XOXO – Der Rhythmus unseres Lebens - Axie Oh - E-Book

XOXO – Der Rhythmus unseres Lebens E-Book

Axie Oh

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Beschreibung

XOXO ist eine moderne Verbotene-Liebe-Geschichte in der glamourösen und exklusiven Welt des K-Pop. Cello-Wunderkind Jenny hat ein einziges Ziel: in eine prestigeträchtige Musikschule aufgenommen zu werden. Als sie in der Karaoke-Bar ihres Onkels in Los Angeles den geheimnisvollen und attraktiven Jaewoo kennenlernt, ist klar, dass er genau die Art von Junge ist, die ihre sorgfältig zurechtgelegten Pläne vereiteln könnte. Doch in einem Anflug von Spontanität lässt sie sich von ihm aus ihrer Komfortzone heraus in eine unvergessliche Nacht voller Abenteuer entführen … bevor er wieder spurlos verschwindet. Drei Monate später, als Jenny mit ihrer Mutter in Südkorea ankommt, um sich um ihre kranke Großmutter zu kümmern, muss sie schockiert feststellen, dass Jaewoo an der gleichen Elitekunsthochschule studiert wie sie. Und er ist auch nicht irgendein Junge. Er ist Mitglied einer der größten K-Pop-Bands der Welt – und es ist ihm streng verboten, eine Freundin zu haben. Nun, da eine Beziehung für Jenny bedeuten könnte, ihren langjährigen Lebensplan über den Haufen zu werden, muss sie sich ein für alle Mal entscheiden, wie viel sie für die Liebe zu riskieren bereit ist. XOXO ist ein neuer Liebesroman der gefeierten Autorin Axie Oh, der beweist, dass man nicht unbedingt sein Herz opfern muss, um seine Träume zu verfolgen.

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Beliebtheit



Sammlungen



Für meine kluge, liebevolleund talentierte Schwester Camille.

Inhalt

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreißig

Einunddreißig

Zweiunddreißig

Dreiunddreißig

Vierunddreißig

Fünfunddreißig

Sechsunddreißig

Siebenunddreißig

Achtunddreißig

Neununddreißig

Vierzig

Danksagungen

Eins

Jay’s Karaoke liegt inmitten einer Einkaufsmeile von Koreatown, zwischen einem Boba Land 2 und Sookie’s Hair Emporium.

Die Tür des Letzteren fliegt auf, als ich daran vorbeigehe. »Yah, Jenny-yah!« Sookie Kim, Besitzerin und Friseurin, hebt eine Plastiktüte und ein Glätteisen hoch. »Willst du nicht Hallo sagen?«

»Hallo, Mrs. Kim«, sage ich, dann spähe ich über ihre Schulter und sehe drei Frauen mittleren Alters in einer Reihe sitzen. Sie alle haben Trockenhauben auf dem Kopf und verfolgen ein K-Drama, das auf einem an der Wand befestigten Fernseher läuft. »Hi, Mrs. Lim, Mrs. Chang, Mrs. Sutjiawan.«

»Hi, Jenny«, rufen sie gleichzeitig und winken mir kurz zu, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Paar auf dem Fernseher zuwenden, das sich kurz vor einem K-Drama-Kuss zu befinden scheint. Der Mann beugt seinen Kopf in die eine Richtung, die Frau in die andere und ihre Lippen berühren sich, während sich die Kamera unter dramatisch anschwellender Musik zurückzieht.

Als der Abspann beginnt, lehnen sich die Damen unter verträumten Seufzern zurück. Na ja, zumindest zwei von ihnen.

»Das war’s?« Mrs. Sutjiawan wirft ihren Hausschuh nach dem Fernseher.

»Hier.« Mrs. Kim ignoriert die Frauen und reicht mir die fest verknotete Supermarktplastiktüte, in der sich bei näherer Inspektion Essen zu befinden scheint. »Das ist für dich und deine Mutter.«

»Danke.« Ich richte den Tragegurt der Tasche über meiner Schulter und verbeuge mich leicht, während ich ihr Geschenk annehme.

Mrs. Kim schnalzt mit der Zunge. »Deine Mutter arbeitet zu viel! Sie sollte öfter zu Hause sein und sich um ihre Tochter kümmern.«

Ich bin mir zwar ziemlich sicher, dass meine Mutter genauso viele Stunden im Büro ist wie Mrs. Kim in ihrem Salon, aber mein Selbsterhaltungstrieb ist stark genug, um sie nicht darauf hinzuweisen. Stattdessen bemühe ich mich weiter, wie eine respektable junge Person zu wirken, und lächle höflich. Es scheint zu funktionieren, denn Mrs. Kims Gesichtsausdruck verliert seine Strenge. »Deine Mutter muss sehr stolz auf dich sein, Jenny. Eine gute Schülerin. Und so talentiert auf dem Cello! Ich sage meiner Eunice immer, dass gute Musikschulen nur die Besten annehmen, aber sie hört einfach nicht auf mich.«

»Sookie-ssi!«, ruft eine der Damen von drinnen.

»Komme schon!«, ruft sie zurück. Als sie wieder in ihrem Salon verschwindet, gehe ich eine Tür weiter.

Seit Eunice und ich in der siebten Klasse das erste Mal in einem klassischen Musikwettbewerb gegeneinander angetreten sind, vergleicht uns Mrs. Kim. Angesichts der Komplimente, die sie mir immer macht, mag ich mir gar nicht ausmalen, was Eunice zu Hause zu hören bekommt. In letzter Zeit habe ich sie bei keinem Wettbewerb mehr gesehen. Auch bei dem am letzten Samstag war sie nicht. Und es ist genau dieser Wettbewerb, dessen Ergebnisse gerade ein Loch in meine Jackentasche brennen. Wenn Mrs. Kim wüsste, was die Preisrichter über mich gesagt haben, würde sie mich nicht so über den Klee loben.

Die Glocke über der Tür von Jay’s Karaoke verkündet meine Ankunft.

»Bin sofort da!«, ertönt Onkel Jays Stimme hinter dem Vorhang, der die Bar von der Küche trennt.

Ich gehe hinter den Tresen, stelle meine Tasche ab und öffne den Minikühlschrank, um Mrs. Kims Frischhaltedose zwischen die Sojuflaschen zu stellen.

Vor sieben Jahren haben Dad und Onkel Jay diesen Laden gekauft, um sich ihren Kindheitstraum zu erfüllen: zusammen eine Karaokebar zu betreiben.

Onkel Jay ist kein Blutsverwandter, aber mein Vater und er waren wie Brüder. Nach Dads Tod hat Onkel Jay meine Mom gefragt, ob ich nach der Schule bei ihm arbeiten könnte. Zuerst war sie dagegen, weil sie sich Sorgen machte, ob mir dann noch genug Zeit für Schule und Orchesterproben bleiben würde. Doch sie willigte schließlich ein, als Onkel Jay sagte, dass ich meine Hausaufgaben nach Feierabend machen könnte. Außerdem bin ich praktisch hier aufgewachsen. Ich erinnere mich, wie Dad und Onkel Jay lachend hinter der Bar standen, während er sein neuestes Gebräu ausprobierte und dabei stets an ein spezielles alkoholfreies Getränk für mich dachte.

Jahrelang hatte ich nicht in die Bar gedurft – Mom befürchtete, dass es schlechte Erinnerungen wecken würde –, aber bis jetzt macht es Spaß und mir fallen nur gute Dinge ein.

Ich spritze ein Reinigungsmittel auf die Theke und wische sie ab, dann kümmere ich mich um die hohen Bartische. Im Hauptraum sind gerade keine Gäste, auch wenn mir ein Blick in den Gang verrät, dass ein paar der privaten Karaokeräume besetzt sind.

»Hey, Jenny, dachte ich mir doch, dass du das bist.« Onkel Jay taucht hinter dem Vorhang auf. Er hat zwei Pappteller mit dampfendem Essen dabei. »Das heutige Special sind Bulgogi-Tacos. Willst du was?«

»Ich bin am Verhungern.« Ich hüpfe auf einen Barhocker und Onkel Jay stellt den Teller mit zwei Tacos vor mir ab. Die Füllung besteht aus in seiner Spezialsoße mariniertem Bulgogi, Salat, Tomaten, Käse und Kimchi.

Während ich das Essen hinunterschlinge, stellt Jay den Fernseher über der Theke an und geht auf Netflix die verfügbaren Filme durch.

Das ist unser Ritual. Die Bar wird erst später voll, also verbringen wir den frühen Abend damit, zu essen und Filme zu schauen, besonders asiatische Gangsterfilme.

»Da ist er ja«, sagt Onkel Jay und wählt einen Klassiker aus. The Man from Nowhere, auch bekannt als Ajeossi. Ein Actionthriller über einen verbitterten ehemaligen Cop. Als seine junge Nachbarin entführt wird, macht er sich auf die Suche nach ihr. Es ist wie die koreanische Version von 96 Hours mit Liam Neeson. Nur besser. Denn dieser Film ist mit Won Bin. Und Won Bin macht alles besser.

Onkel Jay stellt die Untertitel an und wir schauen uns beim Essen den Film an. Dabei reden wir darüber, wie glaubhaft es ist, dass Won Bin mit dreiunddreißig einen Ajeossi darstellt, einen Mann mittleren Alters. Wenn Gäste hereinkommen, macht er den Film leiser und führt sie zu ihren Räumen. Ich behalte den Monitor im Blick, der anzeigt, ob jemand den Rufknopf gedrückt hat, damit ich die Bestellungen der Gäste aufnehmen und ihnen ihr Essen bringen kann, während sich Onkel Jay um die Getränke kümmert.

Gegen einundzwanzig Uhr ist die Hälfte der Räume belegt und der Film zu Ende. Stattdessen dröhnt nun K-Pop aus den Lautsprechern. Auf dem Fernseher in der Bar streamt Onkel Jay immer YouTube-Zusammenstellungen der beliebtesten Musikvideos des Monats. Ich sehe zu, wie eine Gruppe Mädchen in farblich aufeinander abgestimmten Outfits zu einem eingängigen Elektropopsong eine komplizierte Choreographie tanzt.

Anders als meine Mitschüler konnte ich mich nie für K-Pop oder überhaupt irgendwelchen Pop begeistern. Auf einer Playlist meines Lebens wären Künstler wie Bach, Haydn und Yo-Yo Ma zu hören.

»Hattest du diese Woche nicht einen wichtigen Wettbewerb?« Onkel Jay steht hinter dem Tresen und mustert ein Glas, das er gerade abtrocknet.

Mir rutscht das Herz in die Hose. »Der war am Samstag.« Ich schenke ihm ein angestrengtes Lächeln. »Hab heute Morgen die Ergebnisse bekommen.«

»Ach ja?« Er runzelt die Stirn. »Und, wie lief’s?«

»Ich hab gewonnen.«

»Was? Wirklich? Herzlichen Glückwunsch!« Er stößt triumphierend eine Faust in die Luft. »Meine Nichte ist ein Champion«, sagt er zu dem Paar, das an der Bar sitzt und Tacos isst. Sie schauen erschrocken auf.

»Ja …« Mit einer Fingerspitze fahre ich die durch ein Herz verbundenen Initialen nach, die jemand in die Theke geritzt hat.

»Was ist los?« Er stellt das Glas ab und legt das Geschirrtuch hin. »Du hast was auf dem Herzen. Das seh ich doch.«

»Die Preisrichter haben mir Feedback gegeben.« Ich ziehe den ziemlich zerknitterten und zusammengefalteten Zettel aus der Tasche und reiche ihn Onkel Jay. »Damit ich vor dem nächsten Wettbewerb daran arbeiten kann.«

Während Onkel Jay den Zettel liest, wiederhole ich innerlich die Worte, die ich bereits auswendig kann.

Jenny ist zwar eine talentierte Cellistin, die alle technischen Elemente der Musik beherrscht, doch ihr fehlt der Funke, der sie von einer perfekt ausgebildeten Musikerin zu einer außergewöhnlichen machen würde.

Nächstes Jahr werden sich Hunderte Cellisten, die genauso gut sind wie ich, bei den besten Musikhochschulen des Landes bewerben. Um in einer der besten Schulen aufgenommen zu werden, reicht perfekt nicht. Ich muss außergewöhnlich sein.

Onkel Jay gibt mir den Zettel zurück. »Talentiert und technisch perfekt. Klingt doch super.«

Ich stopfe den Brief wieder tief in meine Tasche. »Du hast den Teil vergessen, wo sie mich einen seelenlosen Roboter nennen.«

Er lacht. »Den Teil muss ich überlesen haben.« Einen Hauch mitfühlender fügt er hinzu: »Ich verstehe, dass du enttäuscht bist. Aber es ist nur eine Kritik. Die bekommst du doch dauernd.«

»Es ist eben nicht nur eine Kritik«, sage ich und versuche meinen Frust in Worte zu fassen. »Denn es gibt nichts, was ich noch verbessern kann. In der Musik wird Gefühl über Tonhöhen und Dynamik ausgedrückt. In beiden Punkten bin ich großartig.«

Onkel Jay wirft mir einen Seitenblick zu.

»Die behaupten, mir fehle der Funke! Was soll das überhaupt sein?«

Er seufzt und lehnt sich gegen den Tresen. »Ich denke, es geht mehr darum, dass du deinen Funken noch nicht gefunden hast. Etwas, das das Feuer in dir zum Leben erweckt, deinen Träumen zu folgen. Dein Dad und ich haben uns zum Beispiel entschieden, diese Karaokebar zu eröffnen, obwohl das viele Leute für eine absolute Zeitverschwendung gehalten haben. Selbst deine Mutter. Obwohl ich es ihr nicht verübeln kann, da ich weiß, mit wie wenig sie aufgewachsen ist. Wir wussten, wie viel Arbeit vor uns lag und dass wir vielleicht scheitern würden, aber wir haben’s trotzdem gewagt, weil es unser Traum war.«

»Aber …«, sage ich langsam, »was hat das alles damit zu tun, dass ich die Musikhochschulen beeindrucken muss?«

»Okay, dann erkläre ich es mal in Jenny-Sprache. Weißt du noch, der Film, den wir vorhin geschaut haben? Ajeossi. An einer Stelle sagt die Figur von Won Bin etwas, das sich ungefähr so übersetzen lässt: ›Menschen, die für das Morgen leben, sollten Menschen fürchten, die für das Heute leben.‹ Weißt du, warum das so ist?«

»Nein«, erwidere ich. »Aber du wirst es mir wahrscheinlich gleich sagen.«

»Weil Menschen, die für das Morgen leben, keine Risiken eingehen. Sie fürchten sich vor den Konsequenzen. Während Menschen, die für das Heute leben, nichts zu verlieren haben und also mit Zähnen und Klauen kämpfen. Damit will ich sagen, dass du vielleicht mal versuchen solltest, etwas weniger über deine Zukunft nachzudenken, darüber in eine Kunsthochschule aufgenommen zu werden, darüber, was danach kommt, und … einfach ein bisschen lebst. Dass du neue Erfahrungen sammelst, neue Freunde findest. Ich versprech dir, dass du das Leben, das du willst, bekommen kannst, wenn du’s einfach mal lebst.« Die Türglocke läutet, als neue Gäste die Bar betreten.

»Willkommen«, ruft Onkel Jay und lässt mich mit meinen Gedanken allein, als er hinter der Theke hervorkommt, um die Neuankömmlinge zu begrüßen.

Ich spiele mit dem Gedanken, Mom eine Nachricht zu schicken, nur dass ich jetzt schon genau weiß, was sie sagen wird: dass ich mehr üben und vielleicht zusätzlichen Unterricht bei Eunbi buchen sollte. Und dass ich nicht auf Onkel Jay hören soll. Während es ihm darum geht, im Moment zu leben und seinen Träumen zu folgen, ist meine Mutter viel pragmatischer. Ich kann eine erfolgreiche Karriere als Cellistin erreichen, aber nur, wenn ich hart dafür arbeite und mich vollkommen darauf konzentriere.

Alles außerhalb davon ist nur Ablenkung.

Obwohl es ja nicht so ist, als hätte ich nicht hart gearbeitet, wie Mrs. Kim und wahrscheinlich auch Eunice wissen. Und dennoch hab ich diese Kritik bekommen.

Vielleicht hat Onkel Jay recht.

»Keine Sorge, Kleines«, sagt er, als er von den Gästen zurückkommt. »Du kriegst das schon hin. Warum gehst du heut nicht etwas früher nach Hause und ruhst dich aus? Bomi sollte gleich hier sein.« Bomi ist die mürrische UCLA-Studentin, die normalerweise die Spätschicht übernimmt. »Schau nur noch mal in Raum acht nach, bevor du gehst. Die Zeit auf ihrer Maschine ist abgelaufen, aber sie sind noch drin.«

Ich seufze. »Okay.« Also rutsche ich vom Barhocker und trotte den Gang entlang. Gäste rauszuwerfen ist die Aufgabe, die ich im Jay’s am wenigsten mag. Warum können sich die Leute nicht einfach an die Regeln halten?

In den meisten Karaokebars in den Staaten zahlen die Gäste am Ende des Abends, meistens pro Stunde, und die Gäste selbst achten auf die Zeit und wie viel sie ausgeben. Onkel Jay betreibt seine Bar, wie es in Korea üblich ist. Man zahlt im Voraus für eine bestimmte Zeit, die dann als Countdown auf dem Bildschirm im Raum heruntergezählt wird. Auf diese Weise muss man nicht zu viel bezahlen. Wenn man länger singen will, kann man mehr Zeit auf seinen Raum buchen. Mom sagt immer, dass Onkel Jay keinen Geschäftssinn hat.

Die Tür zu Raum acht ist geschlossen und dahinter ist alles still. Aber das ist auch logisch, wenn ihre Zeit abgelaufen ist. Ich klopfe einmal, dann öffne ich die Tür.

Überrascht stelle ich fest, dass sich nur ein einziger Gast im Raum befindet. Es ist ein Junge in meinem Alter, der mit dem Rücken an die Wand gelehnt in einer Ecke sitzt. Seine Augen sind geschlossen.

Ich suche nach Hinweisen auf einen weiteren Kunden, doch auf dem langen Tisch stehen weder Getränke noch Essen. Wenn er den Raum für sich allein gebucht hat, muss er reich sein. Seine Kleidung wirkt teuer. An seine Schultern schmiegt sich ein Seidenhemd und seine langen Beine sind in eine glatte schwarze Hose gehüllt. Sein linker Arm ist eingegipst, aber am rechten prangt eine Rolex. Und sind das Sleeve-Tattoos?

Welcher Teenager hat Sleeve-Tattoos?

Ich sehe wieder in sein Gesicht und stelle erschrocken fest, dass seine Augen jetzt offen sind. Ich warte darauf, dass er etwas sagt, aber er bleibt stumm. Ich räuspere mich. »Deine Zeit ist abgelaufen. Wenn du den Raum weiter nutzen willst, kostet das fünfzig Dollar pro Stunde. Ansonsten muss ich dich bitten zu gehen.«

Das hat unhöflicher geklungen, als es gemeint war. Ich gebe den Preisrichtern die Schuld, dass ich so schlechte Laune habe.

Das folgende Schweigen wird vom Stroboskoplicht der Diskokugel an der Decke noch betont.

Vielleicht spricht er kein Englisch? Er könnte aus Korea kommen. Amerikanische Jugendliche sind nicht so stylish.

Ich versuche es erneut, diesmal auf Koreanisch. »Sigan Jinasseoyo. Nagaseyo.« Wörtlich: »Die Zeit ist abgelaufen. Raus hier.« Allerdings in der Höflichkeitsform, damit ich technisch gesehen höflich bin.

»Ich hab dich schon beim ersten Mal verstanden«, sagt er auf Englisch. Seine Stimme ist leise und weich. Er hat einen leichten Akzent, eine Art warmes Kräuseln um seine Worte.

Unerklärlicherweise spüre ich, wie meine Wangen rot werden. »Warum hast du dann nichts gesagt?«

»Ich hab überlegt, ob ich gekränkt sein soll.«

Ich deute auf das große laminierte Buch, das mitten auf dem Tisch liegt und in dem alphabetisch alle verfügbaren Lieder aufgelistet sind. »Die Regeln stehen auf dem Deckblatt des Katalogs. Da steht, dass man nach einer Viertelstunde gehen muss, wenn man keine zusätzliche Zeit bucht.«

Er zuckt mit den Schultern. »Ich hab kein Geld.«

Ich werfe einen skeptischen Blick auf seine Gucci-Slipper. »Das bezweifle ich.«

»Die gehören mir nicht.«

Ich runzle die Stirn. »Hast du sie gestohlen?«

Er zögert kurz, dann sagt er langsam: »Könnte man so sagen.«

Lügt er? Irgendwie glaube ich das nicht. Ich habe nicht gesehen, wie er in die Bar gekommen ist. Wie lange war er schon in diesem Raum? Allein? Wer tut so etwas, wenn er sich nicht vor jemandem versteckt? Und vielleicht liegt es daran, dass ich eben noch Ajeossi gesehen habe, aber mir kommt nur eine Erklärung in den Sinn.

Ich trete näher an den Tisch. Er scheint meine Bewegungen zu spiegeln und lehnt sich vor.

»Brauchst du …« Ich senke meine Stimme. »Brauchst du Hilfe?« In Krimis sind Leute meines Alters nie in einer Gang, weil sie das so wollten.

Er zuckt mit den Schultern. »Grad jetzt wären mir fünfzig Dollar ganz recht.«

Ich schüttle den Kopf. »Ich frage dich, ob du in Schwierigkeiten steckst. Hast du Ärger … mit einer Gang?«

Einen Moment lang wirkt er erstaunt. Seine Augen werden ein wenig größer. Dann ergeben meine Worte wohl Sinn und er lässt den Blick sinken. »Ah, dann hast du’s also erraten.«

Ich nicke eifrig. »Du bist doch bestimmt nicht älter als sechzehn, siebzehn …«, sage ich. »Hier in den Staaten gibt es Gesetze, um Minderjährige zu schützen.« Vielleicht haben sie etwas gegen ihn in der Hand. So was wie die Sicherheit seiner Geschwister oder eines Freundes. »Wenn du Hilfe brauchst, musst du es nur sagen.«

Eine kurze Pause, dann sagt er sanft: »Wenn ich dich bitten würde, mich zu retten, würdest du es tun?«

Mir bricht fast das Herz. »Ich kann es versuchen.«

Er schaut auf, und als sich unsere Blicke treffen, stockt mir der Atem. Es ist fast schon unfair, dass jemand so … schön ist. Seine Haut ist makellos. Er hat dunkle Augen, weiche Haare und einen vollen kirschroten Mund.

Er lässt den Kopf sinken und seine Schultern beginnen zu wackeln. Weint er etwa? Ich komme näher heran, nur um festzustellen, dass er …

Er lacht. Dann klopft er sich mit seiner unverletzten Hand sogar aufs Knie.

Was für ein Mistkerl! Und ich Idiotin war besorgt um ihn.

Ich stürme aus der Tür.

Im Foyer sieht Onkel Jay vom Computer auf, über den er einem der Räume mehr Zeit gebucht hat. Er wirft einen Blick auf meinen Gesichtsausdruck und seufzt. »Der Junge geht nicht, hm? Kein Ding, ich schmeiß ihn raus.«

Er will schon hinter der Theke hervorkommen, doch ich hebe eine Hand. »Warte.« Ich hab seine Worte von vorhin im Ohr. Leb doch mal ein bisschen. »Ich mach das.«

Zwei

Als ich den Raum wieder betrete, sitzt der Junge immer noch in der Ecke. Vielleicht sollte ich sauer sein, dass er nicht auf mich gehört hat, aber es spielt keine Rolle.

»Das ist der Deal, okay?«, sage ich zu ihm. »Ich hab dir jetzt zwanzig Extraminuten auf diesen Raum gebucht.«

Er zieht eine Augenbraue hoch. »Wie großzügig.«

»Das ist kein Geschenk. Ich fordere dich zu einem Karaoke-Battle heraus.«

Er starrt mich ausdruckslos an.

»Ich zeig’s dir.« Ich setze mich auf den Platz neben ihm, nehme die Fernbedienung der Karaokemaschine und drücke den Knopf, auf dem »Punkte« steht. »Sobald das Lied vorbei ist, wird die Maschine unsere Darbietung bewerten«, erkläre ich. »Wenn du gewinnst, bekommst du noch eine Stunde ohne Extrakosten in diesem Raum. Wenn ich gewinne, musst du gehen.«

Ich bin selbst ein bisschen von mir überrascht, dass ich das tue. Nicht in einer Million Jahre hätte ich gedacht, dass ich einen Fremden – einen Jungen in meinem Alter, der wahrscheinlich der attraktivste Mensch ist, den ich je gesehen habe – zu einem Karaoke-Wettstreit herausfordern würde. Aber nach dem Feedback der Preisrichter bin ich entschlossen, etwas zu ändern.

Vielleicht hat Onkel Jay recht. Vielleicht muss ich einfach mal meine Komfortzone verlassen.

Ich beiße mir auf die Lippen und warte, während der Junge über mein Angebot nachdenkt. Eigentlich ist es für ihn eine Win-win-Situation. Wenn er nicht bezahlt, muss er schließlich gehen. Also entweder kann er tun, was er ohnehin vorhatte, oder er bekommt eine kostenlose, ziemlich bequeme Stunde.

Schließlich klopft er mit seiner heilen Hand auf die Songliste. »Meinetwegen. Ich spiel mit. Aber du wirst enttäuscht sein. Ich sing gar nicht mal so schlecht.«

Seinem Grinsen seh ich an, dass er sich seiner zusätzlichen Stunde bereits sicher ist. Er hat ja keine Ahnung, dass ich zwar nicht die beste Stimme habe, Karaokemaschinen aber danach gehen, wie gut man die Töne trifft, und darin bin ich einfach unschlagbar.

Er schiebt die Songliste über den Tisch zu mir.

»Die brauch ich nicht.« Ich nehme die Fernbedienung in die Hand und gebe das Lied ein, das ich singen will. Die Instrumentalversion von Gloria Gaynors I Will Survive spielt los.

Mit dem Mikrofon in der Hand stehe ich auf und beginne aus voller Lunge den Song zu schmettern. Ich habe ihn hauptsächlich wegen des schnellen Tempos ausgewählt. Während ich versuche Luft zu holen, bleibt mir keine Zeit, um zu grübeln oder an mir zu zweifeln. Außerdem schadet es nicht, dass Verse wie »Walk out the door« und »You’re not welcome here anymore« vorkommen.

Als es vorbei ist, lasse ich mich erschöpft auf die Couch zurückfallen. Auf dem Monitor erscheint meine Bewertung: 95.

Der Junge klatscht nicht, sondern klopft mit seiner heilen Hand auf den Tisch. »Das war … interessant.«

Ich bin völlig außer Atem und meine Wangen brennen. »Wir haben nur noch acht Minuten. Schnell, such ein Lied aus.«

Als ich zu ihm aufblicke, stelle ich fest, dass er mich ansieht. »Such du was für mich aus.«

»Bist du sicher?« Ich nehme den Katalog und schlage ihn ganz hinten auf, um mir die neuesten Lieder anzusehen. »Das wirst du noch bereuen.« Es gibt nicht viel Auswahl, was amerikanische Songs angeht, aber die koreanischen füllen zwei Seiten. Ich lese den Namen des Interpreten laut vor.

»XOXO? Was ist denn das für ein Name?« Ich lache.

Er runzelt die Stirn. »Noch sieben Minuten.«

Es gibt so viele Möglichkeiten. Vor lauter Macht bin ich fast schadenfroh. »Willst du lieber auf Englisch oder Koreanisch singen?«

»Spielt keine Rolle.«

»Ich meine, wir sind in einem Norabaeng, also kannst du auch ein koreanisches Lied singen. Ich kenn nur nicht viele.«

»Wirklich? Nicht mal die Nationalhymne?«

Ich will etwas Schnippisches erwidern, doch dann zögere ich. »Ich glaube, eines kenne ich …«

»Wie heißt es?«

»Den Titel kenn ich nicht.« Ich summe die Melodie aus dem Gedächtnis, aber es ist sehr lange her, seit ich sie das letzte Mal gehört habe. »Sorry.« Ich schüttele den Kopf und komme mir dumm vor, dass ich es überhaupt erwähnt habe.

»Gohae.«

Ich blinzle überrascht. »Was?«

»Das heißt ›Geständnis‹. Der Name des Songs. Er ist berühmt.«

Ich starre ihn an und kann nicht fassen, dass er ihn erkannt hat, und zwar nur von ein paar Melodiebruchstücken her. »Es war ein Lieblingslied meines Dads.«

»Dito.«

Ich runzle die Stirn. »Es war dein Lieblingslied?«

»Nein, meines Vaters.«

Einen Herzschlag lang schweigen wir, weil uns klar wird, dass wir beide über unsere Väter sprechen, als wären sie nicht mehr da.

Er nimmt die Fernbedienung, stellt die Sprache von Englisch auf Hangeul und gibt die Nummer des Songs ein.

Bei den ersten Klängen des Liedes fühle ich mich innerlich erstarren. Das ist der Song. Ich erkenne die Melodie und den unverwechselbaren Sound des Keyboards. Doch als der Junge zu singen beginnt, raubt es mir den Atem.

Ich habe vorher noch nie auf den Text geachtet, aber nun umhüllt er mich wie Seide.

Er singt davon, dass man jemanden zu lieben wagt, obwohl die ganze Welt dagegen ist.

Seine Stimme ist alles andere als perfekt, ziemlich rau und trifft nicht immer die richtigen Töne, und doch liegt in jeder Note, jedem Wort eine ganz besondere Verletzlichkeit.

Plötzlich überkommt mich die Erinnerung an einen Moment vor fünf Jahren, als ich am Fußende des Krankenhausbetts meines Vaters saß. Wir spielten auf der Bettdecke Karten und dieses Lied spielte im Hintergrund. Wir lachten so sehr, dass mir Tränen in die Augen schossen, und ich erinnere mich daran, dass ich dachte: Ich bin so glücklich. Dieses Gefühl soll niemals aufhören. Ich will, dass das für immer so bleibt.

Doch das tut es nie.

Auf dem Monitor erscheint die Bewertung: 86.

Der Timer auf der Maschine ist bei null angekommen. Der Junge steht auf und richtet seinen Gips. Instinktiv erhebe ich mich ebenfalls.

»Danke«, sagte er zögerlich. Dann verbeugt er sich und ich verbeuge mich ebenfalls, was eigentlich seltsam sein sollte, es aber aus irgendeinem Grund nicht ist.

Ich will ihm sagen, dass er hätte gewinnen sollen, dass jede menschliche Jury seinen Gesang höher bewertet hätte als meinen. Schließlich trägt ein wahrer Musiker ein Lied nicht nur vor, sondern lässt einen etwas dabei fühlen. Und so, wie mein Herz durch die Erinnerung und die Musik schmerzt, ist klar, dass ihm das gelungen ist. Ich will ihn fragen, woher er das hat und wie ich es für mich finden kann.

Aber ich sage nichts. Leise verlässt er den Raum und die Tür hinter ihm fällt zu.

Drei

Im Eingangsbereich sehe ich Bomi, die sich gerade ein UCLA-Sweatshirt über den Kopf zieht. »Hey, Jenny«, sagt sie, als sie mich sieht. »Machst du Schluss?« Sie stopft ihr Sweatshirt und den Rest ihrer Sachen hinter die Bar. »Geh nicht über die Olympic und die Normandie nach Hause. Da ist irgendein koreanisches Fest und die Straßen sind total verstopft.«

Onkel Jay schiebt den Vorhang zur Küche beiseite. Auf einem Tablett trägt er einen Teller gebratenen Reis mit Kimchi und einem Spiegelei.

Bomi blickt nicht auf, während sie ihre Tasche mit meiner tauscht. »Boss«, sagt sie und reicht mir meine Sachen über die Theke, »kann ich am Sonntag früher Schluss machen? Ich muss für eine Wirtschaftsklausur lernen.«

»Na klar. Wenn ich irgendwas bin, dann entgegenkommend.« Er wirft einen Blick in meine Richtung. »Vergiss nicht, deine Reste aus dem Kühlschrank mitzunehmen.«

»Das ist Banchan, keine Reste«, korrigiere ich ihn.

»Mann«, motzt Bomi. »Ich wünschte echt, mir würde jemand mal so was Leckeres mitgeben. Ich kleb immer nur an meinen Ramen aus dem Reiskocher.«

Onkel Jay und ich starren sie beide an. »Warum benutzt du nicht den Herd?«

Bomi zuckt mit den Schultern. »Ich geh nur aus meinem Zimmer, wenn es unbedingt sein muss.«

Onkel Jay reicht ihr das Tablett. »Da kann ich ja froh sein, dass du uns damit beehrst, zur Arbeit zu kommen.«

Ich schüttle lächelnd den Kopf und lehne mich vor, um Mrs. Kims Banchan aus dem Kühlschrank zu holen. Dann richte ich mich wieder auf und drücke die Tüte mit der Tupperware-Box an meine Brust. Das wäre jetzt wahrscheinlich der beste Moment, um einen Abgang zu machen, aber ich bleibe hinter der Bar. Bomi schaltet den Monitor auf eine Indie-Rock-Playliste – ihr liebstes K-Pop-Genre – und verschwindet im Gang, um den gebratenen Reis mit Kimchi zu servieren. An einem der Tische im Foyer sitzen vier Collegestudenten und stoßen auf das Wochenende an.

Ich fühle mich beklommen. Vielleicht brauchen Onkel Jay und Bomi ja Hilfe. Ich muss noch nicht gehen. Morgen früh hab ich zwar Cello-Unterricht, aber ich könnte noch etwas bleiben.

»Jenny, bist ja noch hier?« Neben mir erscheint Onkel Jay. Diesmal hat er auf seinem Tablett eine halbierte und ausgehöhlte Wassermelone, die mit einer Mischung aus Fruchtfleisch, Soju und Limo gefüllt ist. »Wenn du nicht langsam losziehst, verpasst du den Bus.« Er verlässt den Tresen und ruft über seine Schulter zurück: »Schreib mir, wenn du zu Hause bist!«

Ich bin entlassen. Seufzend ziehe ich den Tragegurt meiner Tasche auf der Schulter höher, gehe zur Tür und stoße sie auf. Kühle Luft weht über mein Gesicht.

Es ist schon kurz vor zehn und doch ist es durch all die Leuchtreklamen der Geschäfte hier taghell. Sookie’s Hair Emporium hat zu, doch im Boba Land 2 kaut eine Verkäuferin mit Pferdeschwanz Kaugummi, während sie durch die Nachrichten auf ihrem Handy scrollt. Das koreanische BBQ in der Ecke ist vollgepackt mit Studenten und Geschäftsleuten, die plaudern, während ihr Fleisch über Holzkohle gegrillt wird.

An der Haltestelle steht der Bus. Die Fahrgäste steigen ein und ich laufe zum Ende der Schlange. Als ich bezahlt habe, hangle ich mich durch den Gang, richte die Tüte mit Mrs. Kims Banchan und halte mich an einem Griff fest. Mit einem Ruck setzt sich der Bus in Bewegung und meine Tasche trifft jemanden auf einem der Einzelplätze vor mir.

»Tut mir leid«, sage ich und verziehe entschuldigend das Gesicht. Der Typ sieht auf.

Er ist es. Der Junge aus der Karaokebar.

»Was machst du denn hier?«, platzte ich heraus. Obwohl die Antwort offensichtlich ist: Er fährt mit dem Bus. »Ich meine, hast du nicht gesagt, du hättest kein Geld?«

Er zeigt mir einen Einzelfahrschein. »Was ist mit dir? Hast du Feierabend?« Er hält inne, dann bildet sich auf seinen perfekten Lippen ein kleines Lächeln. »Oder bist du mir gefolgt?«

»Nein, also …«, stottere ich.

»Setzen Sie sich dorthin?« Eine Frau tippt mir auf die Schulter und deutet auf den Platz hinter ihm.

»Oh, nein.« Ich gehe ein Stück weiter, damit sie sich setzen kann, und stehe jetzt verlegen vor beiden herum. Mit glühenden Wangen gehe ich zum hinteren Ende des Busses.

Der Bus wird langsamer, als er sich der West Achte Straße nähert. Dort steigen ein Haufen Studenten und eine alte koreanische Großmutter ein, leicht zu erkennen an ihrer kurzen grauen Dauerwelle. Die Studenten müssen gerade aus einer Bar gekommen sein, denn sie schwatzen laut durcheinander und riechen nach Hühnchen und Bier. Da nicht mehr genug Plätze frei sind, versperren sie den Gang. Sie sind so miteinander beschäftigt, dass sie gar nicht bemerken, wie sich die Großmutter an ihren vorbeizuquetschen versucht.

Der Bus fährt los. Im Gesicht der alten Frau blitzt Angst auf, während sie noch einmal versucht, an den Studenten vorbeizukommen. Sie sieht nach oben, doch der Haltegriff ist zu hoch für sie. Der Bus fährt durch ein Schlagloch und sie stolpert.

»Vorsicht …« Ich springe auf.

Doch da hält der Junge aus der Karaokebar sie schon am Arm fest. »Halmeoni«, spricht er sie auf Koreanisch an – Oma. Als sie ihn sieht, zittern ihre Lippen. »Alles in Ordnung?« Sie nickt nur. Er hilft ihr zu dem Platz, auf dem er vorher gesessen hat. »Bitte nehmen Sie Platz«, sagt er und bedeutet ihr, sich zu setzen. Das tut sie, tätschelt dann seinen Arm und lobt ihn auf Koreanisch.

Ich wende meinen Blick ab. Mein Herz rast. Sie hätte stürzen können. Wenn er sie nicht bemerkt und bereits die Entscheidung getroffen hätte, ihr seinen Platz anzubieten, wenn er nicht so schnell reagiert hätte, wäre sie gefallen.

Der Griff rechts von mir quietscht, weil sich jemand daran festhält. Ich starre aus dem Fenster, während der Bus wegen einer abgesperrten Straße voller Stände eine Umleitung fahren muss.

Neben mir lehnt sich der Junge aus dem Karaokeraum vor und guckt auch aus dem Fenster. »Was ist denn da los?«

Nachdem er die Großmutter gerettet hat, bin ich ihm gegenüber etwas freundlicher eingestellt. »Das jährliche Korea-Fest von Los Angeles. Offenbar haben sie dafür extra ein paar Straßen abgesperrt.« Mir wird klar, dass er nicht von hier zu sein scheint und sich daher auch nicht mit den Straßen auskennt. »Wohin willst du?«

»Weiß ich nicht genau.«

Ich runzle die Stirn. »Was meinst du damit?«

»Ich bin weggelaufen.«

Ich warte darauf, dass er grinst, doch sein Gesicht wirkt ernst und ein bisschen traurig.

»Vor Verbrechern?«, frage ich.

Erleichtert sehe ich, wie er lächelt.

»Vor …« Sein Lächeln wird etwas schwächer. »Chaegimkam. Wie übersetzt man das noch mal?«

»Verantwortung.« Ein Wort, das tausend Dinge bedeuten kann, zumindest in der koreanischen Community. Vielleicht den Müll rausbringen oder sich auf eine Weise verhalten, die der Familie keine Schande macht. Ich studiere sein Spiegelbild und frage mich, welche Art von Verantwortung er meint.

Ich denke daran, wie ich vorhin das erste Mal seinen Karaokeraum betreten habe. Zu diesem Zeitpunkt war er schon eine, vielleicht sogar zwei Stunden allein da drin gewesen. Und jetzt sitzt er ohne Ziel in einem Bus. Ein Teil von mir – ein ziemlich großer sogar – will unbedingt wissen, wovor er wegläuft, warum er der Meinung war, das tun zu müssen. Aber der andere Teil erinnert sich noch daran, wie es sich anfühlt, wenn man nur noch fliehen kann, um den übermächtigen Gefühlen in einem zu … entkommen.

»Wenn du mich fragst, ist es unglaublich wichtig, sich Zeit für sich selbst zu nehmen, trotz aller Verantwortung. Man kann nicht für andere da sein, wenn man nicht zuerst mal für sich selbst da ist.«

Es fühlt sich seltsam an, jemandem in meinem Alter einen Rat zu geben, aber das sind die Worte, die ich auch mir selbst sagen muss. Zum Glück scheint er nicht beleidigt zu sein. Er denkt darüber nach, das sehe ich seinem Gesichtsausdruck an. Sein Blick sucht meinen und darin liegt eine Intensität, die mit meinem Herzen seltsame Dinge anstellt.

»Es ist nicht leicht für mich, so etwas zu glauben«, sagt er. Jetzt, da ich so nah vor ihm stehe, kann ich seine Augenfarbe erkennen, ein sattes, warmes Braun. »Aber ich will schon.«

Jemand rempelt ihn von hinten an. Er zuckt zusammen und flucht leise. Dann richtet er seinen Gips und rückt etwas näher an mich heran. Der Kerl, der ihn angestoßen hat – einer der Studenten –, scherzt mit seinen Freunden herum.

»Hey«, sage ich zu ihnen. Erst der Zwischenfall mit der Großmutter und jetzt das. »Könnt ihr nicht sehen, dass sein Arm gebrochen ist? Macht ihm ein bisschen Platz.«

Der Bus nähert sich der Olympic-Haltestelle. Hinter uns öffnet sich die Tür und ein paar Leute steigen aus. Der offensichtlich angetrunkene Student neben uns scheint verwirrt, warum ich ihn anspreche. Dann schnaubt er. »Ist ein freies Land.«

»Das ist richtig«, gebe ich zurück. »Es steht dir frei, dich rücksichtsvoll oder wie ein Arschloch zu benehmen.«

Erschrockenes Schweigen folgt. Das Gesicht des Studenten läuft puterrot an. Oh, Scheiße.

Der Junge und ich sehen uns an. Er hält mir seine Hand hin. Mir bleibt keine Zeit, um nachzudenken. Ich nehme sie und zusammen springen wir schnell noch raus, bevor sich die Türen wieder schließen.

Vier

Wir landen mitten auf dem Straßenfest. Auf einem Banner steht Los Angeles Koreanisches Festival und kleiner darunter: Wir feiern seit über fünfzig Jahren kulturelle Vielfalt in LA. Die Straße ist auf beiden Seiten mit Ständen gesäumt, an denen koreanisches Essen verkauft wird. Traditionelle Gerichte wie Tteokbokki in großen Töpfen mit Gochujang und Eomuk-Spieße in heißer Sardellenbrühe, darüber hinaus Fusion-Küche wie mit Mozzarella und Cheddar überbackene Jakobsmuscheln und in Backteig frittierte Hot Dogs.

Als ich nach unten sehe, bemerke ich, dass der Junge aus der Karaokebar und ich uns immer noch an den Händen halten, und lasse schnell los.

»Tut mir leid«, sage ich und gucke weg, um meine knallroten Wangen vor ihm zu verbergen. »Dass wir aus dem Bus geflogen sind.« Genau genommen sind wir ausgestiegen. Aber das Endergebnis ist das gleiche.

Dennoch fühle ich mich schlecht. Er mag kein Ziel im Sinn gehabt haben, aber ich bin mir sicher, dass er ohne mich nicht hier gelandet wäre, nur ein paar Blocks von Jay’s Karaoke entfernt.

»Dieser Ort ist so gut wie jeder andere«, sagt er mit Blick auf das Banner.

»Willst du … Willst du dich umsehen?« Ich deute vage auf das Straßenfest.

Sein Blick kehrt zu mir zurück und wieder verspüre ich dieses seltsame Gefühl in meiner Brust.

»Das würde mir gefallen.«

Wir gehen die Straße mit den Essensständen entlang. Ich weiß, dass ich einfach heimgehen könnte. Vorhin in der Karaokebar hat mich meine Wettbewerbsbewertung, die mir in der Tasche brennt, dazu gedrängt, irgendetwas zu tun, und ich habe impulsiv gehandelt. Eigentlich sollte ich besser nach Hause gehen und üben, mich auf meinen Unterricht morgen vorbereiten.

Die Sache ist nur die … Ich will gar nicht heim.

So viel Spaß hatte ich schon lange nicht mehr und es kann nicht schaden, diesem Gefühl nachzugehen, zumindest heute Abend.

»Ich heiß übrigens Jenny.«

»Ich heiße …« Er zögert. »Jaewoo.«

Ich will ihn gerade dafür aufziehen, dass er offenbar seinen eigenen Namen vergessen hat, als ich weiter hinten auf der Straße eine sehe, die mir irgendwie bekannt vorkommt, doch sie verschwindet in einem Zelt.

»Ist Jenny auch dein koreanischer Name?«, fragt Jaewoo.

»Nein, der ist Jooyoung.«

»Jooyoung.« Er betont langsam eine Silbe nach der anderen. »Joo. Young. Jooyoung-ah.«

»Okay, aber so redet mich kein Mensch an.« Mir ist ein bisschen warm, also nehme ich einen der Plastikfächer, die jemand verteilt, und beginne mir Luft zuzufächeln.

Dieses Fest besteht wohl nur aus Ständen, die für alle möglichen Geschäfte Werbung machen – und bergeweise Essen. Wir kommen an einem vorbei, der Dakkochi verkauft. Ein Mann dreht mit einer Hand die Hähnchenspieße über einem Grill, während er das Fleisch gleichzeitig mit einer dickflüssigen Marinade bepinselt. Dann lässt er es mit einem Gasbrenner noch mal besonders knusprig werden. Zwei Mädchen stellen sich an.

Der Verkäufer zeigt eine erstaunliche Koordination, als er mit einer Hand von einem der Mädchen einen Zwanzig-Dollar-Schein annimmt und ihr das Wechselgeld gibt, während er mit der anderen einen Spieß auf einen Teller befördert und diesen ihrer Freundin reicht.

»Fühlt sich an, als wäre ich wieder in Seoul«, sagt Jaewoo unbewegt.

Ich lache, dann sage ich nachdenklich: »Ich war noch nie in Korea.«

»Wirklich?« Er starrt mich an. »Hast du keine Familie dort?«

»Meine Großmutter, die Mutter meiner Mom, aber ich kenne sie nicht mal. Die Beziehung zwischen meiner Mom und ihr ist ziemlich angespannt.« Ehrlich gesagt habe ich nie groß über ihr Verhältnis nachgedacht oder dass ich gar keins zu ihr habe. Die Eltern meines Dads sind so richtige Supergroßeltern und schicken mir zu jedem Feiertag Geschenke und an Neujahr Geld. Einer der Gründe, warum meine Mutter meint, ich solle mich an Schulen in New York City bewerben, ist, dass ich dann näher an ihrem Wohnort in New Jersey wäre.

Wenn Jaewoo es seltsam findet, dass ich meine Großmutter in Korea nicht kenne, sagt er es nicht.

»Du lebst also in Korea?«, frage ich.

»Ja, ursprünglich komme ich aus Busan, aber ich geh in Seoul zur Schule.« Er zögert. »Eine Schule für Darstellende Künste.«

»Ich wusste es!«, rufe ich und er grinst. »Gar nicht mal so schlecht im Singen. Alles klar.«

Mir fällt auf, dass Jaewoo den Essensständen sehnsüchtige Blicke zuwirft. Ich deute auf einen kleinen überdachten Bereich, wo eine ältere Frau ein paar Kunden auf niedrigen Hockern traditionelles koreanisches Streetfood serviert. »Wie klingt ein zweites Abendessen für dich?«

Seine Augen leuchten und auf seiner Wange erscheinen Grübchen. »Du kannst wohl meine Gedanken lesen.«

Wir gehen dorthin und er hält mir die Eingangsplane des Zelts auf, damit ich hineinschlüpfen kann.

»Eoseo oseyo!«, begrüßt uns die Standbesitzerin mit lauter Stimme und deutet auf zwei freie Plätze vor ihrer Theke. »Was möchtet ihr haben?«

Jaewoo schaut zu mir, weil ich das Geld habe. »Nimm dir einfach, was du magst«, sage ich. »Mir ist alles recht.«

Während er seine Bestellung aufgibt, löse ich den Knoten an Mrs. Kims Plastiktüte mit den Beilagen. Darin sind fünf kleine Frischhaltedosen. Ich stelle sie zwischen uns auf den Tresen und nehme die Deckel ab.

»Na, das nenn ich mal ne tolle Ausbeute«, sagt Jaewoo, während er meine Bewegungen verfolgt.

In der letzten Box befindet sich Kimchi aus Lauchzwiebeln und Knoblauch. »Eine freundliche Ajumma in der Nachbarschaft ist nicht zu unterschätzen.«

»Ah, ich weiß, was du meinst. Meine Mom ist alleinerziehend, darum haben unsere Nachbarinnen sie immer bedrängt und ihr ungebetene Ratschläge gegeben, als ich aufgewachsen bin, aber das hat sie nicht davon abgehalten, fast jeden Tag Essen vorbeizubringen.«

Ich lache. »Koreaner sind echt überall gleich.«

Und Jaewoo und ich sind uns auch gleich, zumindest insofern, als wir beide bei alleinerziehenden Müttern aufgewachsen sind. Das ist nicht so ungewöhnlich, aber trotzdem fühle ich mich ihm dadurch irgendwie näher.

Aus einem Glasbehälter nehme ich ein Paar hölzerne Essstäbchen, breche sie auseinander und reiche sie Jaewoo. »Du hast Glück, dass du dir den linken Arm gebrochen hast und nicht den rechten. Natürlich nur, wenn du Rechtshänder bist.«

»Bin ich. Auch wenn ich mir gerade nicht unbedingt glücklich vorkomme.«

Wie unsensibel von mir. »Tut mir leid …«, setze ich zu einer Entschuldigung an.

»Wenn der rechte Arm gebrochen wäre, müsstest du mich füttern.« Mithilfe seiner Essstäbchen nimmt er sich aus dem Behälter mit Jangjorim ein Stück geschmortes Rindfleisch.

Ich mustere ihn. Hat er das gerade wirklich gesagt? Mein Blick streift die anderen Kunden im Zelt, aber uns beachtet nur ein Mädchen, das mit einer Freundin links von ihm sitzt, und zwar so, dass er sie nicht sehen kann. Sie beobachtet ihn, seit wir das Zelt betreten haben, wahrscheinlich weil er so gut aussieht.

»Euer Essen ist fertig!« Die Standbetreiberin reicht drei Teller über die Theke. Jaewoo hat uns ein paar koreanische Streetfood-Klassiker bestellt: Tteokbokki, Eomuk und Kimchi Pajeon – Kimchi-Pfannkuchen mit Lauchzwiebeln. Mit all den Tellern und Banchan-Behältern ist auf dem Tisch wirklich kein Zentimeter mehr frei. Wir müssen mit den Gerichten Tetris spielen, um alles abstellen zu können.

Beim Essen kommen wir uns immer wieder mit den Essstäbchen in die Quere. Als die Standbetreiberin Jaewoo eine kleine Schale Brühe anbietet, lehnt er sich vor, um sie anzunehmen. Dabei stößt seine Schulter gegen meine.

»Tut mir leid«, sagt er.

»Schon gut.« Dort, wo er mich berührt hat, verspüre ich ein seltsames Kribbeln. Wie zuvor sehe ich mich zu den anderen Gästen um. Mir fällt auf, dass es sich bei den meisten um Pärchen handelt, die über Essen und Getränken flirten.

Jaewoo schiebt mir den Teller Tteokbokki hin und ich sehe, dass er mir den letzten Bissen übrig gelassen hat. Jeder, der uns beobachtet, könnte auch denken, dass wir gerade auf einem Date sind.

Hinter Jaewoo nähert sich das Mädchen, das ihn vorhin angestarrt hat, mit ihrer Freundin.

Ich werfe Jaewoo einen Blick zu und frage mich, ob ich ihn warnen soll. Er wird wahrscheinlich ständig angebaggert. Obwohl ich mich schon frage, für wen diese Mädchen mich halten. Was, wenn das hier wirklich ein Date wäre? Wollen sie dann wirklich vor mir mit ihm flirten? Aus irgendeinem Grund runzle ich bei diesem Gedanken die Stirn.

»Hey«, sagt das erste Mädchen. »Du kommst mir irgendwie so bekannt vor. Hab ich dich schon mal irgendwo gesehen?«

Die Essstäbchen, die Jaewoo gerade zum Mund führt, bleiben auf halbem Weg stehen.

Einen Moment lang sagt keiner was. Als ich aufblicke, bemerke ich, dass das Mädchen mich ansieht.

»Du hast doch letztes Wochenende an diesem Musikwettbewerb teilgenommen, oder?«, fragt sie. »Ich hab deinen Beitrag gesehen. Unglaublich gut.«

Ich starre sie an und habe keine Ahnung, was ich sagen soll. Ich werde nicht zum ersten Mal gelobt, aber meistens passiert das kurz nach einem Auftritt. Noch niemand hat mich einfach so angesprochen, als wäre ich eine Berühmtheit. Langsam lässt Jaewoo seine Essstäbchen sinken. Dann legt er seinen Ellbogen auf den Tresen und stützt seine Wange in die Hand, während er auf meine Reaktion wartet.

Ich winke ab. »Ach so, danke.«

»Nein, ernsthaft, meine Mutter hat mal Cello in der Philharmonie von Los Angeles gespielt, und sie sagt, du wärst sehr talentiert.«

»Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll …«, setze ich an, halte jedoch inne, als ich plötzlich das andere Mädchen erkenne. »Eunice.«

Sookies Tochter Eunice Kim. Sie blickt auf den Tresen und kurz befürchte ich, dass sie mich anschreien wird, weil ich das Essen ihrer Mutter mit einem Jungen teile.

»Hey, Jenny, ich bin ganz baff, dich an einem Freitagabend unterwegs zu treffen.« Sie lächelt, doch es gelingt ihr nicht ganz zu überspielen, dass sie gekränkt ist. »Du bist immer so beschäftigt. Ich dachte, du hättest keine Zeit, etwas mit mir zu unternehmen.«

»Oh«, sage ich. »Ach so, das hat sich einfach irgendwie ergeben.« Wie unangenehm! Wir haben echt die letzten fünf Jahre nicht mehr so richtig miteinander gesprochen, dabei waren wir davor praktisch unzertrennlich.

»Na ja, wir müssen jetzt mal langsam los.« Eunice’ Freundin zieht sie am Arm. »Lasst’s euch noch schmecken!«

Eunice wirft mir einen letzten Blick zu. »Bye, Jenny.« Sie verlassen das Zelt.

Das darauffolgende verlegene Schweigen breche ich schnell: »Als kleinere Mädchen waren wir mal richtig gute Freundinnen. Aber dann hab ich mehr Energie ins Cellospielen gesteckt und …«

Ich habe keine Ahnung, warum ich ihm das erzähle. Ich stehe wohl noch unter Schock, weil mir ausgerechnet vor ihm ein Mädchen gesagt hat, wie toll ich bin, während ein anderes angedeutet hat, dass ich eine grauenhafte Freundin sei.

Jaewoo lehnt sich zurück. »Mir ist mal was Ähnliches passiert. Als ich von Busan nach Seoul gezogen bin, haben einige meiner Freunde damals gesagt, dass ich ein Verräter bin.«

»Wow.« Abgesehen von Seoul kenn ich mich mit koreanischen Städten kaum aus, aber ich schätze, es muss ungefähr so sein, als würde jemand aus seiner Heimatstadt nach New York City ziehen.

»Du bist also Cellistin«, sagt er.

»Ja.«

»War das immer dein Traum? Cello spielen?«

»So ungefähr. Mein Dad hat Cello gespielt. Er war kein Profi oder so, aber als es darum ging, ein Instrument zu wählen, der Schritt für alle amerikanischen Kinder asiatischer Abstammung ins Erwachsenenleben …«

Jaewoo lacht.

»Das Cello meines Dads war eben da und, na ja, es hat sich rausgestellt, dass ich es einfach liebe. Und irgendwie ist es auch schön, diese Verbindung zu ihm zu haben.«

Noch nie habe ich mich jemandem gegenüber so geöffnet, was meinen Dad betrifft. Ich warte auf die vertraute Traurigkeit, doch sie kommt nicht. Fünf Jahre sind keine besonders lange oder kurze Zeit, aber es ist Zeit.

Ich sehe Jaewoo an. Was hat er bloß an sich, das mich dazu bringt, mich so zu öffnen? Ist es, weil ich weiß, dass ich ihn nach dem heutigen Abend nie wiedersehen werde; dass ich bei ihm ganz ich selbst sein kann?

»Das ist echt cool«, sagt Jaewoo. Als er lächelt, schmelze ich ein bisschen dahin.

»Was ist mit dir?«, frage ich und hoffe inständig, dass das schummrige Licht im Zelt meine glühenden Wangen kaschiert. »Was für Träume hast du?«

Ein Ausdruck blitzt in seinem Gesicht auf, den ich nicht zu deuten vermag und der so schnell verschwindet, wie er gekommen ist. »Ich schlaf nicht genug, um zu träumen.«

»Wow«, erwidere ich, »was für eine Antwort.«

Er zwinkert mir zu.

Eine Gruppe neuer Gäste betritt das Zelt. Ich gucke auf mein Handy und sehe, dass es schon kurz vor Mitternacht ist. Jaewoo reicht unsere leeren Teller über die Theke, während ich die Frischhaltedosen einsammle. Als wir aufstehen, nehme ich zu einem der Neuankömmlinge Augenkontakt auf.

Der Rüpel aus dem Bus. Er ist umgeben von seinen Freunden, von denen sich die meisten um einen Platz am Tresen drängeln.

»Wie stehen die Chancen, dass er uns erkennt?«, sage ich zu Jaewoo, der meine Blickrichtung bemerkt hat.

In diesem Moment zeigt der College-Typ auf uns, als wären wir in einem Actionfilm und Jaewoo und ich gesuchte Verbrecher.

»Ich würd sagen, ziemlich hoch.«

Fünf

Ich weiß nicht, wer sich zuerst in Bewegung setzt oder warum wir beide zum gleichen Schluss kommen, aber wir rennen los.

Keiner von uns blickt zurück, während wir in die Richtung laufen, aus der wir gekommen sind, vorbei an den Essensständen. Dann biegen wir scharf nach rechts ab, hechten in ein Bürogebäude und sprinten eine Treppe herunter.