu sich kommen und auf sich gestellt war Tag ihm nicht gewachsen.
Mit eingezogenem Kopf kletterte Sunho in den Lüftungsschacht und robbte durch den engen Raum vorwärts.
»Links oder rechts?«, fragte er, als der Schacht sich in zwei verschiedene Richtungen zweigte.
»Links«, antwortete Yurhee. »Und da sollte es direkt unter dir sein.«
Seine Finger stießen auf das Gitter einer Abdeckung, die er aufdrückte, um sich vornüber auf einen Tisch voller Papiere hinabfallen zu lassen.
Yurhee landete neben ihm. »Verdammt«, fluchte sie. »Hier drin ist es stockdunkel. Ich seh nicht mal die Hand vor Augen.«
»Da ist ein Lichtschalter«, sagte Sunho, als er ihn an der gegenüberliegenden Wand entdeckte. Flink sprang er vom Tisch und ging hinüber, um den Schalter zu betätigen. Mit einem leisen Surren erwachte flackernd eine Glühbirne zum Leben und tauchte das Chaos auf dem Tisch in grellgelbes Licht. Weiter hinten im Raum befand sich ein großer Schreibtisch, neben dem ein achtfach gefächerter Raumteiler und mehrere Aktenschränke standen.
Als er sich umdrehte, spürte er Yurhees Blick auf sich – und begriff seinen Fehler.
Im Zimmer war es wirklich stockdunkel gewesen. So dunkel, wie es nur in der Unterwelt sein konnte, wo es – abgesehen von Mithril – kaum natürliche Lichtquellen gab. Wer die Unterwelt verließ, stellte fest, dass sich die Finsternis hier nicht mit der in der Außenwelt vergleichen ließ. Denn sie fühlte sich an wie der Tod. Eigentlich hätte es Sunho daher nicht möglich sein sollen, etwas zu sehen.
Fiebrig zerbrach er sich den Kopf nach einer Erklärung, nach irgendeinem Grund, den Yurhee ihm vielleicht abkaufen würde.
Genau darum arbeitete er nie zweimal mit demselben Team. Je mehr Zeit er mit anderen verbrachte, desto größer war die Gefahr, dass sie seinem bestgehüteten Geheimnis auf die Schliche kamen.
Yurhee brach den Blickkontakt zuerst. Sie glitt vom Tisch und trat an den Schreibtisch, um die Papiere durchzugehen, bevor sie die Schubladen des Aktenschranks öffnete.
Vielleicht hatte er sich ihre Reaktion auch nur eingebildet. Wahrscheinlicher war jedoch, dass sie ignorierte, was sich gerade ereignet hatte, um sich auf das dringlichere Problem zu konzentrieren.
Er hätte ihr bei der Suche nach der Karte geholfen, nur wusste er nicht, wie sie aussah – und unter den vielen Bestellformularen und Briefen befanden sich Dutzende von Karten. Sunhos Blick fiel auf eine, die an der Wand hing und deren gesamte Länge einnahm: eine detailgetreue Darstellung der Unterwelt. Die kreisrunde Stadt war wie ein Kuchen in neun gleich große Bezirke unterteilt. Von außen nach innen untergliederte sie sich in drei Hauptbereiche: Außenring, Mittstadt und den Kern. Der Außenring setzte sich ausschließlich aus Armenvierteln zusammen und wurde durch weitläufige abgeriegelte Fabrikanlagen – eine je Bezirk – strikt von Mittstadt getrennt. Von den Fabriken aus verjüngten sich die Bezirke Mittstadts zum Scheitelpunkt der Unterwelt hin immer weiter, bis hin zu einem zweiten, inneren Kreis: dem Kern. Dort lebte der reichste Teil der Stadtbevölkerung.
»Bestimmt ist sie dahinter«, sagte Yurhee und trat auf den Paravent zu. Als sie ihn beiseiteschob, drang ein durchdringendes Klicken an Sunhos Ohren.
»Warte«, sagte er, als ihr Stiefel einen gespannten Stolperdraht streifte. Eine hinter dem Raumteiler verborgene Tür hatte sich geöffnet.
Sunho griff nach seinem Schwert und zog die Klinge aus der Scheide. Wieder spürte er diesen Druck, den er schon wahrgenommen hatte, als sie die Lagerhalle betreten hatten – die deutliche Gegenwart von Mithril.
Aus der Tür trat ein Wolf.
Zwar hatte Sunho noch nie einen gesehen, doch er wusste, dass sie in den Ebenen jenseits der Stadtmauer lebten. Die Wölfe dort waren angeblich nur Haut und Knochen. Doch dieser hier war kräftig und hatte drahtige Muskeln. Von seinen gefletschten Zähnen triefte eine dicke, klebrige Flüssigkeit, während er ein tiefes, durchdringendes Knurren ausstieß.
Yurhee wich zurück und stieß dabei gegen den Paravent, der laut klapperte.
»Pass auf!«, rief Sunho, als der Wolf zum Sprung ansetzte.
Yurhee hechtete zur Seite und rollte über den Boden, sodass das Tier in den Raumteiler krachte und stecken blieb.
Während der Wolf sich aus dem Holz und Papier befreite, half Sunho Yurhee auf die Beine. »Geht es dir gut?« Sie hatte sich bei dem Sturz geschnitten und der Kupfergeruch ihres Blutes erfüllte die Luft.
»Alles bestens. Was ist das?«
Ein leichtes Zittern erfasste Sunhos linke Hand. »Keine Ahnung, aber ich werde es töten.«
Nachdem er Yurhee hinter dem Schreibtisch in Sicherheit gebracht hatte, nahm er in der Mitte des Zimmers Position ein. Er schüttelte seine Hand aus und legte sie neben die andere um den Griff seiner Waffe. Die Augen des Wolfs folgten seinen Bewegungen.
Da stürzte sich das Tier mit einem rohen, animalischen Schrei auf Sunho. Auch Sunho sprang auf den Angreifer zu, jedoch tiefer und mit dem Oberkörper nach hinten gelehnt, sodass er unter dem Tier hindurchglitt. Dabei stieß er ihm seine Klinge in den Körper, um es von der Kehle bis zum Nabel aufzuschlitzen.
Mit einem grotesken Ächzen brach der Wolf zusammen. Sunho richtete sich dagegen wieder auf, ehe er auf die Blutlache zutrat, die sich unter dem toten Tier bildete und wie Tinte auf dem Boden verteilte.
Wie gefroren stand er da und starrte auf das Blut, das rot hätte sein sollen, doch stattdessen eine satte kristallblaue Farbe besaß. Sein Kopf fühlte sich an wie in Watte gepackt, als befände er sich unter Wasser. In seinen Ohren klingelte es unaufhörlich.
»Sunho, Sunho.« Da kam er wieder zu sich. Neben ihm stand Yurhee, die wohl schon eine Weile nach ihm gerufen hatte. Ihr Tonfall war schrill und drängend. »Wir müssen los.« Sie rannte zu dem geheimen Zimmer und kehrte Sekunden später mit einem gefalteten Papier zurück. Die Karte. Bevor Yurhee sie in ihren Gürtel klemmte, bemerkte Sunho darauf ein aufgemaltes Symbol: ein schwarzer Flügel, der in der Mitte gefaltet war. »Komm jetzt, schnell!«
Eilig machten sie sich auf den Rückweg. Yurhee kletterte auf Sunhos Schulter, um den Lüftungsschacht zu erreichen, bevor er selbst vom Tisch aus in die Höhe sprang und sich am Rand der Öffnung nach oben zog. Als sie es schließlich nach draußen schafften, wartete Tag hinter der Ecke der Lagerhalle auf sie, wo er im Schatten Deckung gesucht hatte.
Sie entkamen über die Mauer, im selben Moment, als die Kanisterbomben detonierten – und die Explosion den Himmel erhellte.
Mehrere Blocks von der Fabrik entfernt flüchteten sie sich in den Innenhof eines Teehauses.
»Diesen Ort haben wir letzte Woche ausgekundschaftet«, erklärte Yurhee, als sie wieder zu Atem gekommen war. »Der Laden steht leer. Hier sollten wir erst mal sicher sein.«
Ein Licht glomm auf, als Tag mit einem Streichholz eine Laterne anzündete, ehe er sie an einen Haken an der Wand hängte. Sobald er sich zu ihnen umdrehte und den Schnitt an Yurhees Arm entdeckte, riss er erschrocken die Augen auf. »Du bist verletzt.« Sofort beugte er sich darüber, um sich die Wunde genauer anzusehen. »Du solltest doch aufpassen.«
»Du machst dir zu viele Sorgen«, schalt Yurhee ihn.
Sunho ließ die beiden allein, während sie sich um Yurhees Verletzung kümmerten.
Der Hof des Teehauses war von Überresten dessen übersät, was einmal große Tontöpfe gewesen sein mussten, die nun aber in Scherben auf der Erde verteilt lagen. Wie die meisten Innenhöfe war auch dieser nicht vollständig überdacht. Staub wirbelte auf, als Sunho zur nächsten Mauer lief, wo er sich gegen die kalte Oberfläche lehnte und die Augen schloss.
Wenig später kündigte das Knirschen der Scherben unter Stiefeln an, dass Yurhee und Tag zu ihm traten.
»Deine Bezahlung, wie versprochen.« Yurhee hielt ihm zwei Stränge aufgefädelter Münzen hin. Um ihren Arm war nun ein dicker Verband geschlungen.
Sunho nahm die Münzen entgegen und verstaute sie in der Innentasche seiner Jacke.
Neugierig legte Yurhee den Kopf schief und musterte ihn. »Die meisten hätten hingeschmissen, hätten sie erst gewusst, worauf wir es abgesehen hatten. Gut möglich, dass uns der frühere Besitzer dieser Karte jetzt an den Kragen will.«
Sunho dachte an das Symbol, das er auf der Karte bemerkt hatte – den schwarzen Flügel. Dieses Zeichen war ihm noch nie untergekommen.
»Mir egal.« Ob die Karte dem Vorarbeiter, dem Minister, der die Fabrik besaß, oder General Iljin persönlich gehörte – Sunho hatte mit keinem von ihnen etwas zu schaffen. »Ich brauche das Geld.«
»Wofür?«
»Ich suche nach meinem Bruder«, sagte er.
Normalerweise hätte er die Wahrheit für sich behalten, doch es war spät und er war müde. Außerdem machte es keinen Unterschied. Er würde Yurhee und Tag ohnehin nie wiedersehen.
Sie wussten schon zu viel über ihn. Wahrscheinlich hatte Yurhee eine gewisse Ahnung, dass er anders war als die üblichen Söldner. Noch immer spürte er ihren fragenden Blick auf sich, mit dem sie ihn gemustert hatte, nachdem er in der Dunkelheit den Lichtschalter gefunden hatte.
Vor dem Beginn ihres Einbruchs hatte Yurhee gesagt, er sei genau wie sie. Einen Augenblick lang hatte er sich beinahe gestattet, es zu glauben.
Cover
Titel
Triggerwarnung
Widmung
Inhalt
Karte
Erster Akt: Eine Welt in Finsternis
1 Ren – Östlich des Haebaek-Gebirges – Schneller und schneller …
2 Sunho – Unterwelt – Mithril-Fabrik, Neunter Bezirk – Sunho wich von …
3 Sunho – Unterwelt – Lagerhalle der Mithril-Fabrik, Neunter Bezirk – Leise fiel die …
4 Ren – Haebaek-Gebirge – Gorye – Ren lag auf …
5 Ren – Haebaek-Gebirge – Gorye – Dämon!«, brüllte jemand, …
6 Sunho – Unterwelt – Fünfter Bezirk, Außenring – Hast du von …
7 Ren – Haebaek-Gebirge – Gorye – Am Tag nach …
Zweiter Akt: Licht findet einen Weg
8 Jaeil – Unterwelt – Bahnhof, Dritter Bezirk, Mittstadt – Als der Zug …
9 Sunho – Unterwelt – Jenseits der sareniyanischen Grenze – Ein durchdringendes Pfeifen …
10 Ren – Haebaek-Gebirge – Nachdem sie Gorye …
11 Sunho – Westlich des Haebaek-Gebirges – Besetzte Gebiete – Ein lauter Schlag, …
12 Ren – Westlich des Haebaek-Gebirges – Besetzte Gebiete – Ren hatte in …
13 Jaeil – Unterwelt – Vierter Bezirk, Außenring – Der Zug ist …
14 Sunho – Westlich des Haebaek-Gebirges – Besetzte Gebiete – Zitternd saß Sunho …
15 Ren – Westlich des Haebaek-Gebirges – Besetzte Gebiete – Silbrig schimmerte das …
16 Sunho – Westlich des Haebaek-Gebirges – Besetzte Gebiete – Nachdem Hwi das …
17 Ren – Westlich des Haebaek-Gebirges – Besetzte Gebiete – Ren spürte, wie …
18 Ren – Westlich des Haebaek-Gebirges – Besetzte Gebiete – Am nächsten Morgen …
19 Sunho – Seorawon, Hafenstadt am Nakjin-Fluss – Besetzte Gebiete – Sunho zog Hwi …
20 Ren – Seorawon, Hafenstadt am Fluss Nakjin – Besetzte Gebiete – Dank Sunhos Münzen …
21 Jaeil – Unterwelt – Mithril-Fabrik, Neunter Bezirk – Jaeil stand vor …
Dritter Akt: Die Unterwelt
22 Sunho – Unterwelt – Vierter Bezirk, Außenring – Sunho griff nach …
23 Ren – Unterwelt – Fünfter Bezirk, Außenring – Irgendwann musste Sunho …
24 Sunho – Unterwelt – Wolryudang, Siebter Bezirk – Am nächsten Morgen …
25 Sunho – Unterwelt – Madang-Viertel, Vierter Bezirk – Sunho bahnte sich …
26 Ren – Unterwelt – Wolryudang, Siebter Bezirk Zehn Stunden zuvor – Am Morgen des …
27 Ren – Unterwelt – Das Zimmer, in …
28 Sunho – Unterwelt – Unter den Mithril-Minen – Zeig mir deine …
29 Ren – Schwebende Welt – In den Mithril-Minen – Sunho. Sie hatte …
30 Sunho – Schwebende Welt – Mithril-Labor – Das Laboratorium machte …
31 Ren – Schwebende Welt – Mithril-Laboratorium – Ren raste zurück. …
Vierter Akt: Die Schwebende Welt
32 Jaeil – Unterwelt – Der Kern – Kraftvoll schoss das …
33 Sunho – Unterwelt – Wolryudang, Siebter Bezirk – Wir brechen in …
34 Ren – Schwebende Welt – Ren wurde von …
35 Ren – Schwebende Welt – Tempel des Hellen Mondes – Augenblicklich ließ der …
36 Sunho – Unterwelt – Sunho fiel. …
37 Ren – Schwebende Welt – Auf der Wiese – Taumelnd wich Ren …
Danksagung
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Bisher von Axie Oh im Loewe Verlag erschienen
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